Ein Sommer mit Debbie Macomber - 4 ganz unterschiedliche Geschichten

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  • Erscheinungstag 02.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769277
  • Seitenanzahl 584
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

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Debbie Macomber

Ein Sommer mit Debbie Macomber - 4 ganz unterschiedliche Geschichten

Debbie Macomber

Der Stern von Yucatan

Roman

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1. KAPITEL

Herr, gib ihrer Seele ewigen Frieden …”

Lorraine Dancy schloss die Augen, als die erste Schaufel Erde auf den Sarg ihrer Mutter traf. Der Klang schien hundertfach verstärkt von allen Seiten auf sie einzustürzen und überlagerte die Worte von Pater Darien. Dort unten im Sarg lag ihre Mutter Virginia Dancy, und sie verdiente sehr viel mehr als eine Decke aus Kentucky-Erde.

Am Abend des ersten April hatte Lorraine die Mitteilung erhalten, ihre Mutter sei auf dem Freeway in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Zuerst hatte sie das für einen grauenhaften, widerlichen Aprilscherz gehalten, doch der mit Lehm besprenkelte Sarg war sehr real, und sein Anblick zerriss ihr das Herz.

Der Druck in ihrer Brust wurde stärker, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen, und sie zitterte, während sie an diesem grauen Nachmittag den Worten des Priesters lauschte.

Nach einer Weile entfernten sich die Freunde, die gekommen waren, ihrer Mutter das letzte Geleit zu geben. Pater Darien nahm sacht Lorraines Hände und sprach aufrichtige, mitfühlende Trostworte. Unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung brachte sie einen knappen Dank hervor.

Dann blieb sie am Grab zurück.

“Liebling.” Gary Franklin, ihr Verlobter, trat näher und legte ihr einen Arm um die Taille. “Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.”

Sie widersetzte sich und blieb stehen, als Gary versuchte, sie zur wartenden Limousine zu bringen. Sie war noch nicht so weit, ihre Mutter zu verlassen. Noch nicht. Es machte alles so endgültig, wenn sie sich jetzt umdrehte und ging.

Das hätte alles nicht passieren dürfen. Das konnte nicht wirklich wahr sein. Die Realität ließ sich jedoch nicht leugnen – das offene Grab, die Grabsteine, der lehmige Boden. Ängste bestürmten sie von allen Seiten und ließen sie frösteln. Sie war nicht sicher, ohne die Liebe und Unterstützung ihrer Mutter weiterleben zu können. Virginia war ihr Prüfstein im Leben gewesen, ihr Vorbild, eben ihre Mutter.

“Liebes, ich weiß, das ist schwierig für dich, aber du kannst nicht hier bleiben.” Gary versuchte erneut, sie vom Grab wegzubringen.

“Nein”, sagte sie mit fester Stimme. Dass der Tod ohne Vorwarnung gekommen war, machte alles so besonders schwierig und schmerzlich. Sie hatten noch an diesem Wochenende miteinander gesprochen. Solange sie denken konnte, waren sie als verschworene Gemeinschaft gegen den Rest der Welt angetreten. Sie hatten sich besonders nahegestanden. Nicht ein Tag war vergangen ohne Kontakt zueinander – durch ein Gespräch, einen Besuch oder eine E-Mail. Am Samstag hatten sie über eine Stunde telefoniert, um die Hochzeitsvorbereitungen zu besprechen.

Ihre Mutter war begeistert gewesen, als sie Garys Antrag angenommen hatte. Virginia hatte Gary immer gemocht und die Verbindung sehr unterstützt. Zudem waren die beiden blendend miteinander ausgekommen.

Noch letztes Wochenende – noch vor wenigen Tagen war ihre Mutter am Leben gewesen. Im Telefonat hatte Virginia genau dargelegt, wie sie sich die Hochzeit ihrer einzigen Tochter vorstellte. Sie hatten über das Hochzeitskleid, die Brautjungfern, die Blumenarrangements und die Einladungen diskutiert.

Lorraine hatte ihre Mutter nie freudiger und aufgeregter erlebt. In ihrem Enthusiasmus hatte Virginia sogar über ihre eigene Hochzeit vor vielen Jahren mit der großen und einzigen Liebe ihres Lebens gesprochen. Sie sprach selten von Lorraines Vater. Die Erinnerungen an ihn waren das Einzige, was sie nicht mit ihrer Tochter teilte – jedenfalls nicht mehr, seit Lorraine das Teenageralter erreicht hatte. Es waren sehr private Erinnerungen, und Virginia schien sie in ihrem Herzen zu verschließen. Sie hatten ihr durch die langen, einsamen Jahre der Witwenschaft geholfen.

Lorraine konnte sich nicht an ihren Vater erinnern. Er war gestorben, als sie knapp drei war. Offenbar war ihre Mutter so unsterblich in Thomas Dancy verliebt gewesen, dass sie nie in Erwägung gezogen hatte, wieder zu heiraten. Kein Mann könnte es mit Thomas aufnehmen, hatte sie einmal zu Lorraine gesagt.

Die Liebesgeschichte ihrer Eltern war sehr romantisch gewesen. Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter oft vom wunderbaren Thomas Dancy erzählt. In späteren Jahren hatte sie dann immer weniger über ihn gesprochen. Lorraine erinnerte sich jedoch an die Erzählungen von früher. Ihr Vater war ein hochdekorierter Kriegsheld gewesen, und die beiden hatten allen Widrigkeiten getrotzt, um zu heiraten. Das waren die Abenteuer- und herrlichen Gutenachtgeschichten ihrer frühen Kindheit gewesen, die einen tiefen und bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hatten.

Vielleicht war das einer der Gründe, warum sie bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahr gewartet hatte, ehe sie sich verlobte. Jahrelang hatte sie den Mann gesucht, der ihrem Vater glich: nobel, ehrlich, mutig, ein integerer Mensch mit hohen Idealen. Niemand schien diesen Ansprüchen zu genügen, bis Gary Franklin in ihr Leben getreten war.

“Lorraine, alle sind gegangen.” Gary schlang den Arm fester um ihre Taille.

“Noch nicht. Bitte.” Sie mochte ihre Mutter nicht in einem feuchten kühlen Grab zurücklassen, wo sie doch noch nicht einmal fünfzig gewesen war. Der Schmerz war unerträglich. Schließlich übermannte er sie, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

“Komm, Kleines, lass uns gehen”, drängte Gary sanft und mitfühlend.

Lorraine wich einen Schritt zurück. Sie wollte Gary nicht um sich haben. Sie konnte jetzt niemand ertragen, sie wollte nur ihre Mutter zurück. “Oh, Mom”, schluchzte sie auf und konnte nicht mehr aufhören zu weinen.

Gary drehte sie in seinen Armen zu sich herum und drückte sie tröstend an sich. “Lass es raus, Liebes. Es ist okay. Wein dich aus.”

Lorraine barg das Gesicht an seiner Schulter und weinte wie in jener Nacht, als der Streifenpolizist ihr die tragische Nachricht überbracht hatte. Wie lange Gary sie weinen ließ, wusste sie später nicht mehr. Jedenfalls bis ihre Augen brannten, die Nase lief und keine Tränen mehr kommen wollten.

“Das Haus wird sich langsam füllen. Du wirst dort erwartet”, erinnerte Gary sie.

“Ja, wir sollten gehen”, stimmte sie zu und putzte sich die Nase mit einem Papiertaschentuch, das er ihr reichte. Sie war dankbar, dass Virginias Nachbarin Mrs. Henshaw alle Trauergäste ins Haus ließ. Inzwischen fühlte Lorraine sich etwas ruhiger und beherrschter. Die Trauergäste würden mit ihr über ihre Mutter reden wollen, da sie als Einzige von der Familie übrig war. Deshalb musste sie ihre Gefühle unter Kontrolle bringen.

Zusammen mit Gary ging sie zum Parkplatz, fort vom einzigen Elternteil, den sie gekannt hatte. Ein kleiner Trost bestand darin, dass ihre Eltern nach fünfundzwanzig Jahren Trennung wieder vereint sein würden.

Lorraine konnte nicht schlafen, aber sie hatte es auch nicht anders erwartet. Sie müsste erschöpft sein und war es auch, da sie seit Tagen kein Auge zugetan hatte. Diese letzte Woche war die emotional strapaziöseste ihres Lebens gewesen. Doch sogar jetzt, nach der Beerdigung und der Trauerfeier, war sie zu unruhig, um in Schlaf zu verfallen.

Gary hielt es für keine gute Idee, die Nacht im Haus ihrer Mutter zu verbringen. Vermutlich hatte er recht. Ihr Urteilsvermögen hatte genau wie alle anderen Fähigkeiten unter dem Schock der Todesnachricht gelitten.

Die Trauerfeier hatte hier, in Virginias Haus stattgefunden. Das war ihr sinnvoll erschienen, da ihr Apartment für so viele Gäste viel zu klein war und ein Restaurant ihr zu unpersönlich vorkam. Die Gemeindemitglieder der St. John’s Kirche, in die Virginia all die Jahre treu zur Messe gegangen war, sowie eine große Gruppe von Nachbarn, Mitarbeitern und Freunden waren gekommen, Lorraine ihr Beileid auszusprechen. Allen fiel es offenbar schwer, den plötzlichen Tod von Virginia Dancy hinzunehmen.

Virginia war eine gläubige Katholikin und ein aktives Mitglied der Gemeinde gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie im Kirchenchor gesungen und unermüdlich für ihre Kirchen-“Familie” gearbeitet. Als Börsenmaklerin mit einer großen nationalen Firma hatte sie sich in der Geschäftswelt einen Namen gemacht. Der Umsatz ihrer Firma war hoch, doch Virginia hatte lernen müssen, dass Geschäftsfreundschaften oft nur flüchtig waren. Dennoch war ihr Haus zur Trauerfeier voller Menschen.

Lorraine wurde, entgegen ihrer Annahme, als Gastgeberin nicht gebraucht. Freunde und Nachbarn sorgten mit Aufläufen, Pasteten, Broten und Salaten für reichhaltige Verköstigung, die im Esszimmer angeboten wurde. Getränke, Gläser, Teller und Besteck standen in der Küche auf den Arbeitsplatten.

Lorraine war allen dankbar, vor allem Gary, der sich liebevoll und hilfreich um alles kümmerte. Trotzdem hatte sie während des Empfangs das dringende Bedürfnis, allein zu trauern, ohne von Menschen bedrängt zu werden. Leider war das ausgeschlossen. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die Trauergäste ebenfalls Trost suchten. Also nahm sie deren Beileidsbekundungen entgegen und schlüpfte selbst in die Rolle des Trösters.

Nicht lange, und sie war so erschöpft, dass sie sich in den Lieblingssessel ihrer Mutter fallen ließ. Dort zu sitzen half ihr, sich der geliebten Mutter verbunden zu fühlen. Es dämpfte den Schmerz der Einsamkeit, der sie in einem Raum voller Menschen zu verzehren drohte.

Eine große Welle an Mitgefühl und guten Ratschlägen war ihr entgegengeschwappt.

“Natürlich möchtest du das Haus behalten …”

Lorraine hatte genickt.

“Natürlich willst du das Haus verkaufen …”

Lorraine hatte genickt.

“Deine Mutter war eine wundervolle Frau …”

“Wir werden sie alle vermissen …”

“Sie ist jetzt an einem glücklicheren Ort …”

“… welch eine sinnlose Tragödie.”

Lorraine hatte jedem und allem zugestimmt.

Es war bereits dunkel, als der Letzte ging. Gary hatte ihr beim Aufräumen geholfen und sie dann gedrängt, in ihre eigene Wohnung zurückzukehren. Oder wenigstens mit zu ihm zu kommen. Er konnte nicht verstehen, warum sie hier bleiben wollte. Aber wie sollte er auch. Er hatte keinen Elternteil verloren.

“Fahr du nach Hause”, bat sie ihn. “Ich komme schon zurecht.”

“Darling, du solltest nicht allein sein. Nicht heute Nacht.”

“Ich möchte aber allein sein”, beharrte sie und konnte es nicht erwarten, dass er endlich ging. Sie verstand sich selbst nicht recht. Sie liebte Gary und wollte den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen, aber im Moment ertrug sie ihn nicht. Sie musste mit ihrem Kummer und ihrem Schmerz allein fertig werden.

“Du brauchst mich”, betonte Gary liebevoll besorgt.

“Ja, stimmt, aber nicht im Moment.”

Enttäuschung sprach aus seiner Miene, doch Gary fügte sich nickend, wenn auch widerwillig. “Du rufst an, wenn du deine Meinung änderst, ja?”

Sie versprach es ihm.

Er küsste sie in einer liebevollen Geste des Trostes auf die Stirn. In der Abendkühle fröstelnd, stand sie auf der Veranda und sah ihm nach, wie er davonfuhr.

Sie spülte das restliche Geschirr und wanderte dann ziellos durchs Haus, wobei sie an der Schwelle jedes Zimmers stehen blieb. Zärtlich strich sie über die Dinge, die ihrer Mutter besonders lieb und teuer gewesen waren.

Sie fand Trost in der Gewissheit, dass Virginia in den letzten Tagen ihres Lebens glücklich und schier begeistert gewesen war, eine große Hochzeit ausrichten zu dürfen.

Lorraine hatte kaum Garys Antrag angenommen, als Virginia auch schon damit begann, umfangreiche Pläne für das Fest im Oktober zu schmieden. Ganz der Tradition verhaftet, hatte sie lediglich ein wenig die Stirn darüber gerunzelt, weil Lorraine sich anstatt des üblichen Verlobungsringes eine kleine Smaragdkette hatte schenken lassen.

“Jetzt hast du deinen Willen, Mom”, flüsterte Lorraine und blickte auf den Ehering an ihrer Linken, der ihrer Mutter gehört hatte. Auf der Innenseite waren die Worte eingraviert: “Ich liebe dich für immer, Thomas”. Der Mann vom Beerdigungsinstitut hatte ihr den Ring an dem Tag übergeben, als der Sarg geschlossen wurde. Lorraine hatte ihn angesteckt und würde ihn erst abnehmen, wenn sie ihren eigenen Ehering an den Finger steckte. Ihre Mutter hatte diesen Ring seit ihrer Trauung getragen.

“Was soll ich nur ohne dich machen, Mom?”, flüsterte Lorraine in die Stille der Nacht hinein, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es wunderte sie, dass sie noch weinen konnte.

Sie musste an die Enttäuschungen denken, die sie ihrer Mutter bereitet hatte. Sie hatte das Medizinstudium nach dem zweiten Jahr aufgegeben und stattdessen eine Ausbildung als Krankenschwester und Heilpraktikerin absolviert. Virginia hatte zwar kaum etwas dazu gesagt, war aber mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden gewesen, das wusste sie. Sie hoffte, diese Enttäuschung wieder gutgemacht zu haben, als sie Gary kennen lernte. Er verkaufte medizinisches Zubehör an ihren Arbeitgeber “Group Wellness”.

Dass sie eine eher nachlässige Katholikin geworden war, hatte ihrer Mutter ebenfalls missfallen. Aber sie hatte sich nun mal nie so mit der Kirche identifizieren können wie Virginia.

“Es tut mir so leid, Mom”, flüsterte sie und hoffte, ihre Mutter nicht in zu vielem enttäuscht zu haben.

Nach Beendigung ihres emotionsgeladenen Rundgangs durch das Haus duschte sie und zog das Nachthemd über, das sie Virginia zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Nach kurzem Überlegen entschloss sie sich, im Zimmer ihrer Mutter zu schlafen, anstatt in ihrem eigenen. Wenn sie als Kind Angst gehabt hatte, war sie immer zur Mutter ins Bett gekrochen. Sie hatte auch jetzt Angst. Angst vor der Zukunft, Angst, allein und ohne Familie zu sein.

Als sie schlaflos dalag, tröstete sie sich mit ihren Erinnerungen. Sie hatten viele glückliche Stunden mit dem Kochen umfangreicher Menüs, dem Gucken alter Filme, die sie beide liebten, oder dem Austauschen von Lieblingsbüchern verbracht. Virginia hatte in verschiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen der Kirche mitgearbeitet, und Lorraine hatte an so manchem Abend Pakete für Bedürftige gepackt oder Briefumschläge gefüllt. Ihre Mutter war eine wunderbare Frau gewesen, und sie war stolz auf sie. Eine harte Arbeiterin, aber mit einem freundlichen Herzen, klug und großzügig.

Nach etwa einer Stunde gab Lorraine es auf, einschlafen zu wollen. Sie setzte sich auf und griff nach dem gerahmten Foto ihrer Eltern auf dem Nachttisch. Das Bild zeigte eine junge, schöne Virginia in einem bodenlangen Kleid mit einem Kranz aus Wildblumen auf dem Kopf. Ihr langes, glattes Haar reichte ihr fast bis zur Taille. In einer Hand hielt sie ein kleines Bouquet aus Wildblumen, mit der anderen die Hand ihres Mannes. Ihre Augen strahlten vor Glück, während sie direkt in die Kamera blickte.

Thomas Dancy daneben war groß, bärtig und trug das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Er sah seine Frau liebevoll an. Dem Foto merkte man an, wie sehr die beiden einander zugetan waren.

Erst letztes Wochenende, als sie über ihre Hochzeitspläne gesprochen hatten, hatte sie ihre Mutter mit diesem Foto aufgezogen und sie als “Blumenkinder” verspottet. Virginia hatte es mit Humor genommen und lediglich erwidert: “Das ist lange her.”

Leider war dies das einzige Foto in ihrem Besitz, auf dem ihre Eltern zusammen abgebildet waren. Alles andere war vor Jahren in einem Feuer zerstört worden, als sie gerade in die Grundschule gekommen war. An das Feuer selbst konnte sie sich gar nicht erinnern, bis ihr Jahre später das Fehlen vieler Dinge bewusst wurde: Fotos ihrer Eltern, Briefe und die Orden ihres Vaters. Lorraine wusste, dass Virginia O’Malley Thomas Dancy in ihrem ersten Jahr auf dem College kennen und lieben gelernt hatte. Der Vietnamkrieg trennte sie, als ihr Vater sich Anfang der Siebziger freiwillig zur Army meldete. Er überlebte die Kämpfe und kam als Held zurück. Ein Jahr später zeigte sich bei einer Routineuntersuchung etwas Ungewöhnliches in seinem Blutbild. Die Anomalie stellte sich als Leukämie heraus. Innerhalb von sechs Monaten war Thomas tot, und Virginia war eine junge Witwe mit einem Kind.

Viele Jahre hindurch hatten Virginias Eltern ihnen finanziell geholfen, aber Lorraines Großeltern mütterlicherseits waren beide in den achtziger Jahren gestorben. Die Familie ihres Vaters war ihr unbekannt. Ihre Mutter hatte noch einen jüngeren Bruder. Wegen seines Drogen- und Alkoholkonsums hatten die beiden jedoch bestenfalls flüchtigen Kontakt gehabt. Zuletzt hatte Virginia vor etwa fünf Jahren von ihm gehört, als er anrief und sie um Geld für eine Kaution bat. Lorraines einzige Cousine lebte irgendwo in Kalifornien. Von der hatte sie allerdings, seit sie dreizehn war, nichts gehört oder gesehen.

Mit anderen Worten, sie war allein auf der Welt.

Das Telefonläuten schreckte sie auf. Sie fuhr herum und schnappte sich den Hörer. “Hallo”, sagte sie atemlos, nicht sicher, wen sie erwarten konnte.

Es war Gary. “Ich wollte mich nur überzeugen, dass bei dir alles in Ordnung ist.”

“Alles klar”, erwiderte sie.

“Möchtest du, dass ich zu dir komme?”

“Nein.” Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass ich allein sein möchte? Sein Drängen wurmte sie, es sah ihm nicht ähnlich.

“Ich glaube, es ist einfach nicht gut für dich, allein zu sein.” Er hatte das schon mehrmals betont. “Ich weiß, das ist ein schrecklicher Schock für dich gewesen, aber du solltest dich jetzt keinesfalls isolieren.”

“Gary, bitte, ich habe heute Nachmittag meine Mutter begraben. Ich … ich habe sonst niemand.”

Nach dieser Bemerkung entstand eine betretene Pause. “Du hast mich”, widersprach er leise und hörbar verletzt.

Sie bedauerte ihre gedankenlose Wortwahl, ärgerte sich aber zugleich über seine Aufdringlichkeit. “Ich weiß, wie das geklungen haben muss, und es tut mir leid. Aber für mich ist alles noch so schmerzlich. Ich brauche Zeit, mich zu erholen und mich an die neue Situation zu gewöhnen.”

“Hast du dich entschlossen, das Haus zu verkaufen?”, fragte Gary.

Lorraine verstand nicht, warum sich alle Welt Sorgen um das Haus machte. “Ich … ich weiß es noch nicht.”

“Es wäre durchaus sinnvoll, es zum Verkauf anzubieten, findest du nicht?”

Sie schloss die Augen und suchte nach Antworten. “Ich kann solche Entscheidungen jetzt nicht treffen. Gib mir ein bisschen Zeit!”

Sie musste ungeduldig geklungen haben, denn Gary war sofort zerknirscht.

“Du hast recht, Darling, es ist zu früh. Wir werden uns später damit befassen. Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du mich brauchst.”

“Versprochen”, flüsterte sie.

Nach einigen Abschiedsworten beendete sie das Telefonat. Als sie den Hörer auflegte, fiel ihr Blick auf den Radiowecker. Verblüfft bemerkte sie, dass es erst neun war. Ihr kam es vor wie Mitternacht. Sie legte sich wieder hin, starrte gegen die Decke und ließ ihre Gedanken in die Zukunft wandern. Ihre Mutter würde nicht auf der Hochzeit sein und die Geburt ihrer Enkel nicht erleben. Virginia Dancy hatte sich sehr darauf gefreut, Großmutter zu werden.

Anstatt sich weiter mit ihrem Verlust zu befassen, dachte sie an Garys unerwarteten Anruf. Gary hatte nicht unrecht, das Haus war ein Problem. Falls es längere Zeit leer stand, würde es langsam verfallen. Ganz zu schweigen davon, dass leer stehende Häuser Vandalen anzogen. Sie würde bald eine Entscheidung treffen müssen, auch über finanzielle und rechtliche Angelegenheiten. Allerdings hatte sie das Testament ihrer Mutter noch nicht einmal gesehen.

Immer eines nach dem anderen, sagte sie sich. Diesen Rat hatte ihr die Mutter schon in der Kindheit gegeben, und sie war immer gut damit gefahren.

Der Anruf von Dennis Goodwin, dem Anwalt ihrer Mutter, kam, als Lorraine bereits wieder zur Arbeit ging. Sie hatte erwartet, von ihm zu hören. Dennis hatte ihr auf dem Friedhof angekündigt, es seien einige rechtliche Dinge zu klären, und er würde sich melden. Sie nähmen jedoch kaum fünfzehn, zwanzig Minuten ihrer Zeit in Anspruch. Er hatte vorgeschlagen, sich wegen der Terminabsprache zu verständigen, und sein Anruf kam genau eine Woche nach der Beerdigung.

Lorraine erschien zur verabredeten Zeit, um die Einzelheiten aus dem Testament ihrer Mutter zu hören. Die Empfangssekretärin begrüßte sie freundlich und drückte dann den Knopf der Sprechanlage. “Lorraine Dancy ist hier”, kündigte sie an.

Einen Moment später erschien Dennis Goodwin im Vorzimmer. “Lorraine”, grüßte er herzlich, “schön, Sie zu sehen.” Er führte sie in sein Büro.

Lorraine wusste, dass ihre Mutter Dennis gemocht und ihm absolut vertraut hatte. Sie hatten in Louisville im selben Gebäude gearbeitet. Während dieser Zeit hatte er als ihr Vertragsanwalt gearbeitet, ihr Testament aufgenommen und sie in anderen rechtlichen Belangen vertreten.

“Setzen Sie sich”, forderte er sie auf. “Wie geht es Ihnen unter diesen Umständen?”

“Etwa so, wie man es erwarten kann”, erwiderte sie. Sie fand es nicht mehr nötig, den eigenen Kummer zu verbergen, um andere zu trösten. Die letzte Woche war sehr schwierig für sie gewesen. Ohne Garys Unterstützung hätte sie sie kaum ertragen.

“Wie Sie ja wissen”, begann der Anwalt und beugte sich zu ihr vor, “kannte ich Ihre Mutter bereits etliche Jahre. Sie war eine der talentiertesten Börsenmaklerinnen, die mir begegnet sind. In den Achtzigern empfahl sie mir den Kauf von Aktien einer kleinen Firma in Seattle namens Microsoft. Wegen dieses Tipps werde ich mich in einigen Jahren vorzeitig aus dem Beruf zurückziehen können. Allein von dieser Investition kann ich leben.”

“Mom liebte ihre Arbeit.”

“Sie hat selbst sehr klug investiert”, fügte er hinzu. “Um Ihre Finanzen müssen Sie sich für lange Jahre keine Gedanken machen.”

Diese Mitteilung hätte sie aufheitern müssen, doch sie hätte lieber ihre Mutter zurückgehabt. Keine noch so große finanzielle Sicherheit konnte ihr ersetzen, was sie verloren hatte. Die Hände im Schoß gefaltet, wartete sie, dass er fortfuhr.

“Vor vier Jahren kam Ihre Mutter zu mir und bat mich, ihr Testament aufzusetzen.” Dennis rollte mit seinem Sessel vom Schreibtisch weg und langte nach einer Akte. “Nach den testamentarischen Bestimmungen sind Sie ihre einzige Erbin. Unser Treffen wäre unter normalen Umständen gar nicht nötig gewesen.”

Lorraine runzelte die Stirn.

“Aber im Falle eines vorzeitigen Todes hatte Virginia mich gebeten, persönlich mit Ihnen zu sprechen.”

Lorraine rutschte nach vorn auf die Stuhlkante. “Mom wollte, dass Sie mit mir sprechen? Worüber?”

“Über Ihr Medizinstudium.”

“Ach so.” Sie seufzte tief. “Mom hat meine Entscheidung damals nie verstanden.”

Der Anwalt zog die Brauen hoch. “Wie meinen Sie das?”

“Es war eine große Enttäuschung für Mom, als ich mich entschloss, das Studium an den Nagel zu hängen.”

“Und warum haben Sie das getan?”

Lorraine sah aus dem Fenster, obwohl sie den Ausblick kaum wahrnahm.

“Das hatte viele Gründe”, erwiderte sie leise und sah auf ihre Hände hinab. “Ich interessiere mich sehr für Medizin. Mom wusste das. Ich habe zwar das Herz eines Arztes, aber mir fehlt die Härte im Konkurrenzkampf. Ich verabscheute, was ich im Studium erlebte, dass nur die Stärksten durchkamen. Ich wollte das nicht. Vielleicht bin ich faul, ich weiß es nicht, aber ich habe alles, was ich wollte, in meinem jetzigen Beruf.”

“Wie das?”

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. “Ich mache fast so viel wie ein Arzt, aber ohne das Gehalt und ohne den Ruhm.”

“Ich glaube, Ihre Mutter hat das sehr wohl verstanden”, widersprach Dennis, obwohl Lorraine vermutete, dass er sie nur trösten wollte. “Aber sie wollte, dass Sie wissen, die finanziellen Mittel sind vorhanden, sollten Sie sich jemals entschließen, Ihr Studium wieder aufzunehmen.

Lorraine brannten Tränen in den Augen. “Hat sie Ihnen erzählt, dass ich mich vor Kurzem verlobt habe?”

“Nein, das hat sie nicht erwähnt. Meinen Glückwunsch.”

“Danke. Gary und ich haben es ihr erst kürzlich ge…” Lorraine ließ den Satz unbeendet. Der Anwalt wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurückgewann und weitersprechen konnte.

“Sollten Sie es sich überlegen und Ihr Medizinstudium doch wieder aufnehmen, werde ich alles tun, um Ihnen zu helfen.”

Sein Angebot überraschte sie. “Danke, aber das werde ich wohl nicht tun. Nicht, da Gary und ich gerade unser gemeinsames Leben beginnen wollen.”

“Nun ja, ich hatte versprochen, es zu erwähnen, falls sich die Gelegenheit dazu ergibt, und es macht mich traurig, dass es dazu kommen musste.”

Innerhalb weniger Minuten hatte Dennis die Bestimmungen des Testaments verlesen und reichte ihr die notwendigen Papiere. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, gab er ihr ein weiteres Blatt.

“Was ist das?”, fragte sie.

“Eine Inventarliste des Schließfaches. Ich bin gestern Nachmittag zur Bank gegangen und habe alles herausgeholt. Es ist alles da.” Er stand auf und nahm einen großen Umschlag von der Kommode. “Überzeugen Sie sich bitte, dass alle aufgeführten Dokumente vorhanden sind.”

Da es von ihr erwartet wurde, entleerte Lorraine den Inhalt des Umschlages auf den Tisch und verglich die einzelnen Unterlagen mit den Posten der Liste. Sie hatte das alles schon einmal gesehen oder zumindest davon gehört. Das nahm sie zumindest an, bis sie auf einen geöffneten Brief stieß, der an ihre Mutter adressiert war. Wie eigenartig, dachte sie und betrachtete die bunten ausländischen Marken.

“Wissen Sie vielleicht etwas über diesen Brief?”, fragte sie den Anwalt.

“Nein, nichts. Ich fand es seltsam, dass Virginia etwas so Persönliches zu den Dokumenten packte, die alle rein geschäftlich waren.”

“Er ist aus Mexiko”, stellte Lorraine überflüssigerweise fest.

“Ja, ist mir aufgefallen.”

“Vor sieben Jahren abgestempelt.” Sie zog ein einzelnes Blatt aus dem Umschlag. Nachdem sie es rasch überflogen hatte, drehte sie es um und las die Unterschrift. Sie japste, hob den Kopf und sah Dennis Goodwin fassungslos an.

“Sie … Sie wussten ganz bestimmt nichts davon?” Sie konnte ihren Schock nicht verbergen.

“Lorraine, ich weiß wirklich nichts von dem Brief. Ich war der Anwalt Ihrer Mutter, nicht ihr Vertrauter. Was sie in ihrem Schließfach unterbrachte, hatte nichts mit meiner Rolle als Anwalt zu tun.”

Lorraine ließ sich gegen die Sessellehne sinken und legte eine Hand an die Kehle. “Könnte … könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?” Ihr Mund war trocken, und ihre Stimme wurde rau. Das konnte einfach nicht wahr sein! Es war zu verrückt!

“Ich bin gleich zurück.” Dennis verließ das Büro und kam kurze Zeit später mit einem Pappbecher voll Wasser zurück.

Lorraine trank ihn in mehreren schnellen Schlucken leer, schloss die Augen und versuchte zu verdauen, was sie soeben erfahren hatte.

“Tut mir leid, falls Sie der Brief aus der Bahn geworfen hat”, sagte Dennis.

“Sie haben ihn wirklich nicht gelesen?”, fragte sie mit zittriger Stimme.

“Nein, natürlich nicht. Es wäre in hohem Maße unethisch, so etwas zu tun.”

Lorraine wartete, bis sie einigermaßen emotionslos sprechen konnte. “Es sieht so aus, Dennis”, erklärte sie ruhig, “dass mein Vater wohl doch nicht tot ist.”

2. KAPITEL

Thomas Dancy wurde von einem Albtraum aus tiefem Schlaf gerissen. Er schlug die Augen auf und atmete durch. Ein Windhauch wehte durch das offene Schlafzimmerfenster, und ein voller Aprilmond warf kaltes Licht in den Raum.

Ich habe nur geträumt, sagte er sich. Es war immer derselbe Traum, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. Obwohl inzwischen dreißig Jahre vergangen waren, hatte er nichts an Intensität verloren. Thomas durchlitt jedes entsetzliche Detail – und wie stets erwachte er am selben Punkt, vor Angst und Entsetzen zitternd. Und jedes Mal fühlte er sich ungeheuer erleichtert, dass es nur ein Traum war. Wieder musste er sich klarmachen, dass das Schlimmste vorüber war. Er war einmal durch diese Hölle gegangen und hatte überlebt.

Thomas warf das Laken zurück und setzte sich in der Dunkelheit auf die Kante der dünnen Matratze, noch ganz benommen von den Nachwirkungen des Albtraumes. Selbst vollkommen wach, spürte er die Angst in allen Knochen.

Er hatte sehr viel verloren damals, Anfang der Siebziger. Bei Weitem der größte und schwerste Verlust waren seine Frau und seine Tochter gewesen. Doch der Traum hatte nichts mit ihnen zu tun.

Um seine Niedergeschlagenheit zu verscheuchen, stellte er sich Ginny und die kleine Raine bei seinem Abschied nach Vietnam vor. Ginny war sehr jung gewesen und wunderschön. Das Gesicht tränenüberströmt, hatte sie ihre kleine Tochter in den Armen gehalten. Abgesehen von allem anderen, was in den Jahren dazwischen schief gegangen war, konnte ihn dieses besondere Bild immer aufmuntern.

Sie war zum Flughafen gekommen, um ihn zu verabschieden, als er in einen Krieg zog, den er nicht verstand und den er nicht kämpfen wollte. Es hatte ihn fast umgebracht, seine Familie an jenem Tag zu verlassen, und am Ende war er es gewesen, der andere umbringen musste.

Das alte Schuldgefühl stieg in ihm hoch, und er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass seine Gedanken wieder diesen Weg gingen. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, als könnte er so die Reste des Traumes und alle damit einhergehenden Erinnerungen vertreiben.

Es funktionierte nicht.

Er begann wieder zu zittern, stand auf, ging zum Fenster und starrte in die Nacht. In einiger Entfernung sah er die Spiegelung des Mondlichtes auf dem glatten Wasser der Bucht. Er musste sich bewusst machen, dass der Krieg mit all seinen Gräueln weit hinter ihm lag.

Der Krieg verblasste in seinen Gedanken, stattdessen kamen Erinnerungen an Ginny zurück. Trotz der vielen vergangenen Jahre, und obwohl sie ihn verlassen hatte, liebte er sie immer noch. Er hatte sich hier, in El Mirador, ein neues Leben geschaffen, und er betrachtete Mexiko seit Langem als seine Heimat. Hier war er ein einfacher Mann und lebte ein einfaches Leben. Er war nie reich gewesen, und Geld hatte ihm nie besonders viel bedeutet. Ginny hatte das verstanden.

Ginny …

Ehe sein Traum in die Bilder und Geräusche eines brutalen Krieges übergewechselt war, hatte er seine Frau Ginny gesehen, wie sie mit zwanzig gewesen war. Sie war so real gewesen wie jetzt die Fensterbank unter seinen Fingern.

Sein Herz wollte überquellen, wenn er nur an sie dachte. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung auf dem Universitätscampus. Als jungfräulich und verklemmt hatte er sie abgetan. Aber das Klischee von Gegensätzen, die sich anziehen, hatte in ihrem Fall sicher gestimmt. Er hatte an die Ideale der Sechziger geglaubt – Studentenrevolte und Freiheit in allen Dingen –, sie verachtete Ideologien.

Zufällig besuchten sie dieselbe Englischvorlesung und saßen sich gegenüber. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Ginny war eine Versuchung gewesen, der er nicht widerstehen konnte. Er hatte es nicht beabsichtigt, aber ehe er sich versah, war er in sie verliebt gewesen.

Und sie in ihn.

Ein schwaches Lächeln entspannte seine Gesichtszüge, als er an das erste Mal dachte, als sie miteinander geschlafen hatten. Ginny war noch unberührt gewesen. Obwohl er selbst reichlich Erfahrung gehabt hatte, war ihm an diesem Nachmittag klar geworden, dass er zum ersten Mal wirklich geliebt hatte. Die Ehrlichkeit dieser Liebe hatte ihn für immer verändert.

Er wollte sie heiraten, was nichts mit Anstand und Moral, aber alles mit seinem Herzen zu tun hatte. Sie trafen sich jeden Tag nach den Vorlesungen und gingen verrückte Risiken ein, um in seinem Zimmer oder ihrem zusammen sein zu können. Nachdem sie einmal miteinander geschlafen hatten, konnten sie nicht mehr darauf verzichten. Das gegenseitige Verlangen überlagerte alle Vernunft.

Er merkte lange vor Ginny, dass sie schwanger war. Als gute Katholikin hatte sie keine Verhütung betreiben wollen. Der Himmel wusste, er hatte wirklich versucht, sie nicht zu schwängern … doch Ginny umschlang ihn mit den Beinen, dass es ihn schier um den Verstand brachte. Und sie verhinderte, dass er sich rechtzeitig zurückzog. Gerade so, als hätte sie es darauf angelegt, dass es passierte.

Zu der Zeit mietete er ein Zweizimmerapartment abseits vom Campus. Ihr einziges Möbelstück war eine abgewetzte Matratze in einer Ecke. Das Kochen erledigten sie auf einer einzelnen Platte. Der Mangel an materiellen Dingen kümmerte sie jedoch wenig. Sie waren zu verliebt, sich deshalb Sorgen zu machen.

Ginnys konservative Familie war entsetzt über die äußerlichen Veränderungen an ihr, als sie in den Ferien mit ihm im Schlepp heimgekommen war. Ginnys Haar hatte bis zur Taille gereicht, und ihre Kleidung bestand aus weiten Blusen, bunten langen Baumwollröcken und Sandalen. Ihre Eltern mochten ihn nicht, umso weniger, als sie erfuhren, dass er ihre mit Auszeichnung von der Schule gegangene Tochter geschwängert hatte. Es überraschte ihn nicht, dass sie entschieden gegen eine Heirat waren. Zu den Dingen, die ihn in den folgenden Jahren belasteten, gehörte, dass er einen Keil zwischen Ginny und ihre Familie getrieben hatte.

Sie schrieben sich ihre Ehegelübde selbst, und auf Ginnys Drängen fanden sie einen mitfühlenden Priester, der die Zeremonie vollzog. Ihr Liebesleben war schon vorher wunderschön gewesen, doch nach der Heirat wurde es unglaublich.

Da er eine Frau zu versorgen hatte und ein Baby unterwegs war, sah er sich gezwungen, das College zu verlassen und eine Ganztagsstellung zu finden. Er hatte mal mit Medizin als beruflicher Laufbahn geliebäugelt, doch das war von Anfang an ein unwahrscheinlicher Traum gewesen. Sie wussten das beide. Außerdem hätte er das Medizinstudium nur mit einem Stipendium durchziehen können, und seine Noten waren schlechter geworden, seit er mit Ginny zusammen war. Trotzdem hätte er seine Ehe nicht gegen ein Vollstipendium an der besten medizinischen Fakultät des Landes eingetauscht.

Obwohl sie unter der Armutsgrenze lebten, waren sie rundum glücklich. Bei Lorraines Geburt war er so lange bei Ginny geblieben, wie der Doktor es gestattete. Es war die reine Hölle gewesen, sie im Kreißsaal allein zu lassen. Als die Schwester herauskam und ihm sagte, er habe eine Tochter, war er vor Glück in Freudentränen ausgebrochen.

Zwei Tage, nachdem Lorraine aus dem Krankenhaus gekommen war, ging er ins Rekrutierungsbüro der U.S.-Army, um in die Armee einzutreten. Es war nicht das, was er wollte, aber ihm blieb keine Wahl. Als er die Uniform anzog, hatte er keinen blassen Schimmer, was er verlieren würde.

Sein Albtraum handelte von Vietnam. Immer wieder erlebte er jenen Tag, als er David Williams in einem blutgetränkten Reisfeld gehalten und ihm beim Sterben zugesehen hatte. Er hatte nichts tun können, außer in Qualen zu schreien.

Er hatte Ginny von David geschrieben, doch Worte waren nicht genug, seinen Verlust auszudrücken. An jenem Tag war mehr als ein Freund gestorben. Ein Teil von Thomas Dancy war ebenfalls gestorben. Der junge Mann, der er gewesen war, der unschuldige Einundzwanzigjährige, der an die Macht der Liebe und der Güte glaubte, war ebenfalls auf diesem Reisfeld verblutet.

Er war in den Krieg gezogen als Junge, der versuchte, seine Familie zu ernähren, ohne zu ahnen, wie der Krieg einen Menschen veränderte. Nur Ginnys Liebe hatte ihm später geholfen, die Hässlichkeit jener langen Monate in Vietnam zu überwinden. In der Hälfte seiner Dienstzeit nutzte er einen Urlaub von der Truppe in Hawaii, um zu desertieren, und kehrte nie mehr in den Krieg zurück. Er verachtete, was aus ihm geworden war.

Die Army führte ihn fortan als Deserteur, doch Thomas wusste, dass seine Flucht ihm das Leben gerettet hatte. Er hätte den Verstand verloren, wenn er zurückgekehrt wäre. Eine Weile hatte er sich in San Francisco versteckt. Ginny war zu ihm gekommen, hatte ihm Liebe geschenkt und ihm seinen Verstand zurückgegeben. Bitterkeit und Hass waren allmählich schwächer geworden, bis er fast wieder normal empfand und die erlebten Gräuel zumindest verdrängen konnte.

Doch er fühlte eine moralische Verpflichtung, andere vor dem zu schützen, was er erlebt hatte. Anstatt nach Kanada zu fliehen, wie es viele vor und nach ihm taten, machte er es sich zur Aufgabe, für die Beendigung des Krieges zu arbeiten. Er trat einer Extremistengruppe bei und befreundete sich mit ihrem Anführer, José Delgado, dessen Familie in Mexiko lebte. Da Thomas nach vier Jahren Studium recht gut Spanisch sprach, bestand José darauf, dass sie seine Sprache benutzten, wenn sie über ihre Pläne redeten. Was als Vorsichtsmaßnahme begann, endete als Notwendigkeit.

“Thomas?”

Beim Klang seines Namens drehte er sich nur zögernd um.

“Wieder der Traum?”, fragte Azucena halblaut.

Er nickte nur, ohne zu erklären, dass seine Gedanken Ginny und der Tochter gegolten hatten, die er nicht mehr kannte.

Sie schlüpfte aus dem Bett und kam zu ihm, die nackten Füße schritten lautlos über den Holzboden. “Komm wieder ins Bett”, drängte sie auf Spanisch und schlang ihm die Arme um die Taille.

“Bald”, versprach er und mochte seine Erinnerungen noch nicht loslassen.

“Komm!”, lockte sie wieder und legte ihm die gespreizten Finger auf die Brust. “Ich werde dir helfen, deine schlimmen Träume zu vergessen.”

“Azucena …”

Als Antwort küsste sie ihm den Nacken und presste ihre schweren Brüste an ihn.

Er brauchte sie jetzt so dringend wie immer. Trotz des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Schwangerschaft küsste er sie ohne Zurückhaltung. Und sie reagierte mit einer Leidenschaft, die seine eigene anstachelte. Als er sich zurückziehen wollte, zog sie ihn zum Bett und presste ihn an sich.

Azucena verdiente einen besseren Mann, als er je sein konnte. Sie verdiente jemand, der sie vollkommen um ihrer selbst willen liebte. Jemand, der dem Kind, das in ihr wuchs, seinen Namen gab. Es beschämte ihn, dass sie nur zwei Jahre älter war als seine Tochter. Doch das hielt ihn nicht davon ab, zwischen ihren Schenkeln einzudringen. Im Augenblick des Höhepunktes stieß er Ginnys Namen aus. Es war nicht das erste Mal, und es würde nicht das letzte Mal sein.

Lorraine hatte den Brief so oft gelesen, sie konnte ihn auswendig. Sie übernachtete nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern ausschließlich im Haus ihrer Mutter. Während sie dort war, schlief sie jedoch sehr wenig. Erschöpft und zornig saß sie Nacht für Nacht im dunklen Wohnzimmer und versuchte in dem, was sie erfahren hatte, einen Sinn zu entdecken.

Sie war sich vage bewusst, dass seit jenem Nachmittag in Dennis Goodwins Büro zwei Wochen vergangen waren. Der Morgen dämmerte, Licht strömte in den Raum, und sie hatte wieder nicht geschlafen. Sie schlummerte höchstens ein, zwei Stunden. Der tiefe, zufriedene Schlaf derer, die mit sich und der Welt im Einklang waren, schien für sie auf ewig verloren.

Die Mutter, die sie gekannt und geliebt hatte, existierte nicht mehr. Virginia – oder die Person, die sie zu sein vorgegeben hatte – war für sie nicht mehr erreichbar. Was sie getan hatte, überstieg Lorraines Fassungsvermögen. Sie kam sich vor, als sei das Fundament ihrer Welt zusammengebrochen.

Obwohl sie jedes Wort des Briefes auswendig kannte, holte sie ihn noch einmal hervor und las ihn.

Liebste Ginny!

Heute ist der einundzwanzigste Geburtstag unserer Tochter. Wo sind nur all die Jahre hin? Es kommt mir wie gestern vor, als ich Raine auf den Knien geschaukelt und sie in den Schlaf gesungen habe. Es schmerzt mich, zu erkennen, wie viel ihres Lebens ich versäumt habe.

Ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich habe nie aufgehört, dich zu lieben und zu brauchen. Ich wünschte, das Leben hätte anders für uns verlaufen können. Worum ich dich jetzt bitte, ist, dass du Raine die Wahrheit über mich mitteilst.

Die Entscheidung, ihr zu sagen, ich sei tot, haben wir gemeinsam getroffen. Zu der Zeit schien es das Richtige zu sein, aber ich habe es jeden Tag bereut. Du weißt das. Und du weißt auch, dass ich mein Wort halte. Ich habe getan, was du wolltest und mich nicht in euer Leben eingemischt. Aber ich bitte dich jetzt, Raine die Wahrheit zu sagen. Die ganze. Sie ist nun volljährig und alt genug, ihre eigenen Urteile zu fällen.

Ich unterrichte an einer kleinen Schule in der Küstenstadt El Mirador auf der Halbinsel Yucatán. Du kannst mich telefonisch unter der Nummer am Ende des Briefes erreichen. Die Schule wird dafür sorgen, dass ich deine Nachricht erhalte.

Geht es dir gut, Ginny? Liegst du nachts wach und denkst an mich, so wie ich an dich denke? Bist du glücklich? Ich habe gebetet, dass du inneren Frieden findest.

Ich werde dich immer lieben.

Thomas

Drei Wahrheiten sprangen Lorraine geradezu an, sobald sie den Brief las. Zuerst, und am wichtigsten, trotz allem, was man ihr erzählt hatte, lebte ihr Vater, und es ging ihm gut. Zweitens, er liebte sie. Als Letztes – und das belastete sie am meisten – ihre Mutter hatte sie all die Jahre belogen.

Ein lautes Klopfen an der Eingangstür riss Lorraine aus ihren Gedanken.

Sie war nicht überrascht, Gary auf der anderen Seite der Fliegendrahttür zu entdecken. “Ich dachte mir, dass du hier bist.” Er blickte in den Wohnraum und sah das Durcheinander.

“Wie spät ist es?”, fragte sie, obwohl offensichtlich Morgen war.

“Du hättest bereits vor einer Stunde zur Arbeit gemusst.”

“Ist es schon so spät?” Sie ging langsam durch den Raum, nahm Bücher, Zeitungen und Videokassetten auf und stapelte sie ordentlich auf einem Regal. Alles war besser, als Gary ansehen zu müssen. Sie wollte ihm nicht erzählen, was sie getan hatte.

“Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, um dir zu helfen”, sagte er und streckte in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. Als sie nicht antwortete, ging er in die Küche und nahm eine Dose Kaffee aus dem Schrank.

Lorraine folgte ihm.

“Es könnte eine gute Idee sein, wenn du dich anziehen würdest, damit du zur Arbeit gehen kannst”, drängte er nachdrücklich.

Anstatt mit ihm zu streiten, tat sie wie vorgeschlagen, duschte schnell und zog ihre Schwesterntracht an, obwohl sie nicht vorhatte, sich in der Klinik zu zeigen. Als sie zurückkehrte, begrüßte sie der Duft von frisch gebrühtem Kaffee.

“Reden wir”, bat Gary und deutete ihr mit einer Geste an, sich an den Tisch zu setzen.

Wieder gehorchte sie, weil es zu viel Energie gekostet hätte, sich ihm zu widersetzen.

Er nahm den Stuhl ihr gegenüber. “Liebes, ich weiß, wie schwer das alles ist, aber du musst weiterleben.”

Sie tat nicht so, als würde sie ihn nicht verstehen. “Das ist mir klar, und ich werde weiterleben.”

“Das ist ein guter Start.” Er nippte an seinem Kaffee und seufzte tief, als hätte er sich vor dieser Konfrontation gefürchtet. “Seit dem Treffen mit dem Anwalt deiner Mutter warst du nicht mehr du selbst.”

“Ich weiß.”

Er zögerte, als wisse er nicht genau, wie er weitermachen sollte. “Mir ist klar, dass dieser Brief dich sehr aufgewühlt hat. Zum Teufel, das hätte jeden geschockt, aber du musst mit der Realität klarkommen. Hier jede Nacht zu schlafen und dir immer wieder dieselben Videos anzusehen, bringt dich nicht weiter.” Er machte eine Pause und änderte die Taktik. “Es ist jetzt einen Monat her, und du hast den Tod deiner Mutter immer noch nicht besser verkraftet als am Anfang.”

“Du hast recht, ich habe es nicht verkraftet”, stimmte sie zu und umfasste ihren Becher mit beiden Händen, so dass die Wärme in ihre Handflächen eindrang. Irgendwie gelang es ihr, täglich zur Arbeit zu gehen, aber sie hatte sich viele Male verspätet. Immer wieder saß sie vor dem Fernseher und flüchtete sich in alte Lieblingsfilme. Alles war besser, als an die Lügen zu denken, die Virginia ihr erzählt und beide Eltern ausgeheckt hatten.

“Was treibst du hier jede Nacht?”, fragte Gary. “Abgesehen davon, dass du Humphrey-Bogart- und Cary-Grant-Filme siehst?”

“Was ich hier treibe?” Er musste sich doch nur umsehen, um darauf eine Antwort zu finden.

Er sah in den Wohnraum und zog die Stirn kraus.

Lorraine versuchte, das Haus mit seinen Augen zu betrachten, und musste zugeben, es war schockierend. Eigentlich war sie ordnungsliebend und eine tadellose Hausfrau, jedoch hatte sie systematisch jedes Zimmer in Unordnung gebracht. Hier herrschte das reine Chaos.

“Was versuchst du zu beweisen?”, fragte er.

Sein Unverständnis verblüffte sie. “Ich versuche gar nichts zu beweisen. Ich hoffe zu finden, was meine Mutter sonst noch vor mir verborgen hat.”

Gary starrte in die Ferne, als bereite es ihm Mühe, ihre Worte zu begreifen. “Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber hast du schon mal daran gedacht, dich an einen Berater zu wenden?”, fragte er vorsichtig und riskierte es, sie anzusehen.

“Du meinst, einen Psychiater?”

“Äh … ja.”

Lorraine konnte nicht anders, sie brach in Gelächter aus. “Du denkst, ich wäre durchgeknallt, ich wäre nicht mehr ganz bei Sinnen?” Als ihr Gelächter in ein Kichern überwechselte, begann sie sich zu fragen, ob er nicht vielleicht recht hatte. Das schmerzliche Gefühl, verraten worden zu sein, drohte sie manchmal zu ersticken. Dass ihre Eltern, besonders ihre Mutter, ihr eine Lebenslüge aufgetischt hatte, war unbegreiflich.

“Ich weiß, wie schwierig das für dich ist”, fügte Gary hinzu. “Ich versuche, das zu verstehen, und ich weiß, deine Arbeitgeber tun das auch. Aber es gibt eine Grenze für ihr Entgegenkommen.”

“Ich bin deiner Meinung.”

Garys Blick verriet seinen Argwohn. “Du bist meiner Meinung?”

“Ich lasse mich für den nächsten Monat freistellen.”

“Einen Monat lang?” Sie sah, wie erschrocken er von dieser Ankündigung war. “So lange? Ich dachte, ein oder zwei Wochen wären ausreichend, findest du nicht?”

“Nicht für das, was ich vorhabe.”

“Ich dachte, wir wären übereingekommen, unsere Ferienzeit für die Flitterwochen aufzusparen und …” Er brach mitten im Satz ab und betrachtete sie aus leicht verengten Augen. “Was du vorhast? Du hast etwas vor?”

“Ich werde zu meinem Vater reisen.”

Es dauerte einige Zeit, bevor er wieder sprechen konnte. “Wann?”

“Mein Flug geht um sieben Uhr am Dienstagmorgen.”

Gary starrte sie an, als würde er sie nicht wiedererkennen. “Wann hast du das beschlossen?” Seine Stimme klang sehr ruhig, was Lorraine als Signal für Verärgerung erkannte.

“Letzte Woche.” Als sie das Ticket gekauft hatte, war ihr klar gewesen, dass Gary nicht einverstanden sein würde. Das war einer der Gründe, warum sie ihre Pläne nicht mit ihm besprochen hatte.

“Verstehe”, sagte er im Tonfall eines verletzten kleinen Jungen. Er griff nach seinem Kaffeebecher und trank einen kräftigen Schluck.

“Ich habe mit der Schule telefoniert, an der er unterrichtet und mit der Sekretärin gesprochen.” Die Unterhaltung war schwierig verlaufen, aber das Schulenglisch der Sekretärin war bei Weitem besser gewesen als ihr High-School-Spanisch.

Garys Schweigen war beredt. Trotzdem erklärte Lorraine ihm weitere Einzelheiten in der Hoffnung, die Wogen zu glätten, ehe sie nach Mexiko abflog. Sie wollte Gary weder geringschätzig behandeln noch verletzen, aber sie musste ihren Vater aufsuchen und von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden. Sie musste herausfinden, was ihn und ihre Mutter auseinandergetrieben hatte und warum ihre Eltern sie in dem Glauben gelassen hatten, er sei tot. Es musste eine logische Erklärung für diese Lüge geben – zumindest hoffte sie das. Von allen Gefühlen, die ihr Vater in dem Brief offenbart hatte, war das stärkste Liebe gewesen, sowohl zu ihr wie zu ihrer Mutter. Und all die Jahre hatte man sie um diese Liebe betrogen. Warum?

“Hast du mit deinem Vater gesprochen?”, fragte Gary mit emotionsloser Stimme.

Sie zögerte mit der Antwort, weil Gary offenkundig gegen ihr Vorhaben war. “Nicht direkt.”

“Verstehe.”

“Die Telefonnummer gehört zu der Schule, an der er unterrichtet.”

“Das habe ich verstanden.” Er klang jetzt nur noch resigniert.

“Als ich anrief, war er im Unterricht”, fügte sie hinzu. Das erklärte doch alles. “Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen. Er kennt meine Flugnummer und weiß, wann ich ankomme. Ich habe ihn gebeten, mich am Flughafen abzuholen.”

“Dann hat er zurückgerufen?”

Sie zögerte wieder. “Nicht direkt.”

Gary schnaubte. “Es ist eine simple Frage, Lorraine. Entweder er hat angerufen oder nicht.”

Diese Unterhaltung lief von Anfang an schief. “Mir gefällt dein Ton nicht, Gary. Ich hatte gehofft, du würdest mich unterstützen.”

Er atmete in einem lang gezogenen Seufzer aus. “Ich hätte mir einfach gewünscht, du hättest diese Sache vorher mit mir besprochen.”

“Tut mir leid.” Das war glatt gelogen. “Mir ist klar, dass es dir gegenüber nicht fair ist, aber ich muss einfach herausfinden, was zwischen meinen Eltern schiefgelaufen ist. Mein Vater lebt, und ich möchte eine Chance haben, ihn kennen zu lernen. Ich möchte mit ihm reden und erfahren, warum sie es für nötig hielten, mich zu belügen. Das kannst du doch verstehen, oder?”

Er ließ sich Zeit mit der Antwort. “Ja”, gestand er mit offensichtlichem Zögern. “Aber, wie gesagt, ich hätte mir gewünscht, du hättest es vorher mit mir besprochen. Wir sind verlobt. Ich habe einfach unterstellt, dass du es mir sagst, ehe du dir ein Flugticket kaufst.”

“Ich will meinen Vater besuchen, nicht meinen Job aufgeben.”

“Dir einen Monat freizunehmen hat … doch auch Auswirkungen.”

“Was meinst du damit?”

“Unsere Flitterwochen. Man gibt dir nicht einen Monat frei und dann kurze Zeit später noch mal zwei Wochen.”

“Fünf Monate später.”

“Wie auch immer.”

“Gary, bitte. Versuch es von meinem Standpunkt aus zu betrachten.”

“Betrachte es von meinem.”

“Darling, es tut mir leid”, wiederholte Lorraine. “Ich hatte gehofft, du würdest es verstehen. Ich muss das machen, ehe ich mein normales Leben wieder aufnehmen kann. Ehe wir unser Leben beginnen können.”

Gary nickte langsam, als sei es ein Geschenk, ihrer Reise zuzustimmen. “Trotzdem wäre es besser gewesen, du hättest mich vorher informiert, damit ich meine Pläne einrichten und dich begleiten könnte.”

Sie begleiten? Daran hatte sie nicht ein einziges Mal gedacht. Er kann ja sowieso nicht, überlegte sie erleichtert. Zumal er gerade erst befördert worden war und seinen Nachfolger einarbeiten musste.

Doch das war nicht der wahre Grund, und das wusste sie. Sie liebte Gary, aber sie wollte ihn nicht dabeihaben. Diese Reise in die Vergangenheit ihrer Familie war ihr Abenteuer, ihres ganz allein.

Lorraine allein nach Mexiko fliegen zu lassen war Gary nicht leicht gefallen. Er liebte seine Verlobte und erkannte an, dass sie eine schwierige, aufwühlende Zeit durchmachte. Ein Teil seiner Liebe äußerte sich in der Bereitschaft, sie allein wegfliegen zu lassen. Nicht nur das, er hatte ihr angeboten, sie zum Flughafen zu bringen, was bedeutete, um vier Uhr morgens aufzustehen.

Er sah kurz auf die Uhr im Armaturenbrett. Viertel vor fünf. Sie hatten diese Reise seit dem Morgen, als Lorraine sie das erste Mal erwähnte, zahllose Male diskutiert, weil er überzeugt war, sie begehe einen Fehler. Aber Lorraine ließ sich nicht umstimmen und hörte ihm gar nicht mehr zu.

Obwohl er sie nur vor weiteren Verletzungen bewahren wollte, weigerte sie sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass diese Reise ein anderes Ergebnis haben könnte als eine freudige Wiedervereinigung mit dem Vater, den sie gar nicht kannte. Er hatte Lorraine immer für ihren gesunden Menschenverstand bewundert, doch in dieser unerfreulichen Angelegenheit zeigte sie wenig davon.

Gary hatte Lorraines Mutter sehr gemocht, und ihr Tod hatte auch ihn tief erschüttert. Virginias Geschäftssinn und die Tatsache, dass sie sich in einer Branche behauptete, die immer noch eine Männerbastion war, hatten ihm Respekt abgenötigt. Darüber hinaus traute er ihrem Urteil. Da sie sich entschlossen hatte, Lorraine eine Lüge über ihren Vater zu erzählen, nahm er an, dass es dafür einen triftigen Grund gab. Und er befürchtete, dass dieser Grund Lorraine eine schlimme Erfahrung oder ein gebrochenes Herz bescheren könnte.

Abgesehen von ihrer mangelnden Bereitschaft, seinen Rat anzunehmen, missfiel ihm auch, dass sie ihn nicht dabeihaben wollte. Sie hatte nicht mal versucht, das zu verbergen, und das schmerzte ihn.

Er parkte den Wagen und sammelte seine Gedanken, während er sich dem Haus näherte.

“Fertig?”, fragte er, als Lorraine ihm die Tür öffnete.

Sie nickte. Zumindest hat sie vernünftig gepackt, dachte er und bemerkte den mittelgroßen Koffer mit Rollen. Sie war nicht wie andere Frauen, die auf jeder Reise ihren halben Kleiderschrank mitschleppten. Sie sah kultiviert aus in ihrem cremefarbenen Leinenanzug, die blonden Haare ordentlich zurückgekämmt. Sie wirkte ein wenig nervös, aber offenbar entschlossen, durchzustehen, was immer geschah.

“Hast du deinen Pass?”

“Ja.”

“Travellerschecks?”

Sie nickte.

“Insektenabwehrmittel?”

“Gary! Ehrlich, du benimmst dich, als wäre ich ein Kind, das ins Ferienlager zieht.”

Er hatte es nicht so gesehen, aber wahrscheinlich hatte sie recht. “Tut mir leid”, entschuldigte er sich lächelnd.

Weil es so früh nur wenig Verkehr gab, brauchten sie nicht lange zum Flughafen. Gary bestand darauf, sie bis zum Flugsteig zu bringen. Dann standen sie dort, warteten und wussten nicht, was sie miteinander reden sollten.

“Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst”, sagte sie schließlich leise.

“Ich werd’s versuchen. Rufst du mich an?”

Sie zögerte und zuckte leicht die Achseln. “Ich weiß nicht, ob das Telefonieren in El Mirador so einfach ist. Ich vermute, dass die Schule das einzige Telefon dort hat.”

Er wünschte, sie hätte ihn nicht daran erinnert, wie primitiv dieser kleine Ort zu sein schien.

“Ich werde dir schreiben”, versprach sie, “und ich werde anrufen, wenn ich kann.”

“In Ordnung.” Er musste sich damit zufrieden geben.

Ihr Flug wurde aufgerufen, und er wartete mit ihr in der Schlange, bis sie den Zugang zur Maschine betrat. Sie umarmten und küssten sich, und er hielt sie einen Moment fest, ehe sie in dem langen Tunnel verschwand. Obwohl sie schon seinem Blick entschwunden war, blieb Gary noch stehen.

Trotz Lorraines Optimismus wurde er das Gefühl nicht los, dass sich sein und ihr Leben grundlegend ändern würden.

3. KAPITEL

Jack Keller hatte sich nie für einen besonders guten Fischer gehalten. Einen zweiunddreißig Fuß langen Kabinenkreuzer mit Zwillingsdieselmotoren zu besitzen machte deshalb genauso wenig Sinn wie vieles andere in seinem Leben.

Er war vorzeitig in den Ruhestand getreten und hatte sich dem todesverachtenden Spiel entzogen, solange er noch konnte. Am Ende seiner fünfjährigen Dienstzeit hatte ihm alles gehörig zum Halse heraus gehangen. Die geheimen Rettungsaktionen, auf die sich die Deliverance Company spezialisiert hatte, waren ihm zuwider geworden. Er hatte es satt, sich mit hitzköpfigen Terroristen und korrupten Regierungen anzulegen, die in ihrem grausamen Spiel um Rache und Gier Unschuldige missbrauchten.

Allerdings war er für seine Fähigkeiten gut bezahlt worden, und er hatte fast alles Geld gespart. Der größte Teil seines Vermögens war gut investiert, und von dem Verkauf seiner Eigentumswohnung in Kansas City konnte er bequem in Mexiko leben, bis er ein sehr alter Mann war.

In den Tropen alt zu werden gefiel Jack. Ungebunden und sorgenfrei, so wollte er leben. Das Boot war ein Bonus, mit dem er nicht gerechnet hatte. Eine Art Erbe von Quinn McBride, einem Freund, dem er vor vielen Jahren das Leben gerettet hatte.

Jack hatte während der letzten drei Jahre auf der “Scotch on Water” gelebt. Die meiste Zeit davon war er im Golf von Mexiko geblieben, hatte mal hier und mal dort geankert und einige Freundschaften geschlossen. Die engste verband ihn mit Thomas Dancy, einem weiteren Amerikaner, der seinem Land den Rücken gekehrt hatte und im kleinen Küstenort El Mirador lebte.

Obwohl Thomas fast fünfzehn Jahre älter war als er, pflegten sie eine tiefe Freundschaft, und es vereinte sie die Liebe zu ihrer zweiten Heimat. Thomas war ein Mann mit Geheimnissen, aber Jack war das auch. Vor allem wegen Thomas und Azucena war er im Bereich von Yucatán geblieben. In den letzten Wochen hatte er allerdings beschlossen, seinen Horizont zu erweitern. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich ein wenig in den Florida Keys zu tummeln und unterwegs auf einigen Karibikparadiesen anzuhalten. Er hatte gehört, dass die Menschen dort sehr freundlich waren. Dass die Frauen hübsch sein sollten, war auch nicht von Nachteil.

Andererseits könnte er auch nach Belize zurückkehren. Er hatte einige Male im Hafen von Belize City angelegt und war beeindruckt gewesen von der Schönheit des Landes. Außerdem waren seine amerikanischen Dollars dort höchst willkommen. Jack hatte kein Problem damit. Die Frauen waren warmherzig und freundlich – und da gab es eine hübsche Señorita, die sich zweifellos freuen würde, ihn wiederzusehen. Er konnte sich zwar nicht an ihren Namen erinnern, aber sicher fiel der ihm noch rechtzeitig ein.

Entweder Florida oder Belize, er musste sich noch entscheiden. Bevor er seinen Kurs festlegte, brauchte er allerdings Vorräte, und außerdem wäre es ganz gut, nach seiner Post zu sehen. Nicht dass er etwas erwartete. Er hatte seit Wochen nichts von Cain, Murphy oder Mallory gehört, aber er war selbst auch nicht besonders gewissenhaft darin, Kontakt mit alten Freunden zu halten. Sein Leben als Geheimagent lag weit hinter ihm. Heute hatte er nur noch wenig gemein mit den Männern, die einst die Deliverance Company ausmachten. Seine Freunde waren inzwischen verheiratet und nach seinen letzten Informationen waren alle häuslich geworden. Er allerdings nicht.

Jack stand auf der Steuerbrücke, die Sonne im Gesicht. Der Wind schlug ihm das aufgeknöpfte Hemd gegen die gebräunte Brust, als er die “Scotch on Water” in westliche Richtung steuerte. Er prüfte die Karte und stellte fest, dass er nicht weit von El Mirador entfernt war. Es war schon einige Monate her, seit er mit Thomas ein Bier getrunken hatte. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, musste Azucena jetzt jeden Tag ihr Kind bekommen. Vielleicht kam er noch rechtzeitig zu dem glücklichen Ereignis und konnte mit dem Vater anstoßen.

Das war ihr drittes Kind in sechs Jahren. Großer Gott. Thomas war auch nicht besser als Cain und Murphy, aber wenigstens hatte er eine Entschuldigung. Azucena lehnte als gläubige Katholikin Empfängnisverhütung ab. Sex ohne Ehe, klar, aber Empfängnisverhütung, nein. Interessante Logik, dachte Jack grinsend. Während eines Besuches hatte Thomas ihm gestanden, wie entsetzt er gewesen war, als Azucena das erste Mal schwanger wurde. In den folgenden Jahren hatte er sich offenbar ans Vatersein gewöhnt. Jack überlegte, dass es ihm vielleicht nicht anders erginge, wenn eine heißblütige Frau wie Azucena sein Bett wärmte.

Es gab irgendeinen Grund, warum Thomas sie nicht heiraten konnte. Es hatte mit seiner Vergangenheit zu tun. Thomas hatte einmal eine Andeutung gemacht, es aber nicht weiter erklärt.

Auch Jack hatte, Narr der er war, vor Jahren ernsthaft eine Heirat in Erwägung gezogen. Heute fand er das schwer zu glauben, doch er war tatsächlich bereit gewesen, sich auf alles einzulassen – Ehefrau, Kinder, Haus im Vorort. Glücklicherweise war er dieser Falle entkommen … aber damals war er darüber nicht besonders glücklich gewesen. Tatsächlich hatte es scheußlich wehgetan, als Marcie seinen Antrag ablehnte. Was ihn aber wirklich fertig gemacht hatte, war, dass sie dann statt seiner einen Klempner namens Clifford heiratete.

Die beiden schienen allerdings glücklich miteinander zu sein. Er fand das bemerkenswert und war zugleich erleichtert. Er wünschte Marcie von Herzen Glück. In den letzten beiden Jahren hatte er Weihnachtskarten erhalten mit Fotos von ihr und Clifford. Auf dem ersten Bild stand sie, offensichtlich stolz auf ihre Schwangerschaft, neben ihrem Hünen von Ehemann. Sie sah aus wie im zehnten Monat. Die Weihnachtskarte des nächsten Jahres erklärte warum. Zwillinge. Die Namen hatte er vergessen, aber sie waren ziemlich einfallslos gewesen, wenn er sich recht entsann. Billy und Bobby oder etwas in der Art.

Ihr Gesicht hatte vor Glück gestrahlt, während sie eines der sich windenden Babys hielt und Clifford das andere. Jack hatte das Bild auf dem Boot weggesteckt, als ständige Erinnerung, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte, ihn nicht zu nehmen. Abgesehen von dieser kurzen Episode hatte er schon vor langer Zeit erkannt, dass er nicht der Typ zum Heiraten war. Nein, nicht mal annähernd. Er war nicht daran interessiert, mit einer Frau sesshaft zu werden und sich diesen ganzen häuslichen Kram aufzuhalsen. Er genoss sein sorgenfreies Leben und brauchte niemand, der ihm den Kopf verdrehte oder sein Herz eroberte.

Keine Frage, alles hatte sich zum Besten gewendet, als Marcie Clifford heiratete. Er wäre ein erbärmlicher Ehemann geworden. Allerdings gab es Zeiten, wenn auch selten, in denen er sich fragte, was geworden wäre, wenn Marcie ihn genommen hätte.

Ich werde ihr zu Ehren ein Bier trinken, entschied Jack und blickte stirnrunzelnd in den Wind. Auf Marcie und ihre glückliche Rettung.

Die Boeing 767 landete früh am Nachmittag in Mérida, auf der Halbinsel Yucatán. Sobald Lorraine aus der Maschine stieg, ließ sie ihren Blick über den Bereich der Zollabfertigung wandern, in der Hoffnung, ihr Vater habe ihre Nachricht und den nachfolgenden Brief erhalten und hole sie ab. Das einzige Foto, das sie von ihm besaß, war das Hochzeitsbild der Eltern. Damals hatte er lange Haare gehabt und einen Bart getragen. Er war jetzt fünfzig, und Lorraine hatte keine Ahnung, ob sie ihn überhaupt wiedererkennen würde.

Die Landkarte, die sie sicher in ihrer Tasche verstaut hatte, zeigte, dass El Mirador etwa fünfundsiebzig Meilen nördlich von Mérida lag. Besorgt sah sie sich um. Die Zollabfertigung dauerte ungewöhnlich lange. Etliche Passagiere beklagten sich bereits über den unnötigen Aufenthalt. Soweit Lorraine es aufschnappte, war die kleine Zollstelle wegen eines Museumsraubes unterbesetzt. Offenbar kontrollierte jeder verfügbare Beamte das Gepäck von Reisenden, die das Land verließen.

Nach einer kleinen Ewigkeit wurde sie jedoch durchgewinkt. Sie nahm ihren Koffer und schaute sich gründlich im Wartebereich um, sah allerdings niemand, der auch nur entfernt dem Mann auf dem Hochzeitsfoto ähnelte.

“Zeit für Plan B”, sagte sie halblaut vor sich hin und war froh, sich zuvor einen Alternativplan zurechtgelegt zu haben. Sie ging durch das Flughafengebäude zum Büro der Autovermietung.

“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte die Angestellte.

“Großartig”, erwiderte sie und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Führerschein. “Sie sprechen Englisch.”

“Ja.” Die junge Frau schenkte ihr ein Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung.

“Ich muss einen Wagen mieten.”

“Schön.”

“Ich weiß allerdings nicht, wie lange ich ihn brauche. Vielleicht einen ganzen Monat, es sei denn, es gibt eine Vermietungsagentur in der Nähe von El Mirador, wo ich ihn abgeben könnte.”

Das freundliche Lächeln schwand, sobald Lorraine den Namen des Ortes erwähnte. Die junge Frau blickte über die Schulter und sagte etwas auf Spanisch, das Lorraine nicht verstand. Sofort gesellte sich eine zweite Frau zu ihnen, die offenbar die Geschäftsführerin war. Die beiden sprachen in schnellem Spanisch miteinander, und obwohl Lorraine einige Worte aufschnappte, blieb ihr der Sinn der Unterhaltung unklar.

Nachdem sie fertig waren, wandte sich die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln wieder freundlich ihr zu. “Es tut mir leid, aber meine Vorgesetzte sagt mir soeben, dass wir augenblicklich keine Wagen zu vermieten haben.”

Lorraine glaubte ihr kein Wort. “Aber vor einer Minute waren Sie noch sehr bereit, mir ein Auto zu geben.”

“Ja.” Sie bestritt das nicht einmal.

“Und warum möchten Sie es jetzt nicht mehr?”

“El Mirador hat keine Straßen.”

“Keine Straßen?”

Die Angestellte nahm einen Mietvertrag heraus, las ihn schweigend, unterstrich die wichtigen Stellen und reichte ihn Lorraine. Die Leute in der Schlange hinter ihr wurden bereits ungeduldig. Lorraine entfernte sich vom Schalter, setzte sich und las den gekennzeichneten Absatz. Mit Hilfe ihres Wörterbuches bekam sie Sinn in das Ganze. Mietwagen wurden offenbar nur für das Fahren auf befestigten Straßen vergeben. Mit anderen Worten, El Mirador lag abseits fester Wege. Dort hin- oder zurückzugelangen war offenbar nur auf Lehm- und Schotterpisten möglich. Es würde kein leichtes Unterfangen werden, nach El Mirador zu kommen.

“Okay, dann also Plan C.” Allerdings musste sie sich den erst noch zurechtlegen. Es musste eine weitere Transportmöglichkeit nach El Mirador geben. Ein Bus. Wenn sie schon keinen Mietwagen bekommen konnte, würde sie eben den Bus nehmen. Das bedeutete, erst mal die Bushaltestelle zu finden.

Entschlossen nahm sie ihren Koffer auf und verließ das klimatisierte Flughafengebäude. Die Hitze traf sie wie ein Schlag, dass sie taumelte. Ihr war, als habe ihr jemand ein heißes Handtuch über den Kopf geworfen. Fast augenblicklich wurde ihr Leinenanzug klamm und klebte an ihr wie eine zweite Haut. Die Sommer in Louisville konnten drückend sein, aber so etwas wie das hier hatte sie noch nicht erlebt, und es war erst Mai. Sie sah an sich hinab auf die zerknitterte Hose und auf die Jacke mit den Schweißflecken.

Das hatte sie nun davon, dass sie einen guten Eindruck auf ihren Vater machen wollte. Hätte sie sich mit jemand anders getroffen, hätte sie einen weniger förmlichen Aufzug gewählt.

Sie stellte sich in die Schlange für ein colectivo-Taxi und wartete geduldig, dass sie an die Reihe kam. Leider sprach der Fahrer nur wenig Englisch, aber mit ihrem Wörterbuch und einem Sprachführer für Touristen konnte sie ihre Botschaft übermitteln. Der Fahrer nickte wiederholt auf ihre Fragen, verstaute ihr Gepäck im Kofferraum und verschloss den mit einem ausgefransten Seil.

Lorraine stieg auf dem Rücksitz ein und suchte nach einem Sicherheitsgurt. Es gab keinen. Sobald sich der Fahrer hinters Steuer setzte, mutierte er von einem freundlichen, zurückhaltenden Menschen in einen Straßenkrieger. Lorraine wurde wie ein Sack Kartoffeln auf dem Rücksitz hin- und hergeschleudert, während er immer wieder schwungvoll die Fahrbahn wechselte, wobei er mehrfach in todesverachtendem Tempo auf den Gegenverkehr zuraste.

Es wäre ihr vielleicht besser gegangen, wenn sie sich an etwas hätte festhalten können, doch außer ihrem Mut gab es da nichts, und der hatte sie längst verlassen. Ein schwacher Trost war, dass sie viel zu viel Angst hatte, um die elende Hitze zu bemerken.

Als sie die Bushaltestelle erreichten, war sie dankbar, die Fahrt überlebt zu haben. Ihre Schultern schmerzten, weil sie mehrfach damit gegen die Seitenwände des Wagens geprallt war, und ihre Kiefer schmerzten, weil sie sie heftig zusammengepresst hatte. Sie zahlte den Fahrpreis, ohne zu handeln, allerdings auch, ohne ein Trinkgeld zu geben, nahm ihren Koffer und zog ihn in den Busbahnhof.

Eines war mal sicher: Ihre Anwesenheit erregte Aufmerksamkeit. Alle Augen in dem heruntergekommenen Gebäude waren auf sie gerichtet. Sie straffte die Schultern in einer Haltung, die Grazie und Stil verraten sollte, und ging auf das Schalterfenster zu, als mache sie das jeden Tag ihres Lebens.

“Ich hätte gern einen Fahrschein nach El Mirador”, sagte sie auf Englisch und vergaß, dass sie Spanisch sprechen musste.

Der Mann starrte sie verständnislos an.

Lorraine holte ihren Sprachführer heraus und blätterte die Seiten durch. Sie entdeckte, dass es nicht ausreichte, den Namen der Stadt zu nennen, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Sie versuchte noch einige Male, um einen Fahrschein zu bitten, doch jedes Mal sah der Mann sie nur verständnislos an und zuckte die Achseln.

“Vielleicht kann ich helfen.”

Lorraine drehte sich um und sah einen lächelnden, glattrasierten Mann neben sich stehen.

“Jason Applebee”, stellte er sich vor.

“Lorraine Dancy.” Sie gab ihm die Hand und bemerkte, dass seine bandagiert war. “Sie sind Amerikaner?”

Er nickte. “Ich denke, das ist offensichtlich, oder? Ich falle hier auf wie eine Bohne in einer Schüssel Reis.”

“Ich darf unterstellen, dass Sie Spanisch sprechen?”

“Fließend.” Zum Beweis redete er mit dem Mann am Schalter. Der Mann grinste, nickte und erwiderte etwas. Sein Blick wanderte zu Lorraine, und ihr entging nicht, dass der Mann erleichtert wirkte.

Lorraine verstand nicht, was die beiden miteinander sprachen. Im Augenblick war sie nicht in der Lage, die simpelsten Verben zu übersetzen. Jason wandte sich ihr zu. “Also, was wollten Sie fragen?”

“Ich brauche ein Ticket nach El Mirador.”

“Sie machen Witze”, erwiderte er, und sein Gesicht hellte sich auf. “Da will ich auch hin.”

“Wirklich? Ich dachte, es wäre nur eine sehr kleine Stadt.”

“Genau genommen will ich in einen Ort ganz in der Nähe. Ich wollte die Nacht in El Mirador verbringen.”

“Sie meinen, dort gibt es ein Hotel?” Falls das nichts wurde mit ihrem Vater, war es beruhigend zu wissen, dass sie auch in einem Hotel übernachten konnte.

“Ich denke, so könnte man es nennen”, sagte Jason, und beide lachten.

Lorraine bezahlte ihren Fahrschein, und Jason kaufte seinen. Sobald sie fertig waren, setzten sie sich nach draußen in den Schatten und warteten auf den Bus, der nach Jasons Auskunft in etwa dreißig Minuten kommen musste.

“Bleiben Sie auch im Hotel?”, fragte ihr neuer Freund und richtete den Rucksack zu seinen Füßen.

“Ich weiß noch nicht”, erwiderte sie leise. Es war ein langer Tag gewesen. In Atlanta hatte sie umsteigen müssen, und die Maschine hatte zwei Stunden Verspätung gehabt. “Wie lange werden wir brauchen bis El Mirador?”

“Ein paar Stunden, vielleicht mehr. Immer vorausgesetzt, der Bus bricht nicht unterwegs zusammen.”

“Na toll.” Sie seufzte laut und fragte sich, ob sonst noch etwas schiefgehen konnte.

“He, so schlimm ist das nicht. Sie hätten auf der Ausgrabung sein sollen, auf der ich letzte Woche war.” Er erklärte ihr, dass er an einem kleinen College in Missouri in Teilzeit Archäologie unterrichtete. Den Namen kannte sie nicht. Er war hier, um Forschungsarbeiten für seine Doktorarbeit zu betreiben. Inzwischen war er einen Monat in Mexiko, obwohl das nicht sein erster Aufenthalt hier war. Lorraine schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er hatte kurze dunkle Haare, trug ständig eine Sonnenbrille und hatte das kurzärmelige Baumwollhemd ordentlich in die Khakihose gesteckt. Dass er in seiner Kleidung so frisch wirkte, ließ sie umso mehr an ihrem durchgeschwitzten Aufzug verzweifeln.

“Sie haben also auf der Ausgrabung gearbeitet?”

“Ja, und es war fantastisch. Abgesehen davon.” Er hob die bandagierte Hand.

Jason unterhielt sie für die nächste Stunde – der Bus hatte natürlich Verspätung – mit Geschichten seiner Abenteuer und einer grässlichen Beschreibung des Unfalls, bei dem er sich die Hand verletzte. Er hatte einen ihrer mexikanischen Hilfskräfte vor dem Angriff zweier mit Messern bewaffneter Diebe geschützt. Seine dramatische Erzählung ließ sie schaudern.

Lorraine mochte Jason. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er war witzig und fröhlich und sehr hilfsbereit. Einmal kaufte er Melonenscheiben von einem Straßenhändler und teilte sie mit ihr. Lorraine war eigentlich nicht hungrig, doch die Frucht stillte ihren aufkommenden Durst.

Sie hatte sich noch nie so rasch mit jemand angefreundet. Vermutlich reagierte jeder so auf Jason. Sein offenes, freundliches Wesen förderte Vertrauen und Kameradschaft.

Dicke Abgaswolken hinter sich lassend und mit mahlendem Getriebe fuhr der Bus endlich an der Haltestelle vor. Jason hatte nicht übertrieben mit seiner Warnung vor dem möglichen Zustand des Gefährts. Das Klappergestell von einem Fahrzeug sah aus, als sei es mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Straße. Seine Farbe war nicht mehr zu ergründen, und die Hälfte der Fenster fehlte. Bei dieser Hitze war das allerdings eher ein Segen.

Der Bus war eine Sache, ihre Mitreisenden eine zweite. Sobald der Bus in den Hof rollte, strömten Menschen aus allen Richtungen auf ihn zu. Erwachsene und Kinder mit Hühnern in Käfigen. Ein Mann hatte sich sogar ein Schwein unter den Arm geklemmt.

“Steigen Sie ein, und reservieren Sie uns den besten Sitz, den Sie bekommen können”, riet Jason und schob sie auf den Bus zu. “Ich vergewissere mich, dass unser Gepäck an Bord kommt.”

Lorraine beobachtete erstaunt, wie zwei Männer auf das Dach des Busses stiegen und darauf warteten, dass Jason und ein zweiter Mann ihnen die Gepäckstücke zuwarfen. Sie beneidete niemand um die Aufgabe, Koffer zu heben, schon gar nicht, wenn sie auch noch zweieinhalb Meter in die Höhe geworfen werden mussten.

Nach etwa zehn Minuten kam ein atemloser Jason an Bord und ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen.

“Sie erwähnten, dass Sie an einen Ort in der Nähe von El Mirador wollten”, sagte Lorraine, sobald er wieder zu Atem gekommen war.

“Ich bin unterwegs zu einer zweiten Ausgrabungsstätte”, erklärte er und rückte ein wenig, um ihr mehr Platz auf dem engen Sitz zu geben, der so schmal war, dass er kaum Platz für einen Erwachsenen, geschweige denn für zwei bot.

Er hatte ihr zuvor ein wenig über Maya-Ruinen erzählt, und sie fand es faszinierend.

“Es gibt eine Ausgrabung in der Nähe von El Mirador?” Sie hatte in der Bibliothek und im Internet über die kleine Küstenstadt nachgeforscht, jedoch nichts in der Art gelesen. El Mirador hatte weniger als tausend Einwohner. Die Wirtschaft der meisten Küstenorte hing vom Fischfang ab, was nur natürlich war. Aber viel mehr gab es nicht zu berichten. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas von Maya-Ruinen in der Nähe gelesen zu haben, doch das musste nichts heißen.

“Unser El Mirador wurde nach einem anderen El Mirador in Guatemala benannt”, erläuterte Jason. “Dort war eine wichtige Maya-Ansiedlung, eine der ersten. Aber es gibt auch hier einen Maya-Tempel, einige Meilen von El Mirador entfernt. Er wurde erst vor einigen Jahren entdeckt, und man hat gerade mit den Ausgrabungen begonnen. Deshalb wollte ich ein paar Wochen dort bleiben, ehe ich nach Hause zurückkehre.”

“Zu Hause ist in Missouri, richtig?”

“In Jefferson City. Und was ist mit Ihnen? Warum reisen Sie nach El Mirador? Die Stadt ist ja nicht gerade eine Touristenhochburg.”

Lorraine ließ sich Zeit mit der Antwort und fragte sich, wie viel sie Jason erzählen sollte. Sie kannte ihn gerade mal eine Stunde. Zugegeben, sie hatten sich fast augenblicklich angefreundet, und trotzdem … Derart persönliche Auskünfte teilte man gewöhnlich nicht mit Menschen, die man gerade kennen gelernt hatte.

“Mein Vater lebt dort”, sagte sie ohne weitere Erklärungen.

“In El Mirador?” Jason wirkte erstaunt. “Was macht er dort?”

“Er ist Lehrer.”

“Im Friedenscorps?”

Lorraine blickte aus dem Fenster. Angesichts ihrer Nervosität vor dem Treffen mit ihrem Vater sollte sie dankbar sein, mit jemand reden zu können. Impulsiv entschied sie sich, Jason in die ganze Geschichte einzuweihen. Er hatte ihr zweifellos einiges aus seinem Leben erzählt, und sie hatte das Gefühl, ihm trauen zu können. Sie atmete tief durch und begann.

“Um ehrlich zu sein, Jason, ich weiß es eigentlich nicht. Ich habe ihn seit meinem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Man hatte mir gesagt, er sei an Leukämie gestorben. Ich habe erst vor einem Monat herausgefunden, dass er noch lebt. Seit ich das erfuhr, war mir klar, dass ich ihn aufsuchen muss. Mein Verlobter denkt, ich sei durchgeknallt, vielleicht hat er sogar recht. Ich weiß es nicht.” Dann erzählte sie Jason vom Tod ihrer Mutter, von dem Brief in ihrem Nachlass aus dem Banksafe und von Gary.

Jason brauchte einen Moment, das alles aufzunehmen. “Weiß Ihr Vater, dass Sie kommen?”

“Ja, natürlich”, erwiderte sie und hatte Mühe, nicht trotzig zu klingen. Dann seufzte sie und gestand: “Ich bin mir nicht sicher.” Da er nicht in Mérida gewesen war, um sie vom Flugzeug abzuholen, wusste sie nicht mehr, was sie erwarten sollte.

“Aber Sie hatten Kontakt mit ihm?”

“Ja, natürlich.” Auf Garys gleichlautende Frage hatte sie sauer reagiert. Jason jedoch schien aufrichtig interessiert und besorgt, wohingegen Gary nur beharrlich und übermäßig beschützend gewesen war. “Ich habe angerufen und eine Nachricht in der Schule hinterlassen. Aber er hat nicht zurückgerufen. Als ich nichts von ihm hörte, habe ich einen Brief geschickt. Ich hatte gehofft, er würde am Flugplatz auf mich warten, aber da war er nicht.”

“Wann haben Sie den Brief abgeschickt?”

“Anfang letzter Woche.”

Jason schüttelte den Kopf. “Ich sage Ihnen das nicht gern, aber dann hat er ihn wahrscheinlich noch gar nicht bekommen. Die Post …”

Genau in dem Moment fuhren sie durch ein Schlagloch. Der Bus machte einen heftigen Satz, und Jason und Lorraine hüpften geradezu in die Höhe. Ihr prallten die Zähne aufeinander, die sich anfühlten, als hätten sie sich gelockert. Sie hörte Jason aufschreien, als er mit dem Kopf gegen das Dach stieß. Das Schwein entkam seinem Besitzer und rannte quiekend in den hinteren Teil des Busses. Ungerührt von dem Durcheinander verlangsamte der Fahrer nicht mal das Tempo.

Nach ein paar Minuten hatte sich alles wieder beruhigt, und Jason beendete seinen Satz. “Die Post in diesem Teil der Welt ist berüchtigt langsam.”

“Ach du liebe Güte.”

“Sie sollten besser davon ausgehen, dass Ihr Vater keine Ahnung von Ihrem Besuch hat”, warnte er sie.

Seine Worte wirkten ernüchternd. Sie war dreizehnhundert Meilen gereist, die letzten davon unter entsetzlichen Bedingungen. Und nun hatte sie auch noch Grund zu der Annahme, dass ihr Besuch ihren Vater völlig überraschen würde.

Seit jener Nacht, als der Traum ihn weckte, hatte Thomas Dancy nicht mehr aufgehört, an Ginny zu denken. Er vermutete, dass das mehr mit Azucena und ihrem Zustand zu tun hatte als mit Ginny. Jeden Tag konnte jetzt ihr drittes Kind zur Welt kommen.

Er hatte sich nicht in Azucena verlieben oder gar eine neue Familie gründen wollen. Aber abgesehen von seinen anderen Fehlern war er auch noch schwach. Zu schwach, um einer zweiten Chance auf Liebe und Leben zu widerstehen. Für gewöhnlich gab er sich nicht diesen gelegentlichen Anfällen von Reue und Selbstverachtung hin. Dafür war er zu realistisch. Doch manchmal, so wie heute, ließen ihn die Gedanken an sein früheres Leben nicht los.

Er saß an seinem Schreibtisch im leeren Klassenzimmer und starrte auf die Klassenarbeiten, die er benoten sollte. Doch seine Gedanken verweilten bei Ginny und seiner Tochter. Es belastete ihn, dass er das Versprechen gebrochen hatte, das er einst in Liebe gab. Er hatte Ginny immer treu sein wollen. In den ersten Jahren nach seiner Flucht nach Mexiko hatten sie sich noch an vereinbarten Zielen in Mexico City oder Veracruz getroffen. Er hatte für diese wenigen gemeinsamen Tage gelebt. Dann war Raine in die Schule gekommen, und Ginnys Besuche waren seltener geworden, bis sie schließlich ganz aufhörten.

Doch ihm lag noch mehr auf der Seele als Schuldgefühle und Reue. Er machte sich Sorgen um Azucena und das Baby. Er war jetzt fünfzig und erst seit acht Jahren mit ihr zusammen. Manchmal glaubte er, ein Recht darauf zu haben, sich so viel Glück zu nehmen, wie er bekommen konnte. Glück, das Azucena ihm bot. Oft hingegen betete er, Ginny möge nie von seiner Schwäche für diese so viel jüngere Frau erfahren.

Er hatte keine Kinder mehr gewollt, aber Azucena war unnachgiebig gewesen und hatte sich nach einem weiteren Baby gesehnt. Sie hatte ein liebevolles, großzügiges Herz, und er konnte ihr nichts verweigern, nach allem, was sie für ihn getan hatte. Bald würden sie also drei Kinder haben, und er fragte sich, ob es wieder ein Junge wurde, wie die ersten beiden.

Er liebte seine Kinder, war ihnen von Herzen zugetan und verwöhnte sie, wenn man Azucena glauben durfte. Wegen Antonio und Hector erkannte er, wie viel er bei seiner Tochter versäumt hatte. Raine war inzwischen erwachsen, aber in seinen Gedanken blieb sie das Kind. Sie war noch so klein gewesen, als er damals ging! Ginny hatte ihm bei ihren Besuchen Fotos mitgebracht. Das letzte war ein Schulfoto gewesen, das eine Achtjährige mit Zahnlücke und Zöpfen zeigte.

Es klopfte. “Ich entschuldige mich für die Störung”, sagte einer der älteren Schüler auf Spanisch und kam ins Klassenzimmer. “Ein Mann möchte Sie sprechen.”

“Hat er seinen Namen genannt?”

“Jack Keller.”

Thomas musste unwillkürlich lächeln. “Sag ihm, ich komme gleich raus.” Eigentlich hatte er wenig gemein mit dem ehemaligen Geheimagenten, doch es war immer erfrischend, Zeit mit einem anderen Amerikaner zu verbringen. Jack kam nicht allzu häufig, aber er brachte stets Neuigkeiten aus der Heimat und der Welt mit. Auf der Negativseite stand, dass er manchmal ein übles Mundwerk hatte und immer ein Auge für ein hübsches Gesicht. Beides war jedoch leicht zu verzeihen. Jack war einem Mann, der wenig Freunde hatte, ein guter Freund.

Thomas schob die Klassenarbeiten in seine Aktentasche und ging ins Schulbüro. Jack saß lässig auf einem altersschwachen Schreibtischstuhl und blätterte in einem alten Magazin vom letzten Jahr. Er sah heruntergekommen aus. Am nötigsten brauchte er wohl einen Haarschnitt, aber dafür würde Azucena vermutlich sorgen. Das sonnengebleichte braune Haar hing ihm bis auf die Schultern. Außerdem hatte er sich offensichtlich zwei bis drei Tage nicht rasiert. Seine Jeans waren in halber Beinlänge abgeschnitten, die Ränder ausgefranst, und er trug Tennisschuhe ohne Socken.

“Jack!”, begrüßte Thomas ihn begeistert und streckte ihm die Hand hin.

“He, Thomas.” Jack warf das Magazin beiseite und sprang auf. Er ergriff fest Thomas’ Hand und schlug ihm in einer Freundschaftsgeste auf die Schulter.

“Du siehst langsam aus wie ein alter Seebär”, bemerkte Thomas.

“Na ja, du siehst auch nicht übel aus. Bist du schon wieder stolzer Papa?”

“Das Baby kann jeden Tag kommen.” Es bereitete ihm Sorgen, dass es keine medizinischen Einrichtungen in der Nähe von El Mirador gab. Nicht dass Azucena ihr Baby woanders als zu Hause und mit Hilfe einer Hebamme bekommen hätte. Doch seltsamerweise war er diesmal beklommener, obwohl bei den ersten beiden Geburten alles glatt gegangen war.

“Hast du Zeit für ein kühles Bier?”, fragte Jack.

“Natürlich.” Thomas würde Azucena durch einen Schüler von Jacks Besuch benachrichtigen lassen. Natürlich würde sie darauf bestehen, dass Jack zum Dinner zu ihnen kam. Nicht nur, weil sie ihn sehr mochte. Es war eine Frage des Stolzes für sie, dass sie ihren Gast bewirtete wie einen Fürsten. Es würde einen Riesenkrach geben, falls Thomas Jack nicht mitbrachte.

Thomas gab Alfonso entsprechende Anweisungen und schlenderte mit Jack zur Cantina unten am Wasser. Sie hatten sich kaum gesetzt und einen Schluck Bier getrunken, als Alfonso atemlos angerannt kam.

“Señor Dancy!”, rief er, “Señor Dancy!”

“Was ist denn?” Thomas dachte sofort an Azucena.

“Da ist eine Frau in der Schule und fragt nach Ihnen”, platzte Alfonso heraus.

“Eine Frau?” Thomas ignorierte Jacks hochgezogene Brauen.

Sí. Sie sagt, ihr Name ist Lorraine Dancy. Sie sagt, sie ist Ihre Tochter.”

4. KAPITEL

Lorraine war zu nervös, um still sitzend auf ihren Vater zu warten. Während sie unruhig auf dem Schulflur auf und ab ging, machten ihre Absätze laute Geräusche auf dem Steinfußboden. Ein gerahmtes Dokument an der Wand, in Englisch und Spanisch, verriet ihr, dass die Schule finanziell von einer Gruppe texanischer Kirchen unterstützt wurde. Danach waren die Namen des Schulleiters und dreier Lehrer aufgeführt. Und es wurde erklärt, dass die Schuluniformen von der Women’s Missionary Society genäht worden waren.

Lorraine las das Dokument zweimal und ging dann wieder auf und ab. Sie war vor einer halben Stunde in El Mirador angekommen. Es war jetzt sechs. Sie hatte gewusst, dass die Chancen, Thomas Dancy so spät am Nachmittag noch in der Schule anzutreffen, nicht besonders groß waren. Jason hatte sie zu überreden versucht, ebenfalls ein Zimmer im Hotel zu nehmen, doch sie hatte lieber erst die Schule aufgesucht.

Das Gebäude war immerhin offen gewesen. Nachdem sie einem jungen Mann in Schuluniform den Namen ihres Vaters genannt hatte, hatte er begeistert genickt und ihr sogar einige Fragen auf Englisch gestellt. Dann hatte er vorgeschlagen, sie solle im Gebäude warten, während er ihren Vater hole.

Einen Moment lang war ihr fast schwindelig geworden vor Erleichterung. Wenigstens war ihr Vater da. Dann hatte sie plötzlich Angst bekommen und zitterte vor Nervosität. Sie war fast krank vor Aufregung.

Als schließlich Schritte hinter ihr erklangen, drehte Lorraine sich um.

Thomas Dancy stand in der Tür, vor einem Hintergrund aus hellem Sonnenlicht.

“Raine”, flüsterte er.

“Thomas Dancy?”, fragte sie zögernd und fügte hinzu: “Dad?” Er hatte sie auch in seinem Brief Raine genannt. Nur Mutter hatte immer darauf bestanden, ihren Namen nicht abzukürzen.

Seine Augen waren Antwort genug, tiefblau wie ihre eigenen. Er kam langsam auf sie zu, und sie sah, dass er wirklich der Mann von Mutters Foto war. Er betrachtete sie einen Moment fast ehrfürchtig, dann lächelte er, und in seinen Augen glitzerten Tränen.

“Raine”, wiederholte er. “Wenn ich doch nur gewusst hätte …”

“Du hast meinen Brief nicht bekommen?”

“Nein … nein.”

“Ich habe auch angerufen.”

Er zog die Stirn in Falten. “Ich habe keine Nachricht erhalten.”

“Dann wusstest du gar nicht, dass ich komme?”

“Nein, aber ich danke dem Himmel, dass du da bist.”

Sie standen nur ein Stück voneinander entfernt, und Thomas konnte sich nicht satt sehen an ihr.

“Wie ähnlich du deiner Mutter bist”, sagte er leise. “Und so hübsch …” Er hob eine Hand, als wolle er ihr Gesicht berühren, ließ sie jedoch wieder sinken. Doch sein Blick drückte unzweifelhaft Liebe aus.

Als er ihre Mutter erwähnte, kamen auch Lorraine die Tränen.

“Raine, was ist?” Er war kurz davor, sie in die Arme zu nehmen.

“Mom kam am ersten April ums Leben”, erklärte sie mit bebender Stimme.

Er sah aus, als hätte sie ihn zu erdolchen versucht. Seine Augen weiteten sich schockiert, dann wankte er langsam, als könnten seine Beine ihn nicht mehr tragen, zu einem Stuhl. “Sie kam ums Leben? Wie? Lieber Gott im Himmel, sag mir, was geschehen ist.”

“Sie war auf dem Heimweg von der Arbeit. Es regnete an dem Tag. Keiner weiß genau, wie es passiert ist, aber ihre Reifen verloren den Halt, die Bremsen blockierten, und sie schlitterte in den Gegenverkehr. Sie wurde von einem großen Laster erfasst. Er konnte nicht mehr ausweichen. Jede Hilfe kam zu spät.”

Thomas schloss die Augen. “Hat sie gelitten?”, fragte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.

“Nein, der untersuchende Polizist sagte mir, der Tod sei auf der Stelle eingetreten.”

Thomas nickte, das Gesicht feucht von Tränen, die ungehindert über seine Wangen liefen. “Am ersten April sagtest du?”

“Ja.”

Er nickte wieder, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Tränen ab. “Ich bin in dieser Nacht aufgewacht.” Er machte eine nachdenkliche Pause. “Meine Ginny ist tot”, sagte er, als müsse er die Worte ausgesprochen hören, um sie zu glauben.

Lorraine setzte sich auf den Stuhl neben ihn. “Mom sagte mir, du wärst tot.”

“Ich weiß. Wir hielten das für das Beste.”

“Warum?” Alle Strapazen, die sie heute ertragen hatte, waren es wert, wenn er ihr diese Frage beantwortete.

Thomas atmete tief durch und wandte sich ihr zu. Er nahm ihre Hände in seine und entdeckte den Ring.

“Er gehörte Mom. Ich habe ihn am Tag der Beerdigung angesteckt.” Sie erzählte ihm ein wenig über ihre Verlobung mit Gary und schwieg dann. Sie brauchte Antworten von ihm, ehe sie von sich erzählte.

Sein Daumen glitt zärtlich über den Ehering. “Ich werde dich immer lieben”, flüsterte er. Es waren die Worte, die in den Ring eingraviert waren. Er sah ihr in die Augen. “Ich habe deine Mutter und dich von Herzen geliebt, Lorraine. Das musst du mir glauben.”

“Warum hast du uns dann verlassen?”, begehrte sie auf, ungeduldig, endlich die ganze Wahrheit zu erfahren. Über zwanzig Jahre hatte man ihr etwas vorgemacht. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was Eltern zu einem so drastischen Schritt trieb. Ehrlichkeit war ein Wesenszug ihrer Mutter gewesen, zumindest hatte sie das geglaubt.

“Mom hat dich auch geliebt … die ganze Zeit. Sie wollte nicht über dich reden, besonders als ich älter wurde. Wenn sie es doch mal tat, begann sie zu weinen.”

“Ich weiß … ich weiß.”

Tränen rollten ihr über die Wangen. “Sie hat mir gesagt, du wärst an Leukämie gestorben.”

Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. “Wir haben die Geschichte zusammen ausgeheckt.”

“Aber du lebst!” Sie musste die Wahrheit jetzt erfahren, solange sie noch in der Lage war, sie zu ertragen. “Bitte, erzähl mir, was damals los war.”

“Es begann in Vietnam”, fing er an, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. “In vielerlei Hinsicht starb der Mann, der ich einmal war, dort.”

“Aber du warst doch ein hochdekorierter Kriegsheld! Mom sagte, was sie am meisten bedauere an dem Feuer, sei der Verlust deiner Orden gewesen, und …”

Thomas hob ruckartig den Kopf. “Hat sie dir das gesagt?” Er verzog bedauernd die Miene. “Ich war alles andere als ein Held, Lorraine. Ich desertierte in der Hälfte meiner Dienstzeit. Ich ertrug das Töten nicht länger …”

Lorraine mochte nicht glauben, was sie hörte. Das konnte nicht wahr sein. “Aber …”

“Ich kehrte in die Staaten zurück und trat einer militanten Antikriegsgruppe bei. Sie halfen mir, mich zu verstecken. Von dem Moment an, als ich der Army den Rücken kehrte, machte ich es mir zum Lebensziel, andere junge Männer davor zu bewahren, sinnlos auf fremdem Boden zu sterben. Ich wollte es ihnen ersparen, mit ansehen zu müssen, wie ihre Freunde von Minen zerrissen werden, aus Gründen, die nichts mit uns oder unserem Land zu tun haben.”

“Aber du hättest inzwischen doch sicher zurückkommen können. Auch wenn du ein Deserteur warst. Es gab doch eine Amnestie oder?” Ein Leben lang war ihr Vater für sie ein Held gewesen. Die Lüge, die ihre Eltern gelebt hatten, ergab für sie keinen Sinn, und sie fand Thomas’ Geschichte verwirrend.

“Ich habe mehr getan, als zu desertieren.” Er unterbrach den Blickkontakt, senkte den Kopf und sah auf ihre einander umfassenden Hände. “Wie schon erwähnt, trat ich einer militanten Antikriegsgruppierung bei. Einige von uns beschlossen, das ROTC-Gebäude an der Universität von Kentucky in die Luft zu sprengen. Wir wollten nicht, dass jemand verletzt wird … Der Sicherheitsbeamte hätte gar nicht in der Nähe sein dürfen.”

“Er kam bei der Explosion ums Leben?”

Ihr Vater nickte. “Zwei aus unserer Gruppe wurden sofort festgenommen, als sie versuchten, die kanadische Grenze zu überqueren. José und ich wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann sie uns auch einlochen würden.”

“José?”

“José Delgado, ein Freund, ein guter zur damaligen Zeit. Wir zwei schafften es bis nach Mexiko, ehe ein Haftbefehl für uns ausgestellt wurde.”

“Was geschah mit ihm?”

“José? Wir bummelten eine Weile durchs Land, dann fand er eine neue politische Widerstandsgruppe, in der er mitmachen wollte. Wir stritten und trennten uns. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Das Letzte, was ich hörte, war, dass er zu einer Guerillagruppe irgendwo in Zentralamerika gehört.”

“Aber könntest du nicht jetzt zurückkommen? Das alles passierte vor fast dreißig Jahren.”

“Nein”, sagte Thomas mit nicht zu übersehender Traurigkeit. “Für Mord gibt es keine Verjährung. Sobald ich die Grenze überschreite, werde ich wegen Mordes angeklagt und bekomme die ganze Härte des Gesetzes zu spüren. Raine, ich möchte, dass du weißt, dass ich zwar in dieser Gruppe war, mich jedoch entschieden gegen den Sprengstoffanschlag ausgesprochen hatte. Es war nie meine Überzeugung, dass man mit Gewalt eine Botschaft unters Volk bringen sollte. Aber ich hatte nicht den Mut, mich gegen die anderen durchzusetzen. Das war meine größte Sünde, und ich habe in den folgenden Jahren schwer dafür gebüßt.”

“Was passierte mit den beiden, die festgenommen wurden?”

Ihr Vater senkte wieder den Kopf. “Rick und Dan? Rick beging Selbstmord im Gefängnis, und Ginny erzählte mir, dass Dan auf Bewährung freikam, nachdem er sechs Jahre einer zwölfjährigen Freiheitsstrafe abgesessen hatte.”

Lorraine gingen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. “Warum ist Mom nicht zu dir gekommen? Nach fünf oder zehn Jahren hätte sie das doch sicher tun können, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.”

“Das hatten wir auch am Anfang geplant. Deine Mutter zog nach Louisville und besuchte mich ungefähr alle sechs Monate. Wir konnten durch eine gemeinsame Freundin in Kontakt bleiben.”

“Wer war diese Freundin?”

“Elaine Wilson.”

“Tante Elaine?” Sie starb, als Lorraine neun war.

“Nach Elaines Tod fiel alles auseinander. Ginny schrieb, sie würde kommen, aber jedes Mal fand sie einen Vorwand, den Besuch zu verschieben. Schließlich hörten ihre Besuche ganz auf.”

“Hätten wir denn nicht nach Mexiko übersiedeln können? Dann wären wir drei zusammen gewesen.”

Er zögerte. “Ginny hatte Angst, dass sie nicht mehr zurückkehren könne, wenn sie das Land längere Zeit verlassen würde. Sie machte sich auch Sorgen um ihre Eltern und um dich. Deine Mutter liebte dich über alles, und sie wollte, dass du die bestmögliche Ausbildung erhältst und alle Vorteile genießen kannst, die Amerika zu bieten hat.”

“Aber sie hat mir gesagt, du seist tot.” Lorraine war nicht sicher, ob sie ihren Eltern diese Lüge je verzeihen konnte.

“Du warst ein Kind und noch viel zu klein, um die Last unseres Geheimnisses zu tragen.”

“Aber ich bin längst erwachsen. Es gab schon lange keinen Grund mehr, die Wahrheit vor mir zu verheimlichen”, beharrte sie. Virginia hätte ihr alles sagen, sie ihr eigenes Urteil fällen und ihre eigene Entscheidung treffen lassen müssen.

“Das alles ist meine Schuld, Raine.” Er hob eine Hand und streichelte ihr die Wange. “Ich war derjenige, der alles verdorben hat. Ich war in einen Sprengstoffanschlag verwickelt, der einen unschuldigen Mann das Leben kostete.”

“Aber ich hätte dich gebraucht”, widersprach Lorraine, mit den Tränen kämpfend.

“Ich habe dich auch gebraucht”, erwiderte er und nahm sie in die Arme. Lange hielten sie sich so fest.

Als er sie losließ, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte sich zu sammeln.

“Du musst erschöpft sein”, sagte er. “Und vermutlich bist du hungrig.”

Ihr Magenknurren erinnerte sie, dass sie, abgesehen von den Melonenstücken in Mérida, ihre letzte Mahlzeit an Bord des Flugzeuges gegessen hatte – Joghurt, eine Banane und ein altes Brötchen. Ihr Vater hatte recht, sie war ebenso müde wie hungrig.

Er nahm ihren Koffer und führte sie aus der Schule. Auf dem kurzen Weg zu seinem Haus erzählte Thomas ihr von seinem Leben in Mexiko. Bis vor neun Jahren hatte er an verschiedenen Orten im Land gejobbt und war nie lange geblieben. Dann hatte sich die Möglichkeit ergeben, an dieser Privatschule Biologie und Rechnen zu unterrichten, eine Arbeit, die ihm sehr viel Freude machte.

“Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich fand meine Berufung im Leben erst mit über vierzig.”

Lorraine merkte, dass es leicht war, diesen Mann zu mögen. Auch wenn er sich in seiner Jugend in militante Unternehmungen hatte verstricken lassen, die leider zu einem schrecklichen Ergebnis führten, so war er der Antikriegsbewegung jedoch aus noblen Motiven beigetreten. Er hatte seinen Fehler bitter bereut und war offenbar immer noch ein guter Mann, aber einer mit Selbsterkenntnis.

Lorraine war dankbar, ihn gefunden zu haben.

Es war ein Schock für Thomas gewesen, als Lorraine in El Mirador auftauchte, aber einer der glücklichsten Momente seines Lebens. Seine Tochter war genau so, wie er sie sich erträumt hatte: intelligent, hübsch, fürsorglich. Und sie ähnelte sehr ihrer Mutter.

Bei ihrem Anblick war er wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie Ginny fast aufs Haar glich. Es war beinah wie ein Zeitsprung gewesen, als sehe er Ginny in jungen Jahren.

Die Nachricht vom Tode seiner Frau traf ihn hart. Er brauchte Zeit, das zu verwinden – Zeit und Einsamkeit, um zu trauern. Er hatte seiner geliebten Ginny längst verziehen, auch wenn sie ihm wehgetan und ihn desillusioniert hatte. Schließlich konnte er nicht ihr die Schuld an den tragischen Wendungen seines Lebens anlasten.

Sein Haus war sehr bescheiden, und Thomas hoffte, dass Lorraine verstand, wie arm man hier lebte. Die Schule konnte es sich nicht leisten, ihm ein üppiges Gehalt zu zahlen.

Antonio und Hector spielten im Vorhof. Unter normalen Umständen wären ihm seine Söhne entgegengelaufen, aber es waren schüchterne Jungs, und sie waren es nicht gewöhnt, ihn mit einer Fremden zu sehen. Sie verharrten und sahen sie neugierig an. Antonio presste einen Fußball an die Brust, als Thomas Lorraine die Tür öffnete.

Azucena war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Knoblauchgeruch durchzog das Haus. Thomas stellte Lorraines Koffer im Wohnzimmer ab und suchte nach einem Weg, seiner Tochter zu erklären, dass diese hochschwangere Frau seine Lebensgefährtin war. Lorraine würde vermutlich überrascht sein, vielleicht missbilligend, aber Azucena war in jeder Hinsicht seine Frau außer in rechtlicher. Nun, da er frei war, würde er sie jedoch baldmöglichst heiraten.

Lächelnd betrat Azucena den Raum. Ihr Lächeln erstarb, als sie Lorraine entdeckte. Ihre Begrüßung war eher ernst, während sie Thomas mit fragendem Blick ansah. Sie sprach wenig Englisch und zeigte keine Neigung, es zu lernen. Da sie selbst in dieser Hinsicht keinen Ehrgeiz entwickelte, beherrschten auch ihre Söhne nur wenige Worte.

“Das hier ist meine Tochter”, erklärte Thomas auf Spanisch. Sie riss die Augen auf, und er merkte, wie aufgebracht sie war. Er hatte ihr von seiner Familie und von Raine erzählt und spürte, dass sie sich bedroht fühlte. Er wollte sie trösten, sie in Sicherheit wiegen, wusste aber nicht, wie.

“Wo ist Jack Keller?”, fragte Azucena schroff.

“Wieder auf seinem Boot, vermute ich. Ich habe ihn zurückgelassen, als ich erfuhr, dass meine Tochter in der Schule ist.”

“Du wusstest vom Besuch deiner Tochter?” Ihre schönen dunklen Augen blickten vorwurfsvoll.

“Nein.” Er wollte Azucena in die Arme nehmen und sich entschuldigen, wagte es aber nicht. “Ihre Mutter ist letzten Monat gestorben, und sie hat erst danach erfahren, dass ich noch am Leben bin.”

Azucena nickte mitfühlend. “Stell mich als deine Haushälterin vor”, riet sie ihm sanft und weise. “Deine Tochter hatte genug zu verkraften.”

“Ich will sie nicht wieder anlügen. Es ist besser, wenn sie es erfährt.”

“Wir werden es ihr gemeinsam sagen”, erwiderte Azucena. “Später. Sie hat eine lange Reise hinter sich und muss erschöpft sein.”

Zögernd stimmte er mit kurzem Nicken zu.

“Biete ihr einen Platz an, und ich serviere euch das Essen.”

“Was ist mit dir und den Jungs?” Es erschien ihm nicht richtig, dass sie nicht mit am Tisch aßen. Obwohl er Gewissensbisse hatte, schon wieder etwas vor seiner Tochter zu verheimlichen, merkte auch er, wie erschöpft sie war. Er wollte sie nicht mit noch einer schwierigen Wahrheit belasten. Außerdem fürchtete er ihren Zorn. Er hätte es nicht ertragen, sie wieder zu verlieren, nachdem er sie gerade erst gefunden hatte. Nur deshalb ging er auf Azucenas Vorschlag ein.

“Mach dir keine Gedanken, wir essen später”, beharrte Azucena.

Thomas merkte, dass Raine ihr Gespräch verfolgte. Ihr Blick verriet jedoch, dass sie die Unterhaltung nicht verstand. “Ist diese Frau jemand Besonderes?”, fragte sie und betrachtete Azucena.

“Meine Haushälterin”, erwiderte er und fügte im Stillen hinzu: und eine Menge mehr.

“Sie ist tadellos”, stellte Lorraine nach einem Blick durch das blitzsaubere, spärlich möblierte, aber hübsch dekorierte Haus fest.

Thomas wusste sehr wohl, dass sie an mehr Komfort gewöhnt war. Doch er entschuldigte sich nicht. Er hatte sein Haus auf ehrliche Weise verdient.

“Das Dinner ist fertig, wenn du jetzt essen möchtest. Azucena ist eine großartige Köchin. Sie hat ein Gericht zubereitet, das sich camarónes con ajo nennt, Shrimps mit Knoblauch.”

“Klingt köstlich. Danke ihr bitte in meinem Namen”, erwiderte Lorraine.

“Das werde ich.” Thomas zeigte seiner Tochter das Bad, damit sie sich frisch machen konnte.

Minuten später kehrte sie zurück. Auf dem Tisch standen Schüsseln mit Reis, Tomaten und den köstlich duftenden Shrimps.

Lorraine setzte sich. “Wann kommt das Baby deiner Haushälterin?”

“Es kann jeden Tag so weit sein”, erklärte er, reichte ihr den Reis und hoffte, weiteren Fragen zu entgehen.

“Waren das ihre Kinder da draußen?”

Thomas nickte.

“Sie hat einen schönen Namen.”

“Er bedeutet Lilie.”

Die Ironie der Situation entging ihm durchaus nicht. Azucena war wirklich einmal nichts weiter als seine Haushälterin gewesen. Die Schule hatte sie für ihn angeheuert, und sechs Monate lang war sie ihm nicht mal aufgefallen. Sein Haus war makellos sauber, und abends stand eine Mahlzeit auf dem Tisch. Darüber hinaus nahmen die Anforderungen des Lehrerberufes ihn völlig in Anspruch. Er hatte nie vorgehabt, mit Azucena ins Bett zu gehen. Er war verheiratet, obwohl niemand in El Mirador von seiner amerikanischen Ehefrau wusste. Außerdem wollte er nichts tun, was bei einer von der Kirche unterstützten Schule Missfallen erregen konnte.

Bis heute hatte der Schulleiter seine Lebensumstände jedoch nicht moniert, obwohl er schon zum Essen in diesem Haus gewesen war und wusste, was sich hier abspielte. Trotzdem nannte er Azucena immer Thomas’ Haushälterin. Und im ersten halben Jahr war sie auch nur das gewesen. Thomas hatte nicht mal andeutungsweise einen Annäherungsversuch gestartet. Schließlich hatte Azucena, deren Name ein Symbol für Reinheit und Perfektion ist, die Initiative ergriffen und ihn verführt.

Das Essen war ausgezeichnet. Azucena hatte sein Lieblingsgericht zubereitet, und Thomas sah, dass es auch seiner Tochter schmeckte.

“Sie ist wirklich eine hervorragende Köchin”, lobte Raine, als Azucena eine Platte mit heißen Tortillas auf den Tisch stellte.

Es fiel Thomas schwer, seine Zuneigung für seine Lebensgefährtin nicht zu zeigen. Er merkte, dass Lorraine auffiel, wie er Azucena bei deren Eintreten anlächelte, und hätte vielleicht etwas dazu gesagt, doch wurden sie von einem lauten und fordernden Klopfen unterbrochen. Beide Frauen sahen Thomas an.

Er legte seine Serviette beiseite und durchquerte den Raum, um zu öffnen. Er war nicht sicher, was ihn erwartete. Das Klopfen klang nicht freundlich. Er ahnte, dass es Probleme gab.

Jenseits der Türschwelle standen zwei uniformierte Polizisten. Er hatte selten bewaffnete Polizei in dieser Stadt gesehen. Nicht nur das, er kannte keinen der Männer, was an sich schon ungewöhnlich war. In El Mirador kannte er fast jeden, wenn nicht persönlich, so doch vom Sehen.

“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte Thomas und sprach jedes Wort besonders deutlich und mit Autorität aus.

“Wir suchen Lorraine Dancy.”

“Darf ich fragen, worum es geht?”

“Dad?”, fragte Raine aus dem Zimmer. “Ich habe meinen Namen gehört.”

Er ignorierte sie und behielt Blickkontakt mit den beiden Beamten. “Warum suchen Sie meine Tochter?”

“Wir müssen ihr einige Fragen stellen”, sagte der Größere und Muskulösere von beiden.

“Fragen wozu?”

“Über Jason Applebee”, teilte ihm der zweite Beamte mit. “Wir müssen wissen, wie ihre Beziehung zu diesem Mann ist.”

“Dad?” Raine war zu ihnen gekommen. “Worum geht es denn?”

“Kennst du einen Jason Applebee?”, fragte er auf Englisch.

Sie nickte. “Er ist Amerikaner. Ich traf ihn in Mérida. Er half mir, mein Busticket zu kaufen. Ist alles in Ordnung? Ihm ist doch nichts zugestoßen, oder?”

Thomas leitete die beiden Fragen an die Beamten weiter. Raine hatte den Mann zuvor zwar nicht erwähnt, aber er merkte an ihrer Reaktion, dass sie ihn offenbar mochte.

Die Beamten antworteten, und Thomas wandte sich wieder an seine Tochter. “Sie halten ihn in der Polizeistation fest. Sie wollen mir nicht sagen, warum.”

“Oh nein!” Sie legte eine Hand auf den Mund. “Da ist etwas nicht in Ordnung. Wir müssen ihm helfen.”

Thomas war lange genug in Mexiko, um zu wissen, wie heikel der Umgang mit der Polizei sein konnte. Wegen Raines Freundschaft mit diesem Mann fühlte er sich jedoch verpflichtet, so gut zu helfen, wie er konnte. “Sie möchten, dass du sie auf die Polizeistation begleitest”, erklärte Thomas ihr als Nächstes.

“Ich?” Raine sah ihn verunsichert an.

“Ich komme mit.”

“Dann gehe ich”, entschied sie. “Ich bin sicher, das ist nur ein Missverständnis, und alles wird sich in kurzer Zeit aufklären.”

Thomas wünschte, er könnte das glauben. Eines wusste er jedoch genau, er würde alles tun, seine Tochter zu beschützen.

Sobald Lorraine das kleine Polizeigebäude betrat, sprang Jason auf. Seine Miene verriet deutliche Erleichterung. “Lorraine!”, rief er, als sei sie die Antwort auf seine Gebete.

“Was ist los?”, fragte sie.

Jason warf den beiden Beamten an der Tür einen Blick zu, den diese unbeteiligt erwiderten.

Mit drei Polizisten, Jason, Lorraine und Thomas war die winzige Station überfüllt. Erst jetzt fiel Lorraine auf, dass nur einer der Männer, die bei Thomas zu Hause gewesen waren, sie hierher begleitet hatte. Wo der zweite abgeblieben war, ahnte sie nicht. Es beunruhigte sie aber auch nicht besonders.

“Das ist meine Frau”, erklärte Jason auf Englisch.

Lorraine konnte ihren Widerspruch gerade noch herunterschlucken.

Ihr Vater starrte sie aus leicht verengten Augen an. Beide Polizisten sahen sofort auf den Ringfinger ihrer linken Hand.

“Stimmt das?”, fragte der ältere der Männer. Er war groß und wirkte würdevoll mit seinem dichten weißen Haar.

Alle Anwesenden schienen auf die Bestätigung zu warten. Jason forderte Lorraine mit einem flehentlichen Blick auf, mitzuspielen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte.

Der Raum dröhnte geradezu vom allgemeinen Redeschwall und dem Widerspruch des Beamten, der Lorraine und ihren Vater zur Station begleitet hatte. Sie wusste nicht, was gesprochen wurde, doch es dauerte nicht lange, bis auch ihr Vater in die hitzige Debatte einstieg.

“Worum geht es überhaupt?”, fragte Lorraine Jason leise.

“Ich weiß es nicht.” Seine Verwirrung schien ihrer in nichts nachzustehen. “Offenbar glauben die, ich hätte ein Maya-Kunstwerk gestohlen, was absurd ist.” Er wirkte ängstlich und durcheinander. “Ich wollte Sie nicht in diese Sache hineinziehen”, bedauerte er im Flüsterton, “aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.”

“Warum haben Sie gesagt, ich wäre Ihre Frau?”

“Ich musste denen irgendwas sagen, damit sie Kontakt zu Ihnen aufnahmen. Ich sagte ihnen, Sie besuchten Ihren Vater, deshalb seien Sie noch nicht ins Hotel gezogen.” Er machte eine kurze Pause und senkte den Blick. “Sie ließen mich nicht telefonieren, und ich durfte auch keinen Anwalt einschalten. Ich fühlte mich ziemlich hilflos und wusste nicht, was überhaupt los war. Da ich Ihnen geholfen habe, dachte ich, Sie würden mir auch helfen.”

“Keine Sorge”, erwiderte sie, obwohl sie Lügen hasste. Vermutlich gab es Zeiten, in denen man die Wahrheit beugen durfte, jetzt zum Beispiel.

Der Streit zwischen der Polizei und Thomas Dancy ging weiter.

“Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, Sie hätten denen die Wahrheit gesagt”, raunte sie ihm zu.

“Soll ich denen etwa mitteilen, dass ich kürzlich auf einer Ausgrabung war?” Er sah sie mit großen Augen ungläubig an. “Lorraine, das wäre verrückt. Sobald die das erfahren, sind sie sicher, dass ich dieses verdammte Ding habe.”

Der weißhaarige Beamte ging zur anderen Seite des Raumes. Jasons Rucksack stand offen auf dem Tisch, seine persönlichen Sachen waren über die Tischplatte verstreut. Sein Rucksack war gründlich durchsucht worden.

“Dad?” Lorraine ging näher zu ihrem Vater. “Hast du etwas herausgefunden?”

“Sergeant Lopez ist der Ansicht, dass dein … Mann schuldig ist, einen nationalen Kunstschatz gestohlen zu haben. Sie halten Jason für den Dieb des Sterns von Yucatán.” Er erklärte weiter, dass der Stern ein Artefakt sei, das in Verbindung zum Gott Kukulcán stehe. Er bestehe aus zwei zusammengehörenden Teilen. Eine Hälfte wurde 1930 entdeckt und im Museum von Mexico City aufbewahrt. Sie verschwand wenige Tage, nachdem der zweite Teil auf einer neuen Grabungsstätte entdeckt worden sei. Doch dieser zweite Teil verschwand unter mysteriösen Umständen, ehe seine Authentizität festgestellt werden konnte.

Schlimmer noch, ein Mann, ein Sicherheitsbeamter des Museums, sei schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden und werde wohl nicht überleben. Ein weiterer Mann, ein Archäologe namens Raventos, sei seit dem Verschwinden des Kunstwerks von der Grabungsstelle nicht mehr gesehen worden. Es gab Hinweise auf ein Verbrechen, und man nahm an, dass alle Taten von ein und derselben Person begangen worden seien. “Die Polizei verdächtigt Jason, der Täter zu sein”, beendete Thomas seine Erklärung.

“Das bin ich nicht!”, begehrte Jason laut auf. “Ich schwöre es!”

“Zum Glück für deinen Freund”, fuhr Thomas an Lorraine gewandt fort, “ist Lieutenant Jacinto geneigt, ihm zu glauben.”

“Gott sei Dank”, flüsterte Jason und ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. “Sie haben alle meine Sachen durchsucht und meinen Rucksack umgestülpt.”

Thomas wandte sich direkt an Jason und sah ihm in die Augen. “Wenn Sie dieses Artefakt genommen haben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen.”

“Ich habe es nicht gestohlen!”, entgegnete Jason heftig. “Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich habe keine Ahnung, wovon diese Männer reden. Ich bin nur ein Teilzeitdozent an der Uni.”

Lorraine bemerkte, wie er bequemerweise zu erwähnen vergaß, dass sein Lehrfach Archäologie und er erst kürzlich auf einer Ausgrabung war. Nicht dass sie es ihm zum Vorwurf machte – jedenfalls nicht sehr. Sie verstand den Grund für seine Unterlassung gut. Wenn er der Polizei diese Informationen gab, war er in ihren Augen eindeutig der Täter. Sie wünschte zwar, er wäre ein wenig aufrichtiger, bezweifelte jedoch, unter ähnlichen Umständen wahrheitsliebender zu sein.

“Die sagen, sie suchen einen langhaarigen blonden Amerikaner mit einer runden Brille und einem schlimmen Schnitt an seiner rechten Hand”, erklärte Thomas.

Jason zuckte die Achseln. Sein Haar war dunkel, kurz geschnitten, und er trug keine Brille. “Was soll ich dazu sagen? Die Beschreibung trifft nicht auf mich zu.”

“Ich bin nicht sicher, ob ich es ohne seine Hilfe bis El Mirador geschafft hätte”, sagte Lorraine zu ihrem Vater.

Thomas sah Jason noch einmal genau an. “Wie gesagt, zum Glück für Sie glaubt Lieutenant Jacinto Ihnen.”

Jason seufzte erleichtert.

“Ich habe die Polizei überredet, dass man Sie für heute Nacht ins Hotel zurückkehren lässt. Aber morgen früh werden die Ihnen noch einige Fragen stellen wollen.”

“Natürlich. Ich werde alles Notwendige tun, um mich von dem Verdacht zu befreien”, erklärte Jason eifrig.

“Ich bin da, falls Sie mich brauchen”, fügte Thomas hinzu.

“Danke, Sir. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr verbunden. Mehr als ich sagen kann.”

“Jason wird dich nicht enttäuschen”, betonte Lorraine. “Er wird tun, was getan werden muss.”

“Nochmals danke”, sagte Jason.

Jason, Lorraine und ihr Vater verließen die Polizeistation zusammen. Die Polizisten hatten den Rucksack wieder gepackt und zurückgegeben. Thomas bestand darauf, Jason zum Hotel zu begleiten, und sprach dann mit dem Besitzer, einem alten Mann, der ihn herzlich begrüßte.

Obwohl Lorraine nicht verstand, was die beiden miteinander sprachen, war das Thema der Unterhaltung offensichtlich. Der Mann vom Hotel sollte ein Auge auf Jason haben.

Thomas erwähnte ihre Rolle in dem Fiasko nicht, bis sie wieder bei ihm zu Hause waren. “Warum hast du gelogen, du seist Jasons Frau?”, fragte er geradeheraus.

“Ich … ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte.” Offenbar missbilligte er ihr Verhalten, aber das war nun nicht mehr zu ändern. “Ich hatte das nicht vor”, rechtfertigte sie sich. “Aber als ich sagte, ich sei Jasons Frau …” Sie zuckte hilflos die Achseln. “Ich weiß jedenfalls, dass er unschuldig ist.”

“Bist du sicher?”

“Absolut”, erwiderte sie, ohne nachzudenken. “Ja”, sagte sie noch mal mit Nachdruck.

Ihr Vater wollte etwas erwidern, hielt jedoch inne. “Antonio!”, rief er, als der Junge auf ihn zurannte mit einem älteren Jungen hinter sich, den sie nicht kannte.

Antonio war einer der beiden Jungs gewesen, die bei ihrer Ankunft vor dem Haus gespielt hatten. Etwas war eindeutig nicht in Ordnung, denn der Junge ließ einen Schwall spanischer Worte los, als könne er seine Botschaft nicht schnell genug übermitteln.

Ihr Vater lauschte, und seine Körpersprache verriet ihre Ahnung. Er wandte sich ihr zu und umfasste fest ihre Arme. “Wir müssen dich hier wegbringen.”

“Mich wegbringen?” Lorraine war fast sprachlos vor Verblüffung.

“Während du auf der Polizeistation warst, hat einer der Beamten deinen Koffer durchsucht.”

“Aber das ist illegal!”, empörte sie sich.

“Raine”, sagte er und schüttelte sie heftig. “Die haben das Artefakt gefunden.”

5. KAPITEL

Jack saß an Bord der “Scotch on Water” und sah die Sonne in einen strahlenden rosaroten Horizont sinken. Dies war seine bevorzugte Tageszeit. Bald würde der Mond aus dem Wasser aufsteigen und sich silbrig hell im Meer spiegeln. Er legte die Füße auf die Seitenreling des Bootes, eine Dose seines mexikanischen Lieblingsbieres in der Hand. Klarer Himmel, eine Dose Bier in der Hand und keine Sorge auf der Welt. Das Leben konnte einfach nicht besser sein.

Im Frieden des Sonnenuntergangs wanderten seine Gedanken zu seinem Freund Thomas Dancy. Als Thomas vom Besuch seiner Tochter erfahren hatte, war er zur Schule gerannt und hatte versprochen, ihn später aufzusuchen.

Zum Teufel, er hatte nicht mal gewusst, dass Dancy eine Tochter hatte. Und nach Thomas’ Reaktion zu urteilen, war ihr Besuch alles andere als erwartet. Seither hatte er nichts von Thomas gehört, aber er würde sich bestimmt melden. Dancy war ein Mann, der sein Wort hielt.

Er hatte absichtlich noch nicht zu Abend gegessen, um sich von Azucenas Kochkünsten verwöhnen zu lassen. Herrgott, konnte die kochen! Das Wasser lief ihm im Munde zusammen, wenn er nur daran dachte, was sie aus frischem Fisch, einigen Tomaten und allerlei Gewürzen zu zaubern verstand. Ihre Tortillas, heiß vom Grill, waren die besten, die er je gegessen hatte. Und falls sie Lust hatte, würde sie ihm vielleicht die Haare schneiden. Er rieb sich mit einer Hand das Kinn und erwog, sich vor dem Dinner noch zu rasieren. Die Stoppeln kratzten schon seine Hand.

Er freute sich, Thomas wiederzusehen, auch wenn sein Besuch abgekürzt wurde. In der halben Stunde mit ihm hatte er mehr gelacht als in den Wochen davor. Er wollte bleiben, bis das Baby geboren war. Und er wollte viel mit Antonio und Hector zusammen sein. Die beiden waren die reine Freude. Und es schadete auch nicht, dass sie ihn anhimmelten.

Seine Pläne für den Abend waren durchkreuzt worden, aber der Nachmittag war nicht verschwendet. Er hatte den Bootstank mit 480 Gallonen Diesel gefüllt und seine Vorräte schon bezahlt. Sie würden gleich morgen früh an Bord gebracht werden. Bei der Wahl zwischen Florida und Belize war er zu dem Schluss gelangt, zunächst das zentralamerikanische Land anzusteuern und dann Richtung Süden abzudrehen, wenn ihm danach war.

“Jack!”

Die Eindringlichkeit der Stimme schreckte ihn hoch. Er nahm die Füße von der Reling, stand auf und spannte sich unwillkürlich an. Neugierig beugte er sich über die Bootsseite und sah auf den Anlegeplatz.

Thomas kam angerannt und zerrte eine Blondine in einem hellen Hosenanzug mit. Jack bemerkte, dass die Frau Schwierigkeiten hatte, mit ihm Schritt zu halten. Er fragte sich kurz, ob das Dancys Tochter war.

Ihre Umhängetasche schwang heftig an ihrer Seite und drohte von der Schulter zu rutschen. Beide waren außer Atem und schienen miteinander zu streiten. Als sie näher kamen, verstand Jack einiges.

“Antonio ist dein Sohn, nicht wahr?” Sie wandte sich Thomas zu, und Jack hörte den Zorn in ihrer Stimme.

“Wir haben jetzt nicht die Zeit, das zu besprechen”, wiegelte Thomas ab.

“Er hat dich Papa genannt. Wie viele andere Kinder hast du noch? Und wie viele Frauen?” Dann plötzlich, als ginge ihr ein Licht auf, fügte sie hinzu: “Azucena ist deine Geliebte, nicht wahr? Sie kann doch nicht mehr als drei bis vier Jahre älter sein als ich!” Mit jedem Wort kamen Schockiertheit und Empörung zum Ausdruck. Sie verfiel in Schweigen, als sie sich der Anlegestelle näherte.

Thomas’ Miene war starr vor Frust. “Ich muss dich um einen Gefallen bitten”, sagte er und sah zu Jack hinauf.

“Jederzeit”, erwiderte der, ohne zu hören, worum es sich handelte. Nur wenige Menschen waren so entgegenkommend, doch Jack mochte und vertraute Thomas Dancy.

“Raine, das ist Jack Keller.”

Jack nickte in ihre Richtung und ignorierte den Umstand, dass die beiden gestritten hatten. “Freut mich, Sie kennen zu lernen, Raine.”

Sie würdigte ihn keines Blickes. “Es ist mir lieber, Lorraine genannt zu werden”, antwortete sie mit der Höflichkeit einer Klapperschlange.

Ach herrje! “Lorraine”, korrigierte er sich und widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen.

Thomas verschwendete keine Worte. “Du musst sie in die Staaten zurückbringen, ohne dass die Behörden etwas merken.”

Jack entdeckte Panik in Stimme und Blick seines Freundes. “Mit anderen Worten, du möchtest nicht, dass ich mit ihr durch den Zoll gehe.”

“Du hast es erfasst.” Dann fügte Thomas hinzu: “Du musst sofort aufbrechen. In dieser Minute noch.”

“Schwierigkeiten?”, fragte Jack und ignorierte die junge Frau.

“Große Schwierigkeiten.”

“Das ist eine Überreaktion von dir”, beharrte Lorraine. “Sobald ich die Situation erklären kann, werden die sicher …”

“Wir haben nicht die Zeit, darüber zu streiten”, schnitt Thomas ihr das Wort ab.

“Das Letzte, was ich jetzt tun sollte, ist weglaufen”, konterte sie. “Wenn ich abhaue, sieht es nach einem Schuldeingeständnis aus. Ich würde mich lieber den Behörden stellen, als …” Sie machte eine Pause und warf Jack einen zornigen Blick zu, “als mit ihm zu fahren.”

Jacks Aufzug entsprach offenbar überhaupt nicht der von ihr akzeptierten Kleiderordnung. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, er war auch nicht sehr angetan von ihrer Gesellschaft.

“Wir müssen dich zurück in die Staaten bringen”, sagte Thomas mit Nachdruck. “Falls die Polizei dich festnimmt, kann ich dir nicht mehr helfen. Sie werden jede Minute hier sein. Geh jetzt um Himmels willen!”

Polizei? Festnehmen? Sie? Jack konnte sich nicht vorstellen, was sie getan hatte, um derart bei den Behörden in Ungnade zu fallen, aber es musste etwas Gravierendes gewesen sein.

“Nimm sie!” Thomas schob sie regelrecht auf Jack zu. “Bring sie außer Landes.”

“Mein Koffer … meine Sachen! Ich kann nicht einfach so abhauen! Außerdem gibt es noch einiges, worüber wir beide reden müssen.”

“Die Polizei hat deinen Koffer. Außerdem könntest du ihn auch nicht behalten, wenn Sergeant Lopez dich ins Gefängnis wirft. Oder glaubst du das etwa?” Thomas verlor fast die Beherrschung vor Angst und Sorge. “Glaube mir, du möchtest keine Bekanntschaft mit einem mexikanischen Gefängnis machen. Und jetzt geh, verdammt! Mach dich aus dem Staub!” Er schrie sie an und machte heftige Gesten zu Jack, er solle sie an Bord nehmen. Dann löste er das Tau am Dock und warf es auf Deck.

“Die amerikanische Botschaft wird mir helfen”, sagte Lorraine, während sie zögernd an Bord kletterte. Die “Scotch on Water” schwankte dabei leicht. “Wenn ich ihnen erkläre, dass ich nichts von dem Artefakt weiß”, fuhr sie fort, “werden sie bei der mexikanischen Regierung die Sache für mich regeln.”

Auch ohne ihre genauen Lebensumstände zu kennen, merkte Jack, dass diese junge Frau in einer Fantasiewelt lebte. Sobald sie in den Fängen mexikanischer Behörden war, konnte kaum noch jemand etwas für sie tun. Die Bereitschaft – und die Befähigung – der amerikanischen Botschaft, ihr zu helfen, war etwas, worüber sich nur spekulieren ließ. Thomas wusste das so gut wie Jack.

“Bitte – geh einfach!”, flehte Thomas.

“Aber …”

Die Dieselmotoren sprangen brüllend an. Eine Abgaswolke verpestete die Luft.

“Aber ich bin doch gerade erst angekommen!”, begehrte sie mit hoher, flehender Stimme auf, die das laute Motorengeräusch übertönte. “Ich … es gibt einige Dinge, die ich wissen muss, ehe ich zurückfahre. Wir packen die Sache falsch an!”

Jack spürte ihre Not, empfand jedoch kein echtes Mitgefühl.

“Ich will das doch auch nicht”, beteuerte Thomas. Langsam, als zerreiße es ihm das Herz, trat er vom Anleger zurück. “Ich finde einen Weg, dich zu erreichen”, versprach er. “Du hast wertvolle Fracht, mein Freund”, sagte er wehmütig zu Jack. “Bring sie sicher in die Staaten zurück.”

Die Sache war dringend, so viel stand fest. Ohne länger zu warten, kletterte Jack auf die Brücke. Thomas blieb am Ende des Docks stehen und sah zu, wie sie davonfuhren.

Jack blickte zurück und sah Lorraine am Heck des Kabinenkreuzers stehen. Er schob den Gashebel nach vorn und steuerte das Boot aus den geschützten Wassern der Marina. Obwohl er nur den Rücken seiner Passagierin sah, merkte er, wie wütend sie war. Vielleicht war sie sogar versucht, über Bord zu springen und zurückzuschwimmen. Empfehlen konnte er es ihr nicht.

Nicht lange danach erinnerte ihn das leere Gefühl im Bauch, dass er noch nichts gegessen hatte. Was noch schlimmer war, es gab verdammt wenig zu essen an Bord. Die Vorräte, die er gekauft und bezahlt hatte, standen noch in El Mirador im Laden. Er war nicht nur knapp an Vorräten, er durfte auch noch die Gesellschaft einer jungen Lady genießen, die ihn vermutlich mit jedem Wort aus ihrem törichten Mund ärgerte.

Nein, so hatte er sich seinen Abend nicht vorgestellt. Lorraine blieb auf dem hinteren Bootsdeck und sah die Lichter von El Mirador langsam verschwinden. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort stand und versuchte, in die Geschehnisse der letzten Stunde einen Sinn zu bekommen. Ihr schienen erst Minuten vergangen zu sein, seit sie bei einem wunderbaren Essen ihren Vater kennen gelernt hatte. Ihr wurden die Wangen warm, als sie sich erinnerte, wie sie seiner angeblichen Haushälterin Komplimente gemacht hatte.

Diese Sache mit dem Stern von Yucatán war ein Schock – und gab ihr das Gefühl, ein kompletter Idiot zu sein. Es stand inzwischen außer Frage, dass Jason Applebee – sofern das sein richtiger Name war – sie lediglich benutzt hatte, sich aus der Sache herauszuwinden. Er hatte sie mit einem Trick dazu gebracht, für ihn zu lügen, da er wusste, dass die Behörden einen allein reisenden Mann suchten. Sie stöhnte über ihre unverzeihliche Dummheit.

Sie hatte seine Unschuld erst in Frage gestellt, als das Artefakt in ihrem Gepäck gefunden worden war. Zweifellos warf das kein gutes Licht auf ihre Menschenkenntnis. Und was sein Aussehen anlangte, er konnte sich leicht die Haare geschnitten und gefärbt haben. Wie der Stern in ihren Koffer gelangt war, ließ sich ebenfalls einfach beantworten. Jason hatte die Gelegenheit genutzt, als ihr Gepäck auf den Bus verladen wurde.

Wie bequem für Jason, auf eine so naive, vertrauensselige Amerikanerin zu stoßen. Wenn es etwas gab, was sie in diesem letzten Monat gelernt hatte, dann keinem äußeren Schein zu trauen. Wegen ihrer Naivität saß sie nun auf diesem Boot fest mit diesem zugewachsenen … was auch immer. Jack Keller sah aus wie ein ungekämmter Surfer, der zu viel Sonne abbekommen hatte. Offenbar lebte er auf diesem Boot. Sein Haar war ausgebleicht und seine Haut von einem tiefen Bronzeton. Obwohl sie sich soeben ermahnt hatte, kein Urteil nach dem äußeren Schein zu fällen, konnte sie bei diesem Typen nicht anders. Er wirkte unfähig und verantwortungslos. Ihr Vater musste verzweifelt gewesen sein, sie einem solchen Tramp anzuvertrauen.

Sie befanden sich schon eine Stunde auf See, ehe sie ein Wort miteinander wechselten.

“Bringen Sie mir etwas zu essen, ja?”, rief Jack von der Brücke.

Sein Tonfall wurmte sie. Es klang, als erwarte er, dass sie auf dieser Reise nach seiner Pfeife tanzte. Sie war geneigt, ihm eine entsprechende Erwiderung zu geben, unterließ es jedoch. Schließlich tat er ihr und ihrem Vater einen Gefallen.

“Wo soll ich das denn herholen?”, rief sie zurück.

“Versuchen Sie es mit der Kombüse”, antwortete er, als hätte sie sich das auch selbst denken können.

Das Boot hüpfte und schaukelte auf den Wellen, während Lorraine unter Deck ging, was wegen der unglaublich steilen Treppe nicht einfach war. Einmal unten, befand sie sich im traurigsten und winzigsten Küchenteil, das man sich vorstellen konnte. Sie sah sich um und entdeckte hinter einer Tür noch eine Toilette und eine Dusche in eine ebenfalls winzige Ecke gequetscht. Der einzige andere Raum, falls man ihn so nennen konnte, war offenbar Jacks Schlafabteil. Es gab eine enge Koje, übersät mit Kleidungsstücken. Bücherregale bedeckten die Wände, und neben der Beleuchtung hingen mehrere Feuerwaffen.

Da sie sich mit Waffen nicht auskannte, konnte sie auch nicht sagen, um welche Kaliber es sich handelte. Allerdings ähnelten sie nicht den Dingern, die man in Filmen sah.

Sie kehrte in die Kombüse zurück und entdeckte eine verschrumpelte Orange und im Kühlschrank vier oder fünf Dosen Bier. Sie schob sie beiseite. Dabei ging ihr eine Filmszene aus African Queen durch den Sinn, in der Katherine Hepburn Humphrey Bogarts Schnaps wegkippt. Weitere Nachforschungen förderten eine vertrocknete Tortilla und eine geöffnete Dose Sardinen zu Tage, deren Geruch widerlich war.

Da sie keine andere Wahl hatte, schälte sie die Orange. Danach wurde ihr übel.

“Ich … ich fürchte, ich werde seekrank”, sagte sie, als sie ihm die Orange brachte. “Haben Sie irgendwelche Ratschläge für mich?”

“Falls Sie sich übergeben, halten Sie den Kopf über die Bordseite. Göbeln Sie mir aufs Schiff, machen Sie es sauber.”

“Danke für den charmanten Rat”, erwiderte sie leise und ging vorsichtig zum Hauptdeck zurück. Die See war nicht mehr so ruhig wie zu Beginn der Fahrt, das Boot wurde heftig hin- und hergeworfen und im Wellengang hochgehoben und wieder heruntergelassen. Und mit jedem Hüpfer kam ihr Magen hoch. Entschlossen, sich nicht zu übergeben, setzte sie sich auf den einzigen Stuhl an Deck und presste kräftig die Arme auf den Magen. Das schien nicht zu helfen. Sie fröstelte und schwitzte gleichzeitig.

Nicht lange, und sie sprang vom Stuhl und rannte zur Reling. Was sie im Haus ihres Vaters gegessen hatte, ehe die Polizei kam, war bald heraus. Immer wieder würgend, schloss sie die Augen. Schließlich schien es vorüber zu sein. Sie richtete sich auf und stöhnte laut, gleichgültig, ob Jack es hörte oder nicht. Sie fühlte sich zu elend, um eine Rolle zu spielen.

“Fühlen Sie sich besser?”, fragte er.

“Nein. Schlechter.” Sie hätte schwören mögen, der Mann klang belustigt. Ich werde ihn ignorieren, schwor sie sich und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.

“Gehen Sie und legen Sie sich hin. Ich würde allerdings nicht vorschlagen, das unter Deck zu tun.”

Sie hatte nicht die Absicht, in diesem grässlichen Bett zu schlafen, und einen anderen Platz zum Hinlegen gab es nicht. Darauf hätte sie ihn hingewiesen, wenn ihr nicht so sterbenselend gewesen wäre.

Jack verschwand und kam kurz darauf mit einer Decke und einem Kissen zurück. Er warf es ihr in den Liegestuhl.

“Danke”, presste sie leise hervor. Immer wieder rollte sie den Kopf von rechts nach links und fürchtete zu sterben.

Jack ging neben ihr in die Hocke, ohne allzu mitfühlend auszusehen, wie sie fand.

“Wie lange brauchen wir, bis wir in den Staaten sind?”, fragte sie mit schwacher Stimme.

Er antwortete nicht sofort. “Länger, als es uns beiden gefallen wird.”

Lorraine wusste bereits, dass er recht hatte.

Als Jason ins Hotel zurückkehrte – die beiden Dancys im Schlepp – war ihm bereits klar, dass es jetzt auf schnelles Handeln ankam. Thomas und Lorraine waren endlich gegangen, nachdem sie ihm noch viele gute Ratschläge gegeben hatten. Wieder in seinem Zimmer, packte er einige Dinge in den Rucksack zurück, die er vorher herausgenommen hatte. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis die Behörden seine Lüge aufdeckten. Sobald das geschah, konnte ihn nichts mehr vor der Verhaftung retten. Er musste sich in Bewegung setzen, und zwar sofort.

Verdammt, er hatte nicht erwartet, dass ihm die Polizei so dicht auf den Fersen war. Die Bandage an seiner Hand musste dem Schalterbeamten am Busbahnhof aufgefallen sein. Sein Fehler war es gewesen, wie er jetzt erkannte, anzunehmen, die Busbahnhöfe seien nicht gewarnt worden. Sein Foto konnte ja wohl noch nicht die Runde gemacht haben – oder doch? Jedenfalls hatte er sein Äußeres so gut er konnte verändert: Haare geschnitten und gefärbt, die Brille gegen farbige Linsen getauscht und die Kleidung gewechselt. Nur den tiefen Schnitt an seiner Hand konnte er nicht verbergen, der hatte ihn verraten.

Mit Lorraine zu reisen, war ideal gewesen, die Behörden zu verwirren. Doch kaum hatte er sich im Hotel eingetragen, waren auch schon die Bullen aufgetaucht. Er war gerade in sein Zimmer gegangen, als sie ihn abgeholt hatten.

Leise betrat er die Hotelhalle, um die Ausgänge zu prüfen, und sah, dass der Hotelbesitzer sich Dancys Worte zu Herzen genommen hatte und ihn genau im Auge behielt. Thomas Dancy war nicht halb so töricht wie seine Tochter.

Wieder in seinem Zimmer, stopfte er noch einige herumliegende Dinge in den Rucksack, inklusive eines Klappmessers, das er unter dem Kissen versteckt hatte. Die Polizei hatte es entweder nicht gefunden oder gar nicht danach gesucht. Sobald er fertig war, sah er aus dem kleinen Fenster auf die Straße hinab. Ein Polizeiwagen fuhr soeben vor. Er hatte keine Zeit zu verlieren, schnappte sich Jacke und Rucksack und schlüpfte leise aus der Tür.

Auf der Hintertreppe traf er mit dem Hotelbesitzer zusammen. Ihre Unterhaltung war kurz. Der Alte machte den Fehler, sich einzubilden, er könnte ihn aufhalten. Der Kampf, ihn zum Schweigen zu bringen, kostete Jason wertvolle Minuten. Er hätte gern einen weiteren Mord vermieden, aber der hier war unerlässlich. Wenn jemand die Schuld daran trug, dann Thomas Dancy.

Als Jason den Hinterausgang des Hotels erreichte, hörte er die Polizisten die Treppe hinaufstürmen in sein Zimmer. Das war knapp. Viel zu knapp.

Jetzt musste er Lorraine finden. Während der Busfahrt hatte er sie zu überreden versucht, mit ins Hotel zu ziehen. Zu sehr hatte er sie jedoch nicht drängen können, um sich nicht verdächtig zu machen. Ehe sie sich am Nachmittag trennten, hatte er noch erfahren, wo Dancy lebte.

Er versteckte sich, bis es Nacht wurde und fand dann über etliche Nebenstraßen zum Haus des Lehrers. Glücklicherweise war El Mirador in einem einfachen Gittermuster angelegt, und der Mond schien hell. Er hatte schon Menschen unter widrigeren Umständen aufgespürt – genau genommen sogar erst kürzlich. Lorraine sollte nicht schwer zu finden sein.

Sie war der Schlüssel zu allem. Sobald er hatte, was er von ihr wollte, würde er wieder verschwinden.

Ein Hund bellte, als er die staubige Straße entlangschlich. Entdeckung befürchtend, duckte er sich in den Schatten eines kleinen Adobehauses.

Dann, welch wunderbare Fügung, beobachtete er, wie Thomas Dancy aufs Haus zulief und nach jemand rief, der Azucena hieß.

Eine schwangere Frau eilte über die Straße und fiel Dancy schluchzend in die Arme.

Die beiden umklammerten sich, als wären sie ein Jahr getrennt gewesen. Jason wurde ungeduldig, bis er die Worte der Frau hörte. Also war die Polizei schon im Haus gewesen und hatte das Artefakt entdeckt. Verdammt.

“Wo ist sie?”, fragte die Frau auf Spanisch.

Jason war ebenfalls daran interessiert, das herauszufinden.

“Bei Jack.”

“Du hast sie Jack Keller übergeben?”

“Welche Wahl hatte ich denn?”, fragte Dancy zurück. “Ich musste sie hier herausbringen, ehe die Polizei sie verhaftete.”

Wieder musste Jason dem Mann einige Intelligenz zubilligen. Im Gegensatz zu seiner Tochter, die so naiv war, dass es einen umhaute. Dancy hatte richtig gehandelt, sie wegzuschicken. Die Polizei hätte sie durch den Fleischwolf gedreht. Lächelnd dachte er daran, wie arglos sie seine Geschichte geschluckt und wie bereitwillig sie ihm alles über sich erzählt hatte. Er verabscheute es fast, sie in diese Sache hineingezogen zu haben, doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern.

“Jack ist ein guter Freund”, erklärte Thomas Dancy. Er zog die Frau so nah an sich heran, wie ihr Bauch es erlaubte und küsste sie auf den Kopf.

“Ich vertraue darauf, dass er deine Tochter sicher in dein Land zurückbringt.”

“Mexiko ist jetzt mein Land”, korrigierte Dancy. Doch selbst aus der Ferne hörte Jason die Traurigkeit in seiner Stimme. “Und du wirst bald meine Ehefrau sein.”

Die Frau hob den Kopf und sah Dancy an. Jason konnte ihre Miene nicht erkennen.

“Ich bin jetzt frei und kann dich heiraten”, erklärte er.

“Ich muss nicht vor einem Priester stehen, um deine Frau zu sein. In meinem Herzen bin ich das schon längst. In meinem Körper wächst dein Kind. In diesem Haus schlafen deine Söhne. Ich habe alles, was ich brauche.”

“Ich auch”, erwiderte Dancy, schlang ihr den Arm um die Taille und führte sie ins Haus zurück.

Jack Keller, wiederholte Jason im Stillen. Nun, da er den Namen kannte, hatte auch er alles, was er brauchte.

Lorraine erwachte, und die Sonne schien ihr in die Augen. Ihr Körper rebellierte, weil sie die Nacht in einem Deckchair verbracht hatte. Ihre Kehle war trocken und gereizt vom Übergeben, der Nacken war steif. Doch das körperliche Unbehagen war nichts verglichen mit dem Schmerz in ihrem Herzen.

Die Ereignisse des Vortages gingen ihr durch den Sinn, und ihr wurde schwindelig, wenn sie daran dachte, was sich alles zugetragen hatte. Vor knapp vierundzwanzig Stunden hatte sie Gary am Flughafen einen Abschiedskuss gegeben. Dann der Flug, die Busfahrt, die Begegnung mit ihrem Vater … und Jasons Verrat. Die Polizei. Jacks Boot. Ein einziger Tag fühlte sich an wie ein ganzes Leben.

Vielleicht zum ersten Mal überhaupt war sie schlafen gegangen, ohne sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Ihre Haare waren ungekämmt, und der Magen war leer, sein Inhalt längst Fischfutter.

Ein Geräusch ließ sie aufmerken. Jack stand an Deck, Hände auf den Hüften, und blinzelte in den strahlend blauen Himmel. Im Tageslicht sah er auch nicht besser aus als in der Abenddämmerung, eher sogar noch wüster und unfreundlicher.

“Guten Morgen”, grüßte sie vorsichtig.

Er sah sie nur finster an, ohne den Gruß zu erwidern. Offenbar war er ein Morgenmuffel.

“Möchten Sie, dass ich eine Kanne Kaffee koche?”, fragte sie. Trotz seiner schroffen Art wollte sie ihm doch zeigen, dass sie dankbar war für seine Hilfe. Und sie war mehr als bereit, sich nützlich zu machen.

“Und auch ein paar Eier kochen, wenn Sie schon mal dabei sind?”, schnauzte er.

Sie zögerte und wusste nicht recht, was ihn so aufbrachte. “Also schön, wie möchten Sie die Eier gekocht haben?”

“Weich”, entgegnete er knapp. “Ich mag es, wenn das Dotter noch läuft.”

“Okay.” Sie war nicht ganz sicher, ob sie das schaffte, aber sie würde es bald erfahren. “Wenn Sie mir dann freundlicherweise sagen, wo Kaffee und Eier sind, mache ich mich sofort an die Arbeit.”

“Wo Kaffee und Eier sind?”, wiederholte Jack gedehnt. “Wissen Sie es denn nicht?”

“Nein.” Gestern Abend hatte sie beides nicht entdeckt. Vielleicht gab es irgendwo einen weiteren Kühlschrank.

“Meine Vorräte sind noch in El Mirador.”

“Aber …” Lorraine brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. “Sie wollen mir sagen, dass wir nichts zu essen an Bord haben?”

“Genau das.”

Sobald sie das hörte, war sie zehnmal so hungrig wie zuvor. “Was sollen wir tun?”, fragte sie mit wachsender Besorgnis.

“Angeln. Sardinen sind ein guter Köder.”

Lorraine verzog das Gesicht.

“Was ist denn jetzt wieder nicht in Ordnung?”, wollte er wissen.

Es schien albern unter diesen Umständen, aber er hatte nun mal gefragt. “Ich kann nichts sterben sehen. Auch keinen Fisch.”

Er lachte, als fände er das zum Brüllen komisch. “Dann verzichten Sie eben drauf.”

6. KAPITEL

Die Frau war vollkommen nutzlos. Wenn Jack das nicht schon geahnt hätte, hätte er es jetzt bestätigt bekommen. “Ich werde angeln”, sagte Lorraine schließlich nach längerem Schweigen. “Aber ich weigere mich, den Fisch auszunehmen.” Sie drehte ihm den Rücken zu.

Ihr Missfallen war so deutlich, dass man es nicht ignorieren konnte. Sie trägt die Nase so hoch, dachte er amüsiert, dass bestimmt bald ein Vogel darauf landet und sein Nest baut.

“Haben Sie ein Problem damit, Ihren Teil zu unserer Reise beizutragen?”, fragte er. Nicht dass er auf einen Streit aus gewesen wäre, allerdings interessierte ihn, wie weit er gehen konnte.

“Natürlich nicht. Selbstverständlich werde ich meinen Teil beitragen.”

Es war zu früh am Morgen, um zu streiten. Außerdem hatte er verdammten Hunger. Ohne Morgenkaffee war er nicht in der Stimmung für einen ungebetenen Passagier, schon gar nicht für einen, der ihm Unannehmlichkeiten bereitete wie diese Frau. Sie schien ja nicht mal anzuerkennen, dass er ihren dummen kleinen Hintern vor dem Gefängnis rettete.

“Ich möchte wissen, wie Sie uns aus unserer Notlage befreien wollen”, fragte sie als Nächstes.

Ich muss schon sehr bitten. Es fehlte ihm gerade noch, dass ihre Königliche Hoheit anfing, Befehle zu erteilen.

“Ich sagte es Ihnen bereits.” Den Rücken zu ihr gewandt, bestückte er die erste Angelrute. Er befestigte den Köder – die Sardinen waren natürlich nicht für den eigenen Verzehr gedacht gewesen – und befestigte die Rute an Deck. Sobald er damit fertig war, machte er die zweite Angel bereit. Mit zwei Leinen im Wasser verdoppelten sich seine Chancen auf ein Frühstück. Zum Teufel, er hatte noch nicht mal einen Fisch gefangen, und Miss “Ich-werde-meinen-Beitrag-leisten” ließ bereits verlauten, dass sie sich ihre zarten Finger nicht blutig zu machen wünsche.

“Der Anblick von Blut verursacht Ihnen Übelkeit, was?”, forderte er sie heraus.

“Kaum”, entgegnete sie von oben herab.

Er zog nur die Brauen hoch und war fertig mit der zweiten Angelrute.

“Ich finde angeln eben barbarisch.”

“Sie können sich ein Frühstück angeln, oder Sie verzichten, wie bereits erwähnt.”

“Gut.”

Im Gegensatz zu ihm hatte sie ein anständiges Dinner gehabt – eben jenes, das für ihn vorbereitet gewesen war. Ob sie frühstücken wollte oder nicht, blieb ihre Wahl. Es war ihm gleichgültig.

“Hm, ich merke gerade, wie das klingt”, sagte sie und wollte offenbar einlenken. “Es ist nicht so, als würde ich Ihr Angebot nicht schätzen …”

“He”, sagte Jack und ging nach vorn, “Sie können tun und lassen, was Sie wollen.” Er ließ die Motoren wieder an, und das Boot tuckerte langsam über die Wellen.

Lorraine sah aus, als müsste sie sich gleich wieder übergeben. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von gesundem Rosa nach Aschfahl, gefolgt von einem Stich ins Grünliche.

Jack widerstand der Versuchung, sich zu erkundigen, wie es ihr gehe. Das war zu grausam, selbst für seine Verhältnisse. Ein Blick sagte alles.

Ihre Hoheit stolperte zum Deckchair und ließ sich darauf fallen.

Das Glück war ihm hold, und in weniger als zehn Minuten hatte er seinen ersten Fisch. Ein roter Schnapper, der ein exzellenter Speisefisch war.

Lorraine regte sich nicht auf ihrem Thron, während er sein Frühstück an Bord zog. Sie nahm auch keine Notiz, als er den Fang hinuntertrug, ihn ausnahm, filetierte und in der Pfanne briet. Der Bratenduft ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Frischer konnte man Fisch nicht zubereiten. Er hätte in der Kombüse essen können und tat das auch häufig, aber heute nicht.

Mit ziemlich viel Getue zerrte er einen zweiten Deckchair nach oben und stellte ihn neben Lorraines auf. Danach holte er seinen gefüllten Teller zusammen mit einem kühlen Bier und setzte sich. Sie warf einen Blick in seine Richtung, und Jack erkannte, dass sie Hunger hatte. Nach ihrer Behauptung, das Angeln sei ihr zuwider, gestattete ihr Stolz es nicht, nachzugeben und sich an einem delikaten Mahl zu beteiligen – obwohl er sie dazu aufforderte.

“Ich will keine Last sein …”, sagte sie leise.

“Es ist eine Gabe.”

“Was?”

“Eine Last sein zu können. Sie haben echtes Talent dafür.” Das ließ sie für einige Minuten verstummen, wie er beabsichtigt hatte.

“Was werden wir wegen der fehlenden Vorräte unternehmen?”, fragte sie nach einer Weile.

Jack merkte an der beherrschten, gleichmütigen Sprechweise, dass sie Mühe hatte, ihr Temperament zu zügeln. Er unterstellte, dass sie nicht häufig die Geduld verlor. Eine feine Südstaatenlady wie sie bekam die guten Manieren eingedrillt wie Rekruten im Ausbildungslager die Grundzüge des Soldatseins.

“Ich beantworte Ihre Frage, wenn Sie meine beantworten”, erwiderte er, aß den letzten Bissen Fisch und spülte ihn mit einem Schluck Bier hinunter. Es war noch Fisch in der Kombüse, aber das verschwieg er. Wenn sie ein Frühstück haben wollte, sollte sie ihn darum bitten.

“Also schön”, sagte sie mit deutlichem Zögern.

Das Boot wiegte sich nur leicht, und sie hatte wieder etwas Farbe im Gesicht. Er nahm an, das war ein gutes Zeichen. Bis sich ihr Gleichgewichtsorgan an den schwankenden Untergrund gewöhnt hatte, würde es ihr ziemlich schlecht gehen. Er war nicht sicher, ob er ihre baldige Genesung wünschte. Auch in ihrem elenden Zustand war sie noch ein ziemliches Ärgernis. Er mochte gar nicht daran denken, wie sie ihn erst auf die Palme brachte, wenn sie wieder fit und sie selbst war.

“Sie wollten mich etwas fragen.” Das klang leicht ungeduldig.

Er dachte nach. Zweifellos war es unterhaltend, sie aufzuziehen, aber sein unerklärlicher Drang, so viel wie möglich über sie zu erfahren, beunruhigte ihn ein wenig. Vermutlich wollte er einfach nur wissen, was für eine Art Frau sein Freund Thomas zur Tochter hatte.

“Mir ist klar, dass es mich eigentlich nichts angeht”, begann er, “aber die Neugier hat mich gepackt.” Er kicherte leicht. “Wie ist Ihr Mann? Ist er so verklemmt wie Sie?”

Sie blickte auf den Ehering an ihrer Linken, als wundere sie sich, ihn dort zu sehen.

“Ich stelle mir vor, sie beide passen gut zusammen”, fuhr er fort. “Rütteln Sie sich so richtig durch?”

“Wie bitte?”

“Sie wissen schon. Sind Sie so heiß aufeinander, dass Sie es nicht erwarten können, sich die Kleider vom Leib zu reißen? Dann ist der Sex am besten, finden Sie nicht? Hitzig und schweißtreibend, gegen eine Wand oder besser noch auf dem Küchentisch.”

Sie riss die Augen auf, als könne sie nicht glauben, was sie da hörte. “Ich finde Sie vulgär und verletzend.”

Jack lachte. Es machte einfach Spaß, diese Frau zu necken. “Sie mögen mich so wenig, wie ich Sie mag. Das ist völlig in Ordnung. Aber Sie können es niemandem verübeln, wenn er neugierig ist auf den Mann, der ein so arrogantes Weib wie Sie geheiratet hat.”

“Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass …”

“Jede Wette, Ihr Mann trägt gestärkte Hemden, und Sie beide lieben sich jede Mittwoch- und Sonntagnacht mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks.”

“Das geht Sie nichts an!”

Er lachte wieder. “Habe ich recht, oder was? Und wenn Sie es tun, behalten Sie die Pyjamas an. Und wenn Sie fertig sind, seufzen Sie höflich, geben sich ein Küsschen auf die Wange, rollen auf die andere Seite und schlafen.”

Autor

Debbie Macomber

Debbie Macomber...

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