Happy End in Seattle

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Kinder sind schlauer als Erwachsene. Das denken zumindest Meagan und Kenny. Sie wollen eine neue Frau für ihren Vater Steve und finden: Hallie ist genau die Richtige. Doch für die selbständige Grafikerin, bald dreißig und entschieden auf Männersuche, wohnt das Glück nicht nebenan. Sie versucht es mit ihrem Steuerberater: Fehlanzeige. Und auch die Kandidaten der Partnervermittlung sind eine Enttäuschung. Steve tröstet sie über die verpatzten Affären hinweg, aber erst als eines Tages seine Ex vor der Tür steht, merkt Hallie, dass sie eifersüchtig ist.


  • Erscheinungstag 30.05.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765590
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Debbie Macomber

Happy End in Seattle

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Annette Keil

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

This Matter of Marriage

Copyright © 1997 by Debbie Macomber

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Redaktion/Lektorat: Ilse Bröhl

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: davidgn/123RF

eBook-Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 9783955765590

www.mira-taschenbuch.de

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Happy End in Seattle

Silvester, und dieses Mal meint Hallie McCarthy es ernst mit ihren Vorsätzen: Sie will endlich ihren Mann fürs Leben! Das erzählt sie ihrem Tagebuch – und ihrem netten Nachbarn Steve. Der versteht sie gut: Seine Frau hat ihn verlassen, und nun ist der Wochenendpapa wieder auf Brautschau. Während Hallie versucht, ihre Freundin Donnalee mit Steve zu verkuppeln, macht Steve Hallie mit seinem Freund Todd bekannt. Das Ergebnis: Todd und Donnalee heiraten, und Steve und Hallie sind noch immer allein. Da haben Steves Sprösslinge langsam die Nase voll und hecken einen Plan aus, der den beiden endlich die Augen öffnen soll. Es beginnt ein turbulenter Hindernislauf voller kleiner und mittelschwerer Katastrophen, bis Steve und Hallie endlich die Zielgerade erreichen. Zusammen?

1. KAPITEL

Gute Vorsätze

1. Januar

Es ist immer dasselbe. Stets fängt bei mir das neue Jahr mit denselben guten Vorsätzen an. Jedes Mal fasse ich den Entschluss, mir fünf Pfund herunterzuhungern – ich will ehrlich sein, diesmal sind es zehn –, meine Kreditkartenschulden abzuzahlen und ähnlich hoch gesteckte Ziele in Angriff zu nehmen. Jedes neue Jahr beginne ich mit demselben Tagebucheintrag. Aber diesmal ist es anders. Oh, natürlich will ich abnehmen, mehr denn je, aber die Motivation ist eine andere geworden.

Ich will einen Mann und irgendwann Kinder haben.

Und dafür brauche ich einen Plan. Als zielstrebiger Mensch pflege ich mich in solch einem Fall zunächst zu fragen, was mein Plan mir einbringen soll (die Ehe!!), um dann logisch auf mein Vorhaben hinzuarbeiten. Was in diesem Fall bedeutet, mein Aussehen zu verbessern. (Nicht, dass ich schlecht aussähe, wenn ich das in aller Bescheidenheit anmerken darf. Aber ich will noch besser aussehen, vor allem, was die Oberschenkel angeht.) Denn das habe ich im Geschäftsleben gelernt: Auf die Verpackung kommt es an.

Es überrascht mich selbst, etwas Derartiges niederzuschreiben. Wie habe ich mich doch verändert seit jenen Jahren im College, als nichts und niemand mich dazu hätte bringen können, den „Fluchtweg des schwachen Geschlechts“ einzuschlagen, wie ich es immer bezeichnete. Cassie, Jamie, Rita und Jane, sie alle waren bereits wenige Monate nach ihrem Studienabschluss unter der Haube. Warum? Weil sie gekniffen haben vor der Realität. Weil das Berufsleben eine größere Herausforderung darstellte, als sie angenommen hatten. Da bot die Ehe einen bequemen Ausweg.

Aber nicht für mich, nein danke. Die Ehe war mir zu konventionell. Ich wollte mich erst im Geschäftsleben bewähren, mir mit einer eigenen Agentur für grafisches Design einen Namen machen. Und es ist mir gelungen! Jetzt habe ich das Gefühl, dass der Kreis sich schließt. Ich habe viel erreicht, ich will mein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Aber diese Weihnachten ist mir klar geworden, dass das Leben mehr beinhalten sollte, als von der Handelskammer zur Frau des Jahres ernannt zu werden.

Also habe ich letzte Woche die große Entscheidung getroffen:

Die Zeit ist gekommen, einen Mann in mein Leben aufzunehmen. Bisher habe ich Beziehungen wie Desserts betrachtet – hin und wieder schmecken sie gut, aber nicht zu jeder Mahlzeit. Meine Freundinnen versuchen seit Jahren, mir potenzielle Ehemänner anzudienen. Aber ich habe sie immer wieder enttäuscht.

Ich sei zu wählerisch, meint Rita. Doch das stimmt nicht. Ich stelle eben gewisse Ansprüche. Das tut jede Frau. Aber der wahre Grund, weshalb ich nicht geheiratet habe, ist meine Arbeit. Für mich zählte nur, Artistic License zu einem Erfolg zu machen. In den letzten sechs Jahren habe ich jede freie Minute meiner Agentur gewidmet.

Bis mich dieses Jahr zu Weihnachten wie ein Blitzschlag die Erkenntnis traf, dass ich mehr will. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Dad im Juni starb. Mom ist noch nicht darüber hinweggekommen, und auch Julie und mir macht der Verlust zu schaffen. Die Feiertage waren leer und traurig ohne ihn, und uns allen war eher nach Weinen zu Mute. Es tut mir so leid, dass Dad das erste Weihnachtsfest seiner Enkelin nicht mehr erleben konnte. Ich wusste, Julies Baby würde Mom über ihren Kummer hinweghelfen. Aber ich ahnte ja nicht, welche Gefühle die kleine Ellen in mir wecken würde.

Ich hielt mich immer für eine starke und unabhängige Person. Aus Angst vor der Erkenntnis, auch ich könnte jemanden brauchen, bin ich bisher jeder festen Beziehung aus dem Weg gegangen. Ich weiß nicht, warum ich so bin. (Und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will.) Ich weiß nur, dass ich inzwischen anders denke.

Es fing alles damit an, dass mich Julie das Baby halten ließ. Ich schmolz dahin, als ich die Kleine in den Armen wiegte, ich schwöre es. Was ich in diesem Moment empfand, lässt sich wohl nur als mütterlichen Instinkt bezeichnen. Schlagartig wurde mir klar: Das ist es, wonach du dich sehnst. Das ist es, was in deinem Leben gefehlt hat. Ein Mann und Kinder. Eine eigene Familie.

Ich bin sicher, mit dem richtigen Mann kann ich alles haben, ein Heim, eine Familie und meine Karriere. Das haben schon ganz andere Frauen geschafft, also sollte es auch mir gelingen. Komisch, wie so ein Baby einen Menschen umkrempeln kann. Ich bin bereit. Mehr als bereit. Ab sofort soll mein Leben in eine andere Richtung führen. Meine Prioritäten haben sich geändert.

Ja, ich gebe es zu. Ich will einen Mann und Kinder. Den Mann brauche ich zuerst. (Ich beabsichtige, die richtige Reihenfolge einzuhalten!)

Mom sagt immer, wenn ich einmal einen Vorsatz gefasst hätte, ließe ich mich durch nichts aufhalten. Ich habe mir mein Ziel gesteckt, meine Pläne gemacht, und ich denke, es kann nicht länger als zwei, höchstens drei Monate dauern, bis ich einen Ehemann gefunden habe. Ich rechne fest damit, nächstes Jahr um diese Zeit eine verheiratete Frau zu sein. (Vielleicht ist dann auch schon Nachwuchs unterwegs!)

So schwierig kann es doch nicht sein, was ich mir vorgenommen habe, oder?

Schweiß rann Hallie McCarthy von der Stirn und tropfte ihr in die Augen, so dass sie nur noch verschwommen sehen konnte. Mit dem Handtuch, das ihr um den Hals hing, wischte sie sich die Stirn ab. Obwohl sie sich geschworen hatte, es nicht zu tun, warf sie einen Blick auf den Zeitmesser des Laufbandes.

Noch eine Minute. Sechzig kurze Sekunden. Das konnte, das musste sie schaffen. Entschlossen beschleunigte sie ihr Tempo. Dabei wartete sie ungeduldig auf den Summer, der das Ende der Tortur ankündigte.

Das Laufband war voll digital ausgerüstet, wie sich das gehörte bei dem Preis, den das Ding sie gekostet hatte. (Nicht zu vergessen die drei farblich auf das Sportgerät abgestimmten Designer-Jogginganzüge, die sie sich dazu angeschafft hatte.) Jedes Mal, wenn sie ihr Pensum bewältigt hatte, gratulierte der Computer ihr über einen Mini-Bildschirm zu ihrer glänzenden sportlichen Leistung.

Wolle sie Männer kennen lernen, müsse sie Mitglied in einem Fitnesscenter werden, hatte Donnalee ihr geraten. Hallie beabsichtigte den Rat ihrer Freundin zu befolgen, aber nicht jetzt. Erst musste sie abnehmen. Mit Oberschenkeln, die an Kartoffelstampfer erinnerten, wollte sie sich keinesfalls im Fitnessstudio zeigen.

Keuchend packte Hallie die Seitenbügel ihres Laufbandes fester. Die Lungen drohten ihr zu bersten. Diese letzte Minute erwies sich als die längste ihres Lebens. Um sich von der körperlichen Anstrengung abzulenken, blickte sie aus ihrem Wohnzimmerfenster zu der Luxus-Eigentumswohnung hinüber, die neben ihrer lag.

He, sie bekam neue Nachbarn! Ein Umzugswagen parkte vor dem Haus, und eine Crew kräftiger Männer – sehr kräftiger Männer, wie sie anerkennend registrierte –, war dabei, ihn auszuladen. Dicht dahinter stand ein Lieferwagen, der so hoch war, dass man vermutlich eine Trittleiter zum Einsteigen brauchte. Hallie kniff die Augen zusammen, um die Worte zu entziffern, die auf dem Rahmen standen, der das Nummernschild umgab: GROSSES AUTO. GROSSE WERKZEUGE. Stöhnend verdrehte sie die Augen gen Himmel. Männer! Sie schienen alle ein Problem mit ihrem Ego zu haben. Zwei muskulöse Typen wanderten in ihr Blickfeld, und sie fragte sich, ob wohl einer davon ihr neuer Nachbar war.

Willow Woods, der Wohnkomplex, in dem sie vor einem halben Jahr eine Eigentumswohnung erworben hatte, war so gut wie ausverkauft. Sie hatte sich schon gedacht, dass es nicht lange dauern würde, bis auch das Haus neben ihrem verkauft war. Vor allem, da es drei Schlafzimmer hatte und damit zu den größten Wohneinheiten der Anlage gehörte. Es musste eine Familie sein, die dort einzog. Hallie freute sich, endlich Nachbarn zu bekommen.

Der Summer begann zu schnarren, und das Laufband blieb stehen. Aufatmend wischte sich Hallie mit dem Handtuch das schweißnasse Gesicht ab. Ihre Wangen brannten, und das kurze, gelockte Haar klebte ihr an den Schläfen. Ihre alte graue Jogginghose – die neuen Designer-Anzüge wollte sie nicht verschwitzen – schlotterte ihr um die Taille. Ein vielversprechendes Zeichen. Die Versuchung war groß, ins Bad zu rennen und sich auf die Waage zu stellen. Doch sie hatte diesen Fehler schon zu oft gemacht und sich deshalb geschworen, nur noch einmal in der Woche auf die Waage zu steigen, und zwar am Montagmorgen nach dem Aufstehen.

Sie hatte in einundzwanzig Tagen fünf Pfund verloren. Die ersten zwei waren mühelos gepurzelt, aber bei den letzten drei war es ihr vorgekommen, als würde sie mit einem Teelöffel einen Betonblock ankratzen. Sie hatte gehungert. Sie hatte gewissenhaft Sport getrieben. Sie hatte Kohlehydrate, Fette und Kalorien gezählt. Es hatte nichts genützt.

Ihre Freundin Donnalee Cooper hatte gemeint, sie konzentriere sich zu sehr auf Äußerlichkeiten. Doch da war Hallie anderer Meinung. Sie kannte keinen Mann, der eine Frau nicht nach ihrem Aussehen beurteilt hätte. Zumindest der erste Eindruck orientierte sich daran. Es spielte keine Rolle, ob sie Grips besaß. Es genügte, wenn ihre Taille schmal und ihre übrigen weiblichen Attribute umfangreich waren.

Selbstverständlich ging es Hallie bei ihrem Fitnessprogramm nicht allein darum, einen Mann einzufangen. Sie hätte bisher viel zu ungesund gelebt, längst nicht genug Sport getrieben und das falsche Essen in sich hineingestopft, erklärte sie ihrer Freundin. Aber Donnalee wollte ihr diese Begründung nicht abkaufen. Sie reagierte mit Skepsis auf Hallies Beteuerungen. Sie hätte sich doch noch nie Sorgen um ihre Gesundheit gemacht, gab sie der Freundin zu bedenken.

Donnalee lebte ebenfalls allein, hatte jedoch bereits eine kurze, unglückliche Ehe hinter sich. Als sie von Hallies Plan, innerhalb der nächsten zwölf Monate einen Ehemann zu finden, erfuhr, hatte sie spontan beschlossen, sich ihr anzuschließen. Sie hätte nie vorgehabt, so lange mit einer zweiten Heirat zu warten, begründete sie ihre Entscheidung. Und Kinder wünsche sie sich auch. Allerdings brachte sie für ihre Kampagne eine andere Strategie mit als Hallie.

„Sei einfach du selber“, riet sie ihrer Freundin.

„Damit hatte ich bisher wenig Erfolg“, beklagte sich Hallie, worauf Donnalee nichts zu erwidern wusste. In den letzten Jahren hatte Hallie kaum noch Männer kennen gelernt. Aber das sollte sich jetzt ändern.

Hallie duschte und zog sich um und rief dann ihre Mutter an, die auf der anderen Seite des Puget Sound, in Bremerton, auf der Halbinsel Kitsap, wohnte. Hallie ging vom Aussehen und der Persönlichkeit her ganz nach ihrem Vater, hatte jedoch von ihrer Mutter die künstlerische Begabung geerbt. Trotz ihres Talents war Lucille McCarthy immer nur Hausfrau gewesen und hatte auch nie etwas anderes angestrebt. Hallie konnte das früher nicht verstehen. Sie fand es schade, dass ihre Mutter nichts aus sich machte. Erst später, als sie längst allein lebte, hatte sie erkannt, wie wertvoll der Beitrag ihrer Mutter für die Familie gewesen war. In den Monaten nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters hatte sie die stille Kraft ihrer Mutter erst so richtig schätzen gelernt. Zu Weihnachten gab sie ihr den Rat, ihre künstlerische Begabung doch irgendwie zu nutzen, worauf Lucille einen Malkursus belegte.

Wie an jedem Samstag schrieb Hallie nach dem Gespräch mit ihrer Mutter ihre wöchentliche Einkaufsliste, zog eine Jacke an und eilte aus dem Haus. Sie stieg gerade ins Auto, als sie ihren neuen Nachbarn sah. Jedenfalls nahm sie an, dass er es war. Aus der Nähe wirkte er nicht ganz so stämmig, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Der Mann ist gut gebaut, dachte sie. Groß und breitschultrig, mit athletischem Oberkörper, fand sie ihn auf eine unauffällige Art und Weise gut aussehend. Mit anderen Worten, er verursachte ihr kein Herzklopfen. Was sie nicht weiter bedauerte, da er offensichtlich verheiratet war und Kinder hatte.

Sein Gesicht gefiel ihr. Es war interessant, sympathisch. Es verriet Erfahrung. Sie hätte nichts dagegen gehabt, jemanden wie ihn zum Freund zu haben. Rein platonisch natürlich. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den beiden Kindern zu, die neben ihm standen. Ein Junge und ein Mädchen, vermutlich elf und neun Jahre alt. Hübsche Kinder. Das Mädchen winkte ihr fröhlich lächelnd zu.

Hallie winkte zurück, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Motor an und fuhr los.

Als sie eine Stunde später zurückkam, war der Umzugswagen weg. Die Kinder ihres neuen Nachbarn fuhren auf der Straße Fahrrad. Hallie war kaum in ihre Einfahrt eingebogen, da steuerte das Mädchen auf sie zu. Mit langen staksigen Beinen trat es in die Pedale, um dann abrupt zu stoppen und von seinem blitzenden Rad zu springen.

„Hallo!“ rief es. „Mein Dad ist gerade nebenan eingezogen.“

„Das habe ich gesehen.“ Hallie beugte sich vor, um ihre Einkaufstüten vom Sitz zu nehmen.

„Ich bin Meagan. Und das ist mein Bruder Kenny.“ Das Mädchen deutete auf den etwas kleineren Jungen, der sich daraufhin wie auf ein Stichwort zu seiner Schwester gesellte.

„Haben Sie Kinder?“ fragte er hoffnungsvoll.

„Nein“, meinte Hallie, in jedem Arm eine Einkaufstüte.

Die Begeisterung des Jungen ließ deutlich nach. „Kennen Sie jemand hier, der Kinder hat?“

„Leider nicht. Soweit ich weiß, gibt es hier keine Kinder in eurem Alter.“ Die meisten Paare in Willow Woods waren jungverheiratet. In ein paar Jahren würde es bestimmt jede Menge Kinder in diesem Wohnkomplex geben. Aber im Moment noch nicht.

Meagan legte ihr Fahrrad auf den Rasen. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie höflich, während sie Hallie eine der Einkaufstüten abnahm.

„Danke, das ist aber nett von dir“, sagte Hallie, angenehm berührt von der Hilfsbereitschaft des Kindes.

Das Mädchen strahlte. „Mom meint, ich sei ihr jetzt, nachdem Dad und sie geschieden sind, eine große Hilfe.“

Als sie die Scheidung ihrer Eltern erwähnte, flog ein Schatten über Meagans Gesicht, und sofort wurde Hallie von Mitleid überwältigt. Ihr neuer Nachbar war also doch zu haben … Sie verwarf den Gedanken, der ihr da so unvermittelt durch den Kopf schoss, als eine automatische, durch ihre neuerworbenen, auf einen Ehemann ausgerichteten Instinkte ausgelöste Reaktion. Trotzdem rief sie sich kurz ihren ersten Eindruck von dem Mann ins Gedächtnis zurück und entschied gleich darauf, dass sie jemanden mit mehr Finesse wollte. Sie hatte gesehen, was die Umzugsleute in sein Haus getragen hatten: kistenweise Sportausrüstungen. Vom Bergsteigen bis zum Tiefseetauchen schien es nichts zu geben, was dieser Typ noch nicht ausprobiert hatte.

Hallie ging in die Küche voraus, wo sie ihre Tüte auf dem Tisch abstellte. Meagan stellte ihre vorsichtig daneben. Hallie bedankte sich noch einmal bei ihr.

„Sind Sie verheiratet?“ fragte das Mädchen.

„Noch nicht.“ Aber Hallie sah sich bereits im Brautkleid. Der Bräutigam begann auch schon Gestalt anzunehmen. Und zwar die eines Mannes, dem sie gestern begegnet war.

„Ich muss jetzt zum Lunch“, sagte Meagan und rannte zur Tür. „Bis zum nächsten Wochenende.“

Hallie wollte gerade ihre Einkaufstüten auspacken, da bemerkte sie, dass das rote Lämpchen ihres Anrufbeantworters blinkte. Vermutlich hatte ihre Mutter wieder angerufen oder ihre Schwester Julie. Oder konnte er es sein? Er war der neue Sachbearbeiter bei der Keystone Bank. Man hatte ihr John Franklin gestern Nachmittag vorgestellt, als sie ihre Einzahlungen machte.

Sie hatte ihn kaum erblickt, da wusste sie, dass er der ideale Mann für sie war. Groß, dunkelhaarig und attraktiv, zuvorkommend, höflich und intelligent, erfüllte er sämtliche Voraussetzungen. Und frei war er auch. Sie hatte sofort gesehen, dass er keinen Ehering trug. Sie schätzte ihn auf knapp vierzig, doch das störte sie nicht. In ihrem Alter spielten elf Jahre Altersunterschied keine Rolle. In drei Monaten, im April, wurde sie dreißig. Bis dahin wollte sie auf jeden Fall verlobt sein.

Leider war die Nachricht nicht von John, sondern von Donnalee. Die Stimme ihrer Freundin klang aufgeregt. Sie bat Hallie, so schnell wie möglich bei ihr anzurufen.

Hallie rief sie zurück. „Ja, was gibt’s?“

„Ich habe die Antwort gefunden!“ sprudelte Donnalee hervor.

„Auf welche Frage?“ Hallies Stimme klang ungeduldig. Sie hatte noch nichts gegessen, und wenn ihr der Magen knurrte, war ihre Stimmung nie sonderlich gut.

„Wo begegnen wir unseren Traummännern?“

„Hm.“ Hallie horchte auf. „Und wo?“

„Die Antwort ist ein bisschen kompliziert. Also hör mir gut zu.“

„Donnalee …“

„Ich bitte dich lediglich, mir zuzuhören, okay?“

Hallie murmelte eine Antwort. Wie einfach war es doch in der Schule und im College gewesen, Männer kennen zu lernen. Inzwischen war sie völlig aus der Übung. Oh, es hatte durchaus Romanzen in ihrem Leben gegeben, aber sie waren nie von Dauer gewesen. Ihre längste Beziehung hatte sechs Monate gehalten, ehe sie in die Brüche ging. Die Schuld, das musste Hallie sich eingestehen, lag bei ihr. Gregg hatte gemeint, sie würde zu viel Zeit und Energie in ihre Agentur investieren und ihn darüber vernachlässigen. Sie hatte seine Beschwerde mit der Erwiderung zurückgewiesen, dass sich daran nie etwas ändern würde.

„Ich bin in der Zeitung auf das Inserat einer Partnervermittlung gestoßen“, verkündete Donnalee.

Hallie stöhnte. An eine Partnervermittlung wandte sich doch nur, wer sich gar nicht mehr anders zu helfen wusste. Sie wagte sich die Typen nicht vorzustellen, die dort Frauen zu finden hofften. „Das soll wohl ein Witz sein?“

„Du hast versprochen, mir zuzuhören.“

Hallie schloss die Augen und fasste sich in Geduld. „Okay, okay, schieß los. Aber ich kann dir schon jetzt sagen, dass ich kein Interesse habe.“

„Diese Agentur ist anders.“

„Sie arbeitet mit Videos, was?“

„Nein“, sagte Donnalee pikiert. „Würdest du mir bitte zuhören?“

„Entschuldige.“

„Wir beide sind erfolgreiche Geschäftsfrauen. Die meisten Männer haben Angst vor Frauen wie uns.“

Hallie mochte dieser Behauptung nicht zustimmen, verzichtete jedoch darauf, ihrer Freundin zu widersprechen.

„Wie du ja weißt, war meine erste Ehe eine einzige Katastrophe.“

„Das ist mehr als dreizehn Jahre her.“

„Bald wird es fünfzehn Jahre her sein und dann zwanzig, und irgendwann ist mein Leben an mir vorbeigerauscht. Und alles nur, weil ich als junges, unreifes Ding einen dummen Fehler gemacht habe. Ich will einen Mann, Hallie.“

„Mit allem Drum und Dran“, fügte Hallie hinzu.

„Jawohl. Ein Haus in der Vorstadt, Kinder, Katze, Hund, Familienurlaub. Wie konnte ich bloß so lange damit warten? Es ist unfassbar! Hättest du dir nicht diesen Plan ausgedacht, würde ich es vermutlich noch immer aufschieben.“

„Und jetzt willst du, dass ich mit dir zu einer Partnervermittlung gehe?“

„Kannst du mir nicht endlich mal zuhören? Zuerst musst du dich bewerben, und wenn du angenommen wirst, bezahlst du eine gesalzene Gebühr. Dann vermitteln sie dir jemanden, der deiner Persönlichkeit und deinem Einkommensniveau entspricht. Die Frau, mit der ich sprach, versicherte mir, man sei sehr anspruchsvoll in der Wahl der Kunden und beschränke sich auf einen kleinen exklusiven Kreis. Wenn du die Voraussetzungen erfüllst und angenommen wirst, verpflichtet sich die Agentur, einen Partner für dich zu finden.“

„Was verstehst du unter einer gesalzenen Gebühr?“ Hallie hatte erst kürzlich fünfzehnhundert Dollar für ihr Laufband hinblättern müssen. Und was sollte aus ihren Kreditkartenschulden werden?

Donnalee zögerte einen Moment. „Zweitausend.“

„Zweitausend Dollar!“

„Ja.“

„Dafür kann ich mir ja ein Rendezvous mit Brad Pitt kaufen.“

„Mit alten Schachteln wie uns würde der sich kaum abgeben“, meinte Donnalee lachend.

Hallie vermochte diesen Worten wenig Trost abzugewinnen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Für so viel Geld konnte sie sich das Fett absaugen lassen und Diät und Tretmühle vergessen.

„Doch.“ Ein Anflug von Trotz schwang in Donnalees Stimme. „Ich bin dreiunddreißig. Ich habe nicht mehr soviel Zeit wie du. Wenn diese Agentur mir dabei helfen kann, einen anständigen Mann zu finden, dann betrachte ich das Geld als gut angelegt.“

„Du meinst es wirklich ernst“, sagte Hallie erstaunt.

„Es ist der einfachste und schnellste Weg – eine Abkürzung sozusagen.“

Aber Hallie blieb skeptisch. „Ich habe noch gar nicht mit der Suche angefangen“, wandte sie ein.

„Und wie gedenkst du die Suche durchzuführen?“ fragte Donnalee. „Willst du dir ein Schild um den Hals hängen: Ehemann gesucht?“

„Mach dich nicht lächerlich.“

„Du hast ein Leben lang Zeit gehabt, einen Ehemann zu finden, und es ist dir nicht gelungen. Wieso glaubst du, dass es jetzt anders wird?“

„Weil ich jetzt bereit bin.“

„Und weil du jetzt für die Ehe bereit bist, meinst du, es müsste sich schlagartig alles ändern?“ Donnalee klang skeptisch.

„Es gibt da einen Mann, für den ich mich interessiere“, gestand Hallie ihr zögernd.

„Tatsächlich? Wer ist er?“

Sie hätte sich denken können, dass Donnalee Details hören wollte. „Er arbeitet für die Keystone Bank. Er wechselte diese Woche von der Filiale in der Innenstadt zu meiner Zweigstelle in Kent über. Wir lernten uns am Freitag kennen. Er gefiel mir auf Anhieb, und er schien mich auch zu mögen. Er sieht echt gut aus. Und sensibel ist er.“

„Gut aussehend und sensibel“, wiederholte Donnalee gedehnt.

„Attraktive Junggesellen sind schwer zu finden“, beharrte Hallie und fragte sich irritiert, was der Anflug von Sarkasmus in der Stimme ihrer Freundin zu bedeuten hatte.

„Sicher. Weil die Mehrzahl von ihnen Freunde hat.“

Hallie stutzte. John? War es möglich? „Kennst du John Franklin?“ Da Donnalee eine Hypotheken-Gesellschaft managte, kannte sie natürlich das Personal der meisten Banken.

„Ich habe von ihm gehört.“

„Was soll das heißen?“ fragte Hallie misstrauisch.

„John Franklin ist der beste Grund, weshalb du die Dienste von Dateline in Anspruch nehmen solltest.“

„Oh …“, meinte Hallie verunsichert.

„Du hast Recht“, fuhr Donnalee fort. „John ist sensibel, nett, umgänglich und sündhaft attraktiv – und schwul.“

Hallie brauchte einen Moment, um diese Information zu verdauen. John Franklin … hm. Manchen Männern sah man es eben nicht an.

„Also, wirst du dich an Dateline wenden?“ wollte Donnalee wissen.

„Zweitausend Dollar, hast du gesagt?“

„Das ist doch billig, wenn du bedenkst, dass die Männer handverlesen sind.“

„Ich kann mir die Unterlagen ja mal ansehen. Aber das soll kein Versprechen sein.“

„Du brauchst nur anzurufen. Sie schicken dir dann eine Broschüre zu. Und wenn du sie gelesen hast, meldest du dich gleich bei mir, abgemacht?“

„Okay, okay“, murmelte Hallie, während sie die Nummer notierte. Kopfschüttelnd legte sie den Hörer auf. Wer hätte gedacht, dass dieses Heiratsvorhaben sich so kompliziert gestalten würde?

2. KAPITEL

Auseinander gehen fällt schwer

Steve Marris hatte einen schlechten Tag. Eine Lieferung wichtiger Teile war irgendwo im Mittleren Westen verloren gegangen, seine Sekretärin hatte ohne vorherige Kündigung den Dienst quittiert, und seine Ex-Frau hatte sich einen Freund zugelegt. Steve vermutete es jedenfalls. Die Lieferung würde irgendwann wieder auftauchen, und die Sekretärin ließ sich ersetzen. Aber die Sache mit Mary Lynn war ernst. Und sie setzte ihm gewaltig zu.

Er goss sich eine Tasse Kaffee ein. Dabei bemerkte er, dass sich mindestens vier Wochen lang niemand die Mühe gemacht hatte, die Glaskanne auszuwaschen. Steve nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass die nächste Sekretärin keine Allüren mitbrachte. Die letzte hatte sich geweigert, Kaffee zu kochen. Er hätte sie wegen ihrer beruflichen Qualifikationen eingestellt, hatte sie ihm stets entgegengehalten – wobei diese alles andere als eindrucksvoll gewesen waren. Genau genommen musste er froh sein, dass er Danielle losgeworden war.

Er nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee und verzog das Gesicht. Todd Stafford musste diese Kanne aufgesetzt haben. Der Leiter der Produktionsabteilung konnte einfach keinen anständigen Kaffee kochen. Steve kippte den Becher aus und spülte ihn ab. Anschließend setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und begann die Papiere durchzuwühlen, die sich dort angesammelt hatten, bis er die Rechnung gefunden hatte, die er suchte.

Todd machte die Tür auf. „Willst du den ganzen Tag hier herumsitzen und dich darüber ärgern, dass Danielle uns verlassen hat?“

Steve schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind besser dran ohne sie.“

Todd kam ins Büro und goss sich einen Becher Kaffee ein. „Wenn es nicht Danielle ist, dann muss Mary Lynn der Anlass für deine düstere Stimmung sein“, meinte er, nachdem er sich auf Danielles Stuhl niedergelassen und die Füße auf den Schreibtisch gelegt hatte.

Sein Freund kannte ihn zu gut. „Ich habe gehört, dass sie einen neuen Freund hat“, rückte Steve zögernd mit der Sprache heraus.

„Gehört? Von wem?“

„Von Kenny.“ Nur widerstrebend mochte Steve es zugeben.

„Du horchst deine Kinder über deine Ex-Frau aus?“

„Ich werde mich hüten.“ Doch während er das sagte, empfand er Gewissensbisse. Er hatte seinem neunjährigen Sohn keine direkten Fragen gestellt. Kenny hatte ihm erzählt, dass er im Frühjahr bei einem Baseball-Team mitspielen wollte und deshalb ein wenig trainieren müsste. Als er jedoch seine Mutter bat, ihm ein paar Bälle zuzuwerfen, hätte sie keine Zeit gehabt, weil sie sich für ein Rendezvous zurechtmachen musste.

An dieser Stelle hatte Steve natürlich aufgehorcht. Es war nicht schwierig gewesen, den Jungen zu veranlassen, ihm mehr zu erzählen. Und so erfuhr er, dass Mary Lynn sich neuerdings mit einem gewissen Kip traf. Kip! Was war das überhaupt für ein Name?

„Und was hast du erfahren?“ wollte Todd wissen.

Steve ignorierte die Frage. Er mochte nicht daran denken, dass Mary Lynn sich mit einem anderen Mann traf, geschweige denn darüber reden. Selbst jetzt, ein volles Jahr nach der Scheidung, hatte er noch nicht überwunden, was zwischen ihnen passiert war. Es tat ihm noch immer weh. Der Gedanke an Mary Lynn brachte ihn auf eine Idee, einen geradezu genialen Einfall. „Ich frage mich, ob Mary Lynn uns hier im Büro aushelfen könnte, bis ich eine neue Sekretärin gefunden habe.“

Schlückchenweise und mit offensichtlichem Genuss schlürfte Todd seinen Kaffee. „Sie hasst das Geschäft. Das weißt du doch.“

Was sein Freund da sagte, stimmte zwar, aber Steve war jede Möglichkeit recht, ein wenig Zeit mit seiner Ex-Frau herauszuschlagen. Vielleicht erzählte Mary Lynn ihm sogar von Kip. „Fragen kostet nichts“, gab er gereizt zurück und ärgerte sich, dass er mit Todd darüber gesprochen hatte. Er hätte lieber den Mund halten sollen.

„Du bist geschieden“, gab Todd ihm zu bedenken.

„Danke, das weiß ich selbst.“ Finster starrte Steve seinen Freund an. Dabei hoffte er, dass er Todd mit seinem sarkastischen Ton getroffen hatte.

„Es wird Zeit, dass du dich nach einer neuen Beziehung umsiehst. Mary Lynn tut es ja anscheinend auch.“

Steve stand abrupt auf. „Solltest du nicht lieber an deine Arbeit gehen?“

„Okay, ich habe einen wunden Punkt getroffen. Kein Grund, mir den Kopf abzureißen.“

Todd ging zurück an seinen Arbeitsplatz, und Steve schluckte seinen Ärger herunter. Verdammt, er liebte Mary Lynn noch immer. Niemand hatte ihn davor gewarnt, wie schmerzhaft eine Scheidung war.

Dreizehn Jahre waren sie verheiratet gewesen, und in seiner Naivität hatte Steve angenommen, sie wären glücklich miteinander. Bis Mary Lynn eines Tages unvermittelt in Tränen ausgebrochen war. Als er sie fragte, was mit ihr los sei, vermochte sie ihm keine Erklärung zu liefern. Sie wusste nur, dass sie unglücklich war. Sie hätten zu früh geheiratet, wodurch sie ihre Jugend verpasst und ihre besten Jahre vertan hätte. Jetzt fühle sie sich eingeengt und säße mit Mann und Kindern und einem Haufen Verantwortung quasi in einer Sackgasse.

Steve hatte sich bemüht zu begreifen, worum es ihr ging. Er hatte wirklich Verständnis für sie aufzubringen versucht. Doch was er auch sagte oder tat, war verkehrt und schien alles nur noch schlimmer zu machen. Was ihm am meisten zusetzte, war ihre Beschwerde, sie hätte nie ihr eigenes Schlafzimmer gehabt. Wie wichtig ihr die Sache mit dem eigenen Zimmer war, hatte er erst begriffen, als sie ihn kurz darauf bat, das gemeinsame Schlafzimmer zu räumen.

Überzeugt, dass alles nur ein Bluff war, hatte Steve mitgespielt und war aus dem ehelichen Schlafgemach, ja sogar aus dem Haus ausgezogen, damit Mary Lynn „zu sich selbst“ finden konnte. Denn mit ihm zusammen gelang ihr das ja offenbar nicht. Zugegeben, der sensibelste Mann der Welt war er nicht. Sie wurde wütend, als er andeutete, dass sie sich womöglich zu viele Talk-Shows ansah. Dann, etwa einen Monat nachdem er zu Hause ausgezogen war, versetzte sie ihm den Schock seines Lebens, indem sie ihn um die Scheidung bat. Ehe er so recht begriff, was eigentlich vorging, hatten sie sich beide einen Anwalt genommen und standen kurz darauf vor dem Richter.

Durch die Anwälte wurde die Sache erst so richtig aufgeheizt, so dass Mary Lynn und er zeitweilig überhaupt nicht mehr miteinander auskamen. Über ein Jahr hatte es gedauert, den verheerenden Schaden zu reparieren, den die Anwälte und die Gerichtsverhandlung angerichtet hatten. Steve war es endgültig leid, von seiner Familie getrennt zu leben. Er wollte seine Frau zurückhaben.

Es interessierte ihn nicht, was Todd dazu sagte. Er würde Mary Lynn bitten, ihm im Büro auszuhelfen, bis er eine neue Sekretärin eingestellt hatte – bis er sie überzeugen konnte, was für ein Wahnsinn diese Trennung war.

Zufrieden mit sich und seinem Plan, griff er nach dem Telefonhörer. Mary Lynn antwortete beim dritten Klingelzeichen. „Hallo“, murmelte sie verschlafen. Sie war noch nie eine Frühaufsteherin gewesen.

„Hallo, hier ist Steve“, meldete er sich.

„Steve. Du lieber Himmel, wie spät ist es?“

„Neun.“

„Schon?“

Er konnte hören, wie sie sich aufsetzte. Als sie noch verheiratet waren, hatte er es immer geliebt, sie aufzuwecken, damit sie sich an ihn kuschelte, warm und weich und weiblich und nach irgendwelchen exotischen Blumen duftend. Am Morgen war der Sex mit ihr immer am schönsten gewesen.

„Was ist passiert?“ fragte sie gähnend.

„Nichts. Meine Sekretärin hat mich verlassen.“

Sie schwieg einen Moment. Selbst durchs Telefon vermochte er ihre Ablehnung zu spüren. „Ich kann nicht tippen, Steve, das weißt du doch“, sagte sie schließlich.

Nach all den Jahren, die sie zusammengelebt hatten, war er ein offenes Buch für Mary Lynn. Irgendwie erfüllte ihn diese Tatsache mit einem perversen Stolz. „Ich brauche eine Vertretung“, erklärte er. „Nur für ein paar Tage, bis ich eine neue Sekretärin eingestellt habe.“

„Kannst du dir keine Teilzeitkraft nehmen?“

„Sicher, ich könnte natürlich irgendeine Agentur anrufen, und man würde mir jemanden schicken. Aber es wäre mir lieber, wenn du das Geld bekämst.“

„Ich habe Unterricht. Es ist nicht leicht für mich, den ganzen Nachmittag in Vorlesungen zu sitzen, die Kinder zu versorgen und das Haus in Ordnung zu halten.“

„Das weiß ich. Aber es wäre mir eine große Hilfe, wenn du uns zwei Tage im Büro aushelfen könntest. Nur am Vormittag. Mehr verlange ich ja gar nicht.“ Da er ihre Ausbildung finanzieren musste, kannte er ihr Pensum sehr gut.

„Das sagst du immer!“ gab sie scharf zurück.

„Was?“ Die Unterhaltung drohte wieder genauso zu verlaufen wie all ihre Auseinandersetzungen vor der Scheidung. Er sagte oder tat irgendetwas, das sie irritierte, wobei es ihm schleierhaft blieb, worüber sie sich so aufregte.

„Du sagst, du wüsstest, wie viel ich zu tun habe. Dabei hast du keine Ahnung.“

„Doch, ich weiß es. Ehrlich.“

„Wüsstest du es, würdest du nicht von mir verlangen, in deinem Büro auszuhelfen, während du dir in aller Ruhe eine neue Sekretärin suchst. Ich kenne dich, Steve Marris. Aus zwei Tagen werden zwei Wochen, und dann komme ich im College nicht mehr mit. Und genau das bezweckst du damit, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Du versuchst meine Ausbildung zu sabotieren.“

Steve hielt seinen Widerspruch zurück. „Ich weiß, wie wichtig dir deine Ausbildung ist“, sagte er. Und er wusste es tatsächlich. Aber er verstand nicht, wieso ihr Studium sie daran hinderte, mit ihm verheiratet zu bleiben. Was wollte sie überhaupt mit einem Diplom als Kunsthistorikerin anfangen? Einen Job in irgendeinem Museum annehmen – falls die Museen Jobs zu vergeben hatten? Aber das konnte er sie natürlich nicht fragen.

„Weißt du das wirklich, Steve?“

„Ja“, sagte er, nach wie vor darauf bedacht, ihren Bemühungen den gebührenden Respekt entgegenzubringen. „Ich dachte halt nur, da deine Vorlesungen nicht vor ein Uhr beginnen, wärst du vielleicht bereit, im Büro einzuspringen. Aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht.“

Als sie zögerte, wusste er, dass er gesiegt hatte.

„Zwei Stunden am Vormittag, das ist alles, worum ich dich bitte“, hakte er noch einmal nach. „Aber wie gesagt, wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Ich nehme es dir nicht übel.“

„Ist dir klar, wie viel Material ich durcharbeiten muss?“

„Du hast Recht, ich hätte dich nicht fragen dürfen. Das ist schon immer mein Problem gewesen, was?“

„Ja“, sagte sie scharf. Sie zögerte erneut. Dann seufzte sie. „Zwei Tage könnte ich dir unter Umständen aushelfen, aber keine Minute länger. Ist das klar?“

„Absolut.“ Er hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht. Mary Lynn anzurufen, war wirklich eine geniale Idee gewesen. Jetzt brauchte er nur noch dafür zu sorgen, dass sie diesen anderen Kerl vergaß. Und das konnte nicht allzu schwierig sein.

„Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich um acht Uhr bei dir antanze?“

Er überhörte die Frage. „Du trägst das rosa Negligé, nicht wahr?“

„Steve!“

„Ja oder nein?“ Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme rau wurde. Ihren besten Sex hatten sie nach der Scheidung miteinander gehabt. Es war wirklich verrückt. Mary Lynn wollte ihn nicht mehr im Haus haben, lockte ihn jedoch nach wie vor in ihr Bett. Nicht, dass er sich darüber beschwerte.

„Ja, ich trage dein Lieblingsnegligé“, flüsterte sie mit rauchiger Stimme.

Er schloss die Augen. „Ich komme herüber.“

„Nein, Steve. Das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil wir es nicht tun sollten.“

Sofort erwachte sein Misstrauen. Er war überzeugt, ihre Ablehnung hatte etwas mit dem zu tun, was Kenny ihm erzählt hatte. „Warum nicht?“ fragte er noch einmal.

„Wir sind geschieden, hast du das vergessen?“

„Na und? Hat uns das etwa bisher davon abgehalten? Ich könnte in einer Viertelstunde bei dir sein. Du willst doch, dass ich komme. Sonst hättest du mir niemals erzählt, dass du das rosa Negligé trägst.“

Mary Lynn kicherte, änderte jedoch gleich darauf ihren Ton. „Steve, ich meine es ernst. Wir sind seit einem Jahr geschieden. Wir sollten nicht mehr miteinander schlafen.“

Steves Züge wurden hart. „Wann hast du diesen Entschluss gefasst?“

„Nach unserem letzten Zusammensein.“

Seine Geduld schwand allmählich. Während er langsam ausatmete, dachte er an ihr letztes Zusammentreffen zurück. Es war am späten Vormittag gewesen, als die Kinder in der Schule waren. Er hatte irgendeinen Grund erfunden, bei ihr vorbeizugehen. Mary Lynn wusste genau, was er wollte. Und sie wollte dasselbe. Der Glanz in ihren Augen und die Bereitwilligkeit, mit der sie ihn ins Schlafzimmer führte, ließen keinen Zweifel daran.

Er konnte sich nicht vorstellen, was sich seitdem verändert hatte, außer dass sie sich mit diesem Kip traf. Leider konnte er sie zu diesem Punkt nicht befragen. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass er von ihrer Affäre wusste. Auf keinen Fall wollte er die Kinder mit in ihre Unstimmigkeiten hineinziehen. Die Scheidung hatte sie genug belastet. Er durfte ihre Situation nicht noch mehr komplizieren. Es war besser für Meagan und Kenny, wenn sie nicht erfuhren, was zwischen ihm und Mary Lynn vorging.

„Was ist passiert, dass du plötzlich nicht mehr mit mir schlafen willst?“ fragte er sie.

Mary Lynn seufzte. „Nichts. Alles. Wir müssen aufhören damit. Unsere Beziehung ist beendet, Steve. Es ist aus und vorbei.“

Er entgegnete nichts darauf. Er kannte seine Frau – seine Ex-Frau – gut genug, um ihr nicht zu widersprechen. Er wusste, es würde ihm nichts einbringen. Und noch etwas wusste er: dass Mary Lynn einen gesunden Sexualtrieb besaß. So gesund wie sein eigener.

„Dann kommst du also morgen früh?“ fragte er, bloß um sich zu vergewissern.

„Okay, ich komme. Aber nur für zwei Tage.“

„Bring das rosa Negligé mit.“

„Steve!“

„Entschuldige, es tut mir Leid.“ Seine Entschuldigung klang unaufrichtig, und das war sie auch.

Als er gleich darauf den Hörer auflegte, hatte sich seine Stimmung beträchtlich gebessert.

Der Rest des Tages verlief ohne weitere Zwischenfälle. Sein Spediteur konnte die verloren gegangene Lieferung in Albuquerque ausfindig machen und versprach ihm, die Teile innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden anzuliefern. Die wichtigsten Auftraggeber seiner Firma waren die in der Gegend ansässigen großen Flugzeugwerke, die er mit Motorträgern belieferte. Er führte jedoch auch Schleif- und Dreharbeiten und alle möglichen anderen Metallarbeiten für eine Reihe von Kunden aus. Seine Firma expandierte und nahm immer größere Aufträge an, so dass er inzwischen fast ein Dutzend Mitarbeiter beschäftigte.

Als er am Nachmittag nach Hause fuhr, fiel sein Blick auf seine Hände, die das Lenkrad umfasst hielten. Früher war er oft mit schmutzigen Fingernägeln heimgekommen, was Mary Lynn immer gestört hatte. In den letzten anderthalb Jahren jedoch hatte er die meiste Zeit in seinem Büro gesessen und sich kaum noch die Hände schmutzig gemacht. Mary Lynn hatte sich immer eine Bürotätigkeit für ihn gewünscht, und jetzt, wo er ihr den Wunsch endlich erfüllen konnte, schickte sie ihn zum Teufel. Was für eine Ironie des Schicksals. Dabei hatten sie dem Betrieb doch viel zu verdanken. Er hatte ihnen ein schönes Haus eingebracht und die Familie immer gut ernährt. Und jetzt finanzierte er ihre Ausbildung. Konnte man dafür nicht hin und wieder ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln in Kauf nehmen?

Der für Januar typische Nieselregen wurde stärker. Die Scheibenwischer des Lieferwagens schoben die Regentropfen mit nervtötender Monotonie von einer Seite zur anderen. Steve bog von der Hauptstraße ab und fuhr den Hügel hinunter in Richtung Kent. Er war nicht wild darauf gewesen, die Eigentumswohnung zu kaufen. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er wieder zu seiner Familie gezogen. Aber daraus schien vorerst nichts zu werden. Es sah so aus, als müsste er länger im Exil ausharren, als ursprünglich angenommen.

Er hatte sich nur deshalb etwas in diesem Wohnkomplex gekauft, weil er keine Lust mehr hatte, sein Dasein in einer Mietwohnung zu fristen. Und für die Kinder war das kleine Apartment ebenfalls ungeeignet gewesen. Schließlich verbrachten Meagan und Kenny fast jedes Wochenende bei ihm.

Zwar hätte er ein richtiges Haus vorgezogen, doch da er allein lebte, hatte er sich die damit verbundene Arbeit nicht aufhalsen wollen. Diese Eigentumswohnung stellte einen guten Kompromiss dar. Ein Freund von ihm, der Immobilien verkaufte, hatte ihn davon überzeugt, dass der Kauf eine ausgezeichnete Investition war. Und seine Haushälfte war ebenso schön wie das Haus, in dem Mary Lynn mit den Kindern lebte. Nicht ganz so geräumig, aber groß genug. Den Kindern gefiel sein neues Domizil. Sie hatten sich sogar schon mit seiner Nachbarin angefreundet.

Steve war Hallie noch nicht begegnet. Ihren Namen hatte er von Meagan erfahren. Soweit er es beurteilen konnte, war die Frau ein Fitness-Freak. Aus seinem Küchenfenster konnte er in ihr Wohnzimmer hineinsehen, in dem sie ein Laufband und eines von diesen Treppensteigegeräten stehen hatte. Jedes Mal, wenn er einen Blick hinüberwarf, strampelte sie sich auf einer ihrer Maschinen ab. Und es erschien ihm nicht so, als hätte sie Spaß dabei.

Steve bog in den Willow-Woods-Komplex ein und hielt vor den Briefkästen an, die in zwei Reihen am Eingang aufgestellt waren. Er sah Hallie erst, als er aus seinem Lieferwagen stieg. Vor ihrem Briefkasten stehend, starrte sie auf den großen Umschlag in ihrer Hand, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte.

„Hallo, Nachbarin“, begrüßte er sie, während er seinen Briefkasten öffnete.

Sie blickte erschrocken auf. „Hallo.“

„Steve Marris.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Ich bin letztes Wochenende neben Ihnen eingezogen.“

„Dann sind Sie Meagans und Kennys Vater?“

„Genau der.“

„Hallie McCarthy.“ Sie gab ihm die Hand. „Nett, Sie kennen zu lernen.“

„Ebenfalls.“

„Sie haben zwei großartige Kinder.“

Das fand er auch. „Danke“, sagte er lächelnd.

Nervös blickte sie wieder auf den Umschlag und stopfte ihn dann hastig in ihre Handtasche. „Ich muss jetzt gehen. Wir werden uns ja bestimmt noch sehen.“

Steve war das Firmenzeichen auf dem Umschlag nicht entgangen. Dateline. Er hatte von der teuren, exklusiven Partnervermittlung gehört. Kurz nach seiner Scheidung hatte ein wohlmeinender Freund ihn zu überreden versucht, sich bei der Agentur einzuschreiben. Doch er fand die Vorstellung absurd, zweitausend Dollar für eine Verabredung hinzublättern. Er müsste schon sehr verzweifelt sein, ehe er einen solchen Schritt in Erwägung zöge.

Hallie hob den Kopf. „Ich … eine Freundin schlug mir vor, dass ich hinschreibe und um Informationsmaterial bitte“, sprudelte sie hervor, während ihr vor Verlegenheit die Röte in die Wangen schoss. „Ich würde niemals …“ Sie hielt inne, straffte die Schultern und lächelte forciert. „Ich wollte Sie nur informieren, dass ich keinerlei Hilfe benötige, um einen Mann zu finden.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab, um hoch erhobenen Hauptes würdevoll zu ihrem Auto zu schreiten – und gleich darauf mit Vollgas abzubrausen, was den Effekt ihres erhabenen Abgangs etwas beeinträchtigte.

Kopfschüttelnd blickte Steve ihr nach. Vielleicht sollte er die Kinder von ihr fernhalten. So nett sie sein mochte, ein wenig seltsam kam sie ihm schon vor.

3. KAPITEL

Die Pfunde purzeln

Die Sonne blitzte hinter den Wolken hervor und badete den Puget Sound in ihrem Licht, was selten genug vorkam im Februar. Nachdem sie ihr tägliches Fitness-Programm wochenlang im Haus absolviert hatte, beschloss Hallie, die Regenpause zu nutzen und einen ihrer neuen Jogginganzüge einzuweihen. Sie entschied sich für den lindgrünen mit den rosafarbenen Rennstreifen an den Hosenbeinen und dem geometrischen Muster auf der Jacke. Hallie wusste, sie sah gut aus, und sie fühlte sich auch gut. Sieben ihrer überflüssigen Pfunde waren weggeschmolzen – freilich nicht ohne gehörige Anstrengung.

Noch war sie nicht ganz sicher, ob diese Pfunde tatsächlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren oder ob sie nicht vielleicht hinter der nächsten Ecke auf sie lauerten. Einen Tag ohne die Plackerei auf dem Laufband, ein Schokoladenplätzchen, und sie waren wieder da. Weshalb sie ihr Fitness-Programm rigoros durchgezogen und streng auf ihre Diät geachtet hatte. Noch drei Pfund weniger, und sie wog so viel wie damals bei ihrem Schulabschluss. Sie mochte gar nicht nachzählen, wie viele Jahre das inzwischen zurücklag.

Angestrebtes Gewicht. Die Worte klangen wunderbar.

Sie hoffte es noch vor dem Valentinstag zu erreichen. Schließlich hatte sie von Anfang Januar bis jetzt genug Zeit gehabt, sich in Höchstform zu bringen. Sie hatte bereits ein paar ausgewählte Freunde – diejenigen, die sie mit alleinstehenden Brüdern, Bekannten ohne Anhang oder frisch geschiedenen Kollegen zusammenbringen wollten –, darüber informiert, dass sie für eine dauerhafte Beziehung zu haben sei. Bisher hatte sich jedoch noch niemand bei ihr gemeldet.

Sie öffnete die Haustür und trat in den Sonnenschein hinaus. Ihr fiel schnell auf, dass sie nicht die Einzige war, die das gute Wetter ins Freie gelockt hatte.

Ihr Nachbar und sein Sohn warfen sich im Vorgarten Bälle zu. Hallie fürchtete, dass sich die Bekanntschaft mit Steve Marris nicht sonderlich gut angelassen hatte. Leider wusste sie nicht, wie sie den Eindruck korrigieren sollte, den sie ihm vermittelt hatte. Es war aber auch ein verdammtes Pech, dass er den Umschlag von Dateline sah! Und dann musste sie auch noch mit dieser blöden, peinlichen Bemerkung herausplatzen. Das war überhaupt das Schlimmste gewesen. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, hätte sie sich ohrfeigen können.

„Hi, Hallie.“

Steves Tochter kam auf sie zugerannt. Hallie konnte sich gut vorstellen, dass Meagan die Wochenenden beim Vater lang wurden ohne gleichaltrige Spielgefährten.

„Hallo, Meagan. Was treibst du?“

„Nichts.“ Die Stimme des Kindes klang mürrisch. „Dad übt mit Kenny Baseball. Ich finde Baseball langweilig.“

„Ich auch“, sagte Hallie. Sie hob die Arme über den Kopf und atmete langsam ein. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Finger den Boden berührten. Sie wusste nicht genau, wozu diese Verrenkung gut sein sollte, aber sie hatte Läufer vor einem Wettkampf dasselbe tun sehen, und diese Leute mussten schließlich wissen, was sie machten. Es hatte wohl irgendetwas mit Aufwärmen zu tun.

Nachdem sie einen ganzen Monat jeden Tag fast vier Kilometer auf dem Laufband zurückgelegt hatte, hielt sie sich für genügend durchtrainiert, um locker zwei Kilometer zu joggen. Die Entfernung zum Eingang von Willow Woods betrug genau einen Kilometer, das hatte sie auf ihrem Tacho abgelesen. Die Strecke müsste sie eigentlich mühelos hin und zurück schaffen, und zwar möglichst, ohne ins Schwitzen zu kommen. Schließlich wollte sie den neuen Jogginganzug nicht mit Schweißflecken verunzieren.

„Was machen Sie?“ fragte Meagan, die sie bei ihren Lockerungsübungen beobachtete.

„Ich bereite mich aufs Joggen vor.“

„Sie joggen?“ Das Kind schien höchst beeindruckt zu sein.

„Sicher.“

„Wie weit?“

„Zwei Kilometer.“ Mehr wollte sie sich beim ersten Mal nicht zumuten. Wenn sie diese Strecke bewältigt hatte, konnte sie später größere Entfernungen in Angriff nehmen.

„Kann ich mitkommen?“

„Wenn dein Vater nichts dagegen hat.“ Hallie schüttelte ihre Arme und legte dann die Hände auf die Hüften, während sie mit dem Kopf kreisende Bewegungen beschrieb.

Meagan warf ihr Fahrrad auf den Rasen und rannte zu ihrem Vater. Hallie war sehr zufrieden mit sich. Jetzt wusste sie, wofür es gut gewesen war, diese langweiligen Sportsendungen mit Gregg anzuschauen. Sie hörte, wie Meagan ihren Vater um Erlaubnis bat, und fühlte Steves prüfenden Blick auf sich, ehe er seine Zustimmung gab.

Meagan rannte zu ihr zurück. „Dad hat gesagt, ich darf mitkommen“, rief sie.

Mit Rücksicht auf das Kind ging Hallie den Lauf gemach an. Nachdem sie um die erste Ecke gebogen waren, begann Meagan schneller zu laufen. Schon nach wenigen Minuten war Hallie aus der Puste. Was verständlich war, wie sie sich sagte, denn es ging schließlich bergauf. Nach dem dritten Häuserblock begann sie die Anstrengung massiv zu spüren.

„Wir veranstalten kein Wettrennen“, stieß sie schwer atmend hervor.

„Oh, laufe ich Ihnen zu schnell? Das tut mir Leid.“ Sofort lief Meagan langsamer.

Es dauerte eine Ewigkeit, ehe die rote Backsteinmauer der Einfahrt ins Blickfeld rückte. „Ich glaube … ich … trage die … falschen … Schuhe“, keuchte Hallie. Sie blieb stehen. Die Hände auf die Knie gestützt, rang sie um Luft. Mit ihren Schuhen war nichts verkehrt, das wusste sie sehr wohl.

„Sind Sie okay?“ Meagan sah besorgt aus.

„Klar … ich fühle mich großartig.“

„Schaffen Sie es zurück? Oder soll ich vorlaufen und meinen Dad holen?“

Hallie schüttelte den Kopf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass Steve Marris sie so sah. Sich mühsam aufrichtend, brachte sie ein Lächeln zu Stande. Das Brennen in ihren Lungen machte es fast unmöglich, normal durchzuatmen. Den einzigen Lichtblick sah sie darin, dass es auf dem Rückweg bergab ging. Misslich bloß, dass dieser Rückweg fast einen Kilometer betrug und dass sie ihn mit einem elfjährigen Kind zurücklegen musste, das keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte.

„Ich bin sicher, es würde meinem Dad nichts ausmachen. Er ist sehr verständnisvoll.“

„Es ist alles okay, wirklich“, log Hallie.

„Sind Sie sicher?“

„Absolut.“ Wie peinlich, sich so vor dem Kind zu blamieren. Und mit dem Schwitzen hatte sie sich auch verschätzt. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren, verklebte ihr das Haar und stand ihr auf Stirn und Oberlippe.

Doch sie hielt sich tapfer. Bei ihrem Block angekommen, joggte sie an ihrem Nachbarn und seinem Sohn vorbei zu ihrer Veranda, wo sie mit letzter Kraft auf die oberste Stufe sank und dabei noch das Kunststück zu Wege brachte, so auszusehen, als mache ihr die Sache Spaß.

„Wollen Sie sich nicht abkühlen?“ fragte Meagan.

„Doch. Ich nehme gleich eine Dusche.“

„Dad sagt, man muss nach dem Joggen immer noch ein wenig spazieren gehen, um dem Körper die Möglichkeit zu geben, zu sich selbst zurückzufinden“, erklärte Meagan altklug und wanderte davon. Hallie schloss sich ihr an. Dabei erkannte sie schnell, dass das Kind Recht hatte. Der kühle Wind erfrischte sie, und nach einigen Minuten ließ ihr rasendes Herzklopfen nach.

Als sie sich kurz darauf von Meagan verabschiedete und sich anschickte, in ihr Haus zu gehen, sah sie ein vertrautes Auto um die Ecke biegen. Donnalee. Erfreut winkte Hallie der Freundin zu. Ihr Job ließ den beiden Frauen wenig Zeit, und obwohl sie fast täglich miteinander telefonierten, sahen sie sich längst nicht so oft, wie ihnen lieb gewesen wäre.

Donnalee war groß und schlank, eine auffallend attraktive Frau mit schulterlangem kastanienbraunem Haar. Elegant schwang sie die langen Beine aus dem Auto. Diese natürliche Eleganz war ebenso ein Teil von ihr wie ihr weicher Südstaaten-Akzent. Seit sie sich vor fünf Jahren durch eine gemeinsame Bekannte kennen lernten, waren Hallie und sie gute Freundinnen geworden. Die Verbindung zu Donnalee beruhte auf mehr Gemeinsamkeiten und war enger als die zu ihren Freundinnen aus dem College, von denen die meisten verheiratet waren, viele schon zum zweiten Mal, während bei Hallie noch nicht einmal ein erster Ehemann in Sicht war. Und einen zweiten würde sie nicht brauchen. Denn sie wollte eine Ehe führen wie die ihrer Eltern.

Beide selbstständige Geschäftsfrauen, konnten Hallie und Donnalee auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen. So war es kein Wunder, dass sie sich wenn nötig gegenseitig Hilfestellung leisteten. Hatte Hallie Schwierigkeiten mit ihren Angestellten, einem Kunden oder irgendeiner anderen Sache, dann sprach sie mit Donnalee. Und wenn es bei Donnalee ein Problem gab, rief sie Hallie an. Dass beide zur gleichen Zeit das Bedürfnis verspürten, den Schwerpunkt ihres Lebens zu verändern, überraschte Hallie nur wenig. Ihre Gedanken gingen oft in dieselbe Richtung. Sie lasen dieselben Bücher, mochten dieselben Filme und hatten in vielem denselben Geschmack. Sie brachten sogar schon einmal von einem getrennten Einkaufsbummel das gleiche Paar Schuhe mit nach Hause. Der einzige Unterschied war die Farbe gewesen.

Mit ihrem angenehmen Wesen hatte Hallie von klein auf immer viele Freunde gehabt. Aber mit Donnalee zusammen lachte sie mehr als mit irgendjemand anderem. Und ausweinen konnte sie sich auch bei ihr. Es war eine echte Seelenverwandtschaft, die die beiden Frauen verband.

„Hast du angerufen?“ fragte Donnalee.

„Sicher. Als ob du das nicht wüsstest.“ Hallie öffnete die Haustür und ging in die Küche voraus. Sie mochte keine großartige Köchin sein – was sie freimütig zugab –, aber sie machte diesen Mangel mit ihrem künstlerischen Flair wett. Der helle freundliche Raum war ganz in Weiß und Gelb gehalten. Die Wände hatte Hallie unter der Decke rundum mit Efeuranken bemalt.

Während Donnalee sich auf einem Hocker am Küchentisch niederließ, nahm Hallie eine Flasche Sprudel aus dem Kühlschrank und goss sich erst einmal ein großes Glas Wasser ein. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Sie bot auch Donnalee ein Glas an, doch die Freundin winkte ab.

„Was hältst du davon?“ fragte sie ohne Umschweife.

„Von der Broschüre?“ Hallie beschloss, ihre Meinung klipp und klar zu äußern, ehe Donnalee sie umstimmen konnte. „Ich werde nicht zu Dateline gehen.“

Donnalee gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Du hast bestimmt nicht mit ihnen gesprochen. Sonst wäre dir klar geworden, dass du heutzutage nur durch eine Partnervermittlung auf dem Heiratsmarkt Fuß fassen kannst. Es ist nicht mehr so wie früher, als wir jung waren und von Männern umschwärmt wurden. In unserem Alter sind die Junggesellen schon eher rar.“

„Das weiß ich auch. Aber ich will mein Glück erst einmal selber versuchen.“ Zweitausend Dollar waren kein Pappenstiel. Ehe sie so viel Geld hinblätterte, wollte sie zunächst einmal alle Möglichkeiten ausschöpfen, auf herkömmliche Art und Weise einen Mann zu finden. Donnalee mochte sich Dateline leisten können. Sie verdiente schließlich genug Geld. Nein, Hallie wollte es auf eigene Faust versuchen, ehe sie ihre Kreditkarte zückte.

„Ich habe Rita angerufen“, gestand sie der Freundin. Rita war die gemeinsame Bekannte, die Hallie mit Donnalee zusammenbrachte, eine unberechenbare, romantische Person, von der jeder wusste, dass sie es liebte, Verabredungen für ihre Freundinnen zu arrangieren.

Leichte Besorgnis im Blick, beugte Donnalee sich vor. „Du hast ihr doch nicht etwa gesagt, dass ich zu Dateline gegangen bin?“

Hallie schüttelte den Kopf. „Nein, keine Angst, das bleibt unter uns. Ich habe ihr bloß erzählt, dass mir zu Weihnachten irgendwie die Erleuchtung gekommen sei und ich deshalb den Entschluss gefasst hätte, eine feste Beziehung einzugehen.“ Sie musste lächeln bei der Erinnerung an Ritas Reaktion. „Rita war sofort mit einer Theorie bei der Hand, wonach mein plötzlicher Wunsch nach einem Ehemann auf den Tod meines Vaters zurückzuführen sei. Sie meinte, ich würde mich bloß in eine unliebsame Situation bringen und meinen Entschluss sicher noch bereuen.“ Hallie zuckte die Schultern. „Nachdem sie mich jahrelang mit irgendwelchen Typen zu verkuppeln versuchte, hätte man doch meinen sollen, dass sie meine Entscheidung, mir endlich einen Ehemann zu suchen, gutheißt. Aber mitnichten.“ Hallie hielt einen Moment inne. „Weißt du, was sie mir vorschlug? Als ich ihr sagte, dass ich mir Kinder wünsche, meinte sie, ich solle mir einen Typ mit gesunden Erbanlagen anlachen, mich von ihm schwängern lassen und ihn dann abservieren.“

„So etwas hat Rita von sich gegeben?“

Hallie nickte. „Schrecklich, was?“ Sie mochte Rita und bemühte sich, die Freundschaft zu ihr zu pflegen. Aber im Grunde genommen waren sie sehr verschieden.

„Nun, diese Lösung ließe sich sicherlich in Erwägung ziehen, wenn es dir bloß um ein Kind ginge“, meinte Donnalee zögernd.

„Aber mir geht es nicht bloß um ein Kind. Ich will auch einen Mann. Ich bin doch nicht verrückt. Ich weiß, wie meine Schwester mit Ellen rotiert. Ein Baby hält dich rund um die Uhr in Atem. Und dabei hat Julie noch das Glück, dass Jason einer von diesen echt engagierten Vätern ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Frau diesen Stress allein bewältigen soll. Ich würde es mir jedenfalls nicht zutrauen.“

„Ich mir auch nicht“, stimmte Donnalee ihr zu, deren weicher Akzent aus irgendeinem Grund heute stärker hervortrat als sonst. Donnalee war dreizehn gewesen, als sie von Georgia an die Westküste zog, hatte ihren Südstaaten-Akzent jedoch nie ganz verloren. Jetzt lächelte sie plötzlich übermütig. „Wir als Mütter! Kannst du dir das vorstellen?“

„Ja“, sagte Hallie, wenn sie auch ihre Fantasie dazu ein wenig anstrengen musste. Sie fragte sich, ob andere Frauen in ihrem Alter eine ähnliche Phase durchmachten. Wenn ja, dann schienen sie nicht darüber zu reden. Jedenfalls sprachen ihre allein stehenden Freundinnen nie davon, dass sie sich einen Mann und Kinder wünschten. Viele waren so wie Donnalee geschieden und schreckten vor einer erneuten Bindung zurück. Hallie konnte diese Entschuldigung nicht geltend machen.

„Stell dir vor, Dateline hat mich gestern angerufen“, sagte Donnalee unvermittelt. Hallies Blick ausweichend, fingerte sie nervös an dem Riemen ihrer Handtasche herum. „Sie haben jemanden gefunden, der zu mir passen würde.“ Sie warf einen Blick in Hallies Richtung.

„So schnell?“ Hallie mochte es nicht zugeben, aber sie war beeindruckt.

„Sie haben mir alle wichtigen Daten gefaxt und mich gebeten, sie durchzusehen und dann zurückzurufen, was ich getan habe. Eine Stunde später rief Sanford mich an, und heute Abend gehen wir zusammen essen.“

„Sanford?“

„Ja, ich weiß. Man denkt unwillkürlich an einen furchtbar steifen, konservativen Typen. Aber dann habe ich mit ihm gesprochen, und …“

„Und?“ fragte Hallie gespannt, als Donnalee nicht weitersprach.

„Er scheint ideal zu sein.“

„Ideal?“ Das klang ja immer besser.

„Ich habe Angst, Hallie. Larry erschien mir auch ideal, als ich ihn kennen lernte. Aber was verstand ich schon von Männern? Ich war neunzehn und zum ersten Mal von meiner Familie getrennt. Ich wäre auf jeden Mann hereingefallen, weil mir die Erfahrung fehlte.“

Donnalee erwähnte ihren Ex-Mann nicht oft. Er hatte sie nach dem ersten Ehejahr wegen einer anderen Frau verlassen. Die Sache hatte Donnalee einen schweren Schlag versetzt, und sie hatte zehn Jahre gebraucht, um ihr Selbstvertrauen wiederzufinden. Wer weiß, vielleicht hatte die Enttäuschung sogar einen bleibenden Schaden hinterlassen. Jedenfalls konnte Hallie die Ängste und Zweifel ihrer Freundin verstehen.

„Aber diesmal ist es doch anders“, versuchte sie Donnalee Mut zu machen. „Du bist kein junges Mädchen mehr, das sich von seinen Hormonen beherrschen lässt.“

„Nein, ich bin dreiunddreißig und lasse mich von meinen Hormonen beherrschen.“

Beide lachten, und dann holte Donnalee tief Luft. „Okay. Sanford ist sechsunddreißig und in leitender Position bei einer Versicherungsgesellschaft tätig. Keine Vorgeschichte.“

„Keine Vorgeschichte? Du meinst, er hat kein Vorstrafenregister?“ Na, das wäre ja noch schöner gewesen!

„Ich meine, dass er noch nie verheiratet war. Dateline hat einen eigenen Jargon, musst du wissen.“

„Oh, wie interessant.“

„Wir konnten nicht aufhören zu reden“, fuhr Donnalee fort. „Sanford ging es wie mir. Er hat sich in derselben Woche wie ich mit Dateline in Verbindung gesetzt, und er war genauso skeptisch. Über eine halbe Stunde haben wir miteinander telefoniert, und das am Arbeitsplatz. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Er lebt auf einem Hausboot, was ich schon immer wahnsinnig romantisch fand. Er liebt mexikanisch-texanisches Essen, geht in jeden Film mit Emma Thompson und liest mit Vorliebe Romane von Steve Martini. Genau wie ich. Kannst du das glauben? Ich weiß, das sind alles Nebensächlichkeiten. Aber damit haben wir zumindest eine Menge, worüber wir uns unterhalten können.“ Ein strahlendes Lächeln flog über ihr Gesicht. „Er war genauso angenehm überrascht wie ich, nachdem er mit mir gesprochen hatte. Es fiel uns schwer, auf Wiedersehen zu sagen.“

Autor

Debbie Macomber

Debbie Macomber...

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