Gib die Hoffnung niemals auf!

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Bislang hatte Lily wenig Glück mit der Liebe. Doch das soll bei ihrer neuen Herausforderung in einer Kinderklinik in Kentucky keine Rolle mehr spielen. Mit aller Kraft engagiert sie sich für ihre Aufgabe - und weckt damit das Interesse des überaus attraktiven Geschäftsmanns Ron Bingham. Denn auch dem ist die Liebe seit Jahren verwehrt ...


  • Erscheinungstag 23.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733742775
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Lily Cunningham lachte leise vor sich hin, während sie mit einem Papiertuch über die Arbeitsfläche in einem der Entbindungszimmer wischte. Könnten meine Freunde in New York mich jetzt sehen, dachte sie. Sie würden es nie glauben.

Eine Frau von fünfundvierzig, die es in ihrem Beruf bis ganz nach oben gebracht hatte, jede Menge Geld verdiente und in einem luxuriösen Apartment in Manhattan lebte, musste doch alles im Leben erreicht haben, was sie wollte. Richtig?

Falsch.

Lily zerknüllte das Tuch und warf es in den Abfalleimer. Dann schaltete sie das Licht aus und verließ sie den Raum.

Auf dem Korridor atmete sie den Duft der frischen Blumen ein, der durch die Geburtsklinik driftete. Der Teppichboden dämpfte das Geräusch ihrer hohen Absätze, als sie zu ihrem Büro ging. Aus einem Zimmer kam das empörte Weinen eines Neugeborenen, und hinter der geschlossenen Tür eines anderen ertönte die ruhige Stimme einer Hebamme. „Vergessen Sie nicht zu atmen, Shelley.“

Lächelnd ging Lily weiter.

Das macht mich glücklich, dachte sie.

Hier zu sein. In Kentucky. In der Janice-Foster-Geburtsklinik.

Eine Arbeit zu machen, die etwas bewirkte. Die mehr von ihr verlangte, als bei einem Geschäftsessen spektakulär auszusehen.

„Lily!“

Sie blieb stehen und drehte sich zu Mari Bingham um, der wunderbaren Ärztin, der sie diesen Job verdankte. Wie immer hatte Mari es eilig. Die Frau ließ sich einfach nie Zeit.

„Wo brennt es?“, fragte Lily.

„Wo brennt es nicht?“ Mari schob beide Hände in die Taschen ihres weißen Kittels und wühlte darin. „Ich schwöre, es ist, als … als hätte ganz Merlyn County vor neun Monaten beschlossen, ein Baby zu bekommen.“

„Das ist mir nicht entgangen“, erwiderte Lily lächelnd. Sie hatte keine eigenen Kinder, was eine der wunden Stellen in ihrem Herzen war. Aber sie hatte schon vor Jahren gelernt, mit der Enttäuschung zu leben. Und hier zu sein, inmitten von Wehen und Entbindungen, gab ihr das Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein.

Für das aus der Geburtsklinik und dem Krankenhaus bestehende Gesundheitszentrum von Bingham County zu arbeiten war wie ein Logenplatz, von dem aus es jeden Tag ein Wunder zu bestaunen gab.

„Im Moment ist nur ein Geburtszimmer frei.“ Lily lächelte. „Wenn es so weitergeht, solltest du an eine Erweiterung denken.“

Maris Augen wurden groß. „Beschwöre es bloß nicht“, sagte sie. „Wir haben so schon genug zu tun, mit der Klinik und …“ Sie verstummte, und ihre Miene verfinsterte sich.

Lily hätte sich treten können. Sie hatte Mari nicht an die absurden Vorwürfe erinnern wollen, die seit einiger Zeit in der Stadt kursierten. Doch der müde, fast gehetzte Blick in den Augen der jüngeren Frau verriet, dass sie auch so oft genug daran dachte.

Sie legte eine Hand auf Maris Arm. „Mach dir keine Sorgen. Keiner glaubt ernsthaft daran, dass du etwas damit zu tun hast. Und selbst dieser Detective wird das früher oder später einsehen.“

Seufzend zog Mari ein Stück Papier aus der Tasche. „Ich kenne Bryce fast mein ganzes Leben lang“, sagte sie leise und wich Lilys Blick aus, als würde sie kein Mitgefühl ertragen können. „Hätte mir jemand vor Monaten gesagt, dass ich zu seiner Hauptverdächtigen in einer Drogengeschichte werden würde, hätte ich mich krankgelacht.“

„Es ist ja auch lachhaft.“

„Ich finde es nicht mehr komisch.“ Mari schaute über die Schulter zum Warteraum hinüber. Ein halbes Dutzend Frauen wartete darauf, untersucht zu werden. Kleine Kinder saßen auf den winzigen Stühlen, in Malbücher vertieft. Alles sah aus wie immer. Aber seit Monaten war nichts mehr normal.

Mari sah Lily an. „Wenn Bryce diese Geschichte nicht bald aufklärt, werden wir noch mehr Geld verlieren. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.“

„Lass das ruhig meine Sorge sein“, erwiderte Lily zuversichtlicher, als sie sich fühlte. „Du wirst sehen. Die Spendengala wird jede Menge Geld einbringen. Unsere wichtigen Gäste werden beeindruckt sein. Und hoffentlich auch großzügig.“

Mari nickte.

„Schöne Vorstellung. Und bei dem Thema …“ Sie hielt den Zettel hoch. „Dies ist die Nummer eines möglichen Spenders. Meine Großmutter hat gesagt, dass er mehr Geld als Verstand hat.“

„Deine Großmutter sollte meinen Job übernehmen.“

„Auf keinen Fall. Großmutter hat nicht den Takt, den man braucht, um einen Milliardär dazu zu bringen, die Brieftasche zu zücken.“

Lily zwinkerte ihr zu und nahm den Zettel. „Warte nur ab, Mari. Alles wird gut.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

„Immer“, versprach Lily.

Mari eilte weiter, und sie sah ihr nach. Niemals hätte sie erwartet, ausgerechnet in einer Kleinstadt in Kentucky mitten in einen Drogenskandal zu geraten. Als sie kurz darauf ihr Büro betrat, nahm sie sich einen Moment Zeit, um ihre neue Umgebung zu betrachten. Sie hatte die Wände hellblau gestrichen und gerahmte Aquarelle aufgehängt. In zwei Vasen standen Sträuße aus schlichten, aber farbenfrohen Blumen, deren Duft wie ein sommerliches Parfüm in der Luft hing. Ein in Gold und Karmesinrot gehaltener Buchara-Teppich lenkte den Blick auf den Queen-Anne-Schreibtisch, an dem sie saß.

Natürlich waren die anderen Büros nicht so schön eingerichtet. Aber Lily glaubte fest daran, dass man sich an seinem Arbeitsplatz wohlfühlen sollte.

Ein Teeservice stand auf dem alten Bibliothekstisch am Fenster, durch das gerade die Sonne schien und ihre Strahlen auf dem Teppich tanzen ließ. Lily lehnte sich zurück, streifte die Schuhe ab und legte die Füße hoch. Sie wackelte mit den Zehen und hätte fast vor Erleichterung geseufzt. Die Mode konnte einen manchmal umbringen.

Als sie sich das Haar aus dem Gesicht schob, klirrten die Glücksbringer an ihrem Platinarmband.

„Ich weiß immer, wann Sie da sind“, ertönte eine tiefe Stimme von der offenen Tür her. „Sie sind wie eine Katze mit einer Glocke am Halsband.“

Lily war versucht, die Füße vom Schreibtisch zu nehmen. Aber wozu? Der Mann hatte sie doch längst in dieser entspannten Haltung gesehen.

Ron Bingham, Maris Vater und gegenwärtig der Dorn in Lilys Fleisch, nahm fast die gesamte Tür ein. Die rechte Schulter an den Rahmen gelehnt, starrte er sie an, als hätte er alle Zeit der Welt.

Der Blick aus seinen wachen blaugrünen Augen schien sich in ihre zu bohren. Das gepflegte schwarze Haar war an den Schläfen leicht ergraut, und er trug einen perfekt gestutzten Kinn- und Oberlippenbart. Sie war nie ein Fan von Bärten gewesen, aber an Ron sah es einfach gut aus. Die Kakihose war sorgfältig gebügelt, das weiße Hemd maßgeschneidert, das gelb-braune Jackett hatte Lederflicken an den Ellbogen, und die darauf abgestimmte Krawatte rundete das Image ab – ein erfolgreicher, aber irgendwie langweiliger Mann.

Obwohl sie vermutete, dass Ron Bingham nie wirklich langweilig war. Dazu war er viel zu provozierend.

Lily stützte die Arme auf die Sessellehne und hoffte, dass ihr schmal geschnittener roter Rock ihm keine interessanten Einblicke bot. „Sie haben also meine Glücksbringer gehört?“

„Ja.“

Einsilbige Antwort.

Fand sie ausgerechnet diesen Mann so attraktiv?

„Dann sind Sie ein Weltklassedetektiv. Die meisten Leute hätten einfach nur angenommen, dass ich hier bin, weil mein Name an der Tür steht.“

Seine Lippen zuckten.

„Kluge Frau.“

„Danke.“

„Ich mochte kluge Frauen noch nie.“

„Ich bin bestürzt“, sagte Lily.

Seufzend stieß er sich von der Tür ab, verschränkte die Arme, legte den Kopf schräg und musterte sie. „Gibt es einen besonderen Grund, warum wir beide uns dauernd anzufeinden scheinen?“

„Weil es Spaß macht?“, entgegnete sie lächelnd. Wie dieser Mann der Vater einer so charmanten und warmherzigen Frau wie Mari sein konnte, war ihr rätselhaft. Vermutlich hatte seine verstorbene Frau all das besessen, was ihm fehlte.

Ron Bingham fragte sich, warum zum Teufel er hier war. Weswegen schaute er jedes Mal im Büro dieser Frau vorbei, wenn er in die Klinik kam? Und warum ließ er sich immer wieder von ihr provozieren?

Lilith, meist Lily genannt, Cunningham war genau die Art von Frau, der er stets aus dem Weg gegangen war. In eine reiche Familie geboren, führte sie ein privilegiertes Leben, von dem die meisten Menschen nur träumen konnten, und segelte mit einer Unbeschwertheit durch dieses Leben, die ihn zutiefst verblüffte. Sie hatte keinen Plan. Sie hatte keine Arbeitsmoral. Sie hatte … kein Recht, so kurze Röcke und so hohe Absätze zu tragen.

Als Lily von Mari als neue PR-Direktorin der Klinik einstellt worden war, hatte Ron erwartet, die Frau schon bei der ersten Begegnung unerträglich zu finden. Er hatte angenommen, dass sie über diese abgelegene Ecke Kentuckys die hübsche Stupsnase rümpfen würde. Stattdessen schien sie sich hier wie ein Fisch im Wasser zu fühlen und machte zudem noch einen verdammt guten Job. Was seine Verwirrung nur noch steigerte.

„Welcher Tatsache verdanke ich die Ehre dieses Besuchs?“, fragte sie.

Ron befahl sich, damit aufzuhören, sie wie ein unter Liebeskummer leidender Teenager anzugaffen. „Ich bin wegen der Gästeliste Ihrer Spendengala hier.“

Sie zog eine blonde Augenbraue hoch. „Sind Sie jetzt Bürobote?“

Er runzelte die Stirn. „Ich tue nur jemandem einen Gefallen.“

Lily lächelte, und er versuchte, nicht darauf zu achten. Aber wenn die Frau wollte, konnten ihre Augen glitzern und ihr Gesicht strahlen.

„Das war nur ein Scherz“, versicherte sie ihm. „Ich habe heute Morgen mit Ihrer Mutter gesprochen und ihr schon eine Liste geschickt.“

Er schüttelte innerlich den Kopf. Warum hatte seine Mutter ihm nicht erzählt, dass sein Besuch in der Klinik unnötig war? Hätte er es gewusst, hätte er sich und Lily diese Runde Stichelei ersparen können.

Mit anmutiger Geschmeidigkeit schwang sie die Beine vom Schreibtisch, und gegen seinen Willen schaute er hin. Aber er war nun mal ein Mann, oder nicht? Da war es doch ganz natürlich, dass ihm ein Paar wohlgeformter Beine auffiel. Und als sie die Füße in die Schuhe schob und er bemerkte, wie die hohen Absätze sich auf ihre Waden auswirkten, sagte er sich, dass er ruhig hinsehen durfte. Anfassen, das war das, was er sich niemals erlauben würde.

Nicht, dass er sie berühren wollte.

Also konzentrierte er sich auf ihre Augen. Er war allerdings keineswegs sicher, ob das ungefährlicher war.

Sie stand auf, und das rote Kostüm schien an jeder Rundung zu kleben. Und davon hatte sie viele. Sie war nicht groß, aber jeder Zentimeter einen Blick wert.

„Ich kann Ihnen eine zweite Kopie geben, wenn Sie …“

„Nicht nötig“, unterbrach er sie und wich zurück. Feigling, wisperte eine innere Stimme.

Verdammt richtig entgegnete er stumm.

„Falls Sie sich Sorgen um die Klinik machen, das brauchen Sie nicht“, sagte sie.

Er war dankbar für den Themenwechsel. „Sie werden mir vergeben, dass ich es trotzdem tue.“

„Natürlich tun Sie das.“

„Was soll das heißen?“

Sie setzte sich auf eine Ecke des Schreibtischs. „Leute wie Sie machen sich immer Sorgen.“

„Leute wie ich?“

Sie wedelte mit der Hand, und das Armband klirrte melodisch. „Sie wissen schon, der korrekte, spießige Typ.“

Korrekt, damit konnte er leben. Spießig dagegen erschien ihm ein wenig … beleidigend. „Und Sie wissen, was für ein Typ ich bin, ja?“

„Nicht schwer zu erraten.“

Geh jetzt, dachte er. Verschwinde einfach.

„Ich bin fasziniert“, sagte er trocken.

„Oh, das sehe ich.“

„Erklären Sie mir, was für ein Typ ich bin.“

Sie zögerte.

„Okay …“ Sie stand auf und ging über ihren unverschämt teuren und absolut deplatzierten Orientteppich, um direkt vor ihm stehen zu bleiben. „Ich bin mit Menschen wie Ihnen aufgewachsen, also spreche ich aus Erfahrung.“

„Da bin ich aber gespannt.“

Einer ihrer Mundwinkel zuckte, und wie von selbst richtete sein Blick sich auf ihre Lippen. Verdammt.

„Sie tun immer, was man von Ihnen erwartet.“

„Und das ist schlecht?“

„Einfach nur langweilig.“

„Und das ist ein Verbrechen?“

„Nur ermüdend.“

„Oh.“ Er nickte. „Fahren Sie fort.“

„Na gut.“ Sie ging um ihn herum, und Ron hätte schwören können, dass sie ihn ansah, als wäre er ein interessantes Dia im Biologieunterricht. „Bei Ihren Entscheidungen gehen Sie stets danach, was das Beste für die Familie ist. Keine interessanten Abstecher, nur eine lange und langsame Fahrt auf einem schnurgeraden Highway ohne Schlaglöcher.“

Sie hörte sich an, als wäre er ein Roboter.

„Und Sie ziehen holprige Nebenstraßen vor?“

„Natürlich.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Verfahren Sie sich denn niemals?“

„Man sieht unbekannte Gegenden, entdeckt neue Dinge.“

„Und Sie halten auch nichts von Straßenkarten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das macht keinen Spaß. Dann kann man gleich zu Hause bleiben und mit dem Finger im Atlas verreisen.“

„Reden wir noch über korrekte, spießige Typen, oder sind wir jetzt bei sommerlichen Ausflügen?“

„Ist das Leben nicht wie ein Ausflug?“

„Wie das?“ Irgendwie schien ihm dieses Gespräch entglitten zu sein. Lilith Cunningham hatte eine Logik, der schwer zu folgen war.

Wieder blieb sie vor ihm stehen und legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen zu schauen. Gegen seinen Willen registrierte er, dass ihr Haar nach Flieder duftete.

„Jeder beginnt ihn auf derselben Straße. Manche von uns bleiben auf dem Highway – manche nehmen Seitenstraßen. Genau wie im Leben. Manche von uns lassen das Ziel nie lange genug aus den Augen, um nach anderen Zielen Ausschau zu halten, die vielleicht genauso gut, wenn nicht besser sind. Man verpasst viel, wenn man nie vom Highway abfährt.“

„Mag sein“, sagte Ron. „Aber dafür landet man seltener in einer Sackgasse.“

2. KAPITEL

Es war lächerlich, aber selbst Stunden später dachte Lily noch über das Gespräch mit Ron Bingham nach. Irgendwie hatte der Mann etwas. Das konnte gut sein … oder schlecht. Wie auch immer, sie verbrachte entschieden zu viel Zeit damit, sich über ihn den Kopf zu zerbrechen.

Lily hängte sich die Tasche über die Schulter und verließ das Büro. Als sie den Warteraum durchquerte, lächelte sie einem kleinen Jungen zu, der stolz eine Zeichnung hochhielt, die ein Pony darstellen sollte – wenn Ponys sechs Beine haben durften. Überall saßen erschöpfte Mütter und Schwangere, und Lily wusste, dass Mari erst nach Hause gehen würde, wenn die letzte Patientin das Zentrum verlassen hatte. Die Frau ist wirklich ein Wunder, dachte sie anerkennend.

Dr. Mari Bingham war entschlossen, die von ihrer Großmutter gegründete Klinik zur besten ihrer Art zu machen. Selbst das war ihr nicht genug. Die biomedizinische Einrichtung, die sie gründen wollte, würde nicht nur viele Jobs nach Merlyn County bringen, sie würde auch die Forschung auf dem Gebiet der Fertilität und der Stammzellen vorantreiben.

Lily trat in den sonnigen Spätnachmittag hinaus. Trotz der Hitze war die Luft in den Bergen von Kentucky so frisch, wie sie es noch nirgendwo anders erlebt hatte. New Yorks Häuserschluchten voll hektischer Passanten und hupender Taxis schienen Welten entfernt zu sein. Lily war froh darüber. Sie hatte diesen Wechsel gebraucht. Die Chance, aus der Tretmühle auszusteigen und das Leben ein wenig zu genießen. Die Arbeit an der Klinik war herausfordernd genug, um ihr Spaß zu machen, ließ ihr jedoch ausreichend Zeit, die neue Umgebung zu erkunden.

Sie war erst seit ein paar Monaten in Kentucky, fühlte sich jedoch schon heimisch. Hier war es den Leuten egal, ob sie barfuß die Main Street entlangschlenderte. Es gab keine Reporter, die nur darauf lauerten, dass Lilith Cunningham sich nicht würdevoll benahm. Und zwischen ihr und ihrer Familie war der Abstand so groß, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig frei fühlte.

Auf dem Parkplatz standen zwei oder drei Pick-ups, ein paar Minivans und ein Kombi. Über dem Asphalt flimmerte die Luft. Lily zog die Kostümjacke aus und streifte die Schuhe ab. Unter den Sohlen schien der Boden zu glühen, aber selbst das war angenehmer als jeder weitere Schritt auf den hohen Absätzen.

Trotz all der Probleme, unter denen die Klinik litt, bereute Lily es keine Sekunde, hergezogen zu sein. Binghamton war von New York City so weit weg wie der Mond von der Sonne. Hier war alles anders, sogar sie selbst.

Na ja, vielleicht nicht ganz so anders, dachte sie. Aber wenigstens passte sie in ihre neue Welt. Von Geburt an war sie das schwarze Schaf ihrer Familie gewesen. Nachdem sie in der Limousine auf dem Weg zum Krankenhaus zur Welt gekommen war, hatte man sie den nicht standesgemäßen Anfang ihres Lebens nie vergessen lassen.

In der Highschool färbte sie ihr Haar leuchtend rot, trug zu kurze Röcke und ging mit den „falschen“ Jungen aus. Sie fuhr zu schnell, hörte „schreckliche“ Musik und nahm an Protestmärschen teil. Als sie schließlich aufs College ging, schien die stattliche alte Familienresidenz in Boston vor Erleichterung zu seufzen. Ihre Eltern taten es jedenfalls.

Auf dem College war alles anders. In Kalifornien war das Leben entspannter, nicht so geordnet. Es gab weniger Regeln, und niemand kam auf die Idee, etwas Förmlicheres als alte Jeans zu tragen. Endlich hatte Lily einen Ort gefunden, an dem sie nicht unangenehm auffiel. Sie verliebte sich sogar.

Die Ehe hatte nicht schlecht angefangen. Im Gegenteil. Aber das Glück war nicht von Dauer. An dem Tag, an dem Lily von ihrem Gynäkologen erfuhr, dass sie keine Kinder bekommen konnte, war plötzlich alles zu Ende. Keine Woche später war Jack ausgezogen – sechs Monate später war die Scheidung rechtskräftig.

Lily öffnete die Wagentür und warf die Tasche auf den Beifahrersitz. Sie schaute zum Himmel hinauf und atmete tief durch. Die Vergangenheit spielte keine Rolle mehr. Welche Wege sie irgendwann auch genommen hatte, sie hatten alle genau hierher geführt. Allein darauf kam es an.

Sie stieg ein, startete den Motor und schaltete das Radio ein. Ein Oldie kam aus den Lautsprechern, als sie vom Parkplatz fuhr. Da sie es nicht eilig hatte, steuerte sie South Junction Burgers an. Der Gedanke an einen der berühmten Milkshakes, die es dort gab, stimmte sie so fröhlich, dass sie den Text laut mitsang.

Im Diner lief die Klimaanlage auf vollen Touren, und es war herrlich kühl. Außer Lily war nur eine Handvoll Gäste da, und Lily lächelte jedem von ihnen zu, während sie nach hinten ging und ihre – zum Glück leere – Lieblingsnische ansteuerte. Sie ließ sich auf die mit abgewetztem Kunststoff bezogene Sitzbank fallen und machte sich gar nicht erst die Mühe, nach der Speisekarte zu greifen, die zwischen dem Salz- und dem Pfefferstreuer steckte. Wozu auch? South Junction war nichts für Gourmets. Die Leute kamen nur aus einem einzigen Grund her.

„Hi, Mrs Cunningham.“

„Hi, Vickie“, sagte Lily zur Kellnerin.

Vickie Hastings hatte eine hochtoupierte und mit Unmengen von Haarspray gebändigte blonde Mähne. Die blauen Augen waren mit dickem schwarzen Eyeliner betont, und die Wimperntusche sorgte dafür, dass Vickie aussah, als würden zwei behaarte Raupen auf den Lidern ein Nickerchen machen. Die Kellnerin kaute Kaugummi, ließ es ab und zu vor dem Mund platzen und trug das kurze Kleid so eng, dass es die Brüste zur Geltung brachte, auf die sie offenbar sehr stolz war. Aber sie hatte ein nettes Lächeln und war immer freundlich.

„Das Übliche?“, fragte Vickie und zog ihren Notizblock und den Stift aus der Schürzentasche.

Lily lachte. Du meine Güte. Sie war Stammgast in einem Diner. Ihre Mutter würde einen hysterischen Anfall bekommen. Und das war eine Vorstellung, die sie ein wenig aufheiterte und mit ihren neuen Essgewohnheiten versöhnte. „Worauf Sie wetten können. Aber heute möchte ich den Milkshake zur Abwechslung mal mit Erdbeeren.“

Die Kellnerin schmunzelte. „Ich weiß nicht recht. Sie lieben die Gefahr, was? Wenn Sie am Dienstagabend keinen Milkshake mit Schokolade nehmen, könnte die Welt aufhören sich zu drehen.“

„Riskieren wir es einfach, okay?“

„Okay.“ Vickie füllte das Bestellformular aus, blieb jedoch am Tisch stehen.

„Stimmt etwas nicht?“

„Na ja.“ Vickie schaute kurz über die Schulter zum langen Tresen und der Durchreiche hinüber, hinter der ihr Chef am Herd stand. Als sie sicher war, dass niemand auf sie achtete, wandte sie sich wieder Lily zu und senkte die Stimme. „Also wenn Sie mich schon fragen …“

Die Klimaanlage hatte ihre Aufgabe erfüllt. Lily fühlte sich inzwischen frisch genug, um mit dem fertig zu werden, weswegen Vickie nervös an ihrer Unterlippe knabberte. „Was ist denn?“, fragte sie.

„Ich bin …“, die junge Kellnerin beugte sich vor und sprach noch leiser, “… na ja, schwanger.“

Lily blinzelte. Eine solche Neuigkeit wurde normalerweise nicht mit der Vorsicht eines CIA-Agenten verkündet, der seinem Partner bei einem konspirativen Treffen äußerst brisante Informationen zukommen ließ. „Glückwunsch?“, murmelte sie, denn sie war nicht sicher, ob Lily feiern oder bemitleidet werden wollte.

„Danke.“ Ein mattes Lächeln umspielte Vickies Mund und verschwand sofort wieder. „Billy und ich freuen uns natürlich. Aber die Sache ist …“ Sie beugte sich so weit hinab, dass ihre Nase fast Lilys berührte. „Ich dachte mir … Sie arbeiten doch in der Klinik, nicht wahr?“

„Ja.“ Lily atmete tief durch. Sie wusste nicht, was Vickie sagen wollte, also gab es keinen Grund, sich aufzuregen.

Noch nicht.

„Ich wollte fragen, ob es da wirklich sicher ist.“

Jetzt hatte sie einen Grund.

Und zwar genau den, den sie befürchtet hatte. Ihre Vorahnung hatte sie also nicht getrogen. Zorn und Enttäuschung stiegen in ihr auf und machten sich Luft.

„Um Himmels willen, Vickie!“ Lily lehnte sich zurück, sah der Kellnerin aber noch immer in die Augen. „Sie kennen Mari Bingham ihr ganzes Leben. Und da stellen Sie mir eine solche Frage?“

Vickies Miene verhärtete sich, und in ihrem Blick spiegelte sich so etwas wie Scham. „Ich frage ja nur“, verteidigte sie sich. „Es hat Gerede gegeben, wissen Sie. Die Leute erzählen sich Dinge.“

„Ja, das tun sie.“ Lily sah sich kurz im Diner um und senkte die Stimme. „Aber nur diejenigen, die zu dumm sind, um es besser zu wissen.“

„Also wirklich, Mrs Cunningham …“ Gekränkt richtete die Serviererin sich auf.

„Oh nein, das tun Sie nicht“, sagte Lily und hielt Vickie am Ärmel fest, als sie davongehen wollte. „Sie haben mir eine Frage gestellt und werden erst gehen, nachdem Sie darauf eine Antwort bekommen haben.“

Aber Vickie bereute offensichtlich, davon angefangen zu haben. Nervös zuckte ihr Blick umher, und Lily entging nicht, dass Danny, der Koch und Eigentümer des Diners, sie beide von der Küche aus aufmerksam beobachtete. Aber selbst das hielt sie nicht auf.

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Vickie.“

„Ja, Ma’am.“

„Mari Bingham ist der gutmütigste und liebevollste Mensch, den ich kenne. Sie arbeitet härter als alle anderen, damit Sie und jede andere Schwangere in Merlyn County die medizinische Betreuung erhalten, die sie verdienen.“

„Ja, natürlich.“ Nervös versuchte Vickie, sich aus Lilys Griff zu befreien. Es gelang ihr nicht.

„Die Probleme, die es im Moment in Merlyn County gibt, haben nichts mit Mari oder ihrer Klinik zu tun. Und Sie sollten sich dafür schämen, dass Sie das auch nur denken!“

„Mrs Cunningham …“

Aber Lily war in Rage und nicht mehr zu bremsen. Sie wurde ein wenig leiser, aber kein bisschen sanfter. „Glauben Sie wirklich auch nur eine Sekunde lang, dass Mari Bingham mit Drogen handelt?“

Entsetzt starrte Vickie sie an. „Natürlich nicht, aber …“

„Kein Aber. Vertrauen Sie Mari? Kennen Sie sie?“

„Ja …“

„Dann haben Sie Ihre Frage gerade selbst beantwortet, finden Sie nicht, Vickie?“

„Sicher, aber da ist noch immer …“

Lily kniff die Augen zusammen, und Vickie verstummte abrupt. Lily war erleichtert. Es war sinnlos, sich mit jedem in Binghamton anzulegen. Wenn die Leute hier nicht an eine ihrer Mitbewohnerinnen glaubten, wie konnte ausgerechnet sie, eine Außenseiterin, sie von Maris Unschuld überzeugen? Lily machte sich keine Illusionen. Sie würde die nächsten fünfzig Jahre in dieser Stadt leben können und trotzdem nie richtig dazugehören.

Sie rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihr nicht danach zumute war, und ließ Vickies Handgelenk los. „Es tut mir leid“, sagte sie und tätschelte die Hand. „Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen.“

„Das ist okay. Mein Bill, der sagt immer, dass ich es schaffe, jeden auf die Palme zu bringen.“

Lily lachte. „Keine Sorge, ich klettere gerade wieder herunter.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und faltete die Hände auf der vernarbten Tischplatte. „Also werde ich wohl bleiben. Könnte ich jetzt meinen Milkshake bekommen, Vickie. Ich glaube, ich brauche dringend eine Abkühlung.“

„Sofort, Ma’am.“

Die Kellnerin eilte zum Tresen. Lily holte mehrmals tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Es würde Mari oder der Klinik nicht helfen, wenn die PR-Direktorin sich in der Öffentlichkeit mit Leuten anlegte, die nicht ihrer Meinung waren.

Verdammt.

„Gut gemacht.“

Die tiefe Stimme kam aus der Nische hinter ihr, und Lily erstarrte. Es gab nur einen Mann, der so klang. Und ausgerechnet er musste direkt hinter ihr sitzen, sodass er ihren wenig gelungenen Auftritt bei South Junction Burgers live und vor Ort mitbekommen hatte.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Ron Bingham sah sie gelassen an.

„Ich nehme an, Sie haben alles gehört.“

„Sie sind nicht gerade eine leise und zurückhaltende Frau, Mrs Cunningham.“

„Müssen Sie das dauernd tun?“, entgegnete sie verärgert.

„Was?“

„Mich Mrs Cunningham nennen?“

Erstaunt sah er sie an. „Das ist doch Ihr Name, oder nicht?“

„Ja, aber ich bin schon seit mehreren Monaten hier. Meinen Sie nicht, Sie könnten etwas lockerer werden und mich mit Lily anreden?“

Autor

Maureen Child
Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal. Ihre liebste...
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