Es geschah um Mitternacht …

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EIN KUSS VOR MITTERNACHT
An die Liebe glaubt sie nicht mehr: Wen sollte sie, das arme Mädchen vom Lande, schon für sich gewinnen? Umso erstaunter ist Constance Woodley, als ihr Lord Dominic Leighton den Hof macht. Mehr noch: Auf einem Ball in London raubt ihr der attraktive Aristokrat dreist einen Kuss - und Constance muss sich eingestehen, dass sie sich nach mehr sehnt. Leidenschaftlich stillt Dominic ihr Begehren, und schon bald erwacht in ihr die Hoffnung auf ein Leben zu zweit. Doch ihr Traum wird jäh zerstört, denn Constance kommen schlimme Gerüchte zu Ohren: Obwohl Dominic mit ihr flirtet, soll sein Herz einer anderen gehören …

GEHEIMNIS UM MITTERNACHT
Heiraten? Niemals! Das hat Lady Irene Wyngate sich geschworen. Erfolgreich hält sie sich dank ihrer scharfen Zunge die Verehrer vom Leib. Nur einen scheint ihr freches Mundwerk nicht zu schrecken, sondern zu bezaubern: Gideon, der lang verschollene Earl of Radbourne, der als Kind entführt wurde und in den Straßen Londons aufwuchs. Beharrlich wirbt er um sie, doch ebenso beharrlich sagt Irene Nein. Auch wenn sie heimlich zugegeben muss, dass sie sich gegen ihren Willen immer stärker von diesem ungewöhnlichen Mann angezogen fühlt. Doch gerade als sie beginnt, ihm ihr Herz zu öffnen, kommt ein unglaubliches Geheimnis ans Licht …

MASKENBALL UM MITTERNACHT
Auf einem Maskenball in London begegnet die bezaubernde Callie einem faszinierend mysteriösen Fremden. Erst rettet er sie vor einem aufdringlichen Verehrer, dann stiehlt er ihr dreist einen Kuss. Callie ist sofort hingerissen von diesem Mann - und kann nicht glauben, was ihr Bruder über ihn erzählt. Versucht der Earl of Bromwell wirklich nur aus Rache, ihr Herz zu erobern? Oder ist er das Opfer einer schmählichen Intrige? Auf der Suche nach der Wahrheit kommt Callie dem verführerisch charmanten Brom immer näher. Doch dann stößt sie jäh auf ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, das ihre junge Liebe auf eine gefährliche Probe stellt …

EIN ANTRAG NACH MITTERNACHT
Die aparte Lady Francesca Haughston frönt mit Anfang dreißig nur noch einer Leidenschaft: dem Stiften glücklicher Ehen. Und so sucht sie voller Eifer nach der passenden Frau für den attraktiven Sinclair Lilles, Duke of Rochford. Der begehrte Junggeselle war einst ihre große Liebe, doch die Funken der Sinnlichkeit zwischen ihnen sind längst erloschen - meint zumindest Francesca … Allerdings entpuppt sich Sinclairs Art, sie anzusehen oder unvermittelt in die Arme zu ziehen, bald als wenig hilfreich für ihre raffinierten Verkuppelungspläne. Verfolgt Sinclair etwa heimlich ein ganz anderes Ziel als sie?


  • Erscheinungstag 08.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788278
  • Seitenanzahl 1280
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Candace Camp

Es geschah um Mitternacht …

Candace Camp

Ein Kuss vor Mitternacht

IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2007 by Candace Camp
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD
Band 221 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Traudi Perlinger

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-152-9

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Candace Camp ...

... wollte schon immer Autorin werden: Seit sie zehn Jahre alt ist, schreibt sie ihre Geschichten auf. Für ihre über 60 Romane hat sie inzwischen viele Auszeichnungen erhalten, doch die sind ihr nicht wichtig. Die Bestseller-Autorin möchte mit ihren leidenschaftlichen Erzählungen vor allem die Herzen ihrer Leser berühren – und das gelingt ihr immer wieder!

1. KAPITEL

Von der Galerie aus, eine schmale Hand auf der Balustrade des glänzend polierten Mahagonigeländers ruhend, ließ Lady Haughston den Blick über die Menge der festlich gekleideten Gäste unten im Ballsaal schweifen und nickte gelegentlich huldvoll einem Bekannten zu. Sie genoss es, die Bewunderung in den ihr zugewandten Gesichtern zu lesen, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie sich geschmeichelt fühlte, wäre allerdings enttäuscht gewesen, hätte man sie ignoriert.

Francesca Haughston war nun schon seit etwa zehn Jahren die gefeierte Ballkönigin in Londons gehobenen Kreisen – wobei die dreiunddreißigjährige Witwe es geschickt vermied, genaue Daten über das Jahr ihres Debüts und ihre Einführung in die Gesellschaft zu nennen. Sie war von der Natur mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet – goldblondes Haar, große tiefblaue Augen, ein Teint, glatt und hell wie Elfenbein, eine fein modellierte Nase und schön geschwungene Lippen, deren leicht nach oben gezogene Mundwinkel ihrem ovalen Antlitz ein katzenhaftes Lächeln verliehen. Ihre linke Wange zierte ein rundes Muttermal, ein winziger Makel, der ihrer Schönheit zusätzlichen Reiz verlieh. Von mittlerem Wuchs, gertenschlank und elegant anmutiger Haltung, wirkte sie größer, als sie tatsächlich war.

Aber Francesca war nicht nur besonders hübsch. Auch legte sie großen Wert darauf, sich von ihrer besten Seite zu präsentieren. Ihre Garderobe war erlesen, Farbe und Stil ihrer Schuhe exakt auf das jeweilige Kleid abgestimmt, ihr Haar makellos und kunstvoll frisiert. Stets an der neuesten Moderichtung orientiert, verzichtete sie auf verstiegene, rasch wechselnde Torheiten und wählte mit unfehlbar gutem Geschmack Farben sowie Schnitte und Accessoires, die perfekt mit ihrem Typ harmonierten.

An diesem Abend trug sie ihre Lieblingsfarbe eisblau. Das Dekolleté ihrer Seidenrobe betonte den sanften Schwung ihrer hellen Schultern und ließ die Rundungen ihres Busens erahnen, könnte als eine Spur zu freizügig bezeichnet werden, ohne dabei vulgär zu wirken. Ein silbern durchwirkter Spitzenbesatz zierte Ausschnitt und Saum der Abendrobe und wiederholte sich in der gerafften Draperie im Rücken, die zu einer Halbschleppe auslief. Ein Diamantcollier schmückte ihren zarten hellen Hals, ein passendes Armband umspannte das zierliche Handgelenk, und in ihrer kunstvoll aufgesteckten Frisur blitzten weitere kleine Diamanten.

Niemand im festlich geschmückten Saal hätte vermutet – und es war ihr sehr wichtig, diese Tatsache geheim zu halten –, dass ihre finanziellen Mittel eher begrenzt waren. Die bittere Wahrheit aber war, dass ihr verstorbener, weithin unbetrauerter Gemahl Lord Andrew Haughston, ein unverbesserlicher Spieler und Lebemann, ihr nichts als Schulden hinterlassen hatte. Ein Umstand, den sie unter Aufbietung aller Mühen bestrebt war, zu verbergen. Niemand wusste, dass ihre Juwelen Kopien aus gefärbten Glassteinen waren, da sie den echten Schmuck längst verkauft hatte. Und nicht einmal eine Gesellschaftsmatrone mit dem Scharfblick eines Adlers hätte geahnt, dass sie die zierlichen Ziegenlederpumps, sorgfältigst gepflegt, bereits in der dritten Ballsaison trug. Auch nicht, dass ihr Abendkleid von ihrer geschickten Zofe aus einem Vorjahresmodell unter Verwendung eines Schnittmusters aus einem brandneuen französischen Modejournal umgearbeitet worden war.

Einer der wenigen Menschen, die ihre wahren Lebensumstände kannten, war der elegante Herr an ihrer Seite, Sir Lucien Talbot. Er gehörte seit ihrer ersten Saison in London zum Kreis ihrer Bewunderer. Und obgleich sein romantisches Interesse an Francesca die Grenzen unaufdringlicher platonischer Verehrung nicht überschritt, war seine Zuneigung aufrichtig und im Laufe der Jahre zu einer tiefen Freundschaft gewachsen.

Sir Lucien, ein notorischer Junggeselle, verfügte gleichfalls über einen erlesenen Geschmack und war ein geistreicher Unterhalter, zwei Eigenschaften, die ihn zu einem ausgesprochen gern gesehenen Gast in der vornehmen Welt machten. Es war zwar allgemein bekannt, dass er ständig unter finanziellen Schwierigkeiten litt – eine althergebrachte Tradition der Familie Talbot. Allerdings schadete dies seinem Ruf keineswegs, da er aus einer sehr alten Familie stammte, deren Ahnentafel bis ins Mittelalter zurückreichte. Im Gegenteil, sein vornehmer Hintergrund wurde zumindest von den Gastgeberinnen weitaus höher geachtet als schnöder Mammon. Der junge Herr vermochte jede langweilige Konversation mit einer scharfzüngigen und treffenden Bemerkung zu würzen, ohne je wirklich verletzend zu sein. Zudem war er ein fabelhafter Tänzer, und sein Lob über den Erfolg einer Veranstaltung vermochte das Ansehen einer Gastgeberin durchaus zu heben.

„O Gott! Was für ein Gedränge!“, stellte Sir Lucien soeben fest und hob das Lorgnon vor sein Gesicht, um die Gäste unten im Saal genauer in Augenschein nehmen zu können.

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, die gute Lady Welcombe wählt die Zahl ihrer Gäste nach den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten“,pflichtete Francesca ihm bei, schlug ihren seidenen Fächer auf und bewegte ihn träge. „Gott, wie ich es hasse, mich ins Gedränge zu werfen und mir auf die Zehen treten zu lassen.“

„Ist das nicht der eigentliche Sinn solcher Anlässe?“, ertönte hinter ihr eine tiefe Stimme.

Francesca erkannte die Stimme sofort. „Rochford“, sagte sie lächelnd mit einer halben Drehung über die Schulter. „Welche Überraschung, Sie hier anzutreffen.“

Der Neuankömmling begrüßte Francesca und Lucien mit einer leichten Verneigung. „Tatsächlich?“, meinte er schmunzelnd. „Ich könnte mir denken, Sie rechnen damit, alle Welt hier anzutreffen.“

Er zog die Mundwinkel in seiner gewohnten Art nahezu unmerklich hoch, was als Andeutung eines Lächelns gelten konnte. Sein Name war Sinclair, fünfter Duke of Rochford, und wenn Luciens Anwesenheit die Gästeliste schmückte, so stellte Rochfords Erscheinen die glanzvolle Krönung einer Abendgesellschaft dar.

Der große, schlanke und breitschultrige Duke trug einen makellos geschnittenen schwarzen Abendanzug. In den kunstvoll drapierten Falten seiner schneeweißen Seidenkrawatte funkelte diskret ein Rubin, zwei weitere an seinen goldenen Manschettenknöpfen. Seine männlich aristokratische Ausstrahlung übte einen unwiderstehlichen Bann auf seine Umgebung aus. Und wenn es Personen gab, die behaupteten, sie würden von seinem geheimnisvoll düsteren Aussehen unberührt bleiben, so machten sie sich und anderen etwas vor. Alles an Rochford, von seinen geschliffenen Manieren bis zur Qualität seiner Garderobe, war von lässiger Eleganz ohne die geringste Spur von Großtuerei. Die Herren der Schöpfung bewunderten ihn wegen seiner exzellenten Reitkünste und seiner tödlichen Treffsicherheit als Schütze. Die Damen machten ihm schöne Augen wegen seiner markant geschnittenen Gesichtszüge, seiner hohen Wangenknochen und seiner dicht bewimperten, glutvoll schwarzen Zigeuneraugen. Im Übrigen war er unermesslich reich, mit Ende dreißig immer noch ungebunden und versetzte die unverheiratete Damenwelt in schwärmerische Verzückung.

Francesca konnte sich ein Lächeln bei seiner Bemerkung nicht versagen. „Vermutlich haben Sie recht.“

„Sie sind wie immer ein Traum, Lady Haughston“, erklärte Rochford.

„Ein Traum?“ Francesca hob eine fein geschwungene Braue. „Sie äußern sich nicht über die Art des Traumes, wie ich feststelle. Dieser Satz könnte mit allen möglichen Attributen enden.“

Mit einer angedeuteten Verneigung erwiderte er: „Niemand mit Augen im Kopf könnte daran zweifeln, dass ich etwas anderes als einen wunderschönen Wunschtraum meinen könnte.“

„Gut pariert“, entgegnete Francesca.

Sir Lucien raunte ihr zu: „Vorsicht! Schauen Sie nicht hin. Lady Cuttersleigh ist im Anmarsch.“

Doch seine Warnung kam zu spät. Eine schrille, durchdringende Frauenstimme durchschnitt die Luft. „Euer Gnaden! Welches Entzücken, Sie zu sehen.“

Eine hochgewachsene, spindeldürre Frau eilte herbei, ihren untersetzten, beleibten Ehemann im Schlepptau. Als Tochter eines Earls hatte Lady Cuttersleigh den Fehler begangen, einen Baron zu heiraten, und ließ sich seither keine Gelegenheit entgehen, ihn und den Rest der Welt darauf aufmerksam zu machen, dass sie unter ihrem Stand geheiratet hatte. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihre schnatternde Töchterschar mit einem Mann zu verehelichen, der es wert war, sich mit ihrer eigenen erhabenen Blutlinie zu mischen. In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Töchter ihr nicht nur in Aussehen und Figur sehr ähnelten, sondern auch in ihrer Anmaßung und ihrem Dünkel, sah die Dame sich allerdings einer äußerst schwierigen Aufgabe gegenüber. Und sie gehörte zu den wenigen hartnäckigen Müttern, die es immer noch nicht aufgegeben hatten, den Duke of Rochford für eine ihrer Töchter zu gewinnen.

Rochfords Gesicht verzog sich für einen Moment gepeinigt, ehe er sich umwandte und das herannahende ungleiche Paar mit einer untadeligen Verneigung begrüßte. „Mylady. Cuttersleigh.“

„Lady Haughston“, begrüßte Lady Cuttersleigh Francesca und nickte Sir Lucien, dessen Titel weit hinter ihren Ansprüchen zurückblieb, knapp zu, ehe sie sich lächelnd an Rochford wandte. „Herrliches Fest, nicht wahr? Der Ball der Saison, möchte ich schwören.“

Rochford bedachte sie mit einem fragenden Lächeln und schwieg.

„Es wäre interessant festzustellen, wie viele ‚Bälle der Saison‘ es dieses Jahr geben wird“, bemerkte Sir Lucien trocken.

Lady Cuttersleigh musterte ihn mit einem feindseligen Blick. „Nun, es kann doch nur ein Fest geben, das sich mit dieser Auszeichnung schmücken darf“, erklärte sie tadelnd.

„Oh, ich denke, es verdient mindestens drei weitere Auszeichnungen“, meldete Francesca sich zu Wort. „Der Ball der Saison mit dem dichtesten Gedränge, diesen Preis dürfte dieses Fest auch gewinnen. Dann bliebe noch der Ball der Saison mit der üppigsten Dekoration.“

„Und nicht zu vergessen den Ball der Saison mit den vornehmsten Gästen“, ergänzte Sir Lucien.

„Tja, wie dem auch sei, meine Amanda wird es gewiss bedauern, diesen Ball verpasst zu haben“, sagte Lady Cuttersleigh.

Francesca und Lucien tauschten vielsagende Blicke. Francesca öffnete ihren Fächer, um ihr Lächeln dahinter zu verbergen. Wovon auch immer eine Konversation handelte, Lady Cuttersleigh versäumte es niemals, ihre Töchter ins Gespräch zu bringen.

Nun erging sie sich in der genauen Schilderung einer fiebrigen Erkältung, die zwei ihrer Töchter ans Bett fesselte, sowie der rührenden Bereitschaft von Amanda, der ältesten, am Krankenbett ihrer Schwestern zu wachen. Francesca fragte sich unwillkürlich, was der Umstand, die Krankenpflege der Kinder ihrer Tochter zu überlassen, über die Muttergefühle der Dame aussagte.

Lady Cuttersleigh plapperte, scheinbar ohne Atem zu holen, endlos über Amandas hingebungsvolle Opferbereitschaft und wurde es nicht müde, all ihre sonstigen Vorzüge zu betonen, bis Rochford ihr schließlich das Wort abschnitt. „Mylady, Ihre älteste Tochter scheint eine Heilige zu sein, für die nur ein tugendhafter Mann als Gemahl infrage kommt. Was halten Sie von Reverend Hubert Paulty? Ein hochanständiger, ehrenwerter Mann, wie ich finde. Er wäre eine ausgezeichnete Wahl, einen besseren finden Sie kaum.“

Lady Cuttersleighs Wortschwall versiegte jäh. Sie sah den Duke verdutzt an, blinzelte heftig und versuchte, sich von dem Schlag zu erholen, den er ihr mit diesem Rat versetzt hatte. Rochford nutzte die günstige Gelegenheit. „Lady Haughston, wollten Sie mich nicht Ihrem geschätzten Cousin vorstellen?“, fügte er ohne Überleitung hinzu und bot Francesca seinen Arm.

Francesca warf ihm einen verschmitzten Blick zu und antwortete höflich. „Natürlich. Wenn Sie uns bitte entschuldigen, Mylady. Mylord. Sir Lucien.“

Sir Lucien raunte ihr ins Ohr. „Verräterin.“

Während Francesca sich an Rochfords Seite entfernte, vermochte sie sich eines schadenfrohen Kicherns nicht zu enthalten. „Mein geschätzter Cousin?“, wiederholte sie. „Bitte, welchen meinten Sie? Den, der Portwein zu sehr schätzt? Oder den, der nach einem Duell auf den Kontinent geflohen ist?“

Ein Lächeln erhellte die dunkel verwegenen Gesichtszüge des Dukes. „Ich meinte, meine Schöne, jeden beliebigen Nichtsnutz, der mich aus den Krallen von Lady Cuttersleigh befreit.“

Francesca schüttelte den Kopf. „Schreckliche Person. Die aufdringliche Art, mit der sie versucht, ihre Töchter unter die Haube zu bringen, wird deren Schicksal besiegeln, als alte Jungfern zu enden, fürchte ich. Nicht nur, dass sie die Mädchen anpreist wie eine Marktfrau ihre Kohlköpfe, ihre Ansprüche übersteigen auch noch bei Weitem die Chancen der bedauernswerten Geschöpfe.“

„Wie man hört, sollen Sie auf diesem Gebiet eine wahre Expertin sein“, sagte Rochford mit leiser Ironie.

Francesca schaute ihn an. „Tatsächlich?“

„O ja. Offenbar wenden Eltern sich gern mit der Bitte um gute Ratschläge an Sie, bevor sie ihre Töchter auf den Heiratsmarkt schicken. Dabei könnte man sich fragen, wieso Sie sich nicht ein zweites Mal in eigener Sache auf die Suche begeben.“

Francesca nahm ihre Hand von seiner Armbeuge und ließ den Blick wieder über die Gästeschar unten im Ballsaal schweifen. „Ich fühle mich im Witwenstand ausnehmend wohl, Euer Gnaden.“

„Euer Gnaden? Nach all den Jahren? Ich habe Sie wieder einmal gekränkt, richtig? Dazu habe ich offenbar eine unselige Neigung.“

„Ja, darin scheinen Sie ein besonderes Geschick zu haben“, antwortete Francesca leichthin. „Aber ich fühle mich nicht gekränkt. Andererseits frage ich mich … benötigen Sie meine Hilfe?“

Er lachte. „Gott bewahre, nein. Ich betreibe nur Konversation.“

Francesca sah den Duke forschend an. Wieso schnitt er dieses Thema an? Waren ihm Gerüchte über ihre Erfolge als Heiratsvermittlerin zu Ohren gekommen? In den vergangenen Jahren hatte sie mehr als nur einem Elternpaar hilfreich zur Seite gestanden, das für ihre Tochter einen Ehemann suchte. Selbstverständlich hatten die Eltern sich mit einem großzügigen Geschenk erkenntlich gezeigt, nachdem Francesca die junge Dame unter ihre Fittiche genommen und sie durch die kniffligen Untiefen gesellschaftlicher Gepflogenheiten geleitet und schließlich in die Arme des erwünschten Heiratskandidaten geführt hatte. Solche Erkenntlichkeiten waren von beiden Seiten mit höchster Diskretion behandelt worden. Francesca hatte keine Ahnung, auf welche Weise durchgesickert sein könnte, dass ein gewisser silberner Tafelaufsatz oder ein kostbarer Rubinring den Besitzer gewechselt hatte, bevor er beim Pfandverleiher gelandet war.

Francesca glaubte einen Funken Neugier in den Augen Rochfords zu entdecken und beeilte sich um eine Richtigstellung. „Zweifellos haben Sie keine Hilfe nötig.“

„Nein, wahrhaftig nicht. Ich kenne zu viele Furcht einflößende Mütter, die danach streben, ihre Töchter glänzend zu verheiraten, und verzichte gerne auf die Bemühungen eines Vermittlers.“

„Es ist geradezu erschreckend“, sagte Francesca, „was Mütter alles falsch machen in ihrem Bestreben, ihre Töchter zu verheiraten. Nicht nur Lady Cuttersleigh. Betrachten Sie nur die Mädchen da unten.“

Sie wies mit dem Fächer in die Richtung dreier Damen, die neben einer ausladenden Topfpalme standen. Die ältere in einem purpurfarbenen Ballkleid wurde von zwei jungen Mädchen flankiert, deren unglückselige Ähnlichkeit zu ihr darauf schließen ließ, dass es sich um ihre Töchter handelte.

„Ausnahmslos Damen ohne Schönheitssinn und Stilempfinden, die sich selbst nicht zu kleiden wissen, lassen es sich nicht nehmen, die Garderobe ihrer Töchter zu bestimmen“, stellte Francesca fest. „Schauen Sie nur, die pummelige Person steckt ihre Töchter in fades Lavendelblau, wodurch ihre blassen Gesichter noch teigiger wirken, und zu allem Überfluss werden sie auch noch mit unnötigem Zierrat herausgeputzt. Mit all den Rüschen, Schleifchen und Spitzenwolken sehen sie aus wie steife Teepuppen. Und ständig redet sie auf die bedauernswerten Geschöpfe ein und lässt keine zu Wort kommen.“

„Ja, ich verstehe“, antwortete Rochford. „Das scheint mir ein extremes Beispiel zu sein, wobei ich allerdings nicht glaube, dass diese Mauerblümchen ohne die aufdringliche Frau Mama bessere Chancen hätten.“

Francesca gab einen geringschätzigen Laut von sich. „Ich würde das schaffen.“ „Aber, meine Liebe …“ In seinen dunklen Augen blitzte heiterer Spott.

Francesca zog eine Braue hoch. „Sie zweifeln daran?“

„Ihr erlesener Geschmack und Ihr diplomatisches Geschick in allen Ehren“, entgegnete er mit einem spöttischen Lächeln. „Aber manche Fälle sind hoffnungslos; in einem solchen Fall hätten selbst Sie keinen Erfolg.“

„Sie irren. Würde ich mich um irgendein unscheinbares Mauerblümchen kümmern und für seine Zukunft verantwortlich sein, trüge es am Ende der Saison einen Verlobungsring am Finger“, erwiderte sie, ohne nachzudenken.

Der Duke versuchte, nicht allzu selbstgefällig zu lächeln. „Wollen wir eine Wette darauf abschließen?“

Francesca wusste, dass es töricht war, sich darauf einzulassen, brachte es aber nicht über sich, vor seinem aufreizenden Gebaren einen Rückzieher zu machen. „Warum nicht?“

„Jedes beliebige Mädchen dort unten?“, hakte er nach.

„Jedes.“

„Und Sie nehmen es unter Ihre Fittiche und verloben es – mit einem angemessenen Herrn, wohlgemerkt – bis zum Ende der Saison?“

„Ja.“ Francesca, die noch nie einer Herausforderung aus dem Weg gegangen war, begegnete seinem Blick mit kühler Gelassenheit. „Und Sie wählen das Mädchen aus.“

„Fragt sich nur, was der Wetteinsatz sein soll. Mal sehen … wenn ich gewinne, geben Sie mir Ihr Wort, meine Schwester und mich zu unserem alljährlichen Besuch bei unserer Großtante zu begleiten.“

„Lady Odelia?“, fragte Francesca mit unverhohlenem Entsetzen.

Der Kranz dünner Fältchen um seine Augen vertiefte sich. „Aber ja. Lady Odelia schätzt Sie sehr, wie Sie wissen.“

„Ja, etwa so wie ein Habicht eine fette Maus schätzt!“, meinte Francesca. „Dennoch akzeptiere ich Ihren Vorschlag, da ich mir sicher bin, dass ich diese Wette gewinne. Aber was bekomme ich, wenn Sie verlieren?“

Er blickte sie eine Weile sinnend an, bevor er antwortete. „Nun ja, ich denke an ein Saphirarmband in der Farbe Ihrer Augen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie Saphire mögen.“

Francesca musterte ihn einen Moment forschend. „Keine schlechte Idee. Einverstanden.“

Sie festigte den Griff um ihren Fächer, hob das Kinn und wandte sich wieder den Ballgästen zu. „Auf welches Mädchen fällt Ihre Wahl?“

Sie erwartete, er würde auf eine der reizlosen Töchter zeigen, über die sie soeben gelästert hatten. „Die mit der riesigen Schleife im Haar oder die andere mit der traurig wippenden Feder?“

„Keine von beiden“, entgegnete er zu Francescas Erstaunen und wies mit dem Kinn zu einer hochgewachsenen, schlanken Frau in einem grauen Kleid, die hinter den beiden Mädchen stand. Sie war eindeutig an ihrem schlichten Kleid und der glatten Frisur als Anstandsdame zu erkennen. „Ich wähle die da.“

Constance Woodley langweilte sich. Eigentlich sollte sie dankbar sein, wie Tante Blanche immer wieder betonte, während der Saison in London Gelegenheit zu haben, große gesellschaftliche Anlässe wie diesen Ball erleben zu dürfen. Allerdings konnte sie wenig Vergnügen daran finden, ihre törichten Cousinen zu zahllosen Bällen, Soireen und anderen Geselligkeiten als Anstandsdame zu begleiten. Immerhin bestand ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Vergnügen, als richtige Gäste an einer Saison teilzunehmen, wie Georgiana und Margaret, und der Tatsache, unbeteiligt zusehen zu müssen, wie andere sich amüsierten.

Ihre eigene Chance, an einer Saison teilzunehmen, hatte sie vor langer Zeit verpasst. Als sie mit achtzehn ihr Debüt hätte haben sollen, war ihr Vater krank geworden, und sie hatte die nächsten fünf Jahre damit verbracht, ihn zu pflegen, da sein Zustand sich stetig verschlechterte. Schließlich war er verstorben, und da er keinen männlichen Erben aufzuweisen hatte, gingen sein Haus und die Ländereien auf seinen Bruder Roger über. Constance blieb unverheiratet und mittellos bis auf eine kleine Geldsumme, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, allerdings in Staatspapieren fest angelegt, zurück. Gnädigerweise durfte sie in ihrem Elternhaus wohnen bleiben, als Sir Roger nebst Gemahlin und den beiden Töchtern einzog.

Sie werde immer ein Dach über dem Kopf haben, erklärte Tante Blanche in frommer Güte, fände es allerdings angebracht, wenn Constance ihr Schlafzimmer für die Töchter räume und sich mit einem kleineren Zimmer im hinteren Teil des Hauses begnüge. Das große Zimmer mit dem hübschen Blick auf Garten und Park komme schließlich den Töchtern des Hausherrn zu. Der Umzug in das bescheidene Quartier war Constance nicht leichtgefallen, aber sie hatte sich damit getröstet, wenigstens ein Zimmer für sich allein zu haben, statt sich eines mit einer ihrer Cousinen teilen zu müssen.

Seit einigen Jahren lebte sie nun mit ihren Verwandten zusammen. Sie ging der Tante im Haushalt und bei der Erziehung der Mädchen zur Hand, da sie sich dankbar zeigen wollte, von ihnen aufgenommen worden zu sein. Beharrlich sparte Constance die schmalen Zinseinkünfte ihrer Erbschaft und legte sie wieder an, in der Hoffnung, eines Tages genügend Geld zusammengebracht zu haben, um davon ihren Lebensunterhalt bestreiten und auf eigenen Beinen stehen zu können.

Vor zwei Jahren, als Georgiana achtzehn geworden war, schien es das Vernünftigste zu sein, zu warten, bis auch die jüngere Margaret achtzehn wurde, um beide Töchter gleichzeitig in die Gesellschaft einzuführen.

Constance dürfe sie als Anstandsdame begleiten, hatte ihre Tante huldvoll verkündet. Es wurde nie auch nur darüber nachgedacht, ob Constance an diesem alljährlich stattfindenden gesellschaftlichen Ritual in einer anderen Rolle als der der Anstandsdame teilnehmen könnte. Die Londoner Ballsaison wurde von Müttern als eine Art Heiratsmarkt genutzt, wobei die Tante gar nicht auf die Idee gekommen wäre, ihre Nichte hätte noch Chancen, einen Ehemann abzukriegen, und Constance hatte sich dieser Meinung angeschlossen. Sie war zwar keine reizlose junge Frau – sie hatte graue ausdrucksvolle Augen und dunkelbraunes rötlich schimmerndes Haar –, galt aber mit achtundzwanzig als alte Jungfer, die den Zeitpunkt überschritten hatte, um der Gesellschaft präsentiert zu werden. Sie durfte auch nicht hoffen, Kleider in hellen Pastelltönen zu tragen oder ihr Haar in hübsche Löckchen einzudrehen. Tante Blanche bestand darauf, dass Constance im Haus ein züchtiges Häubchen trug, wobei Constance sich allerdings weigerte, dieses untrügliche Symbol vereitelter Hoffnungen auch bei gesellschaftlichen Anlässen aufzusetzen.

Constance bemühte sich redlich, die Erwartungen ihrer Tante nicht zu enttäuschen, da ihr klar war, dass ihre Verwandten nicht verpflichtet gewesen wären, sie nach dem Tod ihres Vaters bei sich zu behalten. Ihre Beweggründe erklärten sich in etwa zu gleichen Teilen aus ihrer Furcht vor gesellschaftlicher Missbilligung und dem Umstand, auf diese Weise eine unbezahlte Haushaltshilfe zu erhalten, was Constance freilich nicht davon entband, Onkel und Tante unentwegt ihre Dankbarkeit erweisen zu müssen. Das Geschnatter ihrer Cousinen war allerdings wesentlich schwieriger zu ertragen, zwei alberne Gänschen, maßlos eitel und eingebildet auf ihr Aussehen, wofür es nicht den geringsten Anlass gab. Constance hasste es – auch wenn sie sich eingestehen musste, ebenfalls ein wenig eitel zu sein –, in grauen, braunen oder dunkelblauen Kleidern herumzulaufen, in langweiligen Farben, die ihre Tante für eine unverheiratete Frau eines gewissen Alters geziemend fand.

Immerhin bereitete es ihr einiges Vergnügen, die glitzernden Ballkleider der Damen der vornehmen Gesellschaft zu bewundern. Constance entdeckte oben auf der Galerie ein elegantes Paar, das den Blick über die Gäste im Saal schweifen ließ. Auf Constance wirkten die beiden wie ein Königspaar, das seine Untertanen huldvoll musterte. Kein abwegiger Vergleich, da der Duke of Rochford und Lady Francesca Haughston zu den einflussreichsten und berühmtesten Vertretern der Londoner Gesellschaft zählten. Constance kannte natürlich niemanden der Gäste persönlich, da diese in besseren Kreisen verkehrten als Onkel Roger und Tante Blanche üblicherweise.

Das hoheitsvolle Paar schritt nun die Treppe herab und tauchte in der Menge unter.

„Constance, sei so lieb und suche Margarets Fächer, sie scheint ihn verloren zu haben“, wandte Tante Blanche sich an sie.

Die nächsten Minuten verbrachte Constance damit, unter Stühlen Ausschau nach dem verlorenen Fächer zu halten. Erst als ihre Tante hörbar den Atem einsog, hob sie erschrocken den Kopf in der Befürchtung, Tante Blanche könne sich unpässlich fühlen. Und dann entdeckte sie zwei sich nähernde Damen. Lady Haughston in Begleitung der strahlenden Gastgeberin, Lady Welcombe.

„Lady Woodley. Sir … ähm …“

„Roger“, ergänzte der Onkel hilfreich.

„Natürlich. Sir Roger. Wie ist das werte Befinden? Ich hoffe, meine kleine Abendgesellschaft gefällt Ihnen“, sagte Lady Welcombe zu Tante Blanche und wies mit einer ausladenden Geste in den überfüllten Ballsaal. Ihr verschmitztes Schmunzeln verriet den humorvollen Hintersinn ihrer Bemerkung.

„Aber ja, Mylady. Ein grandioses Fest. Ich könnte schwören, dies ist der schönste Ball dieser Saison. Soeben sagte ich zu Sir Roger, dies ist das glanzvollste Gesellschaftsereignis, das wir bisher besuchten.“

„Nun, die Saison hat ja gerade erst begonnen“, antwortete Lady Welcombe in aller Bescheidenheit. „Wollen wir hoffen, dass mein Fest bis zum Juli nicht in Vergessenheit geraten ist.“

„Aber gewiss nicht, davon bin ich überzeugt.“ Tante Blanche erging sich in überschwänglichen Lobesworten über den Blumenschmuck, den Lichterglanz, die verschwenderische Dekoration. Erst als sie Atem holte, fand Lady Welcombe Gelegenheit, sie zu unterbrechen. „Darf ich Sie mit Lady Haughston bekannt machen?“ Damit wandte sie sich an ihre Begleiterin. „Lady Haughston, das ist Sir Roger Woodley, und seine Gemahlin Lady Woodley und dies sind … ihre reizenden Töchter.“

„Sehr erfreut“, grüßte Lady Haughston und streckte ihre feingliedrige weiße Hand aus.

„Oh, Mylady! Welche Ehre!“ Tante Blanches Gesicht war vor Aufregung rot angelaufen. „Ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen. Gestatten Sie mir bitte, Ihnen unsere Töchter Georgiana und Margaret vorzustellen. Mädchen, gebt Lady Haughston die Hand.“

Lady Haughston lächelte den Mädchen flüchtig zu, bevor ihr Blick Constance erfasste, die zwei Schritte hinter der Familie stand. „Und wer sind Sie?“

„Constance Woodley, Mylady“, antwortete Constance mit einem anmutigen Knicks.

„Tut mir leid“, zwitscherte Tante Blanche aufgeregt. „Miss Woodley ist die Nichte meines Gatten, die wir nach dem Tod ihres bedauernswerten Vaters vor einigen Jahren bei uns aufgenommen haben.“

„Mein aufrichtiges Beileid“, sagte Lady Haughston an Constance gerichtet und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Zum Tod Ihres Vaters.“

„Danke, Mylady.“ Constance bemerkte das amüsierte Funkeln in ihren blauen Augen und fragte sich, ob Lady Haughstons Beileidswunsch eine andere Bewandtnis haben könnte. Sie verkniff sich ein Lächeln bei dem erheiternden Gedanken und begegnete Lady Haughstons Blick mit höflicher Gelassenheit.

Lady Welcombe entfernte sich, doch zu Constances Erstaunen verweilte Lady Haughston noch einen Moment und tauschte belanglose Höflichkeiten mit Tante Blanche aus. Zu Constances noch größerem Erstaunen wandte sich Lady Haughston beim Abschied schließlich an sie mit der Frage: „Hätten Sie Lust, Miss Woodley, mich auf einem kleinen Bummel durch den Ballsaal zu begleiten?“

Constance blinzelte verdutzt und sprachlos. Dann straffte sie die Schultern und trat einen Schritt vor. „Gerne, mit dem größten Vergnügen, vielen Dank, Mylady.“

Im letzten Moment dachte sie daran, ihren Verwandten einen fragenden Blick zuzuwerfen, obgleich sie Lady Haughston auch begleitet hätte, wenn Tante Blanche es ihr ausdrücklich verboten hätte. Aber offenbar war ihre Tante zu überrascht von dieser unerwarteten Entwicklung und ließ Constance glücklicherweise ohne Widerrede gehen.

Francesca hakte sich bei Constance unter, schlenderte mit ihr am Rande des riesigen Ballsaales entlang und begann mit ihr zu plaudern.

„In diesem Gedränge ist es so gut wie unmöglich, einen Bekannten zu treffen“, stellte Lady Haughston fest.

Constance nickte nur lächelnd, immer noch so verblüfft von Lady Haughstons Interesse an ihr, dass ihr vor Aufregung keine Entgegnung einfiel, nicht die banalsten Worte. Sie konnte sich nicht denken, was eine der glanzvollsten Erscheinungen der Londoner Gesellschaft von ihr wollte. Constance war weder so eitel noch so töricht, sich einzubilden, Francesca habe nach einem kurzen Blick entschieden, sie könne sich als Freundin eignen.

„Ist das Ihre erste Ballsaison?“, fragte Francesca beiläufig.

„Ja, Mylady. Leider war mein Vater schwer krank, als ich in die Gesellschaft eingeführt werden sollte“, erklärte Constance. „Er starb einige Jahre später.“

„Aha, ich verstehe.“

Constance warf ihrer Begleiterin einen flüchtigen Seitenblick zu. Etwas in Lady Haughstons Augen überzeugte sie, dass die scharfsinnige Frau weit mehr verstand, als Constance sie wissen ließ. Dass sie sich vorstellen konnte, wie endlos öde die Tage verstrichen waren, die Constance am Krankenbett ihres Vaters verbracht hatte. Die Tage, die aus Langeweile und Besorgnis bestanden hatten, nur unterbrochen von harter Arbeit und noch größerem Kummer, als sein Leiden sich immer mehr verschlimmerte.

„Es tut mir leid um Ihren schmerzlichen Verlust“,sagte Lady Haughston mitfühlend. Nach einer Weile fügte sie aufmunternd hinzu: „Und nun leben Sie bei Ihrem Onkel und Ihrer Tante, nicht wahr? Und Ihre Tante kümmert sich um Sie. Das ist sehr freundlich von ihr.“

Constance spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Es wäre undankbar gewesen, der fremden Dame zu widersprechen, aber es gelang ihr auch nicht, ihr zu versichern, ihre Tante habe sie aus schierer Güte bei sich aufgenommen.

„Nun ja“, sagte sie zögernd. „Meine Cousinen sind mittlerweile erwachsen und …“

„Ich bin sicher, Sie sind Ihrer Tante eine große Hilfe“, unterbrach Lady Haughston sie in milder Nachsicht.

Constance warf ihr wieder einen Seitenblick zu und musste lächeln. Lady Haughston wusste genau, weshalb Tante Blanche ihre Nichte mit zu gesellschaftlichen Anlässen nahm, nämlich gewiss nicht, um Constance einen Gefallen zu erweisen, sondern sich selbst. Obgleich sie nicht ahnte, was Lady Haughston im Schilde führte, mochte Constance die beeindruckende Frau. Sie strahlte eine Herzenswärme aus, die in der Welt der Reichen und Adligen nur selten anzutreffen war.

„Wie dem auch sei“, fuhr Lady Haughston fort, „Sie sollten sich die Zeit gönnen, Ihren Aufenthalt in London zu genießen.“

„Ich habe bereits einige Museen besucht“, erklärte Constance erleichtert, endlich etwas zu dem Gespräch beitragen zu können, „und fand diese Ausflüge sehr interessant.“

„Tatsächlich? Nun, Ihr Interesse an Kunst in allen Ehren. Aber ich denke eher an vergnüglichere Beschäftigungen, etwa an einen Einkaufsbummel.“

„Einkaufsbummel?“, wiederholte Constance verständnislos. „Was denn, Mylady?“

„Nun ja, das hängt davon ab, was Ihnen gefällt. Ich für meinen Teil lege mich vorher nie fest“, antwortete Lady Haughston leichthin mit dem Anflug eines Lächelns, das ihr den Ausdruck einer zufriedenen Katze verlieh. „Das wäre mir viel zu langweilig. Ich ziehe es vor, mich auf Entdeckungstour zu begeben und durch die eleganten Geschäfte zu streifen. Vielleicht hätten Sie Lust, mich morgen zu begleiten?“

Constance sah sie überrascht an. „Wie bitte?“

„Auf eine Einkaufsexpedition“, antwortete Lady Haughston lachend. „Machen Sie kein so ein entgeistertes Gesicht. Ich verspreche auch, Ihre Geduld nicht übermäßig zu strapazieren.“

„Ich … bitte um Verzeihung“, stammelte Constance zutiefst verlegen. „Sie halten mich gewiss für eine einfältige Landpomeranze. Aber Ihr freundliches Angebot kommt so völlig unerwartet. Ich würde Sie wirklich gern begleiten, obgleich ich fürchte, ich wäre eine ziemlich langweilige Gesellschafterin.“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen“, entgegnete Lady Haughston mit schelmisch blitzenden Augen. „Glauben Sie mir, wir beide werden uns köstlich amüsieren, dafür sorge ich.“

Constance lächelte. Was immer diese Einladung auch bedeuten mochte, die Aussicht, einen Tag ohne Tante und Cousinen zu verbringen, erfüllte sie mit Freude. Und es war nur menschlich, dass sie einen Anflug boshafter Genugtuung empfand bei dem Gedanken an das betroffene Gesicht ihrer Tante, wenn sie erfuhr, dass eine der prominentesten Damen der Londoner Gesellschaft Constance eingeladen hatte.

„Gut, dann sind wir uns einig“, sagte Lady Haughston. „Ich hole Sie morgen ab, sagen wir gegen ein Uhr, und wir machen uns einen hübschen Tag.“

„Sie sind sehr freundlich.“

Wieder schenkte Francesca ihr ein strahlendes Lächeln, drückte Constances Hand und verschwand im Gedränge. Constance schaute ihr nach, die Gedanken schwirrten ihr wirr durch den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, aus welchem Grund Lady Haughston sich für sie interessierte, aber es würde gewiss aufregend werden, das herauszufinden.

Sie drehte sich um und blickte zur Stelle hinüber, wo Onkel und Tante gestanden hatten, konnte sie aber in der Menge nicht ausmachen. Da ihre Tante nicht wissen konnte, wann Lady Haughston sich verabschiedet hatte, durfte Constance sich erlauben, sie noch ein Weilchen warten zu lassen, ohne eine Zurechtweisung befürchten zu müssen. Also sah sie sich suchend um, entdeckte eine offene Tür und huschte in einen breiten Flur, wo einige Gäste, die dem Lärm und der Hitze des Ballsaals entflohen waren, in kleinen Gruppen zusammenstanden und plauderten. Niemand schenkte ihr Beachtung, als sie den Korridor entlangeilte – ein Umstand, den sie gewiss ihrem schlichten Kleid zu verdanken hatte.

Sie bog in einen schmaleren Flur ein, der an zwei offenen Flügeltüren vorbeiführte. Constance hielt inne, stutzte, und dann betrat sie vorsichtig eine riesige Bibliothek, deren Bücherschränke vom Fußboden bis zur Decke reichten, nur die hohen Fenster waren ausgespart. In neugieriger Aufregung trat sie näher und ließ den Blick über die langen Bücherreihen wandern.

Ihr Vater war ein belesener Mann gewesen, der sich mit entschieden größerer Hingabe mit schöngeistiger Literatur und wissenschaftlichen Abhandlungen befasste als mit Geschäftsbüchern. Die Bibliothek in ihrem Elternhaus, die allerdings wesentlich kleiner war als dieser Raum, war vollgestopft mit Büchern.

Constance trat an die Regale an der gegenüberliegenden Wand und las die Titel der ledergebundenen Werke, als sie draußen auf dem Korridor eilige Schritte hörte. Kurz darauf stürmte ein Mann mit gehetzter Miene herein. Er verharrte eine Sekunde, bevor er Constance entdeckte, die ihn entgeistert anstarrte.

Er legte einen Zeigefinger an die Lippen und schlüpfte lautlos hinter den offenen Türflügel.

2. KAPITEL

Constance blinzelte verdutzt, wusste nicht, was sie von diesem seltsamen Auftritt halten sollte. Nach kurzem Zögern setzte sie sich in Bewegung und wollte die Bibliothek verlassen. Aus dem Flur waren eilig trippelnde Schritte zu hören, und dann tauchte eine untersetzte, füllige Dame in einem roséfarbenen Satinkleid mit einem sandelholzfarbenen Gazeüberwurf auf der Schwelle auf.

Weder der modische Stil noch die Farben passten zu der üppigen Person, deren Jugendblüte bereits verblichen war. Und ihre verdrießliche Miene trug nicht dazu bei, ihr Aussehen vorteilhafter erscheinen zu lassen.

Sie maß Constance vorwurfsvoll von Kopf bis Fuß. „Haben Sie den Viscount gesehen?“, fragte sie schroff.

„Hier? In der Bibliothek?“ Constance zog die Brauen fragend hoch.

Die Dame wirkte unschlüssig. „Tja, das scheint eher unwahrscheinlich.“ Sie warf einen Blick in den Flur zurück und dann wieder in die Bibliothek. „Aber ich könnte schwören, dass Lord Leighton diese Richtung eingeschlagen hat.“

„Vor einer Minute ging ein Herr den Flur entlang“, log Constance in aller Liebenswürdigkeit. „In die andere Richtung. Vermutlich ist er in den Hauptkorridor abgebogen.“

Der Blick der korpulenten Dame schärfte sich. „Aha. Er wollte in den Rauchsalon, das kann ich mir denken.“

Sie machte auf dem Absatz kehrt und nahm die Verfolgung ihres Opfers wieder auf.

Als ihre Schritte verklungen waren, tauchte der Mann aus seinem Versteck auf, schloss dabei den Türflügel und stieß einen theatralischen Seufzer der Erleichterung aus.

„Verehrteste, ich stehe tief in Ihrer Schuld“, erklärte er und lächelte unbefangen.

Constance lächelte ebenfalls. Der Fremde hatte eine gewinnende Art, war groß, athletisch gebaut und schlank. Er trug einen formellen schwarzen Frack und eine Brokatweste, die breite Seidenkrawatte war zu einem modischen Knoten gebunden, allerdings ohne Rüschen und Spitzenbesatz, wie sie Dandys neuerdings bevorzugten. Seine Augen leuchteten tiefblau wie ein sommerlicher See, seine vollen Lippen waren elegant geschwungen, sein Kinn wies ein reizendes Grübchen auf. Wenn er lächelte wie jetzt, blitzten seine Augen belustigt, als sei ihm daran gelegen, seine Mitmenschen mit seiner guten Laune anzustecken. Das dunkelblonde, von sonnengebleichten Strähnchen durchzogene Haar war etwas länger, als es korrekt gewesen wäre, und leicht zerzaust, was vermutlich auf die Unachtsamkeit des Mannes selbst zurückzuführen war und nicht auf die seines Kammerdieners.

Alles in allem, dachte Constance, ein Mensch, der bereits auf den ersten Blick sympathisch wirkte, eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausstrahlte und sich seiner angenehmen Wirkung auf Frauen gewiss bewusst war. Constance hatte Mühe, das verräterische Flattern in ihrer Magengegend zu verdrängen und sich gegen das gewinnende Lächeln des gut aussehenden Herrn zu wappnen. Ein Flirt war undenkbar und kam für sie nicht infrage, da sie sich schließlich nicht auf dem Heiratsmarkt befand.

„Lord Leighton, nehme ich an?“, fragte sie.

„Der bin ich, bedauerlicherweise“, antwortete er mit einer untadeligen Verneigung. „Und Ihr Name, Mylady?“

„Bitte nur Miss“,antwortete sie.„Und es wäre unschicklich, einem völlig Fremden meinen Namen zu nennen.“

„Aber längst nicht so unschicklich, wie mit einem Fremden allein zu sein“, konterte er schlagfertig. „Und sobald Sie mir Ihren Namen verraten, sind wir einander nicht mehr fremd, und alles verläuft in gesitteten Bahnen.“

Seine seltsame Schlussfolgerung brachte sie zum Lachen. „Ich bin Miss Woodley, Mylord. Miss Constance Woodley.“

„Miss Constance Woodley“, wiederholte er, trat näher und fügte vertraulich hinzu: „Und nun müssen Sie mir Ihre Hand reichen.“

„Tatsächlich? Muss ich das?“ In Constances Augen tanzten Funken. Sie entsann sich nicht, wann sie sich zum letzten Mal mit einem Mann amüsiert hatte.

„Aber ja“, entgegnete er mit großem Ernst. „Wie sonst sollte ich mich darüberbeugen?“

„Aber Sie machten bereits eine höfliche Verbeugung“, betonte sie.

„Zugegeben. Allerdings ehe ich die Ehre hatte, Sie angemessen zu begrüßen“, wandte er ein.

Constance streckte ihm zögernd die Hand entgegen. „Sie scheinen ein beharrlicher Charakter zu sein.“

Er nahm ihre Hand, neigte sich darüber und hielt sie einen Moment länger, als es nötig gewesen wäre. Als er sie freigab, lächelte er wieder, und Constance spürte die Wärme seines Lächelns bis in die Zehenspitzen.

„Nun sind wir Freunde, und alles hat seine gebührende Ordnung.“

„Freunde? Wir sind höchstens flüchtige Bekannte“, widersprach Constance.

„Aber nein. Sie haben mich vor Lady Taffington gerettet. Und das macht Sie mir zur Freundin.“

„Als Ihre Freundin gestatte ich mir die Frage, wieso Sie sich vor Lady Taffington in der Bibliothek verstecken. Auf mich wirkte sie keineswegs so furchterregend, dass sie einen erwachsenen Mann in die Flucht schlagen könnte.“

„Das sagen Sie nur, weil Sie Lady Taffington nicht kennen. Sie ist die grässlichste Person, die man sich denken kann, ein Feuer speiender Drache von Mutter, die ihre Tochter mit einer Vehemenz unter die Haube bringen will, die ihresgleichen sucht.“

„Dann sollten Sie sich hüten, meiner Tante zu begegnen“, antwortete Constance trocken.

Er lachte in sich hinein. „Diese Art Mutter findet man überall, fürchte ich. Die Aussicht auf einen guten Titel übt eine unwiderstehliche Macht auf sie aus, und sie würden alles daransetzen, ihr Ziel zu erreichen.“

„So sehr begehrt zu sein kann doch nicht so unerträglich sein.“

„Gewiss, es wäre weniger unerträglich“, antwortete er achselzuckend, „wenn das Begehren sich auf meine Person beziehen würde statt ausschließlich auf meinen Titel.“

Der atemberaubend gut aussehende Lord Leighton, der auch noch einen bestrickenden Charme ausstrahlte, wurde gewiss nicht nur wegen seines Titels begehrt, überlegte Constance, ohne es zu wagen, ihren Einwand in Worte zu fassen.

Der Viscount machte sich ihr Zögern zunutze.„Und für wen ist Ihre Tante auf der Jagd nach einem Ehemann?“ Sein Blick streifte ihre unberingten Finger. „Gewiss nicht für Sie, denn das wäre weiß Gott keine schwierige Aufgabe.“

„Nein. Nicht für mich. Über dieses Alter bin ich längst hinaus.“ Sie lächelte liebenswürdig, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. „Ich bin nur hier, um Tante Blanche bei der Aufsicht ihrer Töchter zu helfen. Beide werden in dieser Saison in die Gesellschaft eingeführt.“

Er hob eine Braue. „Sie? Eine Anstandsdame?“ Er lächelte. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich an Ihren Worten zweifle. Sie sind viel zu hübsch, um eine Anstandsdame zu sein. Ich fürchte, Ihre Tante wird feststellen müssen, dass die vermeintlichen Verehrer ihrer Töchter Ihnen den Hof machen.“

„Sie sind ein Schmeichler, Mylord.“ Constance schaute zur Tür. „Ich muss gehen.“

„Sie wollen mich verlassen? Bitte, bleiben Sie noch ein wenig. Ihre Cousinen werden gewiss noch ein Weilchen ohne Ihren Schutz überleben.“

In Wahrheit hatte Constance wenig Lust zu gehen und fand es wesentlich unterhaltsamer, mit dem charmanten Viscount zu plaudern, statt stumm hinter ihren Cousinen zu stehen und zusehen zu müssen, wie andere sich angeregt unterhielten. Andererseits drohte die Gefahr, dass Tante Blanche sich auf die Suche nach ihr begab, wenn sie zu lange fortblieb. Und sie wollte um jeden Preis vermeiden, dass Tante Blanche sie in der Bibliothek allein mit einem Fremden antraf. Noch mehr graute ihr bei dem Gedanken, ihre Tante könne Lord Leighton kennenlernen und sich in die Meute der Mütter einreihen, die es auf ihn als Schwiegersohn in spe abgesehen hatten.

„Zweifellos. Aber ich vernachlässige meine Pflicht.“ Sie reichte ihm die Hand. „Leben Sie wohl, Mylord.“

„Miss Woodley.“ Er nahm lächelnd ihre Hand. „Sie haben mir diesen Abend erheblich versüßt.“

Constance erwiderte sein Lächeln, ohne sich bewusst zu sein, wie sehr die Freude über diese Begegnung ihre Augen zum Glänzen gebracht und ihre Wangen rosig überhaucht hatte. Weder das schlichte Kleid noch die strenge Frisur vermochten ihren Liebreiz zu schmälern.

Er ließ ihre Hand nicht sofort wieder los und blickte Constance dabei tief in die Augen. Und dann beugte er sich vor und küsste sie auf den Mund.

Sie erstarrte. Der Kuss war so unerwartet gekommen, dass sie unfähig war, sich zu wehren, und im nächsten Moment verspürte sie nicht mehr den Wunsch, es zu tun. Sie fühlte sich benommen und war nicht dazu in der Lage, sich zu bewegen. Mit seinen weichen Lippen strich er wie ein warmer Windhauch über ihren Mund, die Berührung jagte prickelnde Schauer durch ihren Körper. Statt sich von ihr zu lösen, hörte Leighton nicht auf, sie zu küssen. Er presste seine Lippen auf die ihren und zwang sie sanft und fordernd zugleich, ihren Mund zu öffnen. Ungewollt schmiegte sie sich an ihn, wusste nur, dass sie ihn entrüstet von sich stoßen sollte, dazu aber nicht die Kraft hatte.

Vorsichtig legte sie die Hände auf seine breiten Schultern, als suche sie Halt und Schutz vor den befremdlichen Empfindungen, die auf sie einstürmten. Er schlang einen Arm um ihre Mitte und zog Constance an sich, streichelte mit der anderen Hand zärtlich ihren Nacken, während er sie genießerisch küsste.

Constance befürchtete, ihre Knie würden ihr ohne seine stützenden Arme den Dienst versagen; ihr war, als verliere sie den Boden unter den Füßen und sinke ins Nichts.

Nie gekannte machtvolle Gefühle durchströmten sie. Nicht einmal damals, als sie mit neunzehn in Gareth Hamilton verliebt gewesen war, hatte sie vergleichbare Empfindungen gehabt. Gareth hatte sie geküsst, als er sie bat, seine Frau zu werden, und sie hatte gedacht, es könne keine süßeren Wonnen im Leben geben. Das hatte später alles nur schmerzlicher gemacht, als sie sich gezwungen sah, seinen Antrag abzulehnen, um ihren kranken Vater zu pflegen. Aber an Lord Leightons Umarmung war nichts Süßes, sie war fordernd und leidenschaftlich, und sein Kuss entfachte ein brennendes Sehnen in ihr. Dabei kannte sie diesen Mann kaum, der sie in ihren Grundfesten erbeben ließ und es ihr unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Er hob den Kopf, und einen langen Moment blickten sie einander tief in die Augen, beide aufgewühlt und verwirrt, ohne es dem anderen einzugestehen. Leighton holte tief Atem, gab Constance zögernd frei und trat einen Schritt zurück. Sie starrte ihn mit großen Augen an, dann machte sie kehrt und floh.

Der Korridor vor der Bibliothek war zu Constances Erleichterung menschenleer. Wie zerzaust mochte sie wohl aussehen? Wenn ihr Äußeres in etwa dem Tumult glich, der in ihr tobte, würde jeder Gast, dem sie begegnete, stehen bleiben und sich erschrocken nach ihrem Befinden erkundigen. Das Herz trommelte in ihrer Brust, und es würde ihr sicher nicht gelingen, auch nur ein Wort herauszubringen, fürchtete sie.

Auf halbem Weg den Flur entlang, betrachtete sie sich prüfend in einem Wandspiegel. Ihre grauen Augen glänzten, ihre Wangen glühten, ihre schwellenden Lippen leuchteten rosig. Sie sah hübscher aus als sonst, stellte sie fest. Würden andere bemerken, dass sie soeben etwas Verbotenes getan hatte?

Mit zitternden Fingern steckte sie ein paar fürwitzige Löckchen in den Nackenknoten und atmete mehrmals tief durch. Ihr innerer Aufruhr ließ sich indes nicht so einfach ordnen wie ihr Haar. Beunruhigende Gedanken wirbelten ihr durch den Sinn und ließen sich nicht vertreiben.

Wieso hatte Lord Leighton sie geküsst? War er lediglich ein Frauenheld, ein berechnender Verführer, der wehrlosen Frauen auflauerte? Dabei hatte er einen durchaus angenehmen Eindruck gemacht. Er sah nicht nur gut aus, er besaß auch Charme und geistreichen Humor. Andererseits waren dies nicht genau die Eigenschaften, die einen Herzensbrecher ausmachten? Welche Frau ließe sich nicht vom Charme eines gut aussehenden jungen Mannes betören?

Dennoch vermochte Constance diesen Lord Leighton nicht für einen leichtlebigen Verführer zu halten. Sie dachte an den Ausdruck des Erstaunens in seinem Gesicht, als er seine Arme von ihr gelöst hatte, geradeso, als würde er sich darüber wundern, was zwischen ihnen geschehen war. Im Übrigen hatte er sich keine weiteren Freizügigkeiten erlaubt – wobei sie vermutlich keinen Widerstand geleistet hätte in ihrer Benommenheit. Er war es gewesen, der den Kuss beendet hatte, und das könnte der Beweis sein, dass er zu höflich und feinfühlig war, um Vorteile aus einer heiklen Situation zu ziehen.

Zugegeben, er hatte ihr in einer ungestümen Aufwallung einen Kuss aufgedrängt. Aber sein Kuss hatte als sanfte Berührung begonnen, die sich leidenschaftlich vertiefte. Hatte er nur einen harmlosen kleinen Kuss beabsichtigt und war von einem plötzlichen Verlangen übermannt worden, genau wie es ihr ergangen war?

Dieser Gedanke zauberte ein feines Lächeln der Genugtuung auf Constances Lippen. Die Erkenntnis, dass nicht nur sie einer sinnlichen Versuchung erlegen war, schmeichelte ihr ein wenig.

Sie warf einen zweiten Blick in den Spiegel. Hatte der Viscount sie möglicherweise hübsch gefunden in ihrem einfachen Kleid? Sie betrachtete prüfend ihr ovales Gesicht. Eigentlich wirkte sie nicht wesentlich älter als damals mit zwanzig. Und außer Gareth war sie noch einigen Männern begegnet, die ihr in ihrer Jugend gesagt hatten, ihre grauen Augen seien schön und ihr dunkelbraunes Haar habe einen goldenen Schimmer. Hatte Lord Leighton hinter ihrem unscheinbaren Äußeren das hübsche Mädchen von einst gesehen?

Constance wünschte sich, er fände sie attraktiv und begehrenswert. Sie wollte nicht nur eine leichte Beute männlicher Begierden sein.

Aber wie sollte sie wissen, was Lord Leighton fühlte, wenn sie nicht einmal wusste, was sie selbst fühlte? Sie hatte ihn vom ersten Moment an gemocht. Er hatte sie zum Lachen gebracht, und sie hatte gerne mit ihm geplaudert. Aber da war noch etwas gewesen … Sie hatte eine gewisse Spannung gespürt, sobald er in die Bibliothek getreten war. Die Art, wie er sie anblickte, wie er lächelte, hatte eine ungewöhnliche Wärme in ihr ausgelöst, ein prickelndes Verlangen. Und als er sie küsste, waren Gefühle in ihr aufgelodert, die sie nie zuvor empfunden hatte. Gefühle der Lust, der sinnlichen Leidenschaft, die eine Frau ins Verderben führten, wenn sie den Verlockungen erliegen sollte.

Solche Sinnesstürme hatte sie nie selbst erlebt, und sie war zu der Überzeugung gelangt, dass sie sie auch nie kennenlernen würde. Mit achtundzwanzig verwahrte sie sich allein schon aus Selbstschutz gegen derlei Erfahrungen, da sie der Überzeugung war, alle Chancen auf ein romantisches Liebeserlebnis ohnehin längst verpasst zu haben. Wie sich herausstellte, war sie offenbar doch noch nicht zu alt, um verbotene Sehnsüchte zu haben, dachte sie mit einem stillen Lächeln.

Constance betrat den Ballsaal durch eine Seitentür. Die Luft in dem überfüllten Raum war stickig und parfumgeschwängert; unerträglicher Lärm schlug ihr entgegen. Sie bahnte sich mühsam einen Weg durch das Gedränge, bis sie endlich auf Onkel und Tante stieß.

Zu ihrer Überraschung stellte ihre Tante sie nicht wegen ihres langen Fortbleibens zur Rede. Im Gegenteil, sie strahlte Constance an, ergriff ihren Arm und zog sie zu sich.

„Was hat sie erzählt?“, fragte sie, vor Neugier brennend und beugte sich zu Constance, damit ihr nur kein Wort in dem Getöse entging. Zu ungeduldig, um auf die Antwort ihrer Nichte zu warten, sprudelte es aus ihr heraus: „Man denke sich nur, Lady Haughston schenkt uns ihre Aufmerksamkeit! Mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben vor Schreck, als Lady Welcombe sie mit uns bekannt machte. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass eine Berühmtheit wie sie unsere Bekanntschaft zu machen wünscht. Was hat sie gesagt? Wie ist sie denn so?“

Es kostete Constance einige Mühe, ihre Konzentration auf den Rundgang mit Lady Haughston zu lenken, den sie durch den aufwühlenden Zwischenfall in der Bibliothek beinahe vergessen hätte.

„Sie war sehr freundlich“, antwortete sie. „Ich finde sie ausgesprochen sympathisch.“

Sollte sie Lady Haughstons Angebot, sie morgen auf einen Stadtbummel zu begleiten, erwähnen? Im Rückblick glaubte Constance allerdings nicht, dass die vornehme Lady die Einladung ernst gemeint hatte. Der Gedanke erschien ihr geradezu absurd, dass eine Frau in Lady Haughstons Position den Wunsch haben könnte, sich mit ihr anzufreunden. Constance entstammte zwar einer unbescholtenen Familie aus niederen Adelskreisen, deren Stammbaum sich bis zu den Tudors zurückverfolgen ließ, aber ihr Vater führte nur den Titel eines Baronets, und ihre Familie war nicht wohlhabend. Sie hatte mit ihrem Vater ein beschauliches Leben auf dem Land geführt, und vor dieser Ballsaison war sie noch nie in London gewesen.

Constance konnte sich nicht vorstellen, was Lady Haughston veranlasst haben mochte, ausgerechnet sie als Begleiterin auszuwählen. Obwohl sie in keiner Weise angeheitert gewirkt hatte, konnte Constance sich des Verdachts nicht erwehren, der süße Punsch sei der eleganten Dame womöglich zu Kopf gestiegen. Was immer der Grund für ihre Annäherung auch gewesen sein mochte, bis morgen würde sie alles vergessen haben … oder ihre spontane Einladung bedauern. Jedenfalls rechnete Constance nicht damit, dass Lady Haughston sie morgen abholen würde. Deshalb hielt sie es für klüger, Tante Blanche nichts davon zu erzählen, um später nicht als Aufschneiderin verlacht zu werden.

„Aber was hat sie erzählt?“, fragte Tante Blanche gereizt. „Worüber habt ihr gesprochen?“

„Über nichts von Bedeutung“, antwortete Constance ausweichend. „Sie erkundigte sich, ob ich schon mal in London gewesen sei, und riet mir, diesen Aufenthalt zu genießen.“

Tante Blanche bedachte sie mit einem tadelnden Blick. „Du hast doch hoffentlich nicht das Gespräch an dich gerissen.“

„Nein. Lady Haughston sagte, es sei sehr freundlich von dir, mir den Aufenthalt in der Stadt zu ermöglichen“, erklärte Constance in der Hoffnung, Tante Blanche würde sich durch dieses Lob ausreichend geschmeichelt fühlen, um sie mit weiteren Fragen zu verschonen.

Bedauerlicherweise erreichte sie das Gegenteil damit: Das Lob schien Tante Blanches Interesse an Lady Haughston nur noch zu steigern. Im Verlauf der restlichen Ballnacht und noch während der Heimfahrt in der Mietdroschke wurde sie nicht müde, über Lady Haughston zu reden. Sie lobte ihr gutes Aussehen, ihre vornehme Herkunft und ihre Tugenden, wobei Constance sich fragte, wie Tante Blanche ihre Tugenden bewerten konnte, wenn sie noch nicht mal mehr als drei Sätze mit Lady Haughston gewechselt hatte.

„Eine wahrlich große Dame“, schwärmte Tante Blanche in den höchsten Tönen. „Manche würden vielleicht sagen, sie gibt sich ein wenig zu auffallend. Aber ich denke da anders. Für meine Begriffe hat sie einen untrüglich guten Geschmack. Das feine Abendkleid war der beste Beweis dafür. Sie ließ es gewiss bei der besten Schneiderin in London arbeiten. Wie ich hörte, bevorzugt sie das Modeatelier von Mademoiselle du Plessis. Und sie kommt aus einer der vornehmsten Familien im ganzen Königreich. Ihr Vater ist der Earl of Selbrooke, müsst ihr wissen, Kinder.“ Sie legte eine Pause ein, und ihr Gesicht nahm einen andachtsvollen Ausdruck an. „Und diese wunderbare Frau zeigt Interesse an uns … diese Ehre. Nicht auszudenken, welche Bedeutung ihre Gunst für Georgina und Margaret haben wird!“

Constance war freilich nicht aufgefallen, dass Lady Haughston ihren Cousinen auch nur die geringste Beachtung geschenkt hätte. Im Gegenteil, die Dame hatte nur Interesse an ihrer bescheidenen Person gezeigt, obschon sie keine Ahnung hatte, aus welchem Grund. Constance hielt es allerdings für ratsam, keine diesbezügliche Bemerkung zu machen.

Tante Blanche betrachtete ihre älteste Tochter Georgiana liebevoll. „Du hast heute Abend sehr vorteilhaft ausgesehen, mein Kind. Zweifellos ist Lady Haughston durch dich auf uns aufmerksam geworden. Dieses wunderschöne Kleid kleidet dich fabelhaft. Obgleich ich finde, die Schneiderin hätte sich getrost die Arbeit machen können, einen zweiten Rüschenbesatz am Ausschnitt anzunähen.“

Auch diesmal hütete Constance ihre Zunge. Ihrer Meinung nach war Georgianas Ballkleid Lady Haughston höchstens deshalb aufgefallen, weil es an schlechtem Geschmack kaum zu überbieten war. Ihre Tante und Cousinen hatten ein unseliges Faible für ein Übermaß an Volants, Rüschen, Bändern und Schleifen, mit denen sie sich bis zur Lächerlichkeit schmückten. Georgiana wirkte in den gerüschten Tüllwolken und all dem anderen schmückenden Beiwerk noch plumper, und die winzigen aufgedrehten Löckchen, die ihr pausbäckiges Gesicht umrahmten, machten alles nur schlimmer.

Aber Constance hatte vor geraumer Zeit gelernt, dass jeder Versuch, die Mädchen oder Tante Blanche davon zu überzeugen, dass eine schlichtere Aufmachung sie vorteilhafter aussehen ließe, in einem Desaster endete. Jedes Mal fielen die drei wie Furien über sie her und warfen ihr vor, sie sei nur neidisch und eifersüchtig.

Also schwieg sie und hörte sich gelangweilt an, wie Tante Blanche und ihre Töchter sich darüber ereiferten, welche Vorteile ihnen die Bekanntschaft mit Lady Haughston bringen würde und wie sie ihre Kleider für den nächsten gesellschaftlichen Anlass noch schöner schmücken könnten. Bald schweiften Constances Gedanken in die Ferne. Allerdings kreisten ihre Überlegungen nicht um das rätselhafte Interesse von Lady Haughston an ihrer Person, auch nicht darum, ob die Dame ihr Versprechen einlösen und sie am nächsten Tag abholen würde.

Auch später, nachdem Constance die schmale Hintertreppe in dem Haus, das ihr Onkel und ihre Tante für die Dauer der Saison in London angemietet hatten, zu ihrer Kammer hinaufgeeilt war und sich entkleidet, das Nachthemd übergestreift und sich ihr langes, volles Haar gebürstet hatte, verweilten ihre Gedanken unablässig bei den blauen Augen eines gewissen Viscounts. Und die Frage, ob sie besagten Herrn je wiedersehen würde, ließ sie eine gute Stunde nicht einschlafen.

Am folgenden Morgen verwendete Constance besondere Sorgfalt auf ihre Morgentoilette. Obgleich sie sich nicht allzu große Hoffnungen machte, dass Lady Haughston sie tatsächlich zu ihrem Stadtbummel mitnehmen würde, verwarf sie den Gedanken nicht völlig, um im Falle eines Falles nicht gezwungen zu sein, die elegante Dame in einem Werktagskleid zu begleiten. Also wählte sie ihr bestes Nachmittagskleid aus braunem Musselin und setzte das mit Baumwollspitze verzierte Häubchen auf, von dem Tante Blanche sagte, es entspreche Constances Alter und ihrem Stand. Allerdings zog sie ein paar Haarsträhnen über den Ohren nach vorne, drehte sie mit der Brennschere zu Löckchen, bis sie sich an ihren Wangen kringelten. Ihre Eitelkeit wollte es nicht zulassen, dass sie neben Lady Haughstons vornehmer Erscheinung aussah wie ein unscheinbares Mauerblümchen.

Als Lady Haughston um Viertel nach eins nicht erschienen war, bemühte Constance sich tapfer, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Vielleicht hatte Lady Haughston sie verwechselt oder lediglich aus Mitleid eingeladen und heute keine Lust mehr verspürt, ihr Versprechen einzuhalten.

Dennoch beschlich sie ein Anflug von Niedergeschlagenheit. Lady Haughston hatte ihr vom ersten Moment an gefallen, und Constance war ehrlich genug, sich einzugestehen, ein wenig stolz darauf zu sein, von einer gefeierten Berühmtheit der Londoner Gesellschaft angesprochen worden zu sein. In erster Linie aber hatte sie sich von diesem Ausflug etwas Abwechslung von der Eintönigkeit ihres Aufenthalts in London erhofft.

Im Grunde ihres Wesens fühlte Constance sich auf dem Lande wohler als in der Glitzerwelt der Hauptstadt. Zugegeben, die gesellschaftlichen Anlässe in London waren mondäner und luxuriöser, aber da sie kaum jemanden kannte, saß sie die meiste Zeit während dieser Festlichkeiten auf einem harten Stuhl hinter ihrer Tante und den Cousinen und langweilte sich. Einer Anstandsdame wurde schließlich nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als einem Möbelstück oder der Tapete an der Wand. Sie wurde nicht zum Tanzen aufgefordert und höchst selten in ein Gespräch mit einbezogen, das Tante und Cousinen mit anderen führten. Würden ihre Verwandten sie bei solchen Feierlichkeiten nicht immerzu ausgrenzen, hätten andere Gäste gewiss öfter das Wort an sie gerichtet. Aber die wenigen Bekannten der Woodleys wurden von ihnen eifersüchtig bewacht, in der eigennützigen Hoffnung, diese Beziehungen würden ihnen auf der Suche nach einem Ehemann für ihre Töchter nützlich sein.

Darum musste Constance sich bei gesellschaftlichen Anlässen damit begnügen, die prächtig geschmückten Räume und die schönen Kleider zu bewundern, deren Reiz sich allerdings recht schnell abnutzte. Dann wünschte sie sich nach Hause, um sich dort in ihrer Kammer in ein Buch zu vertiefen.

Auch tagsüber sehnte sie sich meist nach Abwechselung. In ihrem Elternhaus war Constance seit früher Jugend daran gewöhnt gewesen, den Haushalt ihres Vaters zu führen. Nachdem der Besitz an Sir Roger übergegangen war, hatte Tante Blanche das Regiment im Haus übernommen. Allerdings hatte sie Constance mit der Aufsicht über die Dienstboten betraut und mit anderen Aufgaben, die für einen reibungslosen Ablauf der täglichen Arbeiten sorgten. Das gemietete Haus in London war kleiner, die Anzahl der Dienerschaft beschränkt. Außerdem war die Haushälterin in der Stadt eine ausgesprochen tüchtige Wirtschafterin, sodass für Constance nicht viel zu tun blieb. Auch hatte sie in London keinerlei gemeinnützige Verpflichtungen. In ihrem Dorf war es ihr zur Gewohnheit geworden, den Familien der Pächter und anderen Bewohnern gelegentliche Besuche abzustatten, darunter auch dem Vikar und seiner Frau sowie dem mittlerweile im Ruhestand lebenden Rechtsanwalt ihres Vaters. Außerdem schaute sie regelmäßig bei Freunden und Nachbarn vorbei. Aber in London kannte sie niemanden außer ihren Verwandten, deren Gesellschaft sie, wenn sie ehrlich war, nicht sonderlich angenehm fand. Tante Blanche, Margaret und Georgiana redeten eigentlich von nichts anderem als von künftigen Ehemännern, Hochzeiten und schönen Kleidern. Onkel Roger hingegen redete so gut wie gar nicht und hielt sich ohnehin die meiste Zeit in seinem Klub auf oder zog sich zu Hause in sein Arbeitszimmer zurück, wo er, wie Constance vermutete, seine Zeit damit verbrachte, vor sich hin zu dösen.

Das Schlimmste für Constance war der Umstand, dass sie in London in ihrem Freiheitsdrang eingeschränkt und ans Haus gebunden war. In den Augen von ihrem Onkel und ihrer Tante war es höchst unschicklich, ja geradezu lebensgefährlich, ohne Begleitung durch die Stadt zu flanieren. Constance ein Hausmädchen als Begleiterin zur Verfügung zu stellen, um ihr diesen törichten, absolut undamenhaften Wunsch, wie sie es nannten, zu erfüllen, war völlig undenkbar.

Schon deshalb hatte Constance sich über die Aussicht, mit Lady Haughston einen Stadtbummel zu unternehmen, mehr gefreut, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Ihre Stimmung sank mit jeder Minute.

Um kurz vor zwei beschloss Constance, ihr Zimmer aufzusuchen, um einem hitzigen Streit zwischen Georgiana und Margaret zu entfliehen, in dem es darum ging, welche der beiden von einem gewissen Baron mehr verehrt wurde – der Mann hatte niemals auch nur das geringste Interesse weder der einen noch der anderen gegenüber gezeigt. In dem Moment, als Constance gerade die Treppe hinaufsteigen wollte, kündigte das Mädchen die Ankunft von Lady Haughston an.

„Ach, du großer Gott!“ Tante Blanche sprang wie von der Tarantel gestochen auf. „Ja, ja, natürlich. Bitte Ihre Ladyschaft nur herein. Rasch, nicht so langsam!“

Sie zupfte ihr Häubchen zurecht, strich sich glättend über die Röcke, murmelte etwas von einem eleganteren Kleid. „Kinder, steht auf, Schultern gerade! Macht einen höflichen Knicks! Constance, heb meine Handarbeit auf.“

Constance machte sich daran, den Stickrahmen vom Teppich aufzuheben, der Tante Blanche bei der Ankündigung des hohen Besuchs vor Schreck aus der Hand gefallen war, und ihn im Nähkorb zu verstauen. Deshalb stand sie in gebückter Haltung und leicht abgewandt, als Lady Haughston das Zimmer betrat. Tante Blanche eilte ihr mit ausgestreckten Armen entgegen.

„Mylady, welche Ehre! Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen ein Tässchen Tee anbieten?“

„Nein, danke.“ Lady Haughston, in einem traumhaften Nachmittagskleid aus grüner Seide, verschränkte höflich lächelnd die Hände und nickte den Mädchen flüchtig zu. „Ich kann leider nicht bleiben. Ich komme nur, um Miss Woodley abzuholen. Wo steckt sie denn?“

Sie blickte an Lady Woodley vorbei. „Ah, da sind Sie ja. Wollen wir? Ich möchte die Pferde nicht zu lange warten lassen.“ Sie musste über ihre fadenscheinige Ausrede selbst lächeln, wobei ihre blauen Augen blitzten. „Hoffentlich haben Sie unsere Verabredung nicht vergessen?“

„Nein, natürlich nicht. Ich war mir nur nicht sicher … nun, ob Sie es ernst meinten.“

„Aber wieso denn nicht?“ Lady Haughston zog erstaunt die Brauen hoch. „Weil ich mich verspäte? Ach, das darf Sie nicht stören. Ich bin berüchtigt für meine notorische Unpünktlichkeit“, entschuldigte sie sich mit einem anmutigen Achselzucken, dessen Wirkung äußerst entwaffnend war.

„Sie machen einen Einkaufsbummel? Mit Constance?“ Tante Blanche starrte Lady Haughston mit offenem Mund an.

„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden“, antwortete Lady Haughston liebenswürdig. „Miss Woodley versprach, mich beim Kauf eines Hutes zu beraten. Ich schwanke nämlich zwischen zwei Modellen und konnte mich bisher nicht entscheiden, welchen ich nehmen soll.“

„Oh.“ Tante Blanche blinzelte verdutzt. „Aber ja, natürlich.“ In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verwirrung und Ärger.„Wie reizend von Ihnen, meine Nichte einzuladen.“

Constance hatte Gewissensbisse, die Einladung von Lady Haughston verschwiegen zu haben. Da ihr keine bessere Erklärung einfiel, sagte sie schuldbewusst: „Tut mir leid, Tante Blanche. Dummerweise habe ich gar nicht mehr daran gedacht, es dir zu sagen. Hoffentlich bist du mir deswegen nicht böse.“

Tante Blanche musste zwangsläufig ihre Zustimmung geben, wenn sie sich Lady Haughstons Gunst nicht verscherzen wollte. Und damit hatte Constance im Stillen gerechnet, in der Befürchtung, Tante Blanche hätte ihr diesen Ausflug strikt verboten, wenn sie vorher gefragt hätte.

Lady Woodley war klug genug, milde zu nicken.„Selbstverständlich, meine Liebe. Du hast dir eine Belohnung verdient.“ Lächelnd wandte sie sich an den hohen Besuch. „Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne die Unterstützung unserer lieben Constance tun würden. Es war überaus reizend von ihr, uns nach London zu begleiten und mir zu helfen, die Mädchen zu beaufsichtigen.“ Tante Blanche warf ihren Töchtern einen liebevollen Blick zu. „Es ist nicht einfach, zwei so hübsche und springlebendige Mädchen im Zaum zu halten – noch dazu bei so vielen Bällen und Verehrern!“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Beabsichtigen Sie, Lady Simmingtons Ball morgen zu besuchen? Ich hoffe sehr, Sie dort anzutreffen.“

Tante Blanches Lächeln gefror auf ihren Lippen, und ihre Reaktion auf Francescas Worte erweckte den Eindruck, sie habe eine Fliege verschluckt. Schließlich fasste sie sich. „Ich … ähm … ich fürchte, ich muss unsere Einladung verlegt haben.“

„Nein, wie bedauerlich. Aber ich überlasse Ihnen gern meine Einladung“, antwortete Francesca leichthin. „Ich würde es sehr bedauern, Sie alle nicht dort zu sehen.“

„Mylady!“ Tante Blanches Gesicht war puterrot geworden. Lady Honore Simmington war eine ungeheuer wichtige Gastgeberin, und Tante Blanche hatte sich bereits die ganze Woche gegrämt, keine Einladung zu ihrem Ball erhalten zu haben. „Wie großzügig von Ihnen. Wir werden da sein, mit dem größten Vergnügen.“

Ihre Freude war so überschwänglich, dass sie die Nichte ihres Gemahls beim Abschied beglückt anstrahlte. Constance beeilte sich, ihren Hut aufzusetzen, die Handschuhe überzustreifen und Lady Haughston aus dem Haus zu folgen, bevor ihre Tante sich so weit wieder gefasst hatte, dass sie ihnen die Begleitung ihrer Töchter aufdrängte.

So erleichtert Constance über die gelungene Flucht auch war, konnte sie sich über Lady Haughstons Beweggründe nur wundern. Das großmütige Geschenk einer Einladung zu einem der exklusivsten Bälle der Saison würde Lady Haughston keinen nennenswerten Nachteil bringen, da niemand einer der angesehensten Damen der Gesellschaft den Zutritt zu einem Fest verwehren würde. Aber was bewog sie zu diesem Schritt? Sie hatte Tante Blanches offensichtliche Notlüge wohlwollend hingenommen, als die behauptete, die Einladung verlegt zu haben. Aber auch ein herzensgutes Wesen konnte ihr merkwürdiges Interesse an Constance nicht erklären.

Es erschien Constance absolut abwegig, dass Lady Haughston ihrer Person oder Tante Blanche und deren Töchtern auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken könnte. Höchst befremdlich war auch, dass Constance kaum zwei Sätze mit ihr gewechselt hatte, bevor sie von Lady Haughston wie eine Busenfreundin zu einem Rundgang durch den Ballsaal aufgefordert worden war, um dann von ihr zu einem Einkaufsbummel eingeladen zu werden. Noch befremdlicher war, dass sie die Einladung wahr machte und mit unnachahmlich diplomatischem Geschick Tante Blanche um den Finger gewickelt hatte, indem sie ihr eine Einladung zu Lady Simmingtons Ball verschaffte.

Welch seltsames Spiel trieb diese Lady Haughston?

3. KAPITEL

Constance stieg hinter Lady Haughston in den schwarz lackierten Wagen, eine etwas altmodische Barouche, die zu einer Dame, die darauf achtete, stets auf dem neuesten Stand der Mode zu sein, nicht so recht passen wollte. Ein Umstand, der jedoch als eine von Lady Haughstons charmanten exzentrischen Eigenheiten zu entschuldigen war. Tante Blanche hatte Constance erzählt, die Barouche sei ein Hochzeitsgeschenk ihres früh verstorbenen Gemahls, das sie in hohen Ehren hielt.

„Es sind zwei Hüte in der engeren Auswahl“, erklärte Lady Haughston. „Und wir haben genügend Zeit. Haben Sie Lust, durch die Oxford Street zu fahren? Was würden Sie gerne einkaufen?“

Constance lächelte verlegen. „Ich richte mich ganz nach Ihren Wünschen, Mylady. Eigentlich habe ich alles, was ich brauche.“

„Nur nicht so bescheiden“, entgegnete ihre Begleiterin munter. „Ein paar hübsche Seidenbänder, Handschuhe oder andere Kleinigkeiten werden Ihnen gewiss Freude bereiten.“ Sie musterte Constance von der Seite. „Oder vielleicht ein Spitzenkragen für dieses Kleid.“

Constance blickte an ihrem schokoladenbraunen Kleid herab. Ein Spitzenbesatz an Hals und Manschetten – champagnerfarben zum Beispiel – würde tatsächlich belebend wirken. Aber sie schüttelte leise seufzend den Kopf. „Ich fürchte, damit sähe es nicht schlicht genug aus.“

„Nicht schlicht genug?“ Francesca machte ein betroffenes Gesicht. „Sie sind doch keine Quäkerin, wie?“

Constance musste lachen. „Nein, Mylady, ich bin keine Quäkerin. Aber einer Anstandsdame steht es nicht zu, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.“

„Anstandsdame!“, entfuhr es Lady Haughston verächtlich. „Meine Liebe, wovon reden Sie da? Für eine vertrocknete Anstandsdame sind Sie entschieden zu jung und zu hübsch.“

„Meine Tante braucht meine Unterstützung bei der Aufsicht ihrer beiden Töchter, die in dieser Saison in die Gesellschaft eingeführt werden.“

„Wieso Hilfe? Um den Mädchen beim Schwatzen und Tanzen zuzuschauen? Sie sollten der Aufgabe nicht so viel Bedeutung beimessen. Und Ihre Tante kann Ihnen kaum das Tanzen verbieten. Auf Lady Simmingtons Ball müssen Sie tanzen. Sie engagiert die besten Musiker in ganz London. Ich denke, ich werde mal mit Ihrer Tante darüber sprechen.“

Constance spürte, wie ihre Wangen sich röteten.„Ich glaube kaum, dass ein Herr mich zum Tanz bittet, Mylady.“

„Unsinn. Selbstverständlich werden Sie aufgefordert. Wir müssen nur Ihre Garderobe etwas aufpolieren. Ich denke an ein dunkelblaues Seidenkleid in meinem Schrank, das ich ausrangieren sollte. Die Farbe dürfte Sie fabelhaft kleiden. Mein Mädchen kann es ändern und aufputzen, und niemand wird es erkennen. Sie müssen mich vor dem Ball besuchen und es anprobieren.“

„Aber, Mylady, Sie sind zu gütig. Ein so großzügiges Geschenk kann ich nicht annehmen.“

„Nun, dann betrachten Sie es nicht als Geschenk, sondern als Leihgabe, die Sie mir am Ende der Saison zurückgeben. Und bitte Schluss mit diesen Förmlichkeiten … Mylady … und so. Ich heiße Francesca.“

Constance blickte sie verdutzt an. „Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Wie wäre es mit ‚Danke für das Kleid, Francesca‘.“

„Ich danke Ihnen sehr dafür. Aber ich …“

„Wie bitte? Wollen Sie nicht mit mir befreundet sein?“

„Nein! … Ja!“ In ihrer Verwirrung verhedderte Constance sich. „Im Gegenteil“, verbesserte sie sich. „Ich wäre liebend gern mit Ihnen befreundet. Aber Sie sind zu großmütig.“

„Mir sind einige Personen bekannt, die Ihnen in diesem Punkt widersprechen und sagen würden, ich sei keineswegs großmütig“, entgegnete Francesca belustigt.

„Sie machen es mir schwer, Nein zu sagen“, erklärte Constance kleinlaut.

Francescas weiße Zähne blitzten bei ihrem schalkhaften Lächeln. „So sollte es auch sein. Daran habe ich viele Jahre gearbeitet. Ah … da sind wir schon. Nun hören Sie auf, sich zu zieren, und helfen mir, die richtige Entscheidung bei der Wahl des Hutes zu treffen.“

Constance schob ihre Bedenken beiseite und folgte Lady Haughston in den Hutsalon, wo sie von einer adretten Verkäuferin freundlich empfangen wurden. Kurz darauf wurde der Samtvorhang zum Hinterzimmer zurückgeschlagen, und die Inhaberin des Ladens begrüßte ihre Kundin.

Francesca probierte beide Hüte an. Einen weichen dunkelblauen Samthut mit schmaler Krempe und zartem Spitzenschleier, der ihre Augen verschattete. Danach einen breitrandigen Strohhut mit blauer Seide unterfüttert und einer blauen Schleife unter dem Kinn gebunden. Beide Kreationen brachten das Blau ihrer Augen vorteilhaft zur Geltung, und auch Constance fiel die Entscheidung schwer, welchen Hut Francesca wählen sollte.

„Setzen Sie die Hüte mal auf“, schlug Francesca vor. „Ich will wissen, wie sie an Ihnen aussehen.“

Constance zierte sich ein wenig, brannte aber insgeheim darauf, den Strohhut aufzusetzen. Und dann lächelte sie ihrem Spiegelbild zu.

„Fantastisch!“ Lady Haughston klatschte begeistert in die Hände. „Er kleidet Sie ganz vorzüglich. Den kaufen Sie, und ich kaufe den Samthut.“

Constance begutachtete sich unschlüssig im Spiegel. Das blaue Seidenband harmonierte auch mit ihren grauen Augen, und sie hatte in diesem Jahr noch keinen neuen Hut gekauft, allerdings würde der Preis gewiss ein großes Loch in ihre Ersparnisse reißen.

Seufzend nahm sie ihn ab und schüttelte den Kopf. „Nein, ich fürchte, er ist mir zu teuer.“

„Aber nein, gewiss nicht. Ich glaube sogar, das Modell ist im Preis herabgesetzt, nicht wahr, Mrs. Downing?“, fragte sie die Hutmacherin.

Mrs. Downing, sich der Vorzüge wohlbewusst, eine Kundin wie Lady Haughston zu haben, nickte lächelnd. „Ganz recht, Mylady. Er kostet … ähm … ein Drittel weniger, als auf dem Preisschild steht.“

„Ein Drittel weniger, ein wahres Schnäppchen“, rief Francesca im Brustton der Überzeugung.

Constance las das Preisschild und rechnete rasch im Kopf nach. Selbst wenn sie ein Drittel von der Kaufsumme abzog, hatte sie nie zuvor so viel Geld für einen Hut ausgegeben. Allerdings hatte sie auch noch nie einen ähnlich schönen Hut besessen.

„Gut“, erklärte sie schließlich und verabschiedete sich damit von ihrem Taschengeld für diesen Monat. „Ich nehme ihn.“

Francesca war begeistert und entschied sich für den blauen Samthut. Sie bestand auch darauf, einen Zweig kleiner Seidenblüten als Haarschmuck für Constance zu kaufen.

„Unsinn“, wischte sie Constances Protest beiseite. „Die Blüten sehen bezaubernd aus zu dem blauen Kleid, das Sie sich von mir borgen. Im Übrigen dürfen Sie ein Geschenk nicht ablehnen.“

Mit runden Hutschachteln begaben sie sich zur wartenden Barouche. Als die Kutsche anfuhr, fasste Constance Mut und wandte sich an ihre Begleiterin.

„Mylady … Francesca. Ich verstehe das alles nicht. Warum tun Sie das für mich?“

Lady Haughston sah sie mit unschuldigem Blick an. „Was denn, meine Liebe?“

„Das alles.“ Constance vollführte eine vage Geste. „Sie laden mich ein, mit Ihnen den Nachmittag zu verbringen. Sie bieten mir ein Ballkleid an. Sie laden uns zu Lady Simmingtons Ball ein.“

„Was soll die Frage? Weil Sie mir gefallen!“, antwortete Francesca harmlos. „Wieso sollte ich Hintergedanken haben?“

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Constance aufrichtig. „Aber ich kann einfach nicht glauben, dass Sie mich, meine Tante und die Cousinen in dem überfüllten Saal bei Lady Welcombe entdeckten und so entzückt von uns waren, dass Sie Lady Welcombe baten, uns vorgestellt zu werden.“

Francesca schaute Constance lange sinnend an, dann seufzte sie. „Nun gut. Sie haben recht. Es gab einen bestimmten Grund, warum ich Sie kennenlernen wollte. Ich habe Sie gern – Sie sind eine ausgesprochen sympathische junge Frau. Und Sie haben diesen gewissen belustigten Ausdruck in den Augen, der mir sagt, dass Sie die Welt von der humorvollen Seite betrachten. Ich würde mich freuen, Sie zur Freundin zu haben. Aber das war nicht der Grund, warum ich Sie kennenlernen wollte. Tatsache ist … ich habe eine Wette abgeschlossen.“

„Eine Wette?“ Constance musterte sie entgeistert. „Um meine Person? Aber weshalb? Warum?“

„Ich habe mich zu einer Behauptung hinreißen lassen. Ich sollte endlich lernen, meine Zunge im Zaum zu halten“, gestand Francesca seufzend. „Rochford war so dreist, mich herauszufordern. Und … nun ja … ich habe mit ihm gewettet, dass ich noch vor Saisonende einen Ehemann für Sie finde.“

Constance starrte sie sprachlos mit offenem Mund an.

„Es tut mir leid“, fuhr Francesca ernsthaft fort und legte beschwichtigend eine Hand auf Constances Arm. „Mir ist klar, das war falsch, das hätte ich nicht tun dürfen. Und es ist Ihr gutes Recht, wütend auf mich zusein. Aber ich bitte Sie, mir zu verzeihen. Ich wollte Sie nicht kränken.“

„Sie wollten mich nicht kränken?“, fragte Constance aufbrausend in einer Mischung aus verletztem Stolz und Zorn. „Nein, beileibe nicht. Was könnte daran kränkend sein, mich der Lächerlichkeit preiszugeben?“

„Lächerlichkeit?“ Lady Haughston sah sie bestürzt an. „Wie können Sie so etwas denken?“

„Was soll ich denn sonst denken? Sie haben mich zum Gegenstand einer öffentlichen Wette gemacht.“

„Aber nein. Von einer öffentlichen Wette kann nicht die Rede sein. Es ist nur eine Abmachung zwischen Rochford und mir. Niemand sonst weiß davon, glauben Sie mir. Nun ja, abgesehen von Lucien“, fügte sie aufrichtig hinzu. „Aber er ist mein bester Freund, und ich garantiere Ihnen, dass er mit keiner Menschenseele darüber spricht. Er kennt die am besten gehüteten Geheimnisse der guten Gesellschaft. Und ich versichere Ihnen, dass ich darüber kein Wort verlieren werde, und auch Rochford wird es für sich behalten. Ich kenne keinen verschwiegeneren Mann als ihn.“ Sie blickte Constance beschwörend an.

„Und das soll mir als Rechtfertigung genügen … und alles ist wieder gut?“ Constance war bitter enttäuscht. Sie hatte nicht ahnen können, welche Beweggründe Lady Haughston dazu veranlasst hatten, sich ausgerechnet mit ihr anzufreunden. Nun fühlte sie sich gedemütigt und schnöde betrogen, weil die elegante Dame sie nur dazu benutzen wollte, ihr Geschick als Heiratsvermittlerin zu beweisen. „Warum ich? War ich die Person mit den geringsten Heiratschancen auf dem Ball? Zu hässlich und verblüht, als dass ein Mann den Wunsch haben könnte, mir den Hof zu machen?“

„Nein, ich bitte Sie, so dürfen Sie nicht denken!“, widersprach Francesca heftig. „Grundgütiger, was habe ich nur für eine Dummheit begangen. Die Wahrheit ist, wir schlossen die Wette ab, und Rochford suchte die Frau aus. Als er Sie wählte, war ich höchst erleichtert, da ich befürchtet hatte, er würde mir eine Ihrer Cousinen aufbürden, und das wäre weiß Gott eine schwierige und äußerst lästige Aufgabe gewesen. Ich kann nicht sagen, wieso seine Wahl auf Sie fiel. Vermutlich begriff er auf den ersten Blick, wie lieblos Ihre Familie Sie behandelt und in den Hintergrund schiebt, was ihn zu der Überzeugung gelangen ließ, dass ich von Ihrer Tante und den Cousinen keinerlei Unterstützung in meinen Bemühungen erwarten kann.“

„Das ist wohl wahr“, bestätigte Constance in einem bitteren Unterton.

„Liebe Constance – ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie beim Vornamen nenne.“ Francesca nahm mit ihren behandschuhten Fingern Constances Hand und drückte sie sanft. „Mir war sofort klar, dass Rochford einen großen Fehler machte, Sie auszuwählen, um Sie in eine begehrte Schönheit zu verwandeln. Es ist nahezu unmöglich, einen Menschen mit Geist oder Schönheit auszustatten, wenn er nichts davon mit sich bringt. Fehlender Reichtum ist kein Problem, solange Anmut, guter Geschmack, Intelligenz, ein hübsches Gesicht und eine gute Figur vorhanden sind.“

„Ich lasse mich nicht von Ihnen und Ihren Schmeicheleien um den Finger wickeln“, entgegnete Constance warnend, aber letztlich fiel es ihr schwer, Lady Haughston böse zu sein, die so aufrichtig und offen redete und deren Lächeln so entwaffnend charmant war.

„Ich versuche nicht, Sie zu beschwatzen“,sagte Francesca eindringlich.

„Was wollen Sie dann?“, fragte Constance unverblümt.

„Ich schlage vor, wir machen gemeinsame Sache. Wir bemühen uns gemeinsam, einen Ehemann für Sie zu finden.“

„Sie wollen, dass ich Sie dabei unterstütze, diese Wette zu gewinnen?“Constance war fassungslos.

„Nein … nun, ich meine ja, das will ich. Aber das soll nicht der Grund sein, warum Sie mir helfen wollen.“

„Ich habe aber nicht den Wunsch, Ihnen zu helfen“, erklärte Constance resolut.

„Oh, den sollten Sie haben. Ich gewinne vielleicht nur eine Wette. Die Vorteile für Sie wären allerdings weitaus bedeutender.“

Constance schaute sie skeptisch an. „Sie erwarten doch nicht, dass ich darauf vertraue, durch diese Wette einen Ehemann zu finden.“

„Wieso denn nicht?“, meinte Francesca seelenruhig.

Constance rümpfte die Nase. „Ich habe zwar wenig Lust, meine Mängel aufzuzählen, aber schließlich kann sie jeder auf den ersten Blick sehen. Ich habe kein Vermögen, bin über das heiratsfähige Alter hinaus, und ich bin keine Schönheit. Es ist meine Pflicht, meinen Cousinen zu helfen, unter die Haube zu kommen. Ich bin eine Gouvernante, kein junges Mädchen auf dem Heiratsmarkt.“

„Kein Vermögen stellt zwar ein Hindernis dar“, pflichtete Francesca ihr bei, „aber kein unüberwindliches. Und was Ihr Aussehen betrifft … nun ja, wenn Sie diese altbackene Haube abnehmen, Ihr Haar zu einer hübschen Frisur aufstecken und Kleider tragen, die Ihre Vorzüge unterstreichen, statt sie zu verstecken, wären Sie eine sehr attraktive junge Frau und würden kaum älter wirken als Ihre pummeligen Cousinen. Sagen Sie mir bitte, wer hat Ihnen eigentlich aufgeschwatzt, sich in fades Braun und Grau zu kleiden?“

„Meine Tante meint, diese Farben sind für eine unverheiratete Frau meines Alters angemessen, wobei sie mich nicht zwingt, diese Kleider zu tragen.“

„Aber Sie fühlen sich verpflichtet, ihren Wunsch zu erfüllen, da Sie in ihrem Haus leben.“

„Ja, aber … das ist nicht der einzige Grund. Ich will mich auch nicht lächerlich machen.“

„Wieso lächerlich?“

Constance zuckte die Achseln. „Ich bin ans Landleben gewöhnt, mir fehlt jegliches großstädtisches Flair. Dies ist mein erster Besuch in London. Ich will keine Fehler machen und mich nicht vor der vornehmen Welt blamieren, wenn ich mich für eine Frau meines Alters unpassend oder auffällig kleide.“

Lady Haughston setzte eine feierliche Miene auf. „Meine liebe Constance, wenn Sie meine Empfehlungen beherzigen, garantiere ich Ihnen, dass kein Mensch auf die Idee kommt, Sie würden sich in irgendeiner Form unpassend oder auffällig kleiden oder benehmen.“

Constance konnte ein belustigtes Lachen nicht unterdrücken. „Das glaube ich Ihnen gerne, Francesca. Aber ehrlich gestanden, habe ich die Hoffung längst aufgegeben, eines Tages zu heiraten.“

„Wollen Sie den Rest Ihres Lebens unter einem Dach mit Tante und Onkel verbringen?“, fragte Francesca. „Sie sind Ihren Verwandten gewiss dankbar, dass Sie bei ihnen wohnen dürfen, aber ich kann mir nicht denken, dass Sie … sehr glücklich bei diesen Leuten sind.“

Constance warf ihr einen kläglichen Blick zu. „Merkt man mir das so deutlich an?“

„Zwischen Ihrer Welt und der Ihrer Verwandten bestehen himmelweite Unterschiede“, erklärte Francesca in ihrer freimütigen Art. „Man kann kaum erwarten, mit Leuten, mit denen man nichts gemeinsam hat, ein glückliches Leben zu führen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Ihre Tante und Ihr Onkel Sie nicht gut behandeln. Sie erzählten mir gestern, dass Sie wegen der Krankheit Ihres Vaters nicht in die Gesellschaft eingeführt wurden. Damit haben Sie sich als pflichtbewusste Tochter erwiesen. Wie alt waren Sie, als Ihr Vater starb und Ihre Verwandten Sie bei sich aufnahmen?“

„Zweiundzwanzig. Zu alt für ein Debüt.“

„Nicht zu alt für eine Ballsaison“, erwiderte Francesca sachlich. „Hätten Ihre Verwandten sich Ihnen gegenüber richtig verhalten, hätte man Ihnen eine Saison ermöglicht. Das wäre gewiss im Sinne Ihres Vaters gewesen, und Sie hatten sich dieses Vergnügen verdient. Na schön, es stimmt, Sie waren älter als die kichernden Backfische von siebzehn und achtzehn, die der Königin vorgestellt werden. Aber im Grunde genommen ist diese kostspielige Präsentation nicht unbedingt nötig, und viele junge Mädchen müssen darauf verzichten. Aber eine Ballsaison wäre für Sie angebracht gewesen. Sie sind nicht die Einzige, die mit zweiundzwanzig noch nicht verheiratet war. Ich sollte nicht über Ihre Verwandten lästern, aber ich muss sagen, dass Ihre Tante und Ihr Onkel sehr selbstsüchtig sind. Sie sparten sich die Ausgaben für eine Ballsaison und betrachten Sie wie eine Dienstbotin. Zweifellos mussten Sie auf ihre Töchter aufpassen und Arbeiten verrichten, die sonst keiner tun wollte. Und nun, da ihre Töchter debütieren, gönnt Ihre Tante Ihnen nicht einmal, dass auch Sie sich auf diesen Bällen amüsieren, sondern drängt Sie in die Rolle der Gouvernante und erwartet von Ihnen, fade Kleider zu tragen und Ihr Haar unter einer abscheulichen Haube zu verstecken.“

Sie musterte Constance prüfend, ehe sie fortfuhr: „Natürlich ist es der Wunsch Ihrer Tante, dass Sie so unscheinbar wirken wie möglich, um den reizlosen Gänschen, die ihre Töchter sind, nicht die Chancen zu verderben. Trotzdem stellen Sie Ihre Cousinen in den Schatten.“

Constance rutschte verlegen auf ihrem Sitz hin und her. Lady Haughstons Schilderung ihres Lebens bei ihren Verwandten spiegelte auf verblüffende Weise Constances Gedanken wider, die sie häufig quälten. Seit Jahren nutzte Tante Blanche das Pflichtbewusstsein und die Gutmütigkeit ihrer Nichte weidlich aus.

„Sie können doch nicht ernsthaft den Wunsch haben, Ihr Leben weiterhin so zu fristen!“, rief Francesca. „Sie scheinen mir eine ziemlich freiheitsliebende und intelligente junge Frau zu sein. Träumen Sie nicht davon, ein eigenständiges Leben in einem eigenen Haus zu führen? Mit einem Ehemann und Kindern?“

Constances Gedanken schweiften zu den Tagen ihres kurzen Glücks mit Gareth. Damals, vor vielen Jahren, hatte sie geglaubt, ein solches Leben könne ihr beschieden sein.

„Ich hatte nie den Wunsch zu heiraten, um eine gute Position im Leben zu erhalten“, erklärte Constance mit ruhiger Bestimmtheit. „Sie mögen mich für töricht halten, aber ich würde nur aus Liebe heiraten.“

Constance vermochte den Blick in Lady Haughstons Augen nicht zu deuten, der lange auf ihr ruhte. „Ich hoffe sehr, Sie finden diese Liebe“, sagte Francesca nach einer Weile ernsthaft. „Wie dem auch sei, die Ehe verschafft einer Frau ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Dadurch erlangt sie einen festen Platz im Leben, eine Position, die sie im Elternhaus niemals findet, mag es noch so glücklich und behütet sein. Eine Ehegemeinschaft ist nicht zu vergleichen mit einem Leben unter der Fuchtel von selbstsüchtigen und herrischen Verwandten.“

„Ich weiß“, bestätigte Constance leise. Sie kannte diese Umstände aus eigener Erfahrung gewiss besser als die schöne Lady Haughston. „Aber ich kann mich nicht ein Leben lang an einen Mann binden, den ich nicht liebe.“

Francesca schaute zu Boden und schwieg lange, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Aber wer behauptet denn“, sagte sie leichthin, „es sei ausgeschlossen, in dieser Saison dem Mann zu begegnen, den Sie lieben? Niemand zwingt Sie, irgendeinen Tölpel zu heiraten, der Ihnen einen Antrag macht. Aber wollen Sie die Gelegenheit nicht nutzen? Finden Sie es nicht endlich an der Zeit, etwas von den Freuden zu erleben, die Ihnen bisher versagt blieben?“

Mit diesen Worten traf Francesca den richtigen Ton. Constance hatte ihren Vater in den Jahren seines Siechtums aufopfernd und klaglos gepflegt. Aber sie konnte nicht leugnen, dass es damals Zeiten gab, in denen sie sich wehmütig ausgemalt hatte, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie wenigstens an einer Ballsaison in London teilnehmen dürfen. Insgeheim sehnte sie sich immer noch danach, wenigstens für kurze Zeit ein unbeschwertes Leben genießen zu dürfen.

Francesca, die Constances Unschlüssigkeit sehr wohl bemerkte, ließ nicht locker. „Würde eine Ballsaison Sie nicht erfreuen? Schöne Kleider, dann und wann ein Flirt? Mit den begehrtesten Junggesellen zu tanzen?“

Constances Gedanken flogen zu Lord Leighton. Wie wäre es, mit ihm zu flirten? Mit ihm zu tanzen? Sie wünschte sich ein Wiedersehen mit ihm in einem schönen Kleid, einer hübschen Lockenfrisur.

„Aber wie könnte ich an der Saison teilhaben?“, fragte sie mutlos. „Ich bin als Anstandsdame hier. Und meine Kleider …“

„Überlassen Sie die Planung getrost mir. Ich sorge dafür, dass Sie die Einladungen zu den richtigen Bällen erhalten. Und ich bin an Ihrer Seite und werde Sie durch die gefährlichen Untiefen in der Welt der Vornehmen und Reichen lotsen. Ich mache aus Ihnen die begehrteste Frau in ganz London.“

Constance lachte verlegen. „Ich denke nicht, dass ich mich für eine solch wundersame Verwandlung eigne, sosehr Sie sich auch bemühen mögen.“

Francesca bedachte sie mit einem hochmütigen Blick. „Stellen Sie etwa meine Fähigkeiten infrage?“

Constance glaubte zwar nicht daran, dass Francesca ein Wunder vollbringen würde. Allerdings zweifelte sie auch nicht daran, dass Lady Haughston ihr eine vergnüglichere Ballsaison bieten könnte, als dies in ihrer bescheidenen Position der Anstandsdame möglich wäre, die sie zum Dasein eines Mauerblümchens verdammte. Bei Tante Blanche würde diese Vorstellung allerdings wenig Anklang finden, ein Gedanke, der Constance eine gewisse Genugtuung verschaffte.

„Ich nehme mir Ihre Tante vor“, sagte Francesca, als ahne sie Constances Gedankengänge. „Sie wird vermutlich keine Einwände erheben, da sie und ihre Töchter selbstverständlich die gleichen Einladungen wie Sie erhalten. Schon deshalb wird sie mir die Bitte nicht abschlagen. Und was Ihre Garderobe betrifft, so besitze ich ein kolossales Improvisationstalent. Wir inspizieren Ihren Schrank und prüfen, mit welchen Accessoires wir Ihre Kleider attraktiver gestalten können. Das Kleid beispielsweise, das Sie gestern trugen – ein etwas tieferer Ausschnitt mit Spitze besetzt würde genügen. Mein Mädchen Maisie ist eine wahre Künstlerin im Umgang mit Nadel und Faden. Sie könnte den Saum vorne etwas anheben und ein Unterkleid nähen. Wir müssen nur ein paar Stoffbahnen kaufen. Morgen schicke ich Ihnen meine Barouche, und Sie bringen mir Ihre besten Stücke, die sehen wir uns an und überlegen, was daraus zu machen ist.“

Constance fühlte sich von einer schwindelerregenden Welle der Begeisterung erfasst. Aber es galt auch, an ihre Ersparnisse zu denken. Sie hatte jedes Jahr so viel wie möglich von der kleinen Erbschaft ihres Vaters zurückgelegt, in der Hoffnung, eines Tages ein eigenständiges Leben führen zu können und nicht länger auf die Gnade ihrer Verwandten angewiesen zu sein.

Sie könnte etwas von den Ersparnissen opfern, dachte sie, um sich das eine oder andere hübsche Kleid zu kaufen. Etwas, das einen Herrn – jemanden wie Lord Leighton beispielsweise – dazu veranlasste, ihr quer durch einen Ballsaal entgegenzueilen. Was bedeutete es schon, wenn sie ein paar Monate oder Jahre länger mit ihrem Geld knausern müsste? Auch wenn eine solche Ausgabe nach sich zöge, ein Jahr oder länger bei ihrer Tante und ihrem Onkel leben zu müssen, hätte sie wenigstens einen wundervollen Sommer als Erinnerung, eine glückliche Zeit, die sie für immer im Gedächtnis bewahren könnte. Eine Ballsaison voller schöner Erlebnisse, von denen sie lange zehren könnte.

Constance sah Francesca ernst an. „Würden Sie all das für mich tun, nur um eine Wette zu gewinnen?“

Francescas Mundwinkel hoben sich zu ihrem katzengleichen Lächeln, ihre Augen funkelten belustigt. „Es handelt sich um mehr als nur eine einfache Wette. Es geht mir in erster Linie um den Herrn, dem ich eine Niederlage von Herzen gönne. Außerdem wird es ein Heidenspaß. Ich habe bereits einigen jungen Mädchen in ihrer ersten Saison beigestanden. Alle trugen am Ende einen Verlobungsring. Aber bei Ihnen …“

„Ist die Herausforderung größer?“, fragte Constance und wappnete sich mit einem Lächeln gegen den zu erwartenden Stich.

„In gewisser Weise ja, denn in den besagten Fällen konnte ich Geld für Garderobe und Accessoires mit vollen Händen ausgeben. Andererseits musste ich mir sehr viele Gedanken machen, auf welche Weise ich die Mängel meiner Schutzbefohlenen kaschiere, welche Farbtöne einem fahlen Teint schmeicheln, wie ich ein kurzbeiniges, molliges Mädchen anziehe, um es größer und schlanker erscheinen zu lassen. Bei Ihnen ist das alles gar nicht notwendig. Wir müssen lediglich Ihre Vorzüge unterstreichen, die bereits vorhanden sind.“ Sie neigte sich ihr zu. „Sind Sie dazu bereit?“

Constance zögerte einen Moment, dann atmete sie tief. „Ja. Ja, ich will auch eine Saison haben.“

Francesca lächelte erleichtert. „Fabelhaft. Dann wollen wir beginnen.“

Den Rest des Tages verbrachte Constance in einem für ihre Begriffe wahren Kaufrausch. Zu ihrer Überraschung erwies Lady Haughston sich als ausgesprochen geschickt darin, Preisnachlässe zu erzielen. Ein Lächeln und ein paar passende Worte genügten, um ein Kleid, das Constance gefiel, günstiger zu bekommen. Mademoiselle du Plessis führte ein Ballkleid vor, das bestellt, aber nicht bezahlt und abgeholt worden war, das sie Constance zu einem Bruchteil des ursprünglichen Preises anbot.

Als Constance in einer leisen Nebenbemerkung ihr Erstaunen über Mademoiselle du Plessis’ Bereitschaft, das Modell so günstig zu verkaufen, ausdrückte, hatte Francesca eine plausible Erklärung parat. „Mademoiselle ist sich des Reklamewertes wohlbewusst, wenn ihre Kreationen an einer perfekten Figur zur Geltung kommen. Frauen, die von der Natur weniger begünstigt sind, glauben, dass sie in einem von Mademoiselles Modellen ebenso schlank und hochgewachsen aussehen wie Sie. Im Übrigen will Sie mich als Stammkundin nicht verlieren. Hier … dieser Schal. Ist er nicht bezaubernd? Aber schauen Sie nur, hier ist ein kleiner Webfehler. Ich könnte mir denken, Mademoiselle macht uns einen Sonderpreis.“

Trotz aller Rabatte und Preisnachlässe rissen die Einkäufe ein beträchtliches Loch in Constances Ersparnisse, und sie entschloss sich, das schmückende Beiwerk in einem weniger exklusiven Geschäft zu erstehen. Der nächste Besuch galt Grafton House, wo sie Spitzen, Bänder, Knöpfe und andere Accessoires kauften, um Constances alten Kleidern ein modisches Flair zu verleihen. Dazu kamen einige Meter Batist und Musselin, woraus Francescas talentierte Zofe ein paar reizvolle Tageskleider zaubern würde. Des Weiteren waren Handschuhe und Tanzschuhe nötig. Sie besuchten auch ein Geschäft, in dem es eine riesige Auswahl hübscher Fächer gab, die Constance bewunderte. Doch nach langer Überlegung entschied sie sich dagegen, einen neuen, kostbaren Fächer zu kaufen, und fand, der alte mit dem ziselierten Elfenbeingriff müsse ihr genügen. Er war ein Erbstück ihrer Mutter. Zu guter Letzt wurden noch Zierkämme und Seidenblumen für ihr Haar gekauft und eine Traube täuschend echt wirkender Kirschen aus Holz, um einen schlichten Hut damit zu schmücken.

Am späten Nachmittag waren schließlich alle Einkäufe erledigt. Constance fühlte sich erschöpft und benommen von der Fülle neuer Eindrücke und konnte es kaum erwarten, zu Hause all die soeben erstandenen Kostbarkeiten auszupacken und anzuprobieren.

„Ich komme mir vor wie eine sündige Verschwenderin“, erklärte sie Francesca lächelnd auf dem Weg zur Kutsche. „Ich habe noch nie in solchem Luxus geschwelgt.“

„Dieses Vergnügen sollten Sie sich öfter gönnen“, riet Francesca schmunzelnd. „Meiner Meinung nach wirkt Luxus wie Balsam auf die Seele.“

Der Kutscher nahm Constance die zahlreichen Schachteln, in denen sich ihre Schätze verbargen, ab und verstaute sie neben sich auf dem Kutschbock, da in der Gepäckablage hinter der Barouche kein Platz mehr war und sich die Schachteln auch auf der Sitzbank im Innenraum stapelten. Francesca ließ sich vom Kutscher über das aufgeklappte Treppchen in den Wagen helfen, als hinter ihr eine Männerstimme ertönte.

„Francesca!“

Lady Haughston drehte sich nach der Stimme um. Ihre Miene erhellte sich. „Dominic!“

„Meine liebe Francesca. Hast du wieder einmal Oxford Street geplündert?“

Constance wandte sich dem Herrn zu, der sich ihnen näherte, den Hut zog und Francescas Hand ergriff. Dabei schenkte er Lady Haughston ein liebevolles Lächeln.

Constance blickte ihn verdutzt an. Er liebt sie, dachte sie und verspürte einen Stich im Herzen.

„Offenbar ist das die einzige Möglichkeit, dich mal zu Gesicht zu bekommen“, entgegnete Francesca lachend. „Da du dich nie bei mir meldest oder vorbeischaust, du ungehobelter, treuloser Mensch.“

Er lachte leise. „Ich bin unverbesserlich, ich weiß. Aber ich verabscheue Höflichkeitsbesuche.“

„Ich möchte dir eine Freundin vorstellen“, sagte Francesca und deutete auf Constance.

Der Herr folgte ihrem Blick, und seine Augen weiteten sich. „Miss Woodley!“

„Lord Leighton.“

4. KAPITEL

„Ihr kennt euch?“, fragte Francesca verwundert.

„Ja, wir sind uns gestern auf dem Ball begegnet“, erklärte Constance und hoffte, weniger beklommen zu klingen, als ihr zumute war. Wie lächerlich, schalt sie sich, dass ihre Stimmung auf einen Tiefpunkt sank, nur weil sie erfuhr, dass der Viscount und Lady Haughston einander nahestanden. Hatte sie sich etwa erhofft, er könnte Gefallen an ihr finden? Im Übrigen schien er so etwas wie ein Frauenheld zu sein, der es darauf abgesehen hatte, fremden, unerfahrenen Mädchen heimliche Küsse zu rauben.

„Miss Woodley ist zu bescheiden“, widersprach Lord Leighton, und seine blauen Augen blitzten belustigt. „Sie hat mir nämlich bei Lady Welcombes Abendgesellschaft das Leben gerettet.“

„Sie übertreiben“, murmelte Constance verlegen.

„Aber nein, das stimmt“, beharrte er und wandte sich an Francesca. „Lady Taffington war mir wieder einmal auf den Fersen, und Miss Woodley war so gütig, sie auf eine falsche Fährte zu locken.“

Francesca lachte. „Sie werden mir immer sympathischer, Constance. Ich fürchte, mein Bruder bringt sich ständig in missliche Situationen. Er ist einfach zu gutartig und schafft es nicht, sich wirklich zur Wehr zu setzen. Du solltest bei Rochford in die Lehre gehen, Dominic. Er ist ein wahrer Meister darin, falsche Hoffnungen im Keim zu ersticken.“

Constance hörte Lord Leightons Antwort auf Lady Haughstons scherzhafte Bemerkung kaum. Der Viscount war Francescas Bruder! Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie. Dabei sollte es ihr völlig gleichgültig sein, ob die Vertrautheit zwischen Lord Leighton und Francesca auf familiären Banden beruhte oder ein Hinweis auf eine romantische Beziehung war.

„Komm, wir nehmen dich ein Stück mit“, lud Francesca ihn ein. „Wir haben unsere Einkäufe erledigt, und du musst nicht befürchten, dass wir dich durch Modegeschäfte schleppen.“

„In diesem Fall nehme ich dein Angebot gern an“, antwortete Lord Leighton und half seiner Schwester in die Barouche.

Dann reichte er auch Constance seine hilfreiche Hand. Obgleich die Handschuhe, die sie beide trugen, keinen Hautkontakt gestatteten, verursachte die Berührung ihr Herzklopfen. In Gedanken an den Kuss in der Bibliothek blickte sie ihm forschend ins Gesicht, und etwas in seinen Augen sagte ihr, dass auch er daran dachte.

Hitze stieg ihr in die Wangen, sie senkte rasch die Lider und nahm neben Francesca Platz. Der Viscount schob lachend den Stapel Einkäufe beiseite und ließ sich auf die gegenüberliegende Bank fallen.

„Wie ich sehe, hatten die Damen einen vergnüglichen Nachmittag“, stellte er fest. „Ich hoffe, diese Kartons und Tüten gehören nicht nur dir, Francesca.“

„Wo denkst du hin? Auch Miss Woodley hat sich ein paar hübsche Kleinigkeiten gegönnt. Wir beabsichtigen nämlich, die Gäste bei Lady Simmingtons Ball morgen mit unserem Glanz zu blenden.“

„Das wird euch gewiss gelingen“, entgegnete Lord Leighton galant.

Constance war sich peinlich ihres unscheinbaren Äußeren neben Francescas eleganter Schönheit bewusst und wünschte, den neuen Hut aufgesetzt zu haben. Der hätte vielleicht von ihrem langweiligen Kleid ein wenig ablenken können, dachte sie.

„Kommst du zu Lady Simmingtons Ball?“, fragte Francesca ihren Bruder. „Du könntest uns begleiten. Constance besucht mich morgen Nachmittag, um Vorbereitungen zu treffen, und du spielst unseren Begleiter.“

„Mit dem größten Vergnügen“, sagte Lord Leighton lächelnd. „Es ist mir eine Ehre, zwei bildschöne Damen zu eskortieren.“

„Und wir beschützen dich vor heiratswütigen Müttern“, scherzte Francesca.

Leighton gab eine ebenso scherzhafte Antwort, und es entspann sich ein Wortgeplänkel zwischen den Geschwistern, während sie langsam durch die belebten Straßen Londons fuhren. Constance beteiligte sich kaum an der Unterhaltung und war damit zufrieden, den Geschwistern zuzuhören, da sie die meisten Leute, über die gesprochen wurde, ohnehin nicht kannte. Sie hatte befürchtet, den Viscount beeindruckender in Erinnerung zu haben, als er tatsächlich war. Sie hatte befürchtet, sich seine Augen dunkelblauer, sein Haar voller ausgemalt und seinem Lächeln mehr Charme zugedacht zu haben. Als sie ihn jetzt verstohlen beobachtete, stellte sie fest, dass er in Wirklichkeit noch besser aussah als in ihrer Fantasie.

Dieser Mann hatte keinen schmeichelhaften Kerzenschein nötig, um sein Aussehen vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Die Wangen seines markant geschnittenen Gesichts waren glatt rasiert, sein blondes Haar glänzte im Sonnenlicht. Hochgewachsen und breitschultrig schien er die Barouche mit seiner Präsenz auszufüllen. Constance achtete sorgsam darauf, seine Knie nicht versehentlich mit den ihren zu berühren.

Kein Wunder, dass er von heiratswütigen Töchtern und Müttern verfolgt wurde. Er war sehr attraktiv, nahm einen hohen Rang in der Gesellschaft ein und war zweifellos wohlhabend. Wenn sie sich recht entsann, hatte ihre Tante erwähnt, dass Lady Haughstons Vater ein Earl war. Dieser Titel würde nach dem Tod des Vaters auf den ältesten Sohn übergehen. Constance nahm an, dass Lord Leighton dieser Erbe war, sodass ihm eines Tages der ranghöhere Titel eines Earls zustehen würde. Allein die Aussicht darauf machte ihn zum begehrenswerten Heiratskandidaten. Dazu kamen gutes Aussehen und Charme – Attribute, die ihn zu einer wertvollen Jagdbeute machten, hinter der die Damenwelt her war wie eine Hundemeute hinter einem Hasen.

Diese Überlegungen geboten Constances Träumereien Einhalt. Selbst wenn Francesca in ihrer zuversichtlichen Vorhersage recht behalten sollte und es würde ihr gelingen, für Constance in dieser Saison eine Verlobung zu arrangieren, hatte ihre Gönnerin dabei gewiss nicht an ein so hochgestecktes Ziel gedacht. Und Lord Leightons Kuss, mochte er noch so wundersame Empfindungen in Constance ausgelöst haben, besagte nichts, worauf sie irgendwelche Hoffnungen gründen könnte. Diese Episode hatte ihm nichts bedeutet. Bestenfalls war es ein Zeichen dafür gewesen, dass er sie im Moment reizvoll gefunden hatte. Schlimmstenfalls war es der Beweis dafür gewesen, dass er ein Schürzenjäger war, der jedes beliebige Mädchen küsste, wenn sich Gelegenheit dazu bot. Es hieß keineswegs, dass er auch nur einen Funken Interesse an ihr hatte, vermutlich eher das Gegenteil. Ein Gentleman machte einer Dame keine anzüglichen Avancen, wenn er sich mit ernsten Absichten trug. Lediglich bei Frauen, mit denen er nur schäkern wollte, nahm er sich derlei Freiheiten heraus.

Constance lag freilich nicht viel daran, mit dem Feuer zu spielen und daran zu verbrennen. Allerdings gegen einen kleinen harmlosen Flirt … hätte sie nichts einzuwenden. Sie richtete den Blick auf die Straße, um das heimliche Lächeln zu verbergen, das über ihre Lippen huschte. Dem morgigen Ball sah sie mit freudiger Erwartung entgegen. Am meisten freute sie sich darauf, Lord Leighton in einem schönen Kleid und hübsch frisiert gegenüberzutreten.

Die Kutsche fuhr an einem imposanten Backsteinhaus vor. „Aha, da wären wir“, sagte Leighton, öffnete den Wagenschlag und stieg aus. „Danke für die angenehme Fahrt.“ Er machte eine formvollendete Verneigung. „Ich freue mich, die Damen morgen wiederzusehen.“ Er wandte sich an Constance. „Und ich hoffe, Miss Woodley, Sie haben die Güte, mich für den ersten Walzer vorzumerken.“

Constance erwiderte sein Lächeln. „Versprochen.“

„Dann verabschiede ich mich, adieu.“ Er schloss den Wagenschlag, machte einen Schritt zurück, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

„Ihr Bruder ist sehr nett“, sagte Constance zu Francesca.

„Ja.“ Francesca lächelte stolz. „Dominic ist ein liebenswürdiger Mensch. Und in ihm steckt mehr, als man vermuten möchte. Er kämpfte lange im Krieg.“

„Tatsächlich?“, fragte Constance erstaunt. „Er war beim Militär?“ Eine ungewöhnliche Laufbahn für einen ältesten Sohn und Erben von Titel und Familienvermögen.

Francesca nickte. „Er wurde sogar verwundet, hat aber gottlob keine bleibende Behinderung davongetragen. Und als Terence völlig unerwartet starb, rückte Dominic in der Erbfolge vor und sah sich gezwungen, seine Militärkarriere an den Nagel zu hängen. Ich glaube, er sehnt sich gelegentlich nach der Armee zurück.“

Constance nickte. Nun erhellte sich ihr der Zusammenhang. Üblicherweise schlug ein jüngerer Sohn die Offizierslaufbahn ein oder ging in den diplomatischen Dienst, manch einer wurde auch Priester. Aber wenn der älteste Sohn starb und der jüngere seine Nachfolge antrat, veränderte sich dessen Leben grundlegend. Da er eines Tages Titel und Vermögen der Familie mit allen Rechten und Pflichten erbte, war er gezwungen, seine Karriere abzubrechen, um sein Leben nicht in einem Krieg aufs Spiel zu setzen. In Adelskreisen hatte der Erhalt der Erbfolge absoluten Vorrang.

„Ich verstehe, da er nun der Erbe ist, machen alle heiratsfähigen Damen gnadenlos Jagd auf ihn.“

Francesca lachte. „Ja, der bedauernswerte Junge. Es macht ihm keinen Spaß, das kann ich Ihnen versichern. Viele Männer genießen diese Art der Popularität, aber nicht Dominic. Natürlich wird er eines Tages heiraten, aber ich befürchte, er wird diesen Schritt so lange wie möglich hinauszögern. Allerdings flirtet er gerne.“

Constance fragte sich, ob Francesca ihr damit einen zarten Wink geben wollte, eine versteckte Warnung, ihr Herz nicht an ihren Bruder zu verlieren. Sie warf ihrer Begleiterin einen forschenden Blick zu, konnte aber in Francescas schönem Gesicht nichts entdecken, was darauf hinwies. Im Übrigen brauchte Constance keine Warnung, ihr war vollkommen klar, dass ein Mann in Lord Leightons Position niemals eine Frau ihres Standes heiraten würde.

Andererseits, spann Constance ihre Gedanken weiter, solange sie sich nicht in ihn verliebte, wäre doch nichts dabei, ein wenig mit ihm zu flirten. Sie würde mit ihm tanzen, mit ihm lachen, ein wenig Spaß mit ihm haben. Und das war schließlich mehr, als sie sich gestern noch von dieser Saison hatte erwarten können.

Vor dem Haus angekommen, das ihr Onkel gemietet hatte, ließ Lady Haughston es sich nicht nehmen, Constance hineinzubegleiten. Tante Blanche quollen die Augen aus den Höhlen, als Lady Haughstons Kutscher die Berge von Schachteln und Tüten ins Haus schleppte. Auch Constance war beladen mit Kartons, und Lady Haughston trug die restlichen Tüten.

„Mylady! Du liebe Güte! Annie, rasch, nimm Ihrer Ladyschaft die Tüten ab. Was …“Tante Blanche versagte die Stimme, sie schaute verstört zwischen ihrer Nichte und Lady Haughston hin und her.

„Keine Sorge, Lady Woodley, wir haben nicht alle Modegeschäfte der Stadt geplündert“, versicherte Francesca fröhlich. „Wobei ich mir denken könnte, dass einige Boutiquen in der Oxford Street eiligst für Nachschub in ihrem Warenbestand sorgen werden.“

„Constance?“ Tante Blanches Ton schwankte zwischen Entrüstung und Fassungslosigkeit. „Du hast all diese Dinge gekauft?“

„Ja“, antwortete Constance erstaunlich gelassen. „Lady Haughston fand, meine Garderobe lässt sehr zu wünschen übrig.“

„Aber ich bitte Sie!“, protestierte Francesca lachend. „So etwas würde ich nie sagen. Ihre Tante muss mich ja für eine unmanierliche Person halten. Ich habe lediglich vorgeschlagen, dass Sie sich etwas vorteilhafter zurechtmachen.“

Francesca wandte sich an Lady Woodley. „Sie stimmen mir gewiss zu, dass die meisten jungen Mädchen heutzutage gar nicht ahnen, wie viele Kleider sie in einer Saison brauchen. Habe ich nicht recht?“

Wie erwartet, nickte Tante Blanche verdutzt, da sie es niemals gewagt hätte, einer der prominentesten Damen der Londoner Oberschicht zu widersprechen. „Ja, sicher. Aber ich … nun ja … Constance, das kommt ein wenig unerwartet.“

„Ich weiß, Tante Blanche. Aber in meinem Schrank ist sicher genügend Platz. Und Lady Haughston hat sich freundlicherweise erboten, meine Garderobe durchzusehen, um zu entscheiden, was daraus zu machen ist.“

Der Gedanke, eine der elegantesten und vornehmsten Damen im ganzen Land beabsichtige, in die Kammer ihrer Nichte hinaufzusteigen, um ihren schmalen Kleiderschrank zu durchwühlen, in dem nur abgetragene Dienstbotenkleider hingen, brachte Lady Woodley in tiefste Verlegenheit.

„Aber, Mylady, Sie wollen doch nicht … ich meine … Constance hätte Sie doch um Himmels willen nicht darum bitten dürfen“, stammelte sie schließlich.

„Aber nein, sie hat mich nicht darum gebeten“, entgegnete Francesca. „Ich bestand darauf. Sie müssen wissen, ich berate für mein Leben gerne junge Mädchen in modischen Belangen und helfe ihnen, ihre Garderobe vorteilhaft aufzuputzen. Das macht mir einen Heidenspaß. Geht es Ihnen ähnlich?“

Constance konnte sich ein amüsiertes Lächeln kaum verkneifen, räusperte sich und bat dann Francesca, ihr zu ihrem bescheidenen Zimmer zu folgen.

Francesca eilte hinter Constance die Treppe hinauf mit Lady Woodley im Schlepptau, die abwechselnd Tee und andere Erfrischungen anbot und zwischendurch Constance Vorhaltungen machte, sich Lady Haughston in ungebührlicher Weise aufzudrängen.

In der Tür zu Constances Kammer zögerte Tante Blanche, da der winzige Raum ohnehin kaum groß genug war, um darin das schmale Bett, den Schrank und einen Holzstuhl unterzubringen. Mit den Stapeln von Schachteln und Tüten wirkte er noch beengter und bot kaum Platz für drei. Aber Lady Woodley weigerte sich, Constance mit Lady Haughston allein zu lassen.

Sie blieb eisern in der Tür stehen und plapperte in ihrer Verlegenheit Belanglosigkeiten daher, während Francesca und Constance die Kleider aus dem Schrank nahmen und sie auf dem Bett ausbreiteten.

„Nicht viele Kleider, meine Liebe“, flötete Tante Blanche. „Und ich sagte dir noch, du sollst mehr Garderobe für die Stadt einpacken. Aber ein Mädchen hat natürlich keine Ahnung, wie viele Kleider man braucht.“ Sie wandte sich mit einem vertrauensvollen Blick an Francesca, mit dem sie auszudrücken beabsichtigte, dass sie selbstverständlich mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten ebenso vertraut war wie Lady Haughston. „Andererseits will Constance auch nur als Anstandsdame der Mädchen aushelfen.“

„Wie kann sie nur?“, erwiderte Lady Haughston verständnislos. „Constance ist viel zu jung, um eine Anstandsdame zu sein … diesen Unsinn haben Sie ihr doch bestimmt ausgeredet.“

„O ja, natürlich habe ich es versucht!“, versicherte Tante Blanche. „Aber was will man machen? Constance hat ein eher zurückhaltendes Wesen, und das Alter für ein Debüt hat sie ja auch längst überschritten.“

Francesca stieß einen verächtlichen Laut aus. „Gütiger Himmel, nein. Bis es so weit ist, hat Constance noch viele Jahre Zeit. Man muss sie doch nur ansehen, um zu erkennen, wie lächerlich es wäre, eine Altersgrenze für das Debüt einer jungen Dame zu ziehen. Manche Frauen sind in Constances Alter schöner als diese jungen nichtssagenden Dinger, die noch vor wenigen Wochen die Schulbank gedrückt haben. Das ist Ihnen doch sicher selbst aufgefallen, nicht wahr?“

„Nun ja …“ Tante Blanche war um eine Antwort verlegen, wagte aber nicht, Lady Haughston zu widersprechen, die offenbar unterstellte, Tante Blanche teile ihre Meinung.

Lady Woodley musste also dabei zuschauen, wie Francesca und Constance passende Bänder und Spitzenbesätze für einige Kleider aussuchten, andere wiederum als unbrauchbar aussortierten. Wie sie sich darüber unterhielten, einen Ausschnitt zu vertiefen, wo ein Gazeüberwurf oder eine Halbschleppe anzunähen sei, wo lange Ärmel abzutrennen und durch geschlitzte Puffärmel, unterlegt mit farblich kontrastierender Seide, zu ersetzen wären.

Constance war es peinlich, ihre bescheidene Garderobe Lady Haughston zu zeigen. Aber dankenswerterweise enthielt sie sich jeder abfälligen Kritik und fällte ein sachliches Urteil. Ihr Sinn für die richtigen Farben und ihr geschulter Blick für modische Details erstaunten Constance nicht sonderlich; man musste sie ja nur ansehen, um zu wissen, dass sie einen unfehlbar guten Geschmack hatte. Constance wunderte sich nur darüber, dass Lady Haughston Kenntnisse über allerlei praktische Kniffe besaß und äußerst raffiniert darin war, ein Kleid zu ändern und zu verschönern. Es war auch seltsam, dass sie die Geschäfte kannte, wo man Seidenbänder, Spitzen und andere Accessoires zu möglichst günstigen Preisen kaufen konnte. Und Constance fragte sich, ob Lady Haughston weniger wohlhabend war, als allgemein angenommen wurde. Falls ja, so verstand Francesca es ausgezeichnet, diesen Umstand geschickt zu kaschieren, denn ihrer eleganten Erscheinung war davon gar nichts anzumerken.

Es dauerte nicht lange, bis Georgiana und ihre Schwester, von Neugier getrieben, sich zu ihrer Mutter gesellten und von der Türschwelle her andachtsvoll zusahen, wie Lady Haughston sich voller Eifer mit Constances abgetragenen Kleidern beschäftigte.

Nachdem Francesca sich schließlich verabschiedet hatte, nicht ohne Constance noch einmal aufzufordern, sie morgen vor dem Ball unbedingt zu besuchen, wandten die Mädchen sich mit vor Empörung kreischenden Stimmen an ihre Mutter.

„Wieso darf sie Lady Haughston besuchen?“ Georgiana strafte Constance mit einem giftigen Blick. „Und wir nicht?“

„Lady Haughston hat mich um diesen Besuch gebeten“, erklärte Constance ruhig und verzichtete auf den Hinweis, dass Georgiana und Margaret nicht von Lady Haughston eingeladen worden waren.

„Das weiß ich selbst“, entgegnete Georgiana bissig. „Aber wieso? Was will sie von dir? Wieso hat sie dich heute abgeholt?“

Constance antwortete nicht. Sie hatte nicht die Absicht, ihren Verwandten etwas von Francescas Plänen zu erzählen.

„Und womit hast du all diese Sachen bezahlt?“, fragte Margaret entrüstet und beäugte neidisch die neuen Kleider und das modische Beiwerk auf dem Bett.

„Ich habe etwas von meinen Ersparnissen abgezwackt.“

„Interessant. Wenn du so viel Geld hast, könntest du auch daran denken, uns ein wenig auszuhelfen“, sagte Tante Blanche und schürzte beleidigt die Lippen. „Seit sechs Jahren versorgen wir dich und schenken dir ein Dach über dem Kopf.“

„Tante Blanche! Du weißt genau, dass ich euch jeden Monat Geld für meinen Unterhalt gebe!“, verteidigte Constance sich aufrichtig empört. „Und für meine persönlichen Anschaffungen habe ich stets selbst bezahlt.“

Ihre Tante zuckte die Achseln, als habe Constances Einwand nichts mit dem zu tun, was sie gesagt hatte. „Ich begreife nicht, wieso Lady Haughston ausgerechnet dich bevorzugt. Das ist mir völlig unerklärlich. Wieso lädt sie Georgiana nicht zu einem Ausflug ein?“

„Und was ist mit mir?“, fragte Margaret gekränkt.

„Ich bin die Älteste“, stellte Georgiana hochnäsig fest.

Im Nu hatte sich ein Streit zwischen den Mädchen entwickelt, während Constance begann, ihre Einkäufe zu ordnen und im Schrank zu verstauen. Endlich verschwanden die streitlustigen Hühner, um das Gezänk unten im Wohnzimmer fortzusetzen.

Damit war das Thema allerdings noch nicht vom Tisch. Georgiana und Margaret fingen beim Abendessen wieder davon an, bis ihr sonst durch nichts zu erschütternder Vater sie barsch anfuhr, endlich den Mund zu halten, worauf sie in schmollendes Schweigen verfielen. Sobald der Herr Papa sich allerdings zu seinem Glas Port in die Bibliothek zurückgezogen hatte, begann das Lamento von vorne. Tante Blanche stimmte den Mädchen selbstverständlich zu und klagte, es sei völlig unverständlich und ungerecht, dass Constance in den Genuss von Lady Haughstons Gunst kommen sollte statt ihrer wohlgeratenen Töchter. Nachdem Constance sich das neiderfüllte Palaver zur Genüge angehört hatte, verabschiedete sie sich frühzeitig, indem sie Kopfschmerzen vorschützte, und ging auf ihr Zimmer. Auch am nächsten Tag hielt sie sich, soweit es ihr möglich war, von der Verwandtschaft fern und beschäftigte sich damit, in ihrer Kammer kleinere Veränderungen, die Francesca vorgeschlagen hatte, an ihren Kleidern anzubringen. Die großen Näharbeiten wollte sie den geübten Händen der Zofe von Lady Haughston überlassen.

Sie dachte sogar darüber nach, dem Mittagessen fernzubleiben. Da Sir Roger sich tagsüber für gewöhnlich in seinem Klub befand, würde niemand dem zu erwartenden Jammern der Mädchen Einhalt gebieten, in das Tante Blanche wieder einstimmen würde. Constances größte Sorge bestand allerdings darin, dass Tante Blanche ihr verbieten könnte, Francescas Einladung wahrzunehmen, auch wenn sie sich dadurch selbst schaden würde.

Wenn sie nämlich nicht zum Mittagessen erschiene, überlegte Constance, könnte ihre Tante sich dies zunutze machen und behaupten, sie, Constance, sei krank und müsse deshalb den Besuch bei Lady Haughston und den Ball am Abend absagen. Widerstrebend begab sie sich also nach unten mit dem festen Vorsatz, ihr Temperament und ihre Zunge im Zaum zu halten; schließlich hatte sie in dieser Tugend ja reichlich Übung.

Wie befürchtet, fingen Georgiana und Margaret erneut an, sich über die ungerechte Behandlung zu beklagen, noch ehe die Suppe aufgetragen wurde. Constance bemühte sich redlich, sich nicht provozieren zu lassen, doch schließlich richtete Tante Blanche das Wort an sie. „Constance“, begann sie, ohne von ihrem Teller aufzuschauen, „da diese Angelegenheit solche Differenzen und Unstimmigkeiten ausgelöst hat, bin ich der Meinung, du solltest den Besuch bei Lady Haughston absagen.“

Constance versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen, und überlegte fieberhaft, womit sie ihre Tante vom Gegenteil überzeugen könnte. „Ich möchte aber Lady Haughston nicht gerne brüskieren, Tante. Sie hat großen Einfluss in der Gesellschaft, und ihre Aufforderung, sie heute Nachmittag zu besuchen, erschien mir ausgesprochen bestimmt gewesen zu sein.“

„Schön und gut, aber sie wird gewiss Verständnis zeigen, wenn du deinen Besuch in einem kurzen Billet absagst mit der Entschuldigung, dass du dich unpässlich fühlst.“ Lady Woodleys Gesicht hellte sich auf. „Die Mädchen und ich könnten ihr deine Entschuldigung persönlich überbringen.“ Sie nickte, sehr zufrieden mit sich. „Ja, das scheint mir die beste Lösung zu sein.“

Constance unterdrückte mühsam ihren aufflammenden Zorn. „Aber ich fühle mich keineswegs unpässlich und möchte sie gerne besuchen“, antwortete sie ruhig. „Und ich bin mir nicht sicher, ob ihr unangemeldete Gäste willkommen sind.“

Tante Blanche hob verblüfft die Brauen. „Sie hat uns besucht, deshalb ist unser Gegenbesuch völlig normal, ja sogar angebracht.“

„Sie wird erzürnt sein, wenn ich nicht komme“, erklärte Constance mit Nachdruck. „Möglicherweise zieht sie sogar ihre Einladung für dich und die Mädchen zu Lady Simmingtons Ball zurück.“

„Aber sie kann doch nicht erwarten, dass du sie besuchst, wenn du krank bist.“ Tante Blanche musterte ihre Nicht mit kaltem Blick.

„Ich bin nicht krank.“ Constance erwiderte den Blick ungerührt.

„Das weiß Lady Haughston aber nicht“, entgegnete die Tante halsstarrig.

„Doch, sie wird es wissen“, sagte Constance.

Die Augen ihrer Tante weiteten sich vor Betroffenheit. Es dauerte einen Moment, bis sie sprechen konnte. „Willst du … Willst du dich mir widersetzen?“

„Ich werde Lady Haughston heute besuchen“, wiederholte Constance mit fester Stimme. „Natürlich will ich dir nicht widersprechen. Deshalb hoffe ich, du verbietest es mir nicht.“

Wenn überhaupt möglich, wurde Tante Blanches Gesichtsausdruck noch bestürzter. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, machte ihn aber schnell wieder zu, was ihr eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Karpfen verlieh.

Constance nutzte diese momentane Sprachlosigkeit, beugte sich vor und erklärte ernsthaft: „Sieh mal, Lady Haughston ist eine sehr einflussreiche Frau. Ihr Vater ist ein Earl, sie ist mit dem Duke of Rochford befreundet. Sie kann sehr viel für dich und die Mädchen tun, wie du weißt. Ich würde dir nicht raten, sie gegen dich aufzubringen, das könnte katastrophale Konsequenzen für dich und die Mädchen haben. Auch wenn du böse mit mir bist, bitte ich dich um deinetwillen, es dir nicht mit Francesca zu verderben.“

Ihre Tante hatte sich während Constances Rede sichtlich aufgeplustert und war im Begriff, eine lange Schimpftirade gegen ihre Nichte loszulassen. Aber gerade, als sie loslegen wollte, flackerte etwas Seltsames in ihren Augen auf, eine Mischung aus Unverständnis, Neid und Fassungslosigkeit.

„Francesca?“, stieß sie schließlich hervor. „Sie gestattet dir, sie beim Vornamen zu nennen?“

Constance nickte. Sie hatte absichtlich den Vornamen von Lady Haughston benutzt, um ihrer Tante endgültig die freundschaftliche Beziehung, die sie mit der eleganten Dame verband, zu verdeutlichen, und war froh, dass die es in ihrer Rage überhaupt bemerkt hatte.

„Bitte, Tante“,fuhr Constance versöhnlich fort.„Mir ist klar, dass dir das nicht gefällt. Aber denke doch an den Ball heute Abend. Und denk auch daran, dass du deiner Freundin Mrs. Merton berichten kannst, wie freundlich Lady Haughston gestern bei ihrem kurzen Besuch zu dir war. Solche Dinge könntest du in Zukunft nicht berichten, wenn du es dir mit ihr verscherzt.“

„Du undankbare Kreatur“, zischte Tante Blanche zornentbrannt. „Nach allem, was ich für dich getan habe!“

„Ich bin mir wohlbewusst, was du für mich getan hast, und habe Lady Haughston davon erzählt. Ich habe nicht den Wunsch, dich zu erzürnen.“ Constance zwang sich, ruhig und beherrscht zu bleiben. Sie hatte sich oft genug Tante Blanches Forderungen unterworfen aus Pflichtgefühl und dem Wunsch, in Frieden mit ihr zu leben. Aber diesmal war sie fest entschlossen, nicht klein beizugeben, selbst wenn es bedeutete, völlig mit ihrer Tante zu brechen. „Ich gehe davon aus, dass Lady Haughstons Freundschaft nach dieser Ballsaison beendet sein wird, und dann kehrt in unser Leben wieder der Alltag ein. Aber vergiss nicht, wie viele Vorteile dir und deinen Töchtern in den nächsten Monaten zugutekämen, wenn wir uns alle vernünftig benehmen.“

Tante Blanches Nasenflügel bebten, ihre Lippen waren ein dünner Strich, und einen Moment lang fürchtete Constance, ihre Tante würde die Kontrolle verlieren. Doch dann schluckte sie schwer, löste die zu Fäusten geballten Hände und holte tief Luft. Sie ergriff Messer und Gabel und begann, das Fleisch auf ihrem Teller zu schneiden. „Natürlich werde ich dich nicht davon abhalten, Lady Haughston zu besuchen, trotz deines unverschämten Betragens mir gegenüber. Mich schaudert bei dem Gedanken an deinen armen lieben Vater, wenn er wüsste, wie anmaßend du mit mir redest.“

Constance konnte sich gut daran erinnern, dass ihr „armer lieber Vater“ seine Schwägerin auf den Tod nicht hatte ausstehen können und ihm jede noch so weit hergeholte Ausrede recht gewesen war, um ihr bei ihren Besuchen aus dem Weg zu gehen. Daher war sie der Meinung, er hätte seine Tochter für ihre Beharrlichkeit eher gelobt als getadelt. Selbstverständlich verzichtete sie auf eine diesbezügliche Bemerkung, aß ihren Teller leer und bat höflich, sich zurückziehen zu dürfen, ohne auf die feindseligen Blicke der Tischrunde zu achten.

Sie floh in ihr Zimmer, packte die zu ändernden Kleider und das Zubehör in die Kartons ihrer gestrigen Einkäufe, setzte sich aufs Bett und wartete. Es dauerte nicht lange, bis das Stubenmädchen Jenny klopfte und ankündigte, vor dem Haus warte eine elegante Kutsche auf Constance.

Sie musste sich dazu überwinden, sich von Tante und Cousinen zu verabschieden, und begegnete drei stummen, mürrischen Gesichtern, die ihr feindselige Blicke zuwarfen. Es würde wohl geraume Zeit dauern, bis der Frieden zwischen ihnen wieder hergestellt wäre. Dennoch bereute Constance ihren Schritt nicht, so frostig die Atmosphäre im Haus in den nächsten Wochen auch werden mochte.

Haughston House, ein elegantes, weißes Herrenhaus im klassizistischen Stil, lag mitten in Mayfair, dem vornehmsten Stadtteil Londons. Constance entstieg der Kutsche und spähte beeindruckt durch das imposante, verschnörkelte Eisentor, in dem das Wappen der Haughstons prangte, und fühlte sich eingeschüchtert. In Gegenwart von Francesca vergaß man schnell, dass sie aus einem uralten Adelsgeschlecht stammte, ihre Vorfahren zu den engsten Vertrauten von Königen und Prinzen gezählt hatten und sie die Witwe eines Aristokraten war mit ebenso berühmter Ahnentafel.

Der Gedanke an Francescas Gemahl schoss ihr durch den Kopf. Sie erwähnte ihn nie, nicht einmal als sie sich über Liebe und Ehe unterhalten hatten. Constance wusste nur, dass er vor einigen Jahren verstorben war und Francesca nicht wieder geheiratet hatte. Romantische Gerüchte besagten, dass sie Lord Haughston zu sehr geliebt hatte, um ein zweites Mal zu heiraten, wobei Constance eher das Gegenteil befürchtete. Vielleicht hatte Francescas Gemahl ihr den Geschmack an der Ehe gründlich verdorben.

Jede Beklommenheit, die das prachtvolle Haus in Constance auslöste, wich von ihr, als Lady Haughston die breite, geschwungene Treppe mit ausgestreckten Armen herabeilte und sie in der Eingangshalle begrüßte. „Constance! Kommen Sie nach oben. Maisie hat wieder einmal wahre Wunder vollbracht. Ich kann es kaum erwarten, Ihnen alles zu zeigen.“

Mit einem Wink wies sie einen Diener an, Constance die Schachteln und Tüten abzunehmen, und führte sie die Treppe hinauf.

„Sie haben ein schönes Haus“, sagte Constance und schaute sich um.

„Ja. Die vormalige Lady Haughston – die Mutter meines Gatten, wohlbemerkt – hatte einen erlesenen Geschmack. Die Einrichtung und die Umbauten des Hauses sind ihr zu verdanken. Wäre es nach dem Geschmack des alten Lord Haughston gegangen, wäre das ganze Haus vollgestopft mit Jagdtrophäen, riesigen Ölschinken mit Jagdszenen und schweren, dunklen Eichenmöbeln aus längst vergangenen Tagen.“ Sie schauderte übertrieben angewidert. „Eigentlich ist das Haus viel zu groß, deshalb wird der Ostflügel nicht mehr bewohnt.“ Sie deutete mit einer vagen Geste zur anderen Seite der Treppe.

Sie brachte Constance in ihr Schlafgemach, einen großen, hellen Raum mit Blick auf den Garten. Durch die Fenster zweier Außenmauern flutete Sonnenlicht und laue Sommerluft. Die eleganten zierlichen Möbel ließen die weibliche Hand erkennen, wobei Francesca den Fehler vermieden hatte, ihr Reich mit zu vielem Zierrat und Nippes zu überladen, wie die meisten vornehmen Damen es taten.

Ein adrett gekleidetes Hausmädchen begrüßte Francesca und Constance mit einem höflichen Knicks.

„Fabelhaft, Maisie“, lobte Francesca und trat ans Bett, auf dem ein blaues Abendkleid ausgebreitet lag. „Das ist das Kleid, Constance, von dem ich Ihnen erzählt habe. Maisie hat es bereits umgearbeitet. Sie hat die Rüschen und die langen Ärmel abgetrennt, es mit einem Überwurf aus hellblauem Voile ergänzt und dazu kurze Puffärmel aus dem gleichen Material genäht. Voilà! Nun ist es wie gemacht für eine junge Frau – genau passend für Sie, wie ich finde.“

„Wenn Sie bitte mal hineinschlüpfen, Miss“, bat Maisie, „damit ich den Saum abstecken kann.“

„Es ist wunderschön“, rief Constance begeistert beim Anblick des duftigen Wolkengebildes.

Mit Maisies Hilfe probierte sie das neue Kleid an, drehte sich um und betrachtete sich im Spiegel, während Maisie die winzigen Knöpfe im Rücken schloss. Constance hielt unwillkürlich den Atem an. Sie sah jünger und hübscher aus, als sie erwartet hatte.

„Es ist perfekt. O Lady … Francesca, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

Francesca klatschte begeistert in die Hände. „Das müssen Sie auch nicht. Ihr entzückendes Aussehen ist mir Dank genug. Ich war mir sicher, dass dieses Kleid ideal für Sie ist. Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Maisie eine wahre Künstlerin mit Nadel und Faden ist?“

„Sie haben nicht zu viel versprochen.“ Constance konnte nicht widerstehen, sich im Spiegel zu bewundern, während Maisie vor ihr kniete, den Saum hochsteckte und ein breites Spitzenband daran befestigte.

Die blaue Farbe betonte ihre grauen Augen und ihren hellen Teint auf sehr schmeichelhafte Weise, ihr Busenansatz hob sich schwellend über den tiefen Ausschnitt, dessen aufreizende Wirkung durch einen züchtigen Spitzenbesatz und mädchenhaft kurze Puffärmel gemildert wurde.

„Eine winzige Kleinigkeit am Hals fehlt noch“, sagte Francesca mit schräg geneigtem Kopf. „Vielleicht eine Locke oder ein Schal. Moment, ich habe etwas Passendes.“ Als Constance protestieren wollte, schüttelte sie nur den Kopf. „Keine Widerrede. Ich borge Ihnen den Schal, dagegen ist nichts einzuwenden, habe ich recht?“

Als Maisie mit dem Saum fertig war, legten Francesca und Constance die Kleider zurecht, die Constance mitgebracht hatte, und besprachen mit dem Mädchen die Änderungen unter Verwendung der neuen Stoffe, die zu Unterröcken und durchsichtigen Überwürfen verarbeitet werden sollten. Nachdem Maisie sich zurückgezogen hatte, um sich an die Arbeit zu machen, schnitten die beiden Frauen das schmale blaue Seidenband zurecht, das sie gestern erstanden hatten. Sie banden daraus kleine Schleifen, die Maisie in regelmäßigen Abständen an die breite Spitzenrüsche des blauen Kleides nähen wollte.

Danach nahmen sie sich Zeit für eine Tasse Tee und Gebäck an einem schattigen Plätzchen im hübschen kleinen Garten, bevor sie mit den Vorbereitungen zum Ball begannen. Während Maisie den Damen beim Ankleiden half und ihnen kunstvolle Frisuren zauberte, plauderten sie angeregt miteinander. Constance konnte sich nicht entsinnen, wann sie zum letzten Mal so unbeschwert heiter gewesen war, ihr war beinahe, als habe sie eine Schwester. Sie hätte gerne ein besseres Verhältnis zu ihren Cousinen gehabt, die sie aber lediglich wie ein besseres Dienstmädchen behandelten.

Schließlich waren alle Vorbereitungen getroffen. Francesca strahlte wie eine stolze Mutter, während Constance vor den Spiegel trat.

„Du meine Güte!“, rief sie aufrichtig erstaunt.

Maisie hatte ihr Haar zu einem Lockenkranz gedreht, an ihrem ovalen Gesicht kringelten sich winzige Löckchen, die das Licht reflektierten und ihrem Haar einen rötlichen Schimmer verliehen. Der kleine Zweig blauer Rosenblüten, den Francesca ihr gestern geschenkt hatte, war seitlich an dem Lockengebilde festgesteckt.

Das blaue Kleid passte wie angegossen. Das Mieder betonte Constances Busen, von der hoch angesetzten Taille floss der Rock in einem weichen Faltenwurf herab, umspielte ihre Mitte und ließ ihre Figur bei jedem Schritt erahnen. Ihre Wangen waren vor Aufregung rosig, ihre grauen Augen glänzten. Constance hatte nie schöner ausgesehen.

„Ich glaube, ich höre Dominics Stimme“, sagte Francesca plötzlich, zog Constance vom Spiegel weg, um gemeinsam mit ihr die Treppe hinunterzuschreiten.

Lord Leighton stand in der Halle, drehte sich beim Geräusch der Schritte um und blickte die Treppe hinauf. Bei Constances Anblick bekam er große Augen.

Unwillkürlich trat er ein paar Schritte näher. Der verdutzte Ausdruck in seinem Gesicht war alles, was Constance sich erhofft hatte.

„Miss Woodley“, begrüßte er sie, nachdem er sich gefasst hatte, und machte eine elegante Verneigung. „Sie rauben mir den Atem.“

Francesca lachte und sagte: „Nehmen Sie sich vor diesem Schwerenöter in Acht, Constance. Er ist ein unverbesserlicher Charmeur.“

„Ich kann mir wohl vorstellen, dass er ein schrecklicher Schmeichler ist“, antwortete Constance im gleichen Plauderton.

„Sie tun mir unrecht“, entgegnete Lord Leighton, beugte sich über die Hand seiner Schwester und begrüßte Constance in gleicher Weise. Ein irritierendes Prickeln durchrieselte sie bei der Berührung seiner Lippen durch den Stoff ihres Handschuhs hindurch.

Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und wagte einen flüchtigen Blick in sein Gesicht. In seinen dunkelblauen Augen las sie etwas, das ihr Herz zum Stolpern brachte.

„Vergessen Sie nicht, dass Sie mir den ersten Tanz versprochen haben, Miss Woodley“, sagte er leise.

„Wie könnte ich das vergessen, Mylord“, lächelte Constance und machte sich auf den Weg zur Tür.

Dieser Abend, schoss es ihr durch den Sinn, ist der Beginn meines neuen Lebens, und sie hatte keine Ahnung, ob der Gedanke einem Gebet oder einer Warnung gleichkam.

5. KAPITEL

Constance war sich seines Händedrucks deutlich bewusst, als Leighton ihr in den Wagen half und auch, dass er sie im Halbdunkel beobachtete, während die Kutsche anfuhr und sich in den Verkehr einfädelte.

„Kommst du nächste Woche nach Redfields, Dominic?“, fragte Francesca.

Er schnitt eine Grimasse, die andeutete, dass ihn diese Idee nicht sonderlich begeisterte. Zumindest machte es auf Constance diesen Eindruck.

„Nicht, wenn es irgendwie zu vermeiden ist“, antwortete er.

„Du solltest aber. Du hast schließlich mittlerweile Pflichten, jetzt, da du der Erbe bist.“

„Man wird mich kaum vermissen“, entgegnete er achselzuckend.

„Aber natürlich wird man dich vermissen. Alle fragen ständig nach dir.“

Leighton zog skeptisch eine Braue hoch. „Der Earl und die Countess?“

Meinte er damit seine Eltern?, fragte Constance sich und fand es seltsam, dass er in dieser förmlichen Art von ihnen sprach. Aber vielleicht erbte er ja auch den Landsitz eines Onkels. Constance verwarf den Gedanken, da Francesca erwähnt hatte, dass er nach dem Tod seines Bruders zum Erben vorgerückt war. Offenbar herrschte keine große Zuneigung zwischen Dominic und seinen Eltern, zumal Francesca seine Frage mit einem Schweigen quittierte.

Leighton bedachte seine Schwester mit einem schiefen Lächeln. „Ehrlich gestanden, begreife ich nicht ganz, warum du hingehst.“

„Ich neige meist dazu, das zu tun, was von mir erwartet wird.“

„Und du wünschst, dass ich diese Neigung mit dir teile, wie?“, fragte er und seufzte theatralisch.

„Nein. Ich wünschte nur, du würdest mich ein wenig aufheitern“, antwortete sie schmunzelnd. „Du weißt doch, Mutter und Vater laden immer die grässlichsten und langweiligsten Sommergäste ein, die man sich denken kann. Ich wünsche mir lediglich ein wenig Zeitvertreib.“

Und dann wandte sie sich an Constance. „Sie müssen mich begleiten“, sagte sie aufgeregt.

Constance sah sie verblüfft an. „Zu einem Besuch bei Ihren Eltern?“

„Es ist nur ein Familientreffen“, versicherte Francesca. „Sie geben jedes Jahr ein großes Fest in unserem Haus auf dem Land. Redfields ist ein riesiger alter Kasten.“

„Unsere Eltern und eine tödlich langweilige Gästeliste machen diesen Vorschlag nicht unbedingt reizvoll, Francesca“, meinte ihr Bruder.

„Aber es wird nicht langweilig“, versicherte Francesca ernsthaft. „Hören Sie nicht auf Dominic. Ich sorge dafür, dass auch eine Reihe interessanter Gäste eingeladen wird.“

Francescas Augen strahlten, man konnte beinahe sehen, wie ihr die Gedanken durch den Kopf schwirrten. Constance hegte den Verdacht, dass Francesca mit „einer Reihe interessanter Gäste“ heiratsfähige Männer meinte.

Constances Verdacht wurde bestätigt, als Francesca hinzufügte: „Eine fabelhafte Gelegenheit für Sie, Leute kennenzulernen.“

„Aber Ihre Eltern sind mir doch noch nie begegnet“, protestierte Constance, wobei die Aussicht auf ein Sommerfest auf dem Lande ziemlich verlockend klang.

„Das spielt keine Rolle. Und einige Gäste kennen Sie bereits. Ich bin da und mein Freund Sir Lucien Talbot, den ich Ihnen heute Abend vorstelle. Und Dominic wird auch da sein.“

„Tatsächlich?“, fragte er belustigt.

„Ja, natürlich. Du hast dich lange genug rargemacht. Es ist höchste Zeit, dass du dich mal wieder blicken lässt. Und außerdem ist alles wesentlich leichter, wenn das Haus voller Gäste ist.“

„Damit hast du natürlich recht.“

Constance fragte sich, was zwischen Lord Leighton und seinen Eltern vorgefallen sein mochte. Was war geschehen, das den Earl und seinen zukünftigen Erben entzweit hatte?

Die Barouche hielt am Ende einer Reihe von Karossen, denen festlich gekleidete Herrschaften entstiegen. Lord Leighton half zuerst seiner Schwester, dann Constance beim Aussteigen. Augenblicklich löste eine Dame sich aus einer Gruppe ankommender Gäste, eilte auf Francesca zu, hakte sich bei ihr unter und redete im Gehen lebhaft auf sie ein.

Lord Leighton bot Constance den Arm, und die beiden folgten den anderen zum Portal. Constance hoffte, der Viscount würde ihre leicht zitternden Finger in seiner Armbeuge nicht bemerken. Seine Nähe beunruhigte sie, und in ihrem Kopf entstand eine merkwürdige Leere.

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge, und Constance überlegte fieberhaft, was sie sagen könnte. „Werden Sie das Sommerfest in Redfields besuchen?“, fragte sie, da ihr partout nichts anderes einfiel.

„Vielleicht.“ Sie spürte, wie er mit den Achseln zuckte. Er blickte sie lächelnd von der Seite an, in seinen blauen Augen blitzte ein amüsiertes Funkeln. „Wenn Sie kommen, gewinnt der Gedanke erheblich an Reiz.“

Constance bemühte sich um einen unbekümmerten Tonfall. „Ich fürchte, Mylord, Sie sind ein unverbesserlicher Schmeichler.“

Er lachte leise. „Sie verkennen mich, Miss Woodley.“

Er widersprach ihr nicht wirklich, stellte sie mit leiser Wehmut fest, und schalt sich gleichzeitig, eine Närrin zu sein. Seit er sie geküsst hatte, wusste sie genau, zu welcher Sorte Mann Lord Leighton gehörte. Selbst seine Schwester hatte sie vor ihm gewarnt, wenn auch nur im Scherz.

Allerdings war es eigentlich das, was sie sich wünschte – ein wenig Vergnügen und einen kleinen Flirt in dieser einzigen Ballsaison, die ihr vergönnt war. Sie wollte tanzen, lachen und fröhlich sein. Was immer auch Francescas Pläne waren, Constance hatte nicht die Absicht, ernsthaft Ausschau nach einem Ehemann zu halten. Sie wollte nur schöne Stunden erleben, um später in der Erinnerung davon zehren zu können.

Das Paar holte Francesca am Portal des Herrenhauses ein, die sichtlich erleichtert zu sein schien, ihre redselige Begleiterin loszuwerden, und man reihte sich in die Schlange der Gäste ein, die sich die breite Treppe hinaufzog. Francesca und ihr Bruder wurden von den umstehenden Gästen freundlich begrüßt, und Constance war sich der vielen Blicke bewusst, mit denen sie neugierig gemustert wurde.

Francesca, die ihr ununterbrochen andere Gäste vorstellte, deren Namen Constance befürchtete, sofort wieder zu vergessen, neigte sich ihr zu und flüsterte: „Sie erregen ziemliches Aufsehen, meine Liebe.“

„Wirklich?“ Constance schaute sie erstaunt an.

„Aber ja.“ Francesca nickte ihr mit einem zufriedenen Lächeln zu. „Alle fragen sich, wer die schöne junge Frau in unserer Begleitung sein mag.“

Constance lächelte verlegen. „Sie scherzen.“

„Es ist die Wahrheit!“, versicherte Francesca. „Warum glauben Sie wohl, fühlen so viele Leute sich genötigt, mich bereits auf der Treppe zu begrüßen? Sie hoffen alle, mit Ihnen bekannt gemacht zu werden.“

Francesca übertrieb natürlich, vermutete Constance, und trotzdem fühlte sie sich insgeheim ein wenig geschmeichelt.

„Ah, sehen Sie nur, da ist auch schon Lucien.“ Francesca winkte einem Herrn zu, der soeben das Haus betreten hatte.

Er nickte ihr lächelnd zu und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Gäste, gelegentlich verweilend, um ein paar Worte mit Bekannten zu wechseln. In Constances Augen war Sir Lucien der Inbegriff des weltgewandten Gentleman, vom modischen Cäsarenschnitt seines dichten brünetten Haars bis zum glänzenden Schuhwerk aus feinstem schwarzem Leder. Sein blütenweißes Plastron war kunstvoll gebunden, sein Gehrock aus edlem Tuch makellos geschnitten. Und Constance war sicher, dass jedes Detail seiner Garderobe, auch der große Onyxring an seiner rechten Hand und die schwarzen Seidenstrümpfe zu der grauen Hose, von ihm mit großer Sorgfalt gewählt waren, um den richtigen Effekt zu erzielen.

Francesca machte Constance mit ihm bekannt, und er begrüßte sie mit einer formvollendeten Verneigung. Neben Sir Lucien wirkte Lord Leighton beinahe ein wenig nachlässig gekleidet. Sein Haar war zu lang, um modisch zu sein, seine eleganten schmalen Finger schmückte kein Ring, sein Halstuch war schlicht gebunden, und sein Anzug, wenngleich von erlesener Qualität und Passform, wirkte eine Spur zu lässig im Vergleich zu Sir Luciens Erscheinung. Allerdings gefiel Constance Leightons natürliche Männlichkeit und saloppe Art besser. Er wirkte nicht wie ein Mann, der übermäßig viel Zeit vor dem Spiegel verbrachte, was ihn in ihren Augen nur noch anziehender machte.

„Nun, Lady Simmington scheint ihrem Ruf wieder einmal alle Ehre zu machen“, bemerkte Sir Lucien mit einem Blick in die Runde.

Das Haus war prächtig dekoriert. Girlanden aus Efeu und Seidenbändern schlangen sich um die Säulen des Treppengeländers, dazwischen prangten duftende Blumengestecke. Der Treppenabsatz im ersten Stock war von bunten Blumensträußen in hohen Bodenvasen flankiert. Das ganze Haus war von unzähligen Kerzen erhellt, die in mehrarmigen Wandhaltern, in Kristalllüstern und mannshohen Kandelabern flackerten. Im Kerzenschein funkelten die Juwelen der Colliers und Armbänder der Damen, und die eleganten Abendroben wirkten im goldenen Schein noch kostbarer. Aus dem Ballsaal drang gedämpftes Stimmengewirr untermalt von beschwingten Klängen des Orchesters.

„Die Creme der Gesellschaft ist heute hier versammelt“, fuhr Sir Lucien fort. „Natürlich wagt es niemand, nicht zu erscheinen, da andere auf die Idee kommen könnten, man sei nicht eingeladen.“

Oben an der Treppe begrüßte Lady Simmington ihre Gäste hoheitsvoll mit feierlicher Miene. Francesca stellte Constance der Gastgeberin vor, wobei Constance allerdings den Eindruck hatte, die Dame nehme gar keine Notiz von ihr, da sie nur majestätisch nickte und eine vage Geste in Richtung Ballsaal vollführte.

„Ist sie immer so …?“, fragte Constance, als sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, und suchte nach dem richtigen Wort, um Lady Simmington zu beschreiben.

„Arrogant?“, half Lord Leighton ihr auf die Sprünge.

Francesca und Sir Lucien lachten leise.

„O nein“, antwortete Sir Lucien. „Manchmal ist sie noch hochmütiger. Lady Simmington ist nämlich die jüngste Tochter des alten Montbrook.“

„Des Duke of Montbrook“, ergänzte Francesca.

„Der komische alte Kauz, der seine Tage bei Whites schlafend im Sessel verbringt?“, fragte Lord Leighton.

„Davon weiß ich zwar nichts, aber er ist steinalt und stocktaub und trägt, wie ich höre, immer noch weiße Perücken und Schuhe mit goldenen Schnallen“, erzählte Francesca.

„Ja. Er kleidet sich, als würde er täglich bei Hofe empfangen werden“, pflichtete Lord Leighton seiner Schwester bei. „Der Alte ist jeden Morgen mindestens zwei Stunden damit beschäftigt, sich anzukleiden.“

„Mein lieber Freund“, warf Sir Lucien ein, „auch ich benötige jeden Morgen zwei Stunden, um mich anzukleiden – und das mithilfe meines Kammerdieners.“

„Wie dem auch sei, Lady Simmington erwartete selbstverständlich, gleichfalls einen Duke zu ehelichen, und musste bitter enttäuscht feststellen, dass kein passender Kandidat in der Saison ihrer Einführung in die Gesellschaft verfügbar war. Wohl oder übel musste sie sich mit einem Earl zufriedengeben, und ich kann Ihnen versichern, dass sie diese Vermählung als weit unter ihrer Würde betrachtete. Gottlob ist Simmington unermesslich reich, was ihr ermöglicht, Geld mit vollen Händen zu verschleudern wie eine Duchess – wenn nicht gar eine Duchess königlichen Geblüts. In Anbetracht dieser Umstände – ihrer Ahnentafel und Simmingtons Geld – ist sie der Ansicht, eigentlich befände sich die gesamte vornehme Gesellschaft Londons unter ihrem Rang. Eigentlich gesteht sie nur dem Prince of Wales einen höheren Rang zu.“

„Tatsächlich?“, warf Lord Leighton ein. „Ich glaube mich deutlich zu entsinnen, dass sie die Königliche Familie einmal als ‚germanische Emporkömmlinge‘ bezeichnete.“

Constance, die der Unterhaltung nur mit halbem Ohr lauschte, blickte sich staunend im Ballsaal um, der wesentlich größer war als der, in dem Lady Welcombe ihre Abendgesellschaft gegeben hatte. Wie die Eingangshalle und der breite Treppenaufgang war auch der Saal über und über mit Blumen, Girlanden und Kerzen geschmückt. Eine Längswand wurde von hohen Fenstern mit schweren Samtdraperien eingenommen, an der gegenüberliegenden Wand lud eine lange Reihe Polstersessel zum Verweilen ein. An einer Stirnseite hatte ein Orchester auf einem Podium Platz genommen. An der hohen stuckverzierten Decke hingen drei riesige Kristalllüster, deren unzählige Kerzen den Saal in festlichen Lichterglanz tauchten. In der Mitte formierten sich gerade Tanzpaare zur Eröffnungsquadrille. Die meisten Gäste standen in kleinen Gruppen an den Seiten zusammen und beobachteten die Tänzer.

Drüben an der Fensterseite entdeckte Constance Onkel und Tante mit ihren Töchtern, die den festlichen Glanz und Prunk ehrfürchtig bewunderten. Neben diesem Fest schnitten die Abendgesellschaften und Bälle auf dem Land höchst bescheiden ab, und auch die Einladungen, die sie in London bislang wahrgenommen hatten, konnten sich damit nicht messen.

Nachdem die Quadrille geendet hatte und das Orchester die ersten Takte eines Walzers anstimmte, sah Lord Leighton Constance an. „Wenn ich nicht irre, haben Sie mir den nächsten Tanz versprochen.“

Constance nickte scheu, legte ihre Hand in seine Armbeuge und ließ sich zur Tanzfläche führen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und in ihrem Magen flatterten Schmetterlinge. Sie hatte schon Walzer getanzt, allerdings nur selten. Und außerdem hatte sie nur mit Herren getanzt, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie fürchtete, einen falschen Schritt zu machen, aus dem Takt zu geraten oder gar Lord Leighton unbeholfen auf die Zehen zu treten.

Er wandte sich ihr zu, umfasste sanft ihre Mitte und nahm ihre Hand. Constance war plötzlich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und hatte die Schrittfolge vergessen. Doch dann drehte er sich mit ihr zur Mitte der Tanzfläche, und all ihre Ängste waren wie verflogen. Er bewegte sich rhythmisch im Takt der Musik mit einer Sicherheit, die Constances frühere Tanzpartner hatten vermissen lassen, und wirbelte sie schwungvoll im Kreis herum. Es fühlte sich himmlisch und ganz natürlich an, sich in seinen Armen zu wiegen. Sie tanzte leichtfüßig, ohne die Schritte zu zählen, gab sich den beschwingten Klängen der Musik und dem Vergnügen, sich von ihm führen zu lassen, hin.

Constance blickte ihn selig lächelnd an, ohne zu ahnen, wie sehr sie strahlte. Lord Leighton holte einmal tief Luft und zog sie ein wenig näher zu sich heran.

„Es ist mir schleierhaft, wieso Sie mir nicht schon früher aufgefallen sind“, sagte er. „Sind Sie erst seit Kurzem zu Besuch in London?“

„Wir sind seit drei Wochen in der Stadt.“

Er schüttelte den Kopf. „Höchst sonderbar.“

Constance kannte natürlich den Grund. Bei allen anderen Festlichkeiten hatte sie sich im Hintergrund gehalten, ein Mauerblümchen im schlichten grauen Kleid. Allerdings wollte sie ihm das nicht auf die Nase binden. „Vielleicht waren Sie bei anderen Festivitäten zu Gast als ich“, erklärte sie lediglich.

„Dann war ich wohl zu den falschen Festen eingeladen.“

Sie lachte. „Sie kokettieren schon wieder, Mylord.“

„Sie tun mir unrecht“, entgegnete er schmunzelnd. „Ich sage nur die Wahrheit.“

Sie bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Sie vergessen, Mylord, zu erwähnen, dass Sie von Frauen geradezu verfolgt werden, wie Sie mir selbst anvertraut haben. Ihrem geschulten Blick würde doch jede junge Dame ins Auge fallen, darauf wette ich.“

„Nicht jede“, antwortete er, „nur Sie.“

Constance versuchte, nicht auf die Hitze zu achten, die sie bei seinen Worten durchströmte, was ihr allerdings nicht gelang. Wenn er sie so charmant anlächelte, bereitete es ihr große Mühe, einen klaren Kopf zu behalten. Aber wie sollte sie nicht geschmeichelt erröten und lächeln, wenn er ihr solche Komplimente machte?

„Und die Damen, denen Sie versuchen, einen Kuss an einem verschwiegenen Ort zu rauben – erinnern Sie sich auch an die?“

„Aha.“ Er machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Wie ich sehe, werfen Sie mir meine Sünden vor. Sie müssen mir glauben, dass ich mir normalerweise keine Freiheiten bei jungen Damen erlaube – weder in einer Bibliothek noch anderswo.“

„Tatsächlich?“ Sie zog skeptisch eine Braue hoch.

„Nein. Aber ich muss gestehen, Miss Woodley, Sie haben etwas an sich, das mich dazu verleitet … mich ungewöhnlich zu benehmen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen soll“, erklärte sie.

„Nicht als Beleidigung, darum bitte ich Sie.“

Die Wärme seines Blickes machte sie noch befangener, und ihr wollte keine schlagfertige Entgegnung einfallen. Sie wollte sich nur weiterhin in seinen Armen wiegen, ihm in die Augen schauen, den Tanz und die schöne Musik genießen.

Allzu früh war der Walzer zu Ende. Nach einer letzten Drehung blieben sie beide stehen. Leighton zögerte kurz, ehe er die Arme von ihr löste und sich einen Schritt entfernte. Leicht schwindelig und atemlos senkte Constance den Blick und zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren.

Er bot ihr den Arm und brachte sie zu seiner Schwester zurück. Kaum setzte die Musik wieder ein, bat Sir Lucien Constance um den nächsten Tanz und bewegte sich mit ihr gewandt über das Parkett, plauderte angeregt mit ihr und führte sie anschließend zurück. Constance musste mit leiser Enttäuschung feststellen, dass Lord Leighton den Platz neben Francesca inzwischen verlassen hatte.

Allerdings war sie den ganzen Abend zu sehr beschäftigt, neue Bekanntschaften zu machen, um ihn zu vermissen. Francesca, daran gewöhnt, bei jeder Abendgesellschaft von einer Schar Verehrer umringt zu sein, kam dem Wunsch der Herren mit sichtlichem Vergnügen nach, mit ihrer reizenden Begleiterin bekannt gemacht zu werden. Es dauerte nicht lange, bis Constances Tanzkarte gefüllt war. Den Grund für ihre unvermutete Popularität sah sie darin, dass Lord Leighton und Sir Lucien sie zu Beginn des Abends zum Tanz gebeten hatten und dadurch die Aufmerksamkeit der anderen Männer auf sie gelenkt worden war.

Constance genoss den Abend viel zu sehr, um länger über die Motive ihrer Beliebtheit zu grübeln. Sie tanzte, plauderte und lachte unbekümmert und fühlte sich ganz und gar nicht wie eine Anstandsdame – oder wie ein verblühtes Mauerblümchen. Sie fühlte sich jung und lebendig; die Komplimente ihrer Bewunderer taten ihr gut. Seit Jahren hatte sie sich nicht so unbeschwert amüsiert … seit dem Tod ihres Vaters nicht.

Constance hätte ihrem Onkel und ihrer Tante niemals vorgeworfen, sie schlecht zu behandeln, aber sie verspürte nicht die Spur von Zuneigung. Man behandelte sie ja auch nicht besser als eine Dienstmagd. In Wahrheit war ihr die Gesellschaft ihrer oberflächlichen, missgünstigen Verwandten ausgesprochen unangenehm. Constance schöpfte Glücksgefühle aus kleinen, unbedeutenden Dingen – ein Spaziergang in der Natur, ein Besuch bei einer Freundin im Dorf oder eine Stunde, die sie allein mit der Lektüre eines Buches verbringen durfte. Dieses Glücksgefühl, das sie an diesem Abend empfand, diese sprühende Lebenslust, war ihr eigentlich fremd. Bislang war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie grau und eintönig ihre kleine Welt geworden war. Für dieses überschäumende Glücksgefühl, das sie heute Abend ununterbrochen durchströmte, würde sie Francesca ihr ganzes Leben lang dankbar sein. Und Constance wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Francescas Plan zuzustimmen, was immer auch nach diesem Abend geschehen mochte.

Nur einen kurzen Moment legte sich ein Schatten auf ihre heitere Freude. Plötzlich bemerkte sie den unverhohlen feindseligen Blick, mit dem eine fremde Frau sie musterte. Erschrocken betrachtete Constance die hochgewachsene, dunkelhaarige Frau, die sie ein paar Jahre jünger einschätzte. Ohne die blasierte Miene und den mürrischen Zug um den Mund hätte sie vielleicht einen gewissen Reiz ausgestrahlt. Die verblüffende Ähnlichkeit mit der älteren Dame neben ihr wies die beiden als Mutter und Tochter aus, zumal die Mutter Constance mit ähnlich verächtlichen Blicken maß.

Constance wandte sich erschrocken ab. Sie kannte die beiden Frauen nicht, hatte sie nie zuvor gesehen. Möglicherweise war sie ihnen bei irgendeiner Soiree begegnet, ohne sie wahrgenommen zu haben. Und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum die beiden Frauen ihr diese Abneigung entgegenbrachten.

Sie wollte Francesca fragen, doch die unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann, und Constance wollte sie nicht stören. Als sich wieder eine Gelegenheit ergab, sich bei Francesca nach den beiden Frauen zu erkundigen, waren die zwei in der Menge untergetaucht. Also wischte Constance den Gedanken beiseite und ließ sich vom nächsten Tanzpartner aufs Parkett führen.

Francesca beobachtete Constance während des Abends wie eine stolze Mutter. Sie hatte, wie von Constance richtig vermutet worden war, Sir Lucien gebeten, mit ihrem Schützling zu tanzen. Sie war erfreut, hinterher von ihm zu erfahren, dass die junge Frau ebenso hübsch wie charmant und geistreich und zu allem Überfluss auch noch eine leichtfüßige Tänzerin war.

„Was hast du eigentlich mit dem Mädchen im Sinn?“, fragte Sir Lucien. „Offenbar ist sie keines dieser jungen Gänschen, deren Eltern dich bitten, ihrem Töchterlein einen passenden Ehemann zu verschaffen. Wie ich höre, soll sie eine arme Verwandte dieser grässlichen Lady Woodley sein.“

„Aber, Lucien, ich fühle mich gekränkt“,schalt Francesca ihn scherzhaft. „Hältst du mich wirklich für so gewinnsüchtig?“

„Meine Liebe, mir ist sehr wohl klar, dass du nicht habgierig bist. In den letzten fünf Jahren hättest du dir jeden wohlhabenden Mann angeln können, aber du hast sie alle abblitzen lassen. Was ich nicht begreife, ist der Grund, warum du dir ausgerechnet dieses Mädchen ausgesucht hast. Sie ist doch längst über das Alter hinaus, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden.“

„Wir wollen nicht übers Alter sprechen. Im Übrigen ist sie jünger als ich. Aber wenn du es unbedingt wissen willst, es ist wegen Rochford.“

„Rochford!“ Sir Lucien war verblüfft. „Was hat er damit zu tun?“

„Er hat mich herausgefordert.“

„Aha.“ Sir Lucien lächelte dünn. „Und du konntest nicht widerstehen, es mit ihm aufzunehmen.“

Sie bedachte den Freund mit einem kühlen Blick. „Im Erfolgsfall winkt mir ein Saphirarmband, wogegen ich nichts einzuwenden hätte.“

„Verstehe.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Und wozu hast du dich verpflichtet?“

„Noch in dieser Saison einen Ehemann für Constance zu finden.“

„Aha, eine Lappalie also.“ Er machte eine vage Handbewegung. „Sie ist mittellos. Ihre Verwandten sind weiß Gott keine Zierde. Und sie ist vermutlich fünf Jahre älter als alle heiratsfähigen Mädchen. Eine Aufgabe, die du zweifellos ohne Schwierigkeiten bewältigst. Und welche Rolle könnte es wohl spielen, dass bereits ein ganzer Monat dieser Saison verstrichen ist? Bestimmt wird es dir gelingen, einen Earl für sie aus dem Ärmel zu schütteln … oder wenigstens einen Baron.“

„Ich sage ja nicht, dass es eine glänzende Partie sein muss“, entgegnete Francesca leicht gekränkt. „Sie soll nur akzeptabel sein.“

„Ach so. Na, dann viel Glück.“ Sir Lucien blickte seine Freundin mit einem schadenfrohen Schmunzeln an.

„Ich gebe ja zu, es wird vielleicht nicht ganz einfach sein. Aber genau das ist der Grund, warum es so wichtig war, dass du ihr heute Abend deine Gunst geschenkt hast“, erklärte Francesca. „Deine Anerkennung und Bewunderung hat bewirkt, dass die potenziellen Kandidaten von sich aus auf sie zukamen. Auf diese Weise habe ich mir wenigstens zwei Wochen gespart, in denen ich mich darum hätte kümmern müssen, dass Constance einen gewissen Bekanntheitsgrad bei gewissen Herren erlangt.“

Er musterte sie argwöhnisch. „Was willst du von mir?“

„Lucien! Ich muss doch nichts von dir wollen, nur weil ich dir ein Kompliment mache.“

Er wartete schweigend ab, zog nur fragend eine Braue hoch.

„Na schön. Ich hoffte, du könnest mich nächste Woche nach Redfields begleiten.“

Er setzte eine gequälte Miene auf. „Aufs Land? Liebste Francesca, sosehr ich dich verehre und in mein Herz geschlossen habe … aber aufs Land fahren …“

„Nur nach Kent, Lucien. Ich bitte dich doch nicht, mich auf eine Expedition in die Wildnis Afrikas zu begleiten.“

„Nein, das nicht … aber eine Hausgesellschaft, die sich mehrere Tage hinzieht? Das klingt unerträglich langweilig.“

„Ja, zugegeben, diese Befürchtung teile ich mit dir, da meine Eltern die Gastgeber sind. Aber gerade deshalb brauche ich deinen Beistand so dringend – du wirst die Stimmung auflockern. Wenn du zusagst, sagen auch andere jüngere Leute zu.“

„Aber wieso ausgerechnet ich?“

„Du musst mir einfach helfen, basta! Ein Sommerfest über mehrere Tage auf dem Lande ist für Constance die ideale Gelegenheit, einige heiratsfähige Herren näher kennenzulernen. Da sie unvermögend ist, will ich dafür sorgen, dass die Kandidaten ausreichend Zeit mit ihr verbringen, um ihren Charme und ihre liebenswerte Art zu entdecken und sich in sie zu verlieben.“

„Aber wieso brauchst du mich in diesem idiotischen Spiel? Meine Anwesenheit wird ja wohl den Reiz der jungen Dame kaum in der Art und Weise erhöhen, dass sie mit Anträgen nur so überhäuft wird.“

„Weil ich einen Köder brauche, damit diese Junggesellen anbeißen, begreifst du das nicht? Wie viele junge Herren nehmen eine Einladung an, ein paar Tage auf dem Land zu verbringen mit der Aussicht, gemeinsam mit meinem Vater, dem vergreisten Lord Basingstoke und dem sabbernden Admiral Thornton herumzusitzen, Unmengen von Port zu trinken und sich Tiraden über den sittlichen Verfall der heutigen Jugend anzuhören? Die Alternative wäre, mit der Dowager Duchess of Chudleigh und den anderen Matronen Whist zu spielen.“

„Gütiger Himmel, hat sie denn auch zugesagt?“

„Sie ist die Taufpatin meiner Mutter und hat sich ein solches Fest noch nie entgehen lassen. Deshalb will ich junge Gäste einladen, um die Sache ein wenig aufzulockern. Dominic wird vielleicht auch kommen. Heute Abend schien er gar nicht so abgeneigt zu sein.“

„Na, fabelhaft. Damit wäre ja alles gerettet, und du brauchst mich nicht.“

„Lucien! Du weißt genau, dass auf Dominic kein Verlass ist. Selbst wenn er kommt, besteht die Gefahr, dass er schon am ersten Abend einen Streit mit Vater vom Zaun bricht und am nächsten Morgen abreist. Auch wenn diese Katastrophe nicht eintrifft, wie wir alle hoffen, ist es mir unendlich wichtig, einen geistreichen, weltgewandten und prominenten Gast unter all den Langweilern aufweisen zu können. Ich flehe dich an, mein Freund! Ihr zwei seid meine einzige Rettung: Dominic spielt den Charmeur, und du übernimmst die Rolle des redegewandten Plauderers.“

„Liebste Francesca, ich bin zwar davon überzeugt, dass du mit deinem Charme und deiner Schönheit ganze Scharen von Verehrern anlockst“, sagte Sir Lucien mit einem resignierten Lächeln, „aber wenn dir so viel an meiner Unterstützung liegt, erfülle ich dir deine Bitte. Vielleicht ist es ja amüsant, dir bei deiner diplomatischen Mission zuzuschauen.“

„Mir war klar, dass ich auf dich zählen kann.“

„Und was ist mit deinem … ähm … ich bin mir nicht sicher, wie ich ihn nennen soll – deinem Herausforderer?“

Francesca machte ein verdutztes Gesicht.

„Deinem Wettpartner“, erläuterte Sir Lucien. „Rochford.“

„Ach so.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Es wäre zu hoffen“, meinte sie achselzuckend, „dass er wenigstens zum Abschlussball erscheint, falls er sich in Dancy Park aufhält.“ Dancy Park war eines der Landhäuser des Dukes, nicht weit entfernt von Francescas Elternhaus.

„Denkst du, er könnte versuchen, deine Bemühungen zu sabotieren?“

„Sinclair?“ Francesca lachte. „Nein, Gott bewahre! Der arrogante Kerl zieht es in seiner gottgleichen Überlegenheit vor, uns Normalsterbliche dabei zu beobachten, wie wir uns eifrig darum bemühen, unser Leben in die richtigen Bahnen zu lenken.“

Der Anflug von Bitterkeit in ihrem Tonfall machte Sir Lucien stutzig. „Wie mir scheint, hat er sich nun doch bequemt, von seinem göttlichen Olymp herabzusteigen.“

Francesca blickte in die Richtung, in die Sir Lucien mit dem Kinn wies. Der Duke of Rochford bahnte sich scheinbar ohne bestimmtes Ziel einen Weg durch die Menge. Hin und wieder blieb er stehen, um einen Bekannten zu begrüßen. Doch dann hob er suchend den Kopf, bis er Francesca entdeckte. Mit den Augen gab er ihr zu verstehen, dass er mit ihr sprechen wollte. Sie reagierte nicht darauf und betrachtete müßig die Paare auf dem Tanzparkett.

Ohne sich ihm zuzuwenden, spürte sie, wie er sich schließlich neben sie stellte und gleichfalls das Treiben auf der Tanzfläche betrachtete.

„Es scheint Ihnen gelungen zu sein, das hässliche Entchen in einen stolzen Schwan zu verwandeln, meine Liebe“, bemerkte er nach einer Weile anerkennend.

Erst jetzt schenkte Francesca ihm ihre Aufmerksamkeit. Seine Miene war wie immer undurchdringlich. „Das hat mich nicht viel Mühe gekostet. Ich fürchte, Rochford, Sie haben die falsche Wahl für Ihre Wette getroffen.“

Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie erwarten wohl ein leichtes Spiel, wie?“

„Nicht unbedingt, nein“, entgegnete Francesa. „Aber sie hat weitaus bessere Chancen, als Sie gehofft haben müssen.“

„Hm. Vielleicht habe ich voreilig gehandelt“, gestand er. Francesca glaubte, einen Anflug von Spott in seinen Augen zu erkennen. „Zweifellos werden Sie meine Schwäche zu Ihrem Vorteil nutzen.“

„Worauf Sie sich verlassen können.“

Der Walzer war zu Ende, und Constance wurde von ihrem Tanzpartner zu Francesca zurückgebracht, die von Sir Lucien und dem Duke flankiert wurde.

Francesca machte Rochford, der Constance ungewohnt interessiert musterte, mit ihrer Schutzbefohlenen bekannt. Zu Francescas Erstaunen bat er Constance mit der Andeutung einer Verneigung um den nächsten Tanz. Constance bekam große runde Augen vor Schreck, ihr Blick flog zu Francesca und wieder zu Rochford zurück.

„Ich … ähm … ich fürchte, diesen Tanz habe ich bereits vergeben, Euer Gnaden“, sagte sie und schien eher erleichtert darüber zu sein.

„Aha, verstehe.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung eines sich nähernden Herrn. „An Micklesham?“, fragte er.

Constance stutzte. „Wie bitte?“ Sie schaute sich um. „O ja, richtig. Mr. Micklesham.“

Rochford begrüßte den Ankömmling mit einem schmallippigen Lächeln. „Ach, Micklesham. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Miss Woodley zum nächsten Tanz entführe, nicht wahr?“

Micklesham, ein untersetzter, zur Fülle neigender junger Mann mit sorgsam frisierten rötlichen Locken und einem sommersprossigen Gesicht, geriet völlig außer Fassung, als er vom Duke angesprochen wurde. „Oh … ähm … Aber ja … selbstverständlich.“ Er verneigte sich tief. „Mit Vergnügen … das heißt … ich meine … Verzeihung, Miss Woodley“, stammelte er und sah Constance hilflos an.

„Fein. Miss Woodley, wollen wir?“ Rochford bot Constance den Arm, die schüchtern lächelte und ihre Hand auf seinen Ärmel legte.

Francesca schaute dem Paar auf dem Weg zum Tanzparkett nach.

„Was zum Teufel hat er vor?“, murmelte sie.

„Vielleicht will er das scheue Vögelchen noch mehr einschüchtern“, schlug Sir Lucien vor.

„Nein, Rochford würde nicht versuchen, meine Pläne zu vereiteln“, meinte Francesca. „Es wäre unter seiner Würde, den Lauf der Dinge zu seinen Gunsten zu beeinflussen.“

Sie beobachtete, wie der Duke eine Hand auf Constances schmale Taille legte, sie leicht an sich zog und anfing, sich mit ihr zu den beschwingten Klängen eines Walzers zu drehen. Dabei schenkte er der jungen Frau ein charmantes Lächeln, und Francesca verspürte einen Stich im Herzen.

„Der Teufel soll ihn holen“, murmelte sie und wandte sich ab.

Sir Lucien bedachte sie mit einem kritischen Blick. „Aber was hat er dann vor?“

„Vermutlich will er mich nur ärgern“, erwiderte Francesca gereizt.

„Anscheinend ist ihm das bereits gelungen.“

„Sei endlich still, Lucien!“, rief Francesca missmutig. „Bitte mich lieber um diesen Tanz.“

„Mit Vergnügen, meine Liebe“,erklärte er mit einer galanten Verneigung.

6. KAPITEL

Constance spürte, wie ihr ein Schweißtropfen in den Nacken rann. Nie im Leben hätte sie erwartet, einen Duke kennenzulernen, geschweige denn mit ihm zu tanzen.

Zugegeben, Lord Leighton würde eines Tages ein Earl sein, aber seine legeren Umgangsformen, sein ansteckendes Lächeln und sein lockerer Umgangston hatten sie seine Ahnentafel und seinen Rang rasch vergessen lassen. Aber Rochford verkörperte die Würde des Dukes vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Auftreten war unnahbar und seine Haltung aufrecht und steif. Er strahlte eine Art Selbstbewusstsein aus, das seiner aristokratischen Abstammung und Erziehung Rechnung trug. Seine markanten Gesichtszüge wirkten ähnlich einschüchternd wie seine Haltung – hohe Wangenknochen, dunkle buschige Brauen, unter denen er aus tief liegenden schwarzen Augen die Welt wachsam betrachtete. Alles in allem war er kein Mann, in dessen Nähe man sich sonderlich wohlfühlen konnte, dachte Constance.

Nein, sie fühlte sich in seiner Gegenwart keineswegs wohl. Er sagte eine Weile gar nichts, und darüber war sie eigentlich ganz froh, da sie vollauf damit beschäftigt war, sich auf die Tanzschritte zu konzentrieren. Es wäre weitaus peinlicher, mit dem Duke of Rochford aus dem Takt zu geraten oder eine falsche Bewegung zu machen, als mit jedem anderen Tanzpartner.

Ihn schien das Schweigen keineswegs zu stören. Vermutlich war er sich seiner abweisenden Wirkung auf andere bewusst, und er machte keinen Versuch, die Situation etwas aufzulockern.

„Wie ich sehe, hat Lady Haughston Sie unter ihre Fittiche genommen“, sagte er schließlich.

Constance, die sich bereits an sein Schweigen gewöhnt hatte, zuckte ein wenig zusammen.

„Ja“, antwortete sie argwöhnisch. „Lady Haughston ist sehr gütig zu mir.“

Constance konnte sich keinen Reim darauf machen, aus welchem Grund der Duke mit ihr tanzte. Ihm musste doch klar sein, dass er damit ihr Ansehen in der Gesellschaft erheblich steigerte, was Lady Haughstons Pläne begünstigte und gleichzeitig seine Chancen verringerte, die Wette zu gewinnen. Vielleicht war er nur neugierig, oder die Wette bedeutete ihm so wenig, dass es ihm gleichgültig war, ob er sie gewann oder verlor. Andererseits wurde Constance den Verdacht nicht los, dass hinter seiner Aufforderung zum Tanz ein anderes Motiv lag. Vielleicht erhoffte er sich von ihr eine Auskunft, oder er wollte sie mit einer List dazu verführen, etwas zu tun, was ihre Aussichten in der Gesellschaft ruinierte.

Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, und Constance hegte den Verdacht, er könne ihre Gedanken lesen.

„Ja, in der Tat“, sagte er mit einem Anflug von Spott. „Davon habe ich gehört.“

Constance blickte ihn unschlüssig an. Sie wusste nicht, ob der Duke und Francesca Freunde waren oder nur gute Bekannte, oder möglicherweise sogar Feinde. Das war jedenfalls eine knifflige Frage. Sie hatte rasch herausgefunden, dass in der vornehmen Gesellschaft erbitterte Feinde miteinander lächelnd plauderten, als seien sie die besten Freunde.

Der Duke erkundigte sich nach ihrem Wohnort, und Constance berichtete ihm, dass sie bei ihren Verwandten auf dem Lande lebe.

„Gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt in London?“, fragte er weiter.

„Ja, sehr sogar. Und seit ich Lady Haughston kenne, bereitet er mir doppelt so großes Vergnügen.“

„Das ist nicht verwunderlich.“

Es war eine seichte und nichtssagende Unterhaltung. Constance wusste noch immer nicht, wieso er sie um den Tanz gebeten hatte, aber gewiss nicht, um ein geistreiches Gespräch mit ihr zu führen.

„Wenn Sie die Ratschläge Ihrer Ladyschaft befolgen, werden Sie gewiss Erfolg haben“, meinte der Duke nun.

„Das hoffe ich“, antwortete Constance und fügte hinzu: „Was eigentlich nicht in Ihrem Sinne sein dürfte, Euer Gnaden.“

Sie staunte über ihren eigenen Wagemut, so freimütig zu sprechen. Aber im Grunde genommen störte es sie, wie sie beide um den heißen Brei herumredeten, um das Thema, das sie beide betraf, nicht anschneiden zu müssen.

Er zog die Brauen hoch und wirkte noch furchteinflößender. „Tatsächlich? Aber weshalb sollte ich Ihnen keinen Erfolg wünschen, Miss Woodley?“

„Nun ja, ich weiß um Ihre Wette mit Lady Haughston.“

„Sie hat Ihnen davon erzählt?“ Er wirkte überrascht.

„Ich bin nicht dumm“, entgegnete Constance. „Und es wäre auch schwierig, ein heikles Vorhaben wie dieses zum Erfolg zu bringen, ohne die Hauptperson in die Pläne einzuweihen.“

„Damit haben Sie vermutlich recht“, stimmte er ihr zu, und Constance war sich sicher, ein heiteres Blitzen in seinen Augen entdeckt zu haben. „Und Sie sind mit diesen Plänen einverstanden?“

„Ich erwarte nicht, dass Lady Haughston die Wette gewinnt“, erklärte Constance aufrichtig. „Damit rechne ich nicht. Andererseits war ich von der Idee, eine Saison in London zu erleben … sehr angetan.“

Nun hatte das Lächeln in seinen Augen auch seine Lippen erreicht, wenn auch nur für einen kurzen Moment. „Dann hoffe ich, dass Ihnen diese Saison viel Freude macht, Miss Woodley.“

Sie tanzten schweigend weiter, wobei Constance das Schweigen nicht mehr so drückend erschien. Als der Walzer verklungen war, begleitete der Duke sie zu Francesca zurück, die allerdings kurz darauf von einem anderen Herrn zum Tanz aufgefordert wurde. Constance machte sich auf die Suche nach ihren Verwandten. Sie hatte sich bisher so gut amüsiert, dass sie keinen Gedanken an ihre Tante und Cousinen verschwendet hatte, doch nun plagte sie das schlechte Gewissen.

Während Constance sich suchend im Ballsaal umsah, blieb ihr Blick erneut an der jungen Frau hängen, die sie vor einer Weile so verächtlich gemustert hatte. Diesmal war sie nicht in Begleitung ihrer Mutter, sondern schritt am Arm von Lord Leighton zur Tanzfläche.

Hatte die junge Frau sie so hasserfüllt angesehen, weil Lord Leighton mit ihr getanzt hatte? Eine ziemlich alberne Vorstellung, dachte Constance, da sie nur einen einzigen Walzer mit ihm getanzt hatte. Andererseits war nicht zu leugnen, dass sie selbst einen Nadelstich der Eifersucht verspürte, als Lord Leighton begann, mit der Dame zu tanzen.

Wie dem auch sei, daran war nichts zu ändern, und Constance setzte ihre Suche nach ihren Verwandten fort. Sie schlenderte durch den Saal und bahnte sich einen Weg an den in kleinen Gruppen zusammenstehenden Gästen vorbei. Währenddessen stellte sie einigermaßen verwundert fest, dass einige Herren und Damen ihr zunickten und sich verneigten, darunter die jungen Herren, mit denen sie getanzt hatte, und Damen, die sich mit Lady Haughston unterhalten hatten. Wiederum waren andere ihr völlig unbekannt. Erstaunlich, wie rasch man dank Lady Haughstons Protektion in der Gunst der Gesellschaft stieg, überlegte Constance.

Sie umrundete eine größere Gruppe am Rande des Tanzparketts, entdeckte schließlich ihre Verwandten und näherte sich ihnen. Tante Blanche empfing sie mit eisiger Miene, und Constance seufzte innerlich. Offenbar war sie ihr immer noch böse wegen der Auseinandersetzung tags zuvor. Tante Blanche hatte zwar nicht versucht, ihr den Ballbesuch zu verbieten, da ihr klar geworden war, wie töricht es wäre, sich mit Lady Haughston zu überwerfen, aber es behagte ihr ganz und gar nicht, dass ihre Nichte sich von ihr keine Vorschriften mehr machen ließ.

Constance begrüßte Tante Blanche mit einem Lächeln, das nicht erwidert wurde.

„Aha, hast du dich nun doch noch entschlossen, deine Familie mit deiner Gegenwart zu beehren“, sagte sie spitz. „Aber wir scheinen dir ja nicht mehr wichtig zu sein. Du hast nur noch Augen für Lady Haughston und ihre Freunde.“

„Aber das stimmt nicht, Tante“, entgegnete Constance und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. „Nachdem Lady Haughston uns freundlicherweise eine Einladung zu diesem Ball ermöglichte und mich bat, sie zu begleiten, finde ich es nur höflich und angemessen, ihr Gesellschaft zu leisten.“

Tante Blanche registrierte Constances sachliche Feststellung mit einem missbilligenden Schnauben. „O ja, ausgesprochen höflich – dich in Szene zu setzen … und mit allen Herren zu tanzen. Du benimmst dich wie ein junges Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau. Und dieses überladene Kleid! Ich bin sicher, dass die Leute über dich lachen, so wie du dich aufführst.“

Constances Wangen wurden flammend rot, teils vor Verlegenheit, teils vor Zorn. „Tante Blanche! Du tust mir unrecht. Auf welche Weise sollte ich mich in Szene gesetzt haben? Lady Haughston stellte mir jeden der Herren nach allen Regeln der Etikette vor. Was kann falsch daran sein, mit Herren zu tanzen, die Lady Haughston baten, mich aufs Parkett führen zu dürfen? Und was hast du an meinem Kleid zu bemängeln?“

Sie blickte an sich herab, um dann demonstrativ das Kleid ihrer Tante zu betrachten, das mehr Busen zeigte als das ihre. „An meinem Kleid ist nichts Anstößiges.“

„Die Farbe ist viel zu jugendlich für dich“, behauptete Tante Blanche störrisch. „Du bist kein junges Mädchen mehr, Constance. Eine Frau in deinem Alter, die so tanzt und flirtet wie du, das ist … nun ja, es ist eine Schande.“

„Mir war nicht bewusst, dass eine Frau ab einem gewissen Alter nicht mehr tanzen darf“, erwiderte Constance kühl. „Vielleicht solltest du einige Damen auf der Tanzfläche auf diese neue Gesellschaftsregel aufmerksam machen.“

„Ich spreche nicht von verheirateten Frauen“, erklärte Tante Blanche. „Natürlich spricht nichts dagegen, wenn eine verheiratete Frau mit ihrem Gatten oder mit einem Freund des Hauses tanzt. Aber für eine ledige Frau ist es absolut unschicklich.“

„Warum?“, fragte Constance.

Ihre Tante wirkte verblüfft. „Was meinst du damit?“

„Genau das, was ich sagte“, entgegnete Constance, deren graue Augen nun wütend funkelten. „Wieso ist es unschicklich zu tanzen, wenn man nicht verheiratet ist? Ab welchem Alter darf eine unverheiratete Frau nicht mehr tanzen? Ab zwanzig? Fünfundzwanzig? Sind auch Männer von dieser Regelung betroffen? Dürfen Junggesellen auch nicht tanzen?“

„Unsinn. Rede kein dummes Zeug. Es gibt keine festen Regeln. Es ist nur allgemein üblich, dass eine unverheiratete Frau …“

„Aufhört zu existieren?“, fiel Constance ihr ins Wort. „Ich bitte dich, Tante Blanche, das klingt ja, als müsse eine Frau sich beschämt in ein Schneckenhaus zurückziehen, wenn sie es nicht geschafft hat, sich einen Ehemann zu ergattern.“

„Tja, wenn dir das bisher nicht gelungen ist, besteht wohl kaum noch Hoffnung“, zischte ihre Tante beleidigt. „Wir haben dir gestattet, mit uns nach London zu kommen, um mir zu helfen, auf Georgiana und Margaret aufzupassen, stattdessen …“ Sie machte mit dem Fächer eine wegwerfende Bewegung in Richtung des Tanzparketts, „… tanzt du den ganzen Abend mit fremden Männern, ohne auch nur einen einzigen deinen Cousinen vorzustellen.“ Lady Woodley war nun endlich beim eigentlichen Thema angelangt. „Du hast sogar mit dem Duke of Rochford getanzt – einem Duke! –, ohne den leisesten Versuch zu unternehmen, seine Aufmerksamkeit auf meine Töchter zu lenken.“

„Oh.“ Constance warf den Cousinen einen Blick zu, die sie mit beleidigten Gesichtern anstarrten.

In gewisser Weise hatte die Tante recht: Constance hatte keinen Moment an ihre Cousinen gedacht, so sehr war sie damit beschäftigt gewesen, sich zu amüsieren. Es wäre höflich gewesen, sich von ihrem jeweiligen Tanzpartner zu ihren Verwandten begleiten zu lassen, um sie mit ihrer Tante und ihren Cousinen bekannt zu machen. Es war schließlich nicht die Schuld der Mädchen, dass ihre Mutter sie in so üppige Rüschenwolken, Volants und Schleifen steckte, dass sie aussahen wie Hochzeitstorten. Sie brauchten jede Hilfe, die sie kriegen konnten, und Constance hätte wenigstens mit einigen der Junggesellen zu ihnen kommen müssen.

„Ja, wir hätten uns gerne mit einem Duke unterhalten“, jammerte Georgiana.

„Jane Morissey wäre darüber vor Neid geplatzt“, fügte Margaret hinzu, und beide Mädchen fingen bei dem Gedanken an, kindisch zu kichern.

Selbst wenn sie die Mädchen einem Herrn vorstellen würde, wäre das noch längst keine Garantie für Erfolg – dessen war Constance sich sicher. Jeder Mann mit einem Funken Verstand würde nach wenigen Minuten des seichten Geplappers ihrer Cousinen die Flucht ergreifen.

„Es tut mir leid“, entschuldigte Constance sich. „Ich habe nicht daran gedacht. Aber ich verspreche, in Zukunft Margaret und Georgiana nicht zu vergessen. Allerdings würde ich mir an eurer Stelle keine allzu großen Hoffnungen auf den Duke machen, der, wie mir Lady Haughston anvertraute, ein eingefleischter Junggeselle sein soll.“

„Aber irgendwann muss auch er heiraten“, rief Lady Woodley entschlossen. „Er braucht schließlich einen Erben. Und seine Auserwählte könnte eines meiner Mädchen sein, habe ich recht?“

Constance enthielt sich einer Antwort. Es waren diese völlig aus der Luft gegriffenen Spekulationen, die so typisch für Tante Blanches Denken waren. Wobei Constance vor langer Zeit bereits die Sinnlosigkeit eingesehen hatte, sie auf Fehler und Widersprüche in ihrer Argumentation hinzuweisen. Wenn ihre Tante erst einmal zu einer Überzeugung gelangt war, ließ sie sich selten eines Besseren belehren und verteidigte ihre Meinung mit einer Starrköpfigkeit, die für Constance nur schwer zu ertragen war.

„Es ist ein wunderschönes Fest, findet ihr nicht auch?“, fragte Constance fröhlich, im Bestreben, diesem unerfreulichen Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Lady Woodley hätte sich gerne noch länger über Constances Pflichtvergessenheit beschwert, doch ihre Klatschsucht siegte. Sie begann, über alle bedeutenden Mitglieder der vornehmen Gesellschaft, die sie heute Abend gesehen hatte, zu tratschen und alles auszuplaudern, was sie über die jeweilige Person in Erfahrung gebracht hatte.

Constance bemühte sich, ihr gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, um sie wieder friedlich zu stimmen, aber es dauerte nicht lange, bis ihre Gedanken anfingen abzuschweifen. Sie blickte sich suchend im Saal um, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, womit sie Tante Blanche ablenken könnte.

Erleichtert erblickte sie Francesca, die in ihre Richtung strebte. „Ich glaube, Lady Haughston kommt zu uns herüber“, flüsterte Constance.

Tante Blanche fuhr herum und strahlte. „Lady Haughston!“, flötete sie begeistert. „Zu schade, dass ich in diesem Trubel noch keine Zeit fand, Sie zu begrüßen. Kinder, macht einen Knicks und sagt Lady Haughston Guten Abend.“

Georgiana und Margaret versanken in einen tiefen Knicks und begrüßten Francesca überschwänglich. „Wie geht es Ihnen, Lady Woodley? Wie reizend, Sie wiederzusehen.“

Die Damen tauschten ein paar Höflichkeiten aus, erwähnten den ungewöhnlich milden Juniabend, lobten den ausgezeichneten Punsch und die wunderschöne Dekoration des Ballsaals. Tante Blanche hätte gewiss den Rest des Abends damit verbringen können, sich in endlosen Plattitüden zu ergehen. Als sie allerdings auf die Ballkleider ihrer Töchter zu sprechen kam und Lady Haughston auf die feine französische Spitze an den Miedern aufmerksam machte, unterbrach Francesca ihren Redefluss.

„Hat Constance Ihnen schon berichtet, dass ich sie eingeladen habe, mich nächste Woche nach Redfields zu begleiten?“

Tante Blanche sah Francesca verständnislos an. „Wie bitte? Wohin?“

„Auf den Landsitz unserer Familie in Kent, nur ein paar Stunden Fahrt von London entfernt. Dort geben meine Eltern jedes Jahr ein Sommerfest, das sich über mehrere Tage hinzieht. Ich bat Constance, mich zu begleiten, und hoffe, Sie haben nichts dagegen. Ohne sie würde ich mich in den zwei Wochen zu Tode langweilen.“

Tante Blanche wandte sich an Constance, die Neid und Missgunst in ihren Augen las. Sie wird es mir verbieten, dachte Constance und überlegte fieberhaft, wie sie sich verhalten sollte. Wenn sie sich ihrer Tante widersetzte und der Einladung ohne ihre Einwilligung zusagte, musste sie befürchten, verstoßen zu werden und auf der Straße zu landen.

„O Mylady, wie überaus gütig von Ihnen“, zwitscherte Tante Blanche honigsüß an Lady Haughston gerichtet. „Aber ich fürchte, ich kann nicht billigen, dass Constance allein verreist. Ich erachte es als höchst unpassend, sie zwei Wochen ohne Aufsicht Fremde besuchen zu lassen. Schließlich muss ich an den guten Ruf meiner Nichte denken.“

Francesca zog ihre fein geschwungenen Brauen hoch und entgegnete kühl: „Sie ist in meiner Begleitung, Lady Woodley, keineswegs ohne Aufsicht. Und ich kann Ihnen versichern, dass zu den Festen des Earls nur seriöse und ehrenwerte Gäste eingeladen sind.“

„Oh, daran zweifle ich keineswegs, Lady Haughston“, meinte Tante Blanche und schaffte es, zugleich einschmeichelnd und hartnäckig zu klingen. „Und Ihr untadeliger Ruf ist über jeden Zweifel erhaben. Aber ich nehme meine Verantwortung für meine Nichte sehr ernst und sehe mich nicht imstande, sie allein für so lange Zeit verreisen lassen, ohne die Begleitung eines Verwandten.“

„So, so.“ Francesca musterte Tante Blanche scharf, die ihren Blick unverwandt erwiderte.

Es war völlig klar, was ihre Tante bezweckte, und Constance wand sich innerlich vor Verlegenheit, befürchtete schon, Francesca würde ihre Einladung zurückziehen, und wartete mit angehaltenem Atem auf ihre Entscheidung.

„Aha, ich verstehe“, fuhr Lady Haughston nach einer Weile gedehnt fort und schenkte Lady Woodley ein kaltes Lächeln. „Natürlich dachte ich bei meiner Einladung nicht nur an Constance. Sie, Sir Roger und Ihre Töchter sind natürlich gleichfalls eingeladen.“

„Sie sind zu gütig, Mylady“, antwortete Tante Blanche und schaute zu Boden, um ihren Triumph zu verbergen.

So kam es, dass Constance gemeinsam mit Tante, Onkel und Cousinen eine Woche später mit der Postkutsche nach Kent reiste.

Es war eine anstrengende Woche gewesen, in der im Hause Woodley von nichts anderem gesprochen wurde als von Redfields und den großen bevorstehenden Ereignissen. Sogar Sir Roger, der sich normalerweise durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, war voller gespannter Erwartung, das Haus zu besichtigen. Eines seiner Steckenpferde war die Architektur, und er hatte der Familie mit aufgeregt funkelnden Augen berichtet, dass Redfields eines der glanzvollsten Bauwerke der Elisabethanischen Epoche sei.

Tante Blanche hatte, wie zu erwarten, die Augen verdreht über diese banale Nebensächlichkeit. Ihrer Meinung nach waren Kunst und Architektur von geringer Bedeutung – Hauptsache, alles war grandios und prunkvoll. Wirklich wichtig war nur die Gästeliste. Die ganze Woche über besuchte sie Freundinnen und Bekannte, um beiläufig ins Gespräch einfließen zu lassen, sie reise demnächst nach Kent, da sie zum großen Sommerfest in Redfields eingeladen sei. Das zweite Anliegen dieser Besuche bestand darin, alles Wissenswerte über Lord und Lady Selbrooke, die Eltern von Lady Haughston, zu erfahren, über deren Ahnen, den Landsitz und alle Personen, die vermutlich auch eingeladen waren.

Dass Tante Blanche so häufig unterwegs war, bedeutete natürlich auch, dass alle Vorbereitungen, Planungen und das Packen der Koffer für den zweiwöchigen Aufenthalt Constance überlassen blieben. Sie half Georgiana und Margaret bei der Auswahl ihrer Garderobe, wobei sie sich redlich bemühte, ihnen die abscheulichsten der überladenen Kleider auszureden. Sie nähte lose Knöpfe und Rüschen an, besserte kleine Risse aus, erteilte der Haushälterin Anweisungen für die Zeit ihrer Abwesenheit und beaufsichtigte das Stubenmädchen beim Packen der Koffer von Georgiana und Margaret. Mit alldem war sie so beschäftigt, dass ihr kaum Zeit blieb, ihre eigenen Sachen zu ordnen und zu packen.

Zu ihrer großen Freude wurden die Kleider, die sie bei der Schneiderin bestellt hatte, rechtzeitig vor der Abreise ins Haus geliefert.

Wie nicht anders zu erwarten, rümpfte Tante Blanche verächtlich die Nase beim Anblick der duftigen Modelle. „Das alles ist doch viel zu jugendlich für dich, Constance, völlig unpassend für eine Anstandsdame. Ich begreife nicht, was du dir dabei gedacht hast. Ich kann nur hoffen, du blamierst uns in Redfields nicht.“

Zorn kochte in ihr hoch, als sie die Worte ihrer Tante hörte. All die Jahre hatte Constance sich redlich bemüht, ihr immer alles recht zu machen. Sie hatte nicht darauf gehofft, dass Tante Blanche je ihre Interessen teilen würde oder ihr freundschaftlich zugetan wäre, dafür waren sie im Wesen zu verschieden. Aber ihre Tante und deren Familie waren ihre einzigen Verwandten, und sie hätte sich gewünscht, man würde ihr wenigstens ein bisschen Verständnis entgegenbringen. Aber damit war wohl nicht zu rechnen. Constance war, seitdem sie Bekanntschaft mit Lady Haughston geschlossen hatte, klar geworden, dass sie von ihrer Tante nur Zurechtweisung und Kränkung zu erwarten hatte.

„Ich werde mich bemühen, dir keine Schande zu machen“, sagte sie mit fester Stimme und schaute ihrer Tante in die Augen. „Allerdings musst du endlich einsehen, dass ich keine Gouvernante bin. Ich habe dir mit Margaret und Georgiana geholfen, und dazu bin ich auch in Zukunft bereit. Aber die Erziehung und Aufsicht über deine Töchter liegt bei dir, Tante. Ich wurde von Lady Haughston nach Redfields eingeladen, um mich zu vergnügen, und das werde ich auch tun. Ich werde diese Reise nicht machen, um dort Anweisungen von dir und den Mädchen zu befolgen, oder mich ständig in ihrer Nähe aufhalten.“

Tante Blanches Augen funkelten zornig. „Dein Benehmen in letzter Zeit ist ungebührlich und anmaßend. Ich fürchte, Lady Haughston übt einen schlechten Einfluss auf dich aus. Sie ist keine gute Gesellschaft für dich.“

„Tatsächlich? Offenbar bist du der Meinung, Lady Haughston sollte sich aus unserem Leben heraushalten.“ Constance blickte ihre Tante herausfordernd an.

Tante Blanche holte tief Atem, schien sich aber eines Besseren zu besinnen. Sie schürzte die Lippen und verkündete nach kurzem Überlegen: „Was für eine Dame von Lady Haughstons Rang als Benehmen akzeptabel ist, darf sich eine unverheiratete Frau keineswegs gestatten, noch dazu, wenn sie mittellos ist und keinen angesehenen Namen vorzuweisen hat.“

„Der Name Woodley ist so gut wie jeder andere“, hielt Constance ihr beherzt entgegen. „Ich fasse es nicht, dass du anders darüber zu denken scheinst. Du trägst schließlich den gleichen Namen.“

Ihre Tante machte ein verdutztes Gesicht. „So habe ich das nicht gemeint … Natürlich sind die Woodleys eine angesehene Familie.“Verärgert räusperte sie sich.„Wieso stehen wir eigentlich hier herum und reden über nichtige Dinge. Wir sollten uns lieber um unser Gepäck kümmern.“

Eilig verließ sie das Zimmer.

Mit einem Seufzer der Erleichterung begann Constance, ihre Koffer zu packen, und bemühte sich, die feindseligen Worte ihrer Tante aus dem Gedächtnis zu streichen. Sie wollte den Besuch in Kent genießen und war fest entschlossen, sich die Freude von ihrer Tante nicht verderben zu lassen.

Am nächsten Tag, nachdem das Gepäck endlich in der Postkutsche verstaut war, trat die Familie die Reise an, die gottlob nicht übermäßig lange dauerte, obgleich Georgiana das Holpern der Kutsche nicht vertrug und man gezwungen war, immer wieder haltzumachen, bis ihr empfindlicher Magen sich wieder beruhigt hatte. Constance bekam leichte Kopfschmerzen von dem ständigen Gejammer und sehnte das Ende der Reise herbei.

Am späten Nachmittag erreichte man Redfields, die Kutsche fuhr durch einen schönen Park mit alten ausladenden Kastanienbäumen, die Kiesstraße von blühenden Weißdornsträuchern gesäumt, bis sich der Blick schließlich auf ein prachtvolles Herrenhaus öffnete.

„Oh, wie schön!“, rief Constance, die den Kopf aus dem Fenster streckte, um besser sehen zu können.

Die Strahlen der tief stehenden Sonne tauchten das rote Backsteingebäude in einen warmen Schein und ließen die unzähligen Fenster aufblitzen. Es wurde von drei zinnenbewehrten Giebeltürmen gekrönt, die aus der imposanten Fassade hervorsprangen. Aus dem Walmdach des Haupthauses ragte eine Vielzahl von Kaminen auf, an der Ostseite erstreckte sich ein langer, einstöckiger Flügelanbau, dessen Flachdach von einer geschwungenen weißen Balustrade begrenzt war.

Constance fragte sich verwundert, wieso Lord Leighton sein Elternhaus so ungern besuchte. An seiner Stelle hätte sie ein solches Heim gar nicht erst verlassen.

Die Kutsche hielt vor dem mittleren vorgeschobenen Turmbau, der ein schweres Eichenportal überdachte. Die Woodleys stiegen aus und blickten bewundernd die Fassade hinauf. Über dem Portal prangten drei Wappen in Stein gemeißelt, und weitere behauene Schmuckelemente und Ornamente zierten den steinernen Rundbogen.

Das Portal wurde von einem livrierten Lakaien geöffnet, der die Gäste durch eine große Halle in einen Salon führte. Constance starrte auf den steifen Rücken des Dieners und fragte sich bangen Herzens, was geschehen würde, wenn Francesca nicht zugegen wäre, um sie zu begrüßen. Sie befürchtete, dass Lord und Lady Selbrooke über den Besuch von fünf völlig fremden Menschen nicht sonderlich begeistert wären.

Zu ihrer großen Erleichterung saß Francesca auf einem Sofa und unterhielt sich mit einer älteren Dame, vermutlich ihrer Mutter. Constances Blick wanderte weiter durch den Raum und entdeckte Lord Leighton an einem Fenster stehend. Er hatte sich bei ihrem Eintreten halb umgedreht, und das Abendlicht erhellte seine schönen Gesichtszüge. Constances Herz machte einen Satz, als er ihr zulächelte.

Francesca sprang mit einem kleinen Freudenschrei auf, eilte herbei, ergriff Constances Hand, führte sie zu der älteren Dame und stellte sie einander vor.

Lady Selbrooke sah ihrer Tochter erstaunlich ähnlich. Ihr blondes Haar war von silbernen Fäden durchzogen, und um ihre blauen Augen lag ein dünner Faltenkranz. Allerdings fehlte ihr die Lebhaftigkeit des Mienenspiels, das Francesca so sympathisch machte. Ihre Mimik wirkte beherrscht und ein wenig eisig. Lady Selbrooke nickte Constance und ihrer Familie höflich zu und murmelte einen Willkommensgruß, schien aber an der Begegnung nicht weiter interessiert zu sein.

Lord Selbrooke erhob sich von seinem Sessel und begrüßte die Gäste ebenso reserviert wie seine Gemahlin. Ein gut aussehender, stattlicher Herr in mittleren Jahren, dem allerdings das Lachen in den Augen und die ungezwungene Art fehlte, die seinen Sohn so liebenswert machte.

„Kennen Sie Lady Rutherford und Miss Muriel Rutherford?“, fragte Francesca fröhlich und winkte den beiden anderen Damen im Zimmer aufgeregt zu. „Lady Rutherford, Miss Rutherford, darf ich Sie mit Sir Roger Woodley, seiner Gemahlin und ihren Töchtern bekannt machen? Und dies ist Miss Constance Woodley.“

Constance wandte sich einer dunkelhaarigen Dame in mittleren Jahren zu und einer neben ihr sitzenden jüngeren, gleichfalls dunkelhaarigen Dame. Beide maßen Constance mit kühlen Blicken, und sie erkannte mit einiger Beklemmung, dass es sich um die beiden Frauen handelte, die sie auf dem Ball vor einer Woche so feindselig gemustert hatten.

Constance machte einen höflichen Knicks und murmelte eine Begrüßung. Während Francesca ihre Verwandten in ein höfliches Gespräch verwickelte, betrachtete sie die Damen verstohlen. Muriel Rutherford saß kerzengerade und mit sittsam im Schoß gefalteten Händen auf dem Stuhl, ohne die Lehne mit dem Rücken zu berühren. Sie trug ein Sommerkleid mit Streublumenmuster, an Ausschnitt und Saum mit Rüschen besetzt, ein mädchenhaftes Kleid, das nicht zu ihrem ernsthaften blassen Gesicht passen wollte. Ihre wasserblauen Augen verstärkten den Eindruck feindseliger Reserviertheit. Sie war die jüngere Ausgabe ihrer Mutter, einschließlich der dünnen Lippen und schmalen Nase.

„Miss Woodley!“ Lord Leightons Stimme lenkte Constance von Miss Rutherford ab, und sie drehte sich zu ihm um. Er lächelte, und seine Augen funkelten amüsiert. Er beugte sich über ihre ausgestreckte Hand und hielt sie einen Moment länger, als schicklich gewesen wäre.

Aus den Augenwinkeln glaubte Constance zu bemerken, wie Muriel Rutherfords Lippen noch dünner wurden.

„Es ist mir eine große Freude, Sie wiederzusehen“, erklärte der Viscount.

Umgehend vergaß Constance die Damen Rutherford und lächelte ihn an. „Lord Leighton. Darf ich Ihnen meine Tante und meinen Onkel vorstellen?“

Mit seinem charmanten Lächeln deutete er eine Verbeugung in Richtung ihres Onkels an. „Sir Roger. Lady Woodley. Miss Woodley. Miss Woodley. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“

Georgiana und Margaret erröteten heftig und kicherten albern. Auch Tante Blanche konnte sich seinem Charme nicht entziehen. „Aber ja, danke der Nachfrage, Mylord“, antwortete sie geziert. „Wie reizend von Ihnen.“

„Sie sind gewiss erschöpft“, warf Francesca ein. „Darf ich Ihnen Ihre Zimmer zeigen?“

Francesca begleitete die Familie aus dem Salon, führte sie die Treppe hinauf und hakte sich freundschaftlich bei Constance unter. „Purlow hätte Sie auf Ihre Zimmer bringen können“, flüsterte sie Constance zu. „Aber ich wollte so rasch wie möglich fliehen. Eine langweiligere Unterhaltung kann man sich kaum vorstellen. Unerträglich. Allerdings habe ich Gewissensbisse, den bedauernswerten Dominic seinem Schicksal zu überlassen.“

Constance schmunzelte. „Ich vermute, Lord Leighton ist nicht um eine Ausrede verlegen, wenn er den Wunsch hat, sich zurückzuziehen.“

Francesca lachte. „Bravo. Sie haben ihn rasch durchschaut.“

Constance stellte erleichtert fest, dass ihr Zimmer an Francescas Zimmer grenzte und die halbe Länge des Flurs entfernt lag von den Unterkünften ihrer Verwandten. Sie dankte Francesca im Stillen dafür, denn dadurch würden die Mädchen nicht ständig bei ihr hereinplatzen und irgendeine Bitte an sie richten.

Ihr Koffer stand bereits im Zimmer, ein Stubenmädchen packte aus und hängte die Kleider in den Schrank. „Ich bin Nan, Miss“, grüßte sie mit einem artigen Knicks. „Wenn Sie einen Wunsch haben, klingeln Sie bitte.“ Sie wies zur Klingelschnur neben der Tür. „Lady Haughston sagte, Maisie kümmert sich um Ihre Frisur, und ich helfe Ihnen beim Ankleiden. Dinner um acht. Wollen Sie sich vorher ein wenig ausruhen?“

Während ihrer Erläuterungen nahm Nan Constance Hut, Handschuhe und Pelerine ab, untersuchte sie nach möglichen Flecken, die es auszubürsten galt, und hängte sie in den großen Mahagonischrank. Danach holte sie das Kleid aus dem Koffer, das Constance zum Abendessen tragen wollte, und entschuldigte sich, um es aufzubügeln, während Constance sich den Reisestaub von Gesicht und Händen wusch. Sie löste den Nackenknoten, bürstete ihr Haar und spürte, wie der leichte Kopfschmerz, der sich während der Reise eingestellt hatte, allmählich nachließ.

Sie streckte sich auf dem Bett aus, schloss die Augen und genoss die erholsame Stille nach dem unaufhörlichen Schnattern der beiden albernen Gänschen, dem leeren Geschwätz ihrer Tante und dem Holpern und Schlingern der Kutsche. Irgendwann erwachte sie vom Klopfen an der Tür. Nan brachte das gebügelte Kleid aus weißer Spitze über einem weißen schmalen Unterkleid und einer rosa-weiß gestreiften Korsage. Der viereckige Ausschnitt war gleichfalls mit weißer Spitze verziert.

Nan half Constance beim Anziehen, und gerade als das Stubenmädchen es im Rücken zugeknöpft hatte, klopfte es wieder, und Francesca rauschte ins Zimmer gefolgt von ihrer Zofe.

„O Constance!“, rief Francesca begeistert. „Wie entzückend. Mademoiselle Plessis hat sich wieder einmal selbst übertroffen. Sie sehen wunderschön aus. Nun setzten Sie sich und lassen sich von Maisie frisieren.“

Constance gehorchte, und Maisie vollbrachte ein Wunder mit ihren geschickten Händen. Die Zofe steckte ihr die Haare hoch und drehte die Enden ein, bis eine Fülle von Löckchen Constances Gesicht umrahmte. Während Maisie sie frisierte, zog Francesca sich einen Stuhl heran und begann zu erzählen.

„Zum Dinner erwarten wir einige interessante Gäste“, versprach sie Constance, machte eine Pause und nieste in ihr Taschentuch. „Du liebe Güte. Verzeihung. Cyril Willoughby ist soeben angekommen. Erinnern Sie sich? Sie haben bei Lady Simmingtons Ball mit ihm getanzt. Dann wären da noch Alfred Penrose und Lord Dunborough.“

Constance hörte nur mit halbem Ohr hin, als Francesca die Gäste beschrieb, mit besonderem Augenmerk auf die Junggesellen, deren Aussehen und charakterliche Vorzüge sie hervorhob. Constances Gedanken drehten sich um den bevorstehenden Abend, vorwiegend um Lord Leighton. Eine unruhige Spannung begann, Besitz von ihr zu ergreifen. Dieses Abenteuer versprach etwas ganz Besonderes für sie zu werden, angefangen mit dem heutigen Dinner. Vergnügliche Stunden und Tage erwarteten sie, in denen sie ein völlig anderes Leben führen durfte, als sie gewohnt war. Nicht das Leben der unverheirateten Nichte, eine Last für Onkel und Tante, die ständig darum bemüht sein musste, ihren Verwandten gefällig zu sein und sich nützlich zu machen aus Dankbarkeit für ihre Barmherzigkeit, sie bei sich aufgenommen zu haben. Eine kurze Zeitspanne würde sie in den Genuss eines Lebens kommen, für das sie ursprünglich bestimmt gewesen war, wäre ihr Vater nicht unheilbar krank geworden und so früh verstorben.

Bei aller Vorfreude vermochte Constance eine gewisse Beklemmung nicht zu verdrängen. Was wäre, wenn sie ihre Verwandten in Verlegenheit brachte, wovor Tante Blanche sie bereits gewarnt hatte? Wenn die vornehmen Gäste sie verachteten, ihr die Freude nicht gönnten und sie als deplatziert in dieser erlesenen Gesellschaft betrachteten? Oder vielleicht würden manche denken, sie sei zu alt, um sich wie eine junge Dame zu kleiden und zu verhalten?

„Fertig!“, rief Francesca strahlend. „Sie sind wunderschön. Absolut perfekt. Schauen Sie in den Spiegel.“

Constance trat an den Standspiegel in der Zimmerecke und lächelte. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war nicht nur jung und hübsch, sondern sie sah vornehm und elegant aus. Kein Mensch würde sie für eine Gouvernante und Anstandsdame halten.

Francesca stellte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Taille. „Sind Sie bereit?“

Constance nickte. „Ja, ich glaube schon.“

„Gut. Dann wollen wir uns nach unten begeben und Männerherzen erobern.“

7. KAPITEL

Die Gäste führten bereits angeregte Gespräche bei einem Glas Sherry im Vorraum des Speisesaals. Constance verharrte auf der Schwelle, befangen von der Vielzahl unbekannter Gesichter und dem Stimmengewirr.

„Seien Sie unbesorgt, bald werden Sie alle kennen“, versicherte Francesca ihrem Schützling. „Kommen Sie, ich stelle Sie zunächst der Dowager Duchess of Chudleigh vor. Sie ist die Älteste in der erlauchten Runde der Gesellschaftsmatronen und Taufpatin meiner Mutter. Sie ist stocktaub und wird Sie hochmütig mustern und nur abwesend nicken … so etwa.“ Francesca hob das Kinn, blickte über ihren schmalen Nasenrücken auf Constance herab, spitzte die Lippen und nickte hoheitsvoll. „Auf diese Weise begrüßt sie alle Gäste, nehmen Sie also bitte keinen Anstoß daran.“

Die Duchess saß neben Lady Selbrooke an der Stirnseite des Vorraums auf einer Polsterbank und beäugte die Gäste mit säuerlicher Miene. Sie trug ihr silbergraues Haar hoch aufgetürmt, wie es vor zwanzig Jahren Mode gewesen war, allerdings hatte sie darauf verzichtet, das kunstvolle Gebilde weiß zu pudern. Auch ihr schwarzes Kleid schien einer vergangenen Epoche zu entstammen, samt Fischbeinkorsett und ausladendem Reifrock. Als Francesca in einem tiefen Knicks vor ihr versank und Constance vorstellte, reagierte die Duchess in verblüffend ähnlicher Weise, wie Francesca es vorgemacht hatte, und Constance hatte einige Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken.

Nachdem diese Pflicht getan war, führte Francesca ihre Schutzbefohlene herum und machte sie mit den anderen Gästen bekannt. Constance, die befürchtete, nicht einmal die Hälfte der genannten Namen zu behalten, schwirrte alsbald der Kopf. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Cyril Willoughby und zwei weitere Herren, die sie beim Ball der Simmingtons zum Tanzen aufgefordert hatten. Constance wurde auch einigen jungen Damen vorgestellt, die wesentlich freundlicher zu sein schienen als Muriel Rutherford. Mit etwas Geschick würde es sich wohl vermeiden lassen, viel Zeit mit Miss Rutherford oder ihrer Mutter zu verbringen.

Auf ihrer Begrüßungsrunde bemerkte Constance, wie Lord Leighton das Vorzimmer betrat und zunächst seine Mutter und die Duchess begrüßte, so wie Francesca es getan hatte. Constance machte eine halbe Drehung, um zu vermeiden, in seine Richtung zu starren. Als sie allerdings kurz darauf aufschaute, spürte sie den Blick des Viscounts auf sich. Er lächelte ihr zu, wandte sich an den Herrn neben sich und wechselte ein paar Worte mit ihm, bevor er sich von ihm entfernte.

Lord Leighton bahnte sich langsam einen Weg durch die Gästeschar, blieb immer wieder stehen, um einem Bekannten Guten Tag zu sagen, aber Constance ahnte, dass Francesca und sie sein Ziel waren. Während sie mit Francesca und einem etwas apathischen jungen Herrn namens Lord Dunborough plauderte, war sie sich ständig bewusst darüber, wo Lord Leighton sich aufhielt, und hatte große Mühe, dem langatmigen Reisebericht von Lord Dunborough zu folgen, den er mit näselnder Stimme von sich gab.

Sie spürte, dass der Viscount zu ihrer kleinen Gesprächsrunde gestoßen war, bevor sie seine Stimme hörte. „Dunborough. Meine Damen.“

„Dominic!“ Francesca strahlte ihren Bruder mit dem Ausdruck höchster Erleichterung an.

Lord Dunborough nickte gravitätisch. „Hallo, Leighton. Habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen. Von Lady Rutherford erfuhr ich heute kurz vor der Abreise, dass Sie kommen, aber ich versicherte ihr, sie müsse sich irren. Ich habe erst Samstag vor einer Woche mit ihm gesprochen, sagte ich ihr, als ich auf einen Schwatz bei White’s vorbeischaute, und bin mir sicher, dass er mir anvertraute, dass er nicht kommt. Davon wollte sie allerdings nichts hören und bestand darauf, sie habe von Lady Selbrooke persönlich erfahren, dass Sie kommen, und sie musste es ja wissen, da es Ihr Haus ist und Sie ihr Sohn sind.“

„Ja, richtig“, unterbrach Lord Leighton diese umständlich vorgetragene und völlig belanglose Geschichte. „Manchmal passiert es, dass ich meine Meinung ändere.“

„So etwas geschieht in der Tat“, stimmte Dunborough ihm zu. „Erst gestern beschloss ich, mein blaues Jackett auf der Reise zu tragen, und wies meinen Kammerdiener an, es zurechtzulegen, was er auch tat. Aber heute beim Aufstehen dachte ich, nein, ich nehme das braune, da diese Farbe für eine Reise besser geeignet ist, finden Sie nicht auch?“

„Ich gebe Ihnen völlig recht“, pflichtete Lord Leighton ihm mit ernster Miene bei. „Genau diese Entscheidung hätte ich auch getroffen. Haben Sie sich eigentlich schon mit Mr. Carruthers unterhalten? Er interessiert sich für zwei Grauschimmel als Kutschenpferde. Und soviel ich weiß, haben auch Sie sich die Grauen angesehen, die Winthorpe verkaufen will.“

„Tatsächlich?“ Lord Dunboroughs Augen leuchteten interessiert auf. „Ich würde Winthorpe allerdings raten, sie ihm nicht zu verkaufen. Nein, auf keinen Fall.“ Er blickte suchend durch den Raum. „Ich sollte ein Wort mit ihm sprechen.“

„Das sollten Sie zweifellos“, riet Francesca ihm mit Nachdruck.

Es dauerte noch eine Weile, bis er sich gebührend entschuldigt hatte und sich endlich auf die Suche nach Mr. Carruthers machte.

Francesca seufzte erleichtert auf. „Danke, Dominic, du bist unser Retter.“

„Hat Dunborough die Damen mit der spannenden Geschichte seines gebrochenen Wagenrads gepeinigt?“ Lord Leightons Augen funkelten amüsiert.

„O ja, obgleich er den spannenden Höhepunkt noch nicht erreicht hatte“, erklärte Constance.

„Genau“, bestätigte Francesca. „Wir mussten uns geschlagene zehn Minuten anhören, wie das Verladen seines Gepäcks vonstattenging.“

„Was ist nur in dich gefahren, diesen Langweiler Miss Woodley aufzuhalsen?“, fragte Lord Leighton.

„Ich habe seine Gesellschaft so oft gemieden, dass ich vergessen hatte, wie grässlich langatmig er ist“, gestand Francesca. „Bitte verzeihen Sie, Constance. Wir streichen ihn von der Liste.“ Sie warf einen Blick zur Tür. „Ah, Ihre Verwandten sind im Anmarsch. Ich muss mich darum kümmern, sie mit den anderen Gästen bekannt zu machen. Bist du so nett und leistest Miss Woodley Gesellschaft, Dominic?“

„Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte der Viscount.

Als Francesca weg war, schaute Lord Leighton Constance neugierig an. „Eine Liste? Welche Liste haben Francesca und Sie denn aufgestellt?“

Constance errötete unter seinem forschenden Blick. „Ach nichts. Lady Haughston hat sich nur in den Kopf gesetzt, einen Ehemann für mich zu finden.“

„Suchen Sie denn einen Ehemann?“ Er hob eine Braue.

Constance schüttelte den Kopf. „Nein. Keine Sorge, ich reihe mich nicht in die Schar Ihrer Verehrerinnen ein. Ich bin nicht daran interessiert, den Bund fürs Leben zu schließen.“

„Sie ziehen es vor, gar nicht zu heiraten?“

„Das würde ich nicht behaupten. Mir steht lediglich nicht der Sinn nach einer Vernunftehe. Aber eine Frau ohne nennenswerte Mitgift hat in dieser Hinsicht keine große Auswahl.“ Sie lächelte mit einem leichten Achselzucken, um ihren Worten die Bitterkeit zu nehmen.

„Aha, das macht uns zu Leidensgefährten, Miss Woodley“,sagte er schmunzelnd.„Beide sind wir auf der Flucht vor dem Heiratsmarkt.“

„Ja. Wobei ich es als äußerst unwahrscheinlich erachte, mich vor Verfolgern verstecken zu müssen“, konterte sie scherzhaft.

„Das kann ich nicht glauben. Gibt es denn wirklich so wenige Männer, die Augen im Kopf haben?“

„Das ist eigentlich nicht der Punkt. Es gibt vermutlich außer Ihnen auch andere Männer, die kein Interesse an einer Heirat haben“, betonte sie. „Und vor anderweitigen männlichen Interessen sollte eine Frau sich hüten, um nicht auf Abwege zu geraten.“

Sie genoss das schlagfertige Geplänkel mit dem Viscount, die versteckten Andeutungen und Wortspiele. Als sie aber den Blick durch den Raum schweifen ließ, begegnete sie den eiskalten Augen von Miss Rutherford. Die offene Feindseligkeit der jungen Frau dämpfte Constances heitere Stimmung beträchtlich. Wieso brachte sie ihr diese unbegründete Abneigung entgegen? Vielleicht hatte ihre Ablehnung etwas mit Lord Leighton zu tun. Vielleicht bestand zwischen ihm und Miss Rutherford eine Beziehung.

Constance musterte ihren Gesprächspartner aufmerksam, aber in seinem Gesicht las sie nichts anderes, als dass er ein ähnliches Vergnügen bei ihrer Plauderei empfand wie sie selbst. Er benahm sich nicht wie ein Mann, der an eine andere Frau gebunden war. Und seine Bemerkungen über seine Flucht vor heiratswütigen Verehrerinnen ließen nicht auf eine bevorstehende Verlobung schließen. Sie musste sich irren. Muriel Rutherfords Abneigung gegen sie hatte gewiss einen anderen Grund. Vielleicht sah Muriel in jeder Frau eine Konkurrentin um die Gunst eines Mannes. Was auch immer dahinterstecken mochte, Constance beschloss, ihr in Zukunft möglichst keine Beachtung zu schenken.

Lord Leighton war im Begriff, etwas zu sagen, als der Gong ertönte. Er entschuldigte sich, um seine Mutter zum Dinner zu begleiten. Lord Selbrooke führte die Prozession an durch eine breite Schiebetür, deren zwei Flügel von einem Lakaien in die Wand geschoben worden waren, um den Blick in den großen Speisesaal freizugeben. Die Dowager Duchess of Chudleigh trippelte am Arm des Earls, gefolgt von Lord Leighton und Lady Selbrooke; der Rest der Dinnergesellschaft reihte sich dahinter ein.

Sir Lucien, den Constance bisher noch nicht bemerkt hatte, trat an ihre Seite und bot ihr seinen Arm, den sie mit einem dankbaren Lächeln ergriff. Ohne Francescas Nähe fühlte sie sich ziemlich verloren unter all den fremden Menschen. Er brachte sie an ihren Platz am Ende der langen Tafel, in einiger Entfernung von Francesca und Lord Leighton, die am Kopfende platziert waren. Zum Glück saß Constance zwischen Sir Lucien und Cyril Willoughby, einem aufmerksamen Herrn Mitte dreißig mit klugen braunen Augen. Ihre Befürchtung, sie würde sich als einsilbige, tollpatschige Tischdame bloßstellen, schwand rasch. Sir Lucien hatte sie bereits als geistreichen Plauderer erlebt, und auch mit Mr. Willoughby hatte sie bei Lady Simmingtons Ball schon ein wenig länger gesprochen und ihn als freundlich und redegewandt kennengelernt.

Daher verlief das Dinner mit seinen zahlreichen Gängen, das sich über eine Stunde hinzog, in erstaunlich angenehmer Atmosphäre für Constance. Sir Lucien erheiterte sie mit Anekdoten aus dem Leben einzelner Gäste, die er ihr mit gedämpfter Stimme erzählte. Wenn er sich Miss Norton, seiner Tischdame zur Linken, zuwandte, unterhielt Constance sich mit Mr. Willoughby angeregt über ein Lieblingsthema ihres Vaters, der in der Geschichte Großbritanniens bewandert gewesen war, nämlich die erbitterten Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancester um die Thronherrschaft.

Mr. Willoughby entpuppte sich als Bewunderer von Edward IV. und als ähnlich fundierter Kenner englischer Geschichte, wie Constances Vater einer gewesen war. Mr. Willoughby besaß ein bescheidenes Herrenhaus in Sussex, erzählte er, nachdem das Thema Geschichte weitgehend erörtert war, und schilderte das benachbarte verschlafene Dorf Lower Boxbury. Constance unterhielt sich gerne mit Mr. Willoughby und freute sich, dass Francesca ihn in die Liste der potenziellen Verehrer aufgenommen hatte. Ein gebildeter und belesener Mann, zudem vermögend, kurzum ein Mann, den viele Frauen gern heiraten würden.

Das Problem bestand indes darin, dass er keinerlei Reiz auf sie ausübte. Er war von angenehmem Äußeren, Haltung und Kleidung ließen nichts zu wünschen übrig, seine Manieren waren untadelig, er besaß sogar einen gewissen Sinn für Humor. Aber all diese positiven Eigenschaften lösten nichts in Constance aus, nicht den winzigen Bruchteil der prickelnden Erregung, die sie durchströmte, wenn Lord Leighton sich ihr näherte.

Natürlich erwartete sie nichts von Lord Leighton. Und sie hatte keineswegs die Absicht, den Fehler zu begehen, sich in ihn zu verlieben, da sie sich sehr wohl darüber im Klaren war, wie unsinnig es wäre, sich Hoffnungen auf eine Heirat mit ihm zu machen. Andererseits wäre es ihr nicht möglich, einen Mann zu heiraten, für den sie keine Leidenschaft empfand. Ihre Freundin Jane behauptete zwar, Liebe brauche Zeit, Geduld und guten Willen, um wachsen zu können, aber Constance war der Ansicht, dass Liebe im Keim bereits vorhanden sein musste, um wachsen zu können. Mochte Mr. Willoughby auch ein liebenswerter Mensch sein, sie konnte sich ein Leben an seiner Seite nicht vorstellen.

Und obgleich sie noch nicht viel Zeit mit den anderen Gästen verbracht hatte, befürchtete sie, dass es ihr bei den Herren, die Francesca in ihr Elternhaus eingeladen hatte, nicht anders ergehen würde. Alfred Penrose, den sie gleichfalls bei Lady Simmingtons Ball kennengelernt hatte, war zwar ein glänzender Tänzer, schien sich allerdings vorwiegend für Pferde und die Jagd zu interessieren. Dann gab es noch Lord Dunborough! In seiner Gesellschaft hatte sie sich bereits nach zehn Minuten tödlich gelangweilt: Ein Leben an seiner Seite wäre eine unerträgliche Qual. Vor dem Dinner war sie drei weiteren Herren vorgestellt worden, deren Namen ihr entfallen waren, von denen sie allerdings auch nicht den Eindruck gewonnen hatte, sie könnten einen Funken Gefühl in ihr wecken. Constance konnte nur hoffen, dass Francesca nicht allzu enttäuscht wäre, wenn sie ihre Wette verlor.

Immerhin hatte Constance ihre neue Freundin gewarnt. Sie wusste selbst, dass sie verstiegen hohe Ansprüche in Bezug auf Männer hatte. Eine Eigenart, die für eine Frau im heiratsfähigen Alter schon ungünstig war, bei einem mittellosen, verblühten Mauerblümchen jedoch ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ihre Cousinen waren da völlig anders; die beiden schmachteten nahezu jeden Mann an, der das Wort an sie richtete, solange er nur einigermaßen jung und wohlhabend war. Wenn sie es sich allerdings recht überlegte, fand Constance ihre Ansprüche gar nicht zu hoch gegriffen, und sie gestand ja auch freimütig ein, dass Mr. Willoughby einen guten Ehemann abgeben würde. Ihr Fehler lag eben darin, dass sie sich nicht leicht verliebte. Und in Momenten, in denen sie besonders kritisch über sich nachdachte, glaubte sie, sie könne sich gar nicht verlieben.

Einmal aber war sie verliebt gewesen. Damals, als die Krankheit ihres Vaters sich verschlimmert hatte und sie für einige Monate nach Bath gereist waren, in der Hoffnung, das Heilwasser und die Seeluft würden seinem Leiden Linderung verschaffen. In Bath war Constance Gareth Hamilton begegnet. Sie hatte ein paar Wochen im Glück geschwelgt, als er ihr den Hof machte, und sich seligen Hoffnungen hingegeben. Doch ihr Glück war an den rauen Klippen der Wirklichkeit zerschellt. Gareth hatte um ihre Hand angehalten, aber sie sah sich gezwungen, seinen Antrag abzulehnen, da ihr Pflichtgefühl nicht zuließ,ihren Vater in seiner Krankheit allein zu lassen. Also hatten Gareth und sie sich getrennt.

Ihre Freundin Jane pflegte mit einem romantischen Stoßseufzer zu sagen, Constance trauere ihrer verlorenen Liebe bis heute nach, wobei Constance selbst diese Meinung nicht teilte. Sie trauerte nicht um Gareth, dachte eigentlich gar nicht mehr an ihn. Allerdings fragte sie sich gelegentlich, ob diese bittere Erfahrung ihre Seele tief verletzt und ihr die Fähigkeit zu lieben genommen hatte.

Nach dem Dinner verabschiedeten sich die Herren zu einem Glas Port und einer Zigarre in den Rauchsalon, während die Damen sich ins Musikzimmer begaben. Lady Selbrooke machte den Vorschlag, Miss Rutherford möge die Gäste mit ihrem Klavierspiel erfreuen. Das dunkelhaarige, gertenschlanke Mädchen trat ans Piano, fächerte die Notenblätter durch und setzte sich.

Muriel Rutherford war eine ausgezeichnete Pianistin. Ihr Spiel war technisch perfekt, allerdings fehlte es ihm an Gefühl und Leidenschaft, und die Sonate, die sie vortrug, war düster und sehr getragen. Nach dem mehrgängigen Menü wirkte die ernste Musik einschläfernd auf Constance, die nach einer Weile Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass die Duchess im Kampf gegen die Müdigkeit bereits kapituliert hatte. Sie thronte mit geneigtem Kopf und geschlossenen Augen auf ihrem Sessel. Die zwei violett eingefärbten Straußenfedern in der aufgetürmten Frisur der Dowager Duchess wippten mit jedem tiefen Atemzug ein wenig auf und nieder. Gelegentlich riss die alte Dame den Kopf hoch, warf strenge Blicke in die Runde, bevor ihr die Lider wieder schwer wurden und sie erneut einschlummerte.

Neben Constance seufzte Francesca leise, hob den Fächer und murmelte: „Mutter zieht sich für gewöhnlich zeitig zurück. Ich vermute, sie will die Gäste bald loswerden, deshalb hat sie Muriel gebeten zu spielen.“

Ein Lächeln umspielte Constances Lippen, sie senkte den Kopf, um es zu verbergen, und flüsterte: „Sie sind boshaft.“

„Aber ehrlich. Ich würde viel darum geben, ein Mann zu sein, um diesem Kunstgenuss entfliehen zu können.“

„Bleiben die Herren so lange im Rauchsalon, bis der musikalische Vortrag vorüber ist?“, fragte Constance erstaunt.

„Wenn Muriel spielt, ja“, entgegnete Francesca. „Und da Mutter sie immer darum bittet …“ Sie musste niesen und hielt sich ein Spitzentüchlein unter die Nase. Sie nieste noch zweimal und schnäuzte sich die Nase. „Verflixt! Schon wieder. Hoffentlich habe ich mich nicht erkältet.“

Lady Rutherford, die in der Reihe vor ihnen in der Nähe des Pianos saß, drehte sich stirnrunzelnd um, um zu sehen, wer es wagte, Muriels Vortrag zu stören. Francesca lächelte schuldbewusst. Kurz darauf straffte sie die Schultern, hob den Fächer wieder und neigte sich Constance zu. „Folgen Sie meinem Beispiel!“, raunte sie verschwörerisch.

Constance nickte verwirrt. Francesca lehnte sich zurück, wedelte mit dem Fächer und machte ein verdächtig unschuldiges Gesicht. Und dann begann sie zu hüsteln, musste wieder niesen, kurz darauf folgte ein krampfartiger Hustenanfall, den sie mühsam mit vorgehaltenem Taschentuch zu unterdrücken versuchte. Die Darbietung war so realistisch, dass Constance sich besorgt zu ihr beugte. „Kann ich Ihnen helfen?“, flüsterte sie.

Francesca schüttelte nur den Kopf und begann, sich zu erheben. Constance half ihr und nahm sie beim Arm. Entschuldigungen murmelnd, führte sie die Freundin, die immer noch ihren Hustenanfall bekämpfte, aus dem Musikzimmer.

Draußen hustete Francesca noch einige Male, um die Wirkung zu unterstreichen, während sie den Flur zur Treppe entlangeilte und Constance ein verschwörerisches Lächeln zuwarf, die sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnte.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Constance war ernst geworden und musterte ihre Freundin prüfend.

Francesca schmunzelte schelmisch und nieste erneut in ihr Taschentuch. „Ich weiß nicht recht“, antwortete sie ehrlich. „Der Hustenanfall war vorgetäuscht. Aber dieses Niesen …“ Sie räusperte sich, betupfte die Augen und seufzte. „Du meine Güte, hoffentlich kann ich an dem Ausflug morgen teilnehmen.“

„Was für ein Ausflug?“, fragte Constance, während die beiden die Treppe hinaufstiegen.

„Nichts Weltbewegendes, nur eine Besichtigung unserer Dorfkirche.“ Francesca putzte sich die Nase. „Der Pfarrer hält einen Vortrag über ihre Entstehungsgeschichte. Der Kirchturm stammt aus normannischer Zeit, und es gibt noch weitere Sehenswürdigkeiten zu bewundern. Eigentlich sterbenslangweilig, aber wenigstens eine Abwechslung. Außerdem bleiben die Duchess, meine Mutter und Lady Rutherford zu Hause, was die Sache etwas reizvoller macht.“

Constance lachte leise, und Francesca fügte hinzu: „Allerdings sagte Ihre Tante meiner Mutter, sie würde sich glücklich schätzen, die jungen Leute als Aufsichtsperson zu begleiten, und Mama erteilte begeistert ihre Zustimmung. Dennoch sollte sich für Sie reichlich Gelegenheit bieten, mit den Herren zu plaudern und vielleicht ein wenig zu flirten.“

Sie warf Constance einen hoffnungsvollen Seitenblick zu.

„Dagegen habe ich nichts einzuwenden“, antwortete Constance.

„Beim Dinner war Mr. Willoughby Ihr Tischherr“, fuhr Francesca fort. „Wie gefällt er Ihnen?“

„Er ist sehr nett“, antwortete Constance ausweichend.

„Aber …?“, hakte Francesca nach.

„Hoffentlich halten Sie mich nicht für undankbar, Francesca, aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich nicht glaube, dass er … ähm, dass ich … Es klingt gewiss anmaßend von mir, so zu sprechen, da Mr. Willoughby und ich uns kaum kennen, und ich bezweifle, dass er je überlegen würde, mir einen Antrag zu machen, aber selbst wenn er die Absicht hätte, könnte ich nicht annehmen. Er ist ein sehr freundlicher Mann, aber ich denke nicht, dass ich mich je in ihn verlieben könnte und …“

„Aber, aber, meine Liebe“, fiel Francesca ihr ins Wort und drückte ihr besänftigend die Hand. „Machen Sie kein so trübsinniges Gesicht. Ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie sich nicht verloben. Und ich erwarte gewiss nicht, dass so etwas in den nächsten zwei Wochen passieren wird. Wir haben reichlich Zeit – und Cyril Willoughby ist schließlich nicht der einzige Anwärter. Da wären noch Alfred Penrose, Mr. Kenwick und Mr. Carruthers. Und Philip Norton. Lord Dunborough streichen wir von der Liste. Ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, den Langweiler einzuladen. Und wenn wir wieder in London sind, stelle ich Ihnen noch eine ganze Reihe möglicher Kandidaten vor.“

Der Knoten aus Angst und Unsicherheit in Constances Magen begann sich aufzulösen. „Mein Gott, bin ich froh, dass Sie das sagen. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie alles für mich getan haben, und bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür.“

„Unsinn. Das alles macht mir großen Spaß. Und was habe ich denn schon für Sie getan? Abgesehen von einem höchst unterhaltsamen Einkaufsbummel mit Ihnen und den paar Einladungen? Ich sollte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie mich darin unterstützen, dieses Sommerfest amüsanter zu gestalten. Es ist jedes Jahr quälend langweilig.“

Unterdessen hatten sie die Tür zu Francescas Räumlichkeiten erreicht. „Nach meiner Darbietung im Musikzimmer sollte ich besser zu Bett gehen.“

Die Freundinnen wünschten einander eine gute Nacht, und Constance begab sich in ihr Zimmer, da sie die Ruhe dem anstrengenden Klavierspiel von Muriel Rutherford vorzog. Allerdings war sie noch nicht müde genug, um schlafen zu können. Deshalb beschloss sie, sich ein Buch aus der Bibliothek zu holen und zu lesen.

Also entzündete sie eine Kerze und huschte auf Zehenspitzen die Treppe noch einmal hinunter, den Flur entlang bis zur Bibliothek, und hoffte niemandem zu begegnen, denn sonst hätte es die Höflichkeit erfordert, wieder ins Musikzimmer zurückzukehren.

Auf einem Beistelltisch verbreitete eine Öllampe einen schwachen Schein. Constance schloss die Tür leise hinter sich, drehte den Docht höher, trat an die Regale zu ihrer Rechten und studierte die Buchrücken.

Bei einem Geräusch wirbelte Constance erschrocken herum. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als sie einen Mann auf dem Sofa sitzen sah, der sie über die Rückenlehne hinweg beobachtete. Im nächsten Moment erkannte sie Lord Leighton. Sie fasste sich mit der linken Hand an ihr klopfendes Herz und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

„Wir sollten aufhören, uns auf diese Weise zu treffen“, sagte er. „Sonst kommen wir noch ins Gerede.“

„Sie haben mich fast zu Tode erschreckt“, entgegnete Constance. Der Schock ließ ihre Stimme barsch klingen. „Wo haben Sie gesteckt? Ich habe Sie nicht bemerkt.“

„Ich habe mich kurz hingelegt“, erklärte er, erhob sich und näherte sich ihr. „Wir verstecken uns wohl wieder? Vor wem denn diesmal? Der gefürchteten Tante? Nein, warten Sie, ich kenne die Antwort. Zweifellos aus dem gleichen Grund, aus dem ich geflohen bin. Muriel malträtiert das Klavier.“

Constance musste lachen, doch dann bemühte sie sich um eine strenge Miene. „Das dürfen Sie nicht sagen. Sie ist eine ausgezeichnete Pianistin.“

„Ohne Zweifel. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Mit ihrem Spiel malträtiert sie ihre Zuhörer.“

„Aber waren Sie denn nicht gemeinsam mit den anderen Herren im Rauchsalon?“, fragte Constance erstaunt.

„Gott behüte! Dort hielt sich mein Vater auf.“

Constance zog die Brauen hoch. Zwischen Vater und Sohn herrschte eindeutig ein angespanntes Verhältnis, wie sie bereits Lord Leightons früheren Bemerkungen über seine Familie und über seine seltenen Besuche in Redfields entnommen hatte. Sie hätte gerne die Ursache gewusst, aber es wäre höchst unhöflich, eine derartige Frage zu stellen, also unterließ sie es.

„Es tut mir leid, Sie gestört zu haben“, sagte sie stattdessen.

„Ihre Anwesenheit kann kaum eine Störung genannt werden“, versicherte er galant. „Bleiben Sie, und wir unterhalten uns ein wenig.“ Er deutete zum Sofa und zu den Stühlen, die in der Mitte des Raumes standen.

Constance warf einen Blick zur geschlossenen Tür. Es war kaum schicklich, sich zu dieser späten Stunde allein mit einem Mann bei geschlossener Tür in einem Raum zu befinden, selbst dann nicht, wenn dieser Raum eine Bibliothek war.

Er machte einen Schritt auf sie zu und sagte scherzhaft: „Fürchten Sie, allein mit mir zu sein? Ich verspreche, Ihnen nicht zu nahe zu treten und Sie nicht zu kompromittieren.“

Constances Puls schlug schneller bei dem Gedanken daran, was beim letzten Mal geschehen war, als sie mit Lord Leighton allein gewesen war. Sie schaute ihn an, bemerkte das Funkeln in seinen Augen, und ihr war klar, dass auch er an jenen Kuss dachte.

Er hob die Hand und strich mit einem Finger zart über ihre Wange. „Ich weiß. Ich konnte Ihnen beim letzten Mal nicht widerstehen, wieso sollten Sie mir jetzt vertrauen? Das ist es doch, was in Ihnen vorgeht, nicht wahr?“

„Eine berechtigte Frage“, entgegnete sie ein wenig atemlos. Ihre Haut prickelte warm, wo er sie berührt hatte, und ihr Herz hämmerte so laut, dass sie befürchtete, er würde es hören können.

„Damals war es ein Spaß“, antwortete er weich. „Ich kannte Sie nicht und dachte, ich sehe Sie nie wieder. Es war lediglich … eine Torheit, ein Jux.“

„Und diesmal?“ Constance war seltsam kühn und zugleich beklommen zumute.

„Diesmal ist es anders, nicht wahr?“ Er strich ihr ein Löckchen hinters Ohr und betrachtete ihr Gesicht. Seine Augen leuchteten tiefblau, sein samtener Blick fühlte sich an wie eine körperliche Berührung.

Obgleich er sie nicht mehr anfasste, begann ihre Haut zu prickeln, und in ihrem Leib flammte ein wildes Feuer auf. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer.

„Weil ich eine Freundin Ihrer Schwester bin, meinen Sie?“ Sie bemühte sich angestrengt, mit fester Stimme zu sprechen.

„Weil es etwas bedeuten würde.“

Sie schauten einander lange in die Augen. Constance rechnete damit, dass er sie wieder küssen würde. Eigentlich äußerst ungebührlich, wie sehr sie sich wünschte, er würde es tun, stellte sie für sich fest. Sie spürte, wie sich ihre Brustknospen aufrichteten und ein nie gekanntes Verlangen von ihr Besitz ergriff. Hitze stieg in ihr auf, und sie konnte nicht unterscheiden, ob sie vor Verlegenheit oder vor Verlangen errötete.

Die Luft zwischen ihnen schien vor Spannung zu knistern. Dann trat der Viscount einen Schritt zurück.

Constance schluckte und wandte sich ab. „Ich … ich gehe besser in mein Zimmer.“

„Aber Sie haben noch kein Buch ausgewählt.“ Lächelnd deutete er auf das Regal hinter ihr.

„Ach ja.“ Sie drehte sich um und griff blind nach einem Band, hielt ihn sich vor die Brust wie einen Schutzschild und murmelte: „Gute Nacht, Mylord.“

„Gute Nacht, Miss Woodley. Schlafen Sie gut.“

Ein frommer Wunsch, dachte Constance, während sie den Korridor entlanghastete und die Treppe hinauffloh. Sie fühlte sich innerlich so aufgewühlt, in ihrem Kopf schwirrten so wirre Gedanken, dass sie vermutlich keinen Schlaf finden würde.

Weil es etwas bedeuten würde. Was hatte er ihr mit diesen Worten mitteilen wollen? Liebe? Heirat? Nein. Ein völlig absurder Gedanke; sie kannten einander kaum. Aber vermutlich hatte er damit gemeint, dass ein Kuss zwischen ihnen nichts Flüchtiges wäre, kein belangloser Spaß. Könnte er von etwas Tiefem und Dauerhaftem gesprochen haben?

Constance betrat ihr Zimmer und schloss die Tür, ging zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Vermutlich hatte er ihr damit nur zu verstehen geben wollen, dass sie beim zweiten Kuss den ersten Schritt auf einem Weg tun würde, der ins Verderben und in den gesellschaftlichen Ruin führte.

Ein zukünftiger Earl heiratete keine mittellose Tochter eines Baronets. Als Francesca vorhin die Liste der für Constance infrage kommenden Verehrer in Redfields aufzählte, hatte sie Lord Leighton nicht erwähnt. Francesca mochte sie, das wusste Constance, aber sie sah in ihr gewiss keine geeignete Braut für ihren Bruder … und die dünkelhaften, hochtrabenden Eltern, Lord und Lady Selbrooke, schon gar nicht.

Also sollte sie seine Worte wahrscheinlich als Warnung begreifen, überlegte Constance, wobei sie nicht wie eine Warnung geklungen hatten. In ihren Ohren hatten sie eher wie eine Einladung geklungen.

Sie lehnte die Stirn gegen das Fenster, schloss die Augen und erinnerte sich an den Kuss – an Lord Leightons Atem an ihrer Haut, den weichen und dennoch festen Druck seiner Lippen auf ihrem Mund, die Hitze und das Verlangen, das sie durchflutet hatten.

Sie schüttelte den Kopf, um diese Bilder zu verscheuchen, und wandte sich vom Fenster ab. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie das Buch immer noch an ihren Busen gedrückt hielt, drehte es um und las den Titel.

Es war Leviathan von Thomas Hobbes, eines der bedeutendsten Werke der politischen Philosophie aus dem Jahr 1651. Wahrlich eine entspannende Bettlektüre, stellte Constance fest und musste innerlich lachen.

Sie legte das schwer verdauliche staatstheoretische Werk auf den Nachttisch und begann sich zu entkleiden. Nan hatte sie gebeten, vor dem Zubettgehen nach ihr zu klingeln, aber Constance wollte lieber allein sein und ihren Gedanken nachhängen, die sie vermutlich daran hinderten, bald einschlafen zu können, aber das störte sie nicht im Geringsten. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich sprühend vor Lebensfreude. Und dieses Gefühl wollte sie auskosten.

8. KAPITEL

Als Constance am nächsten Morgen das Frühstückszimmer betrat, war Francesca nicht da. Constance unterhielt sich angenehm mit zwei lebhaften Schwestern, die mit ihrem Bruder Philip Norton von ihrem Landsitz in Norfolk angereist waren. Sie waren entfernte Verwandte von Lady Selbrooke und standen unter der Vormundschaft ihres älteren Bruders, der ebenso reserviert und einsilbig war wie seine Schwestern redselig und aufgedreht. Die beiden hatten mit siebzehn und achtzehn ihr Debüt noch nicht gehabt und sahen in ihrem Aufenthalt auf Redfields eine aufregende Abwechslung zu den kleinen nachbarschaftlichen Zusammenkünften und Kaffeekränzchen, die ihr Gesellschaftsleben in Norfolk ausmachten. Sie sprudelten nur so vor begeisterten Mutmaßungen über den geplanten Ausflug ins Dorf.

Für die älteren Damen und jene, die nicht reiten konnten, stehe ein offener Landauer zur Verfügung, berichteten sie Constance, und für die Damen, die den Wunsch hatten zu reiten, wurden Pferde gesattelt. Die Schwestern zogen es selbstverständlich vor zu reiten.

„Auch wenn wir im Vergleich zu Miss Rutherford keine gute Figur im Sattel abgeben“, erklärte Miss Elinor Norton mit einem verschmitzten Lächeln, das Constance wissen ließ, wie herzlich wenig sie das kümmerte.

„Sie soll eine ausgezeichnete Reiterin sein, wie ich höre. Sie hat sogar ihr eigenes Pferd mitgebracht“, fügte ihre Schwester Lydia hinzu.

„Gestern Abend erklärte sie uns, sie würde niemals und unter keinen Umständen ein fremdes Pferd reiten.“

„Etwas anderes hätte ich von ihr auch nicht erwartet“, antwortete Constance trocken.

„Reiten Sie, Miss Woodley?“, fragte Philip, der Bruder der beiden Mädchen, und erstaunte Constance damit, dass er offenbar der Plauderei seiner Schwestern Beachtung geschenkt hatte.

Sie lächelte. „Ich bin zwar keine Expertin wie Miss Rutherford, aber ja, früher bin ich häufig geritten. Es ist einige Jahre her, und bedauerlicherweise habe ich nicht daran gedacht, ein Reitkostüm einzupacken.“

Genauer gesagt hatte sie das Reitkostüm gar nicht mit nach London genommen, da sie nicht im Traum damit gerechnet hätte, Verwendung dafür zu haben. Deshalb würde sie also mit den „älteren Damen“ in der offenen Kutsche sitzen. Wenigstens blieb ihr dadurch die Nähe von Muriel Rutherford erspart, immerhin ein tröstlicher Gedanke.

Nach dem Frühstück begab sie sich nach oben, um nach Francesca zu sehen, deren Abwesenheit ihr inzwischen ernsthafte Sorgen bereitete. Leider bestätigte es sich, dass sie sich zu Recht gesorgt hatte, denn als sie an die Tür zu den Räumlichkeiten ihrer Freundin klopfte, bat Francesca sie mit heiserer Stimme einzutreten.

Sie saß mit gerötetem Gesicht und wässrigen Augen, in einen Schal gehüllt im Bett, den Rücken gegen die Kissen gelehnt.

„Ach Constance“, jammerte sie – wenn ihr heiseres Krächzen als Jammern bezeichnet werden konnte. „Es tut mir so leid. Ich glaube, ich habe mir eine dumme Erkältung geholt.“

„Du lieber Himmel, das darf Ihnen doch nicht leidtun“, erwiderte Constance mitfühlend. „Sie haben diese Erkältung ja nicht absichtlich bestellt.“

„Ich kann nicht mit in die Kirche kommen“, klagte Francesca und nieste ins Taschentuch.

„Natürlich nicht“, sagte Constance. „Sie bleiben im Bett und kurieren sich aus. Ich bleibe gerne und pflege Sie.“

„Aber nein! Auf keinen Fall!“, rief Francesca entrüstet. „Maisie bringt mir Tee und legt mir feuchte Tücher auf die Stirn. Sie müssen mir versprechen, keine Spielverderberin zu sein.“

Francesca machte ein flehendes Gesicht, und Constance beeilte sich, ihr zu versichern, dass sie an dem Ausflug teilnehmen würde. „Aber ich lasse Sie nur höchst ungern allein, wenn Sie krank sind.“

Francesca hustete, schüttelte aber heftig den Kopf. „Nein. Ich habe Sie nicht nach Redfields eingeladen, damit Sie meine Krankenschwester spielen. Sie amüsieren sich, darauf bestehe ich.“

Constance war es gar nicht recht, die Freundin allein zu lassen. Maisie betrat das Zimmer mit einer Schüssel dampfenden Wassers, in dem aromatische Kräuter schwammen, und stellte sie neben das Bett ihrer Herrin.

„Glauben Sie mir, Miss“, raunte Maisie Constance vertraulich zu, als sie sie zur Tür brachte. „Sie hasst es, wenn jemand sie in diesem Zustand sieht. An mich ist sie gewöhnt, und ich weiß, was ich zu tun habe.“

Die treue Zofe stand seit vielen Jahren in Francescas Diensten und wusste zweifellos besser, wie sie ihre Herrin gesund pflegen konnte. Also ging Constance reinen Gewissens nach unten, um sich der Ausflugsgesellschaft anzuschließen.

Sie konnte nicht leugnen, dass sie einen Stich des Neids empfand, als sie Muriel Rutherford im Sattel einer edlen Fuchsstute sah. Muriels gertenschlanke Figur kam in einem streng geschnittenen, anthrazitgrauen Reitkostüm fabelhaft zur Geltung, dazu trug sie einen verwegenen kleinen Hut, einem militärischen Tschako ähnlich, schräg auf dem Scheitel ihres schwarzen Haares. Miss Rutherford lenkte die unruhig tänzelnde Stute mit eleganter Anmut, ihre Augen hatten einen beinahe warmen Glanz. Im Sattel befand sie sich eindeutig in ihrem Element.

Auch Lord Leighton saß im Sattel, wie die meisten der jüngeren Herren, und Constance konnte nicht umhin, seine Erscheinung zu bewundern. Hochgewachsen und breitschultrig wirkte er so schneidig, als wäre er im Sattel geboren worden. Francesca hatte ihr erzählt, dass er ein Regiment befehligt hatte, und Constance sah vor ihrem inneren Auge, wie er an der Spitze seiner Soldaten in die Schlacht ritt.

Constance musste sich damit begnügen, im offenen Landauer mit ihrer Tante und ihrer Cousine Georgiana zu fahren, die Pferde nicht ausstehen konnte. Mit von der Partie war noch Miss Cuthbert, ein stilles, zurückhaltendes Mädchen, eine Großnichte der Duchess. Die Fahrt verlief, genau wie Constance befürchtet hatte. Tante Blanche riss das Gespräch an sich, plapperte endlos über die vorzügliche Qualität des Essens in Redfields, die behaglichen Gästezimmer und war selbstverständlich des Lobes voll für die grandiosen künstlerischen Darbietungen von Miss Rutherford am Pianoforte.

Constance, die den Lobreden ihrer Tante über das künstlerische Ausnahmetalent von Miss Rutherford nur mit halbem Ohr lauschte, bemerkte, wie Lord Leighton sich aus der Reitergruppe löste und zurückblieb, um neben der offenen Kutsche herzureiten. Er zog den Hut und grüßte die Damen mit einer galanten Verneigung. Georgiana und Tante Blanche erwiderten seinen Gruß überschwänglich, und selbst Miss Cuthbert schien in seiner Gegenwart eine Spur lebhafter zu werden.

Er wandte sich an Constance.

„Ich stelle mit Bedauern fest, Miss Woodley, dass Sie nicht reiten.“

„Auch ich bedaure das, Mylord. Aber ich vergaß, ein Reitkostüm einzupacken“, entgegnete sie aufrichtig.

„Dem kann gewiss abgeholfen werden“, erklärte er. „Es findet sich bestimmt ein passendes Kleid für Sie. Wir müssen demnächst gemeinsam ausreiten. Ich möchte Ihnen die Gegend zeigen.“

„Mit dem größten Vergnügen, Mylord“, antwortete Constance lächelnd, die aus den Augenwinkeln die neidischen Blicke von ihrer Tante und ihrer Cousine wahrnahm.

„Wie ich höre, besitzen Sie ein ganz entzückendes Sommerhaus“, mischte Tante Blanche sich ins Gespräch ein. „Es wäre gewiss eine große Freude für die jungen Damen, es zu besichtigen, nicht wahr, Georgiana?“

„O ja, Mama“, antwortete Georgiana eifrig.

Autor

Candace Camp
<p>Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: Erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane...
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