Heile mein Herz! - Fünf gefühlvolle Arztromane

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HERZKLOPFEN AM BLUE LAKE HOSPITAL von EMILY FORBES
Annie wird heiß und kalt, als Caspar St. Claire den Kreißsaal betritt. Bis zuletzt hatte sie sich gegen die Dreharbeiten des TV-Stars am Blue Lake Hospital gewehrt. Wegen des Medienrummels! Oder wegen des Sturms der Gefühle, den der attraktive Caspar in ihr auslöst?

WER SEIN HERZ RISKIERT ... von FIONA LOWE
"Ich bin überzeugter Single." Tiefe Gefühle vermeidet Dr. Noah Jackson - bis er der schönen Hebamme Lilia begegnet. Gleich ihr erster heißer Kuss trifft ihn mitten ins Herz. Aber kaum will sich Noah näher auf Lilia einlassen, zieht sie sich plötzlich vor ihm zurück …

LASS DIE SONNE IN DEIN HERZ von LUCY GORDON
Eine Affäre mit einem jüngeren Mann? Warum nicht, sagt sich Della und genießt die romantischen Stunden mit dem Archäologen Carlo Rinucci. Doch als Carlo ihr einen überraschenden Heiratsantrag macht, ist die erfolgreiche TV-Produzentin plötzlich unsicher. Kann das gut gehen?

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ZWEI HERZEN IN DER FLUT von ANNIE CLAYDON
Eine gewaltige Flut reißt alles mit sich: Sanitäterin Mimi Sawyer gerät unvermittelt in Lebensgefahr. Und ausgerechnet Dr. Rafe Chapman versucht, sie zu retten. Der Mann, den sie so sehr liebte, der sie aber vor fünf Jahren verließ - weil er nicht an Gefühle glauben wollte …


  • Erscheinungstag 06.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520423
  • Seitenanzahl 700
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Herzklopfen am Blue Lake Hospital erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2013 by Emily Forbes
Originaltitel: „Daring to Date Dr. Celebrity“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 85 - 2016 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Michaela Rabe

Umschlagsmotive: GettyImages_jacoblund

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733719548

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

„Ist es bereits beschlossen, oder werden wir noch nach unserer Meinung gefragt?“ Annie Simpson blickte in die Runde.

Ihre Kolleginnen und Kollegen saßen widerspruchslos um den Tisch im Sitzungsraum. Ungläubig sah Annie den Klinikleiter an. Ist das wirklich sein Ernst? dachte sie. Das Blue Lake Hospital soll Schauplatz einer Doku-Soap werden? Mit unseren Patienten, unseren Ärzten, Schwestern und Pflegern?

„Der Dreh wird stattfinden, und ich frage Sie, ob Sie bereit sind, aktiv daran mitzuwirken.“ Für einen so großen Mann hatte Patrick Hammond eine ausgesprochen sanfte Stimme. Und wenn Annies Frage ihn ärgerte, so zeigte er es nicht.

Annie wusste, dass Patrick das Krankenhaus nicht wie ein Diktator führte – die meisten Entscheidungen wurden nach Rücksprache mit den Chefärzten und der Pflegedienstleitung getroffen. Die meisten medizinischen Entscheidungen, korrigierte sie sich. Die alltäglichen Dinge würde er nicht mit ihnen diskutieren. Und Annie fragte sich, zu welchem Bereich nun dieses Fernsehprojekt gehörte.

„Haben wir denn überhaupt eine Wahl?“, hakte sie nach.

Patrick fuhr sich durchs kurz geschnittene Haar. „Aber natürlich. Allerdings möchte ich zu bedenken geben, was dieses Projekt für unser Krankenhaus bedeutet: Geld und eine kostenlose Publicity. In einer Zeit, in der so viele ländliche Krankenhäuser um ihr Überleben kämpfen, kann eine solche Medienaufmerksamkeit nur gut für uns sein.“

„Sind Sie sicher?“, beharrte Annie. „Und wenn etwas schiefgeht und das Krankenhaus verklagt wird? Dann hätten wir das Gegenteil erreicht. Zudem ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass das Gesundheitsministerium unser Krankenhaus schließt. Wir mögen zwar eine ländliche Klinik sein, aber doch kein Sechs-Betten-Krankenhaus. Wir sind eine Spezialklinik in der zweitgrößten Stadt des Bundesstaates. Es würde einen allgemeinen Aufschrei in der Öffentlichkeit geben, sollte eine Schließung auch nur angedacht werden.“

„Es stimmt, dass wir ein großes Krankenhaus sind, aber wir sind dennoch steuerfinanziert, und das bedeutet, dass wir wie alle anderen auch gewissen Grundsätzen unterliegen“, entgegnete Patrick ruhig. „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Zuschauer sich die letzte Staffel von RPE angesehen haben?“

Annie hielt es für eine rhetorische Frage, aber Patrick erwartete offensichtlich eine Antwort. Also schüttelte sie den Kopf. Sie hatte keine Ahnung.

„Zwei Millionen. Jeden Abend.“

Für das australische Fernsehen eine gewaltige Zuschauerzahl. Annie wusste, dass RPE , die Serie, die am Royal Prince Edward Hospital in Melbourne spielte, sehr populär war. Aber so populär?

„Und Caspar St. Claire ist einer der Stars“, fuhr Patrick fort. „Er stammt aus der Gegend und hat es ganz nach oben geschafft. Deswegen wird es viele Menschen interessieren, nicht nur die von hier. Und der Sender zahlt uns ein nettes Sümmchen dafür, dass sie hier filmen dürfen.“

„Dann geht’s also nur ums Geld?“

Patrick schüttelte den Kopf. „Seien Sie nicht zu schnell mit der Kritik. Das Krankenhaus benötigt vieles, das mit diesem Geld angeschafft werden kann. Es kommt auch der Geburtsabteilung Ihrer Station zugute. Und wussten Sie, dass Caspar Kinderarzt ist?“, sprach er weiter. „Ich dachte, als Kinderärztin würden Sie sich freuen, jemand zu haben, der während Phils Auszeit seine Stelle übernimmt.“

Annie wollte Patrick nicht das letzte Wort lassen. Sie hatte ihre Erfahrungen mit den Medien gemacht, und es waren keine schönen gewesen. Deshalb hatte sie ja den Job an diesem ruhigen ländlichen Krankenhaus angenommen – der ersehnte Neuanfang. Ungewollt wieder im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu stehen, wäre das Letzte! „Hätten Sie eine Vertretung gefunden, die nur zum Arbeiten herkommt, würde ich mich freuen. Aber Ihre Vertretung bringt anscheinend einen eigenen Zirkus mit, und da möchte ich nicht mitmachen.“

„Ich habe noch nie mit einem Zirkus gearbeitet. Mit Kindern schon, aber nicht mit Tieren und auch nicht in einer Manege.“

Beim Klang der tiefen männlichen Stimme lief es Annie prickelnd über den Rücken. Tori Williams neben ihr hielt sogar hörbar den Atem an und seufzte dann leise. Annie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Caspar St. Claire hinter ihr stand.

Die Spannung im Raum war mit Händen greifbar. Alle schienen sich zu fragen, wie sie reagieren würde. Es wäre unhöflich gewesen, sich nicht umzudrehen und so zu tun, als wäre sie taub. Also wandte Annie den Kopf und sah, dass der Teufel höchstpersönlich sie musterte. Ein ziemlich sexy Teufel, wie sie zugeben musste. Trotzdem wollte sie ihn hier nicht haben!

„Ich darf Ihnen aber versichern, dass meine Patienten immer an erster Stelle stehen und unser Team geschult darin ist, so unauffällig wie möglich zu arbeiten.“

Sie wollte loslachen. Glaubte er wirklich, dass sie ihm das abnahm? Aber der Blick aus den grünen Augen war so herausfordernd, dass ihr das Lachen im Hals stecken blieb. Schlimmer noch, sie brachte keinen Ton hervor. Annie hätte nichts dagegen gehabt, sich in Luft aufzulösen.

In jeder Krankenhausserie gab es einen umwerfend gut aussehenden Arzt, und obwohl RPE eine Realityshow war, so schafften sie es doch immer wieder, ein paar attraktive Stars zu finden, und Dr. St. Claire war der attraktivste. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass er in Wirklichkeit noch besser aussah als im Fernsehen. Sein dunkles Haar war vielleicht ein wenig zu lang, aber dadurch lockte es sich, und das verlieh ihm ein jugendliches Aussehen. So, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen.

Unwillkürlich sah sie ihn vor sich, wie er in einem zerwühlten Bett lag, sich mit den schlanken Fingern durchs Haar fuhr. Annie wurde rot, als er sie weiterhin unverwandt ansah, so als wüsste er genau, woran sie gerade dachte.

„Haben Sie weitere Einwände, Dr. Simpson?“

Woher wusste er, wer sie war? Aber es gab wichtigere Fragen.

„Ich habe noch eine ganze Reihe von Einwänden, Dr. St. Claire, und ohne weitere Informationen treffe ich keine Entscheidung. Wann beginnen die Dreharbeiten?“

„Morgen.“

Das war viel zu kurzfristig. Und überhaupt …

Am besten sagte sie gleich Nein. Auf keinen Fall würde sie einem Medienzirkus auf ihrer Entbindungsstation zustimmen.

Sie öffnete den Mund, aber bevor sie sprechen konnte, unterbrach Caspar sie.

„Sagen Sie nicht gleich Nein.“

Annie starrte ihn an. War sie so leicht zu durchschauen?

„Ich möchte Ihnen Gail Cameron vorstellen. Sie ist die verantwortliche Produzentin und wird Ihnen die Details erklären, Fragen beantworten und sich um rechtliche Aspekte kümmern. Sie müssen sich nicht heute entscheiden“, fuhr er fort und hielt dabei ihren Blick fest. „Aber die Dreharbeiten beginnen morgen, und es wäre großartig, wenn einige von Ihnen dabei wären.“

Nun wandte er sich den anderen am Tisch zu. „Wir sind nicht gekommen, um Ihre Arbeit sensationslüstern zu überzeichnen, sondern um Geschichten zu erzählen, Aufmerksamkeit zu erregen. Wie Patrick Ihnen schon gesagt hat, wird das Blue Lake Hospital davon finanziell profitieren, was wiederum Ihren Abteilungen zugutekommt.“

Patrick erhob sich und rückte Stühle zurecht, damit Caspar und Gail ebenfalls am Tisch Platz nehmen konnten. Annie gestand Caspar einen Pluspunkt zu, als er wartete, bis Gail sich hingesetzt hatte. Gute Manieren hatte er.

Unauffällig betrachtete Annie ihn, während er noch stand.

Er trug einen hellgrauen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. Seine breiten Schultern füllten das Jackett beeindruckend aus. Das Hemd war frisch gebügelt, der Anzug allerdings ein wenig zerknittert. Vielleicht waren ihm solche Äußerlichkeiten nicht sonderlich wichtig. Das gefiel ihr an dem Mann, was aber nichts daran änderte, dass sie ihn nicht hierhaben wollte.

Gail sprach nun über die für den Sender interessanten medizinischen Fälle, aber Annie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Caspar saß ihr schräg gegenüber und drehte einen silbernen Kugelschreiber langsam in den Fingern. Er hatte große, schöne Hände, und sie ertappte sich dabei, wie sie darauf starrte.

Schnell senkte sie den Blick. Doch als er den Kopf leicht drehte, sodass sein Profil ihr zugewandt war, musste sie ihn doch wieder ansehen. An den Schläfen waren seine schwarzen Haare leicht ergraut, und seine olivfarbene Haut wirkte durch den modischen Dreitagebart noch dunkler. Seine Nase war schmal, vielleicht ein bisschen zu lang, was ihn davor bewahrte, wie ein Schönling auszusehen.

Aus klugen grünen Augen musterte er nacheinander die Menschen am Tisch, und Annie fragte sich, was er wohl dabei dachte.

Gerade war Colin, der orthopädische Chirurg, an der Reihe, und schon bald würde sie dran sein. Ihr Herz schlug schneller bei diesem Gedanken. Aus irgendeinem Grund machte Caspar St. Claire sie nervös. Auf einmal hatte sie feuchte Hände, und sie wischte sie unauffällig an ihrer Hose ab.

Caspar blickte jetzt Tori an, ohne dass die Anästhesistin etwas davon merkte, weil sie eifrig alles mitschrieb, was Gail vortrug. Das war nur gut. Im letzten halben Jahr hatten sie und Annie sich angefreundet, und sie würde sie später um ihre Notizen bitten, weil sie von Gails Worten zu wenig mitbekam.

Jetzt sah er sie an, hielt ihren Blick fest. Annie spürte, wie ihr das Blut warm in die Wangen stieg, konnte aber nicht wegsehen.

Bis Tori sie mit dem Ellbogen anstieß.

„He“, beschwerte sich Annie leise und blickte sie fragend an.

„Passt du auch auf? Das solltest du dir anhören.“

„Ich sehe mir später deine Notizen an“, erwiderte Annie, wandte sich Gail zu und tat so, als würde sie konzentriert zuhören, sah aber aus dem Augenwinkel, dass Caspar St. Claire sie immer noch musterte. Sie konnte nicht anders, sie musste kurz zu ihm hinsehen.

Er wirkte nachdenklich. Woran mochte er denken? Dachte er über sie nach? Immer noch lag ein herausfordernder Ausdruck auf seinem Gesicht. Wenn er erwartete, dass sie gleich am ersten Tag nachgab, würde er sich schwer wundern. Das hatte sie nämlich nicht vor, weder heute noch morgen.

Ihre Blicke verfingen sich, und plötzlich war ihr Kopf wie leer, vergessen waren all ihre Befürchtungen und Einwände. Und dann lächelte er unerwartet.

Wärme breitete sich vom Bauch her über ihren ganzen Körper aus, eine lustvolle Wärme, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Schon sein ernster, gedankenvoller Ausdruck machte ihn wahnsinnig interessant, aber dieses lässige ironische Lächeln weckte Gefühle in ihr, die sie lange nicht mehr verspürt hatte.

Sex hatte nie ganz oben auf ihrer Wunschliste gestanden. Sie konnte ihn genießen, verstand aber eigentlich nicht wirklich, wieso andere so verrückt danach waren. Enthaltsamkeit machte ihr nichts aus. Aber Caspar St. Claire ließ sie tatsächlich an Sex denken. Heißen, ungehemmten Sex. Zerwühlte Bettlaken. Ein schwerer, harter männlicher Körper. Viele Orgasmen hintereinander, sodass sie sich danach kaum rühren konnte. Die Art Sex, von der sie in Büchern gelesen und die sie in Filmen gesehen, aber niemals selbst erlebt hatte.

Die Raumtemperatur schien schlagartig anzusteigen, und zu ihrem Entsetzen wurden ihre Brustwarzen hart. Hastig blickte sie fort, aus Angst, er könnte ihre schamlosen Gedanken lesen.

Ihre Ehe, längst gescheitert, war aus vielen Gründen geschlossen worden, Verlangen gehörte allerdings nicht dazu. Sie war eine junge, unerfahrene Braut und das Verhältnis zu ihrem Mann eher freundschaftlich als lustvoll gewesen. Damals hatte sie gedacht, eine vernünftige Entscheidung getroffen zu haben. Annies Eltern waren Sklaven ihrer ungehemmten Leidenschaft und Sexsucht gewesen, und sie hatte sich geschworen, es anders zu machen. Sie wollte diesen Fehler nicht wiederholen.

Dafür beging sie einen anderen.

Doch nie zuvor hatte sie sich so leidenschaftlich zu einem Mann hingezogen gefühlt wie jetzt in diesem Moment. Sie wollte das nicht, das brachte sie nur in Schwierigkeiten.

Sie würde Caspar St. Claire und alles, was mit ihm zu tun hatte, in eine mentale Kiste mit der Aufschrift Nicht öffnen! stopfen. Was gingen er und seine Pläne sie an? Gar nichts.

2. KAPITEL

Caspar sah sich am Tisch um, versuchte in den Gesichtern zu lesen, ihre Gedanken zu erraten. Er hatte sich vorher über alle Beteiligten informiert, denn er war gern vorbereitet, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

Die meisten folgten aufmerksam Gails Ausführungen. Sie verstand es, alles aufregend und interessant darzustellen, als etwas, wobei jeder gern mitmachen wollte.

Gail wäre eine hervorragende Verkäuferin, dachte Caspar, während er sich die Gruppe anschaute. Sie verdeckte den Klinikleiter halb, aber das spielte keine Rolle. Patrick unterstützte ihn, das wusste er. Neben Patrick saß Ravi Patel, Allgemeinchirurg. Er lauschte fasziniert Gails Vortrag und nickte an den richtigen Stellen. Caspar hätte seinen teuren Sportwagen darauf verwettet, dass Ravi die Einwilligungserklärung unterschrieb, bevor der Tag zu Ende ging.

Die Assistenzärzte der Notaufnahme warfen immer wieder Blicke zu Colin Young hinüber, einem der beiden orthopädischen Chirurgen der Klinik. Sie würden sich nach ihm richten, und da Colin anwesend war, stand er dem Projekt wohl positiv gegenüber. Zu Caspars Rechter saß die Pflegedienstleiterin. Er wusste bereits, dass Maxine und damit auch die Schwestern und Pfleger mitmachten. Somit blieben nur noch zwei übrig, die überzeugt werden mussten – die Anästhesistin Dr. Tori Williams und Dr. Annie Simpson, Gynäkologin und Geburtshelferin.

Beide saßen ihm an dem großen ovalen Tisch gegenüber. Dr. Williams schrieb vorgebeugt mit, aber er sah ihr Gesicht nicht und konnte daher nicht beurteilen, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. So wandte er sich der Ärztin neben ihr zu.

Dr. Annie Simpson. Patrick Hammond hatte ihm eine kurze Übersicht der Biografien aller Chefärzte der einzelnen Abteilungen geschickt, und er erinnerte sich an das Wenige, was er über Dr. Simpson gelesen hatte.

Geburtshelferin, neunundzwanzig Jahre alt, Single, ausgebildet in Adelaide und seit sechs Monaten am Blue Lake Hospital.

Offensichtlich intelligent und attraktiv – er würde herausfinden müssen, ob Single unverheiratet bedeutete oder dass sie keine feste Beziehung hatte.

Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er gespannt gewesen war, sie kennenzulernen, nachdem er ihr Foto gesehen hatte. Aber das Foto vermittelte einen falschen Eindruck, wie er jetzt feststellte.

Es zeigte eine attraktive Frau, wurde aber weder ihren schimmernden braunen Haaren noch der makellosen Haut gerecht. Auch nicht den hohen Wangenknochen, die ihrem elfenhaft geschnittenen Gesicht etwas anziehend Apartes verliehen.

Als er eben hinter ihr gestanden hatte, war ihm ein zarter Jasminduft in die Nase gestiegen. Und das Feuer in ihren dunkelbraunen Augen war eine weitere Überraschung für ihn. Annie Simpson bemühte sich erst gar nicht, ihre Ablehnung zu verbergen.

Er hatte vieles erwartet, jedoch nicht eine so leidenschaftliche Abwehr. Sie schreckte ihn nicht ab. Im Gegenteil, er liebte Herausforderungen.

Interessant war auch, dass niemand ihr beisprang, als sie ihre Einwände gegen die Dreharbeiten vorbrachte. Hieß das, dass sie als Einzige dagegen war – oder einfach nur genügend Mumm besaß, ihre Kritik auch zu äußern?

Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie. Sie saß aufrecht da, mit durchgedrücktem Rücken, eine zierliche Frau, beherrscht, kontrolliert. Was ihr an Größe fehlen mochte, machte sie durch Courage wett, aber er fragte sich, ob sie ebenso offen gesprochen hätte, hätte sie gewusst, dass er und Gail ihre Worte unfreiwillig mithörten.

Jetzt sah er sie direkt an. Das seidige Haar umrahmte sanft ihr Gesicht. Heller Teint, sinnliche rosa Lippen und dunkle, schokoladenbraune Augen, die seinen Blick unbeirrt erwiderten. Jetzt röteten sich ihre Wangen leicht.

In ihren Augen las er die stumme, aber nachdrückliche Aufforderung, ihr den Nutzen seines Projekts zu beweisen.

Ja, sie hätte ihm ihre Meinung auch offen ins Gesicht gesagt, da war er sich nun sicher. Aber er brauchte sie auf seiner Seite und würde nicht aufgeben, bis er es geschafft hatte.

Caspar hatte seine Gründe, warum er nach Mount Gambier gekommen war. Er hatte das Blue Lake Hospital als Drehort vorgeschlagen, weil es ihm in jeder Beziehung bestens passte. Und er war nicht bereit, einfach dazusitzen und mit anzusehen, wie das Projekt den Bach hinunterging. Es musste realisiert werden, und dazu brauchte er die Unterstützung aller Mitarbeiter des Krankenhauses. Ohne Ausnahme.

Er würde tun, was notwendig war, um Dr. Simpson davon zu überzeugen. Dazu musste er nur herausfinden, was sie wollte. Und wie er es ihr verschaffen konnte.

Caspar lächelte sie an, genau wie früher seine Schwestern, wenn er etwas erreichen wollte. Das hatte immer gewirkt. Doch Annie Simpson erwiderte sein Lächeln nicht. Sie reagierte gar nicht darauf, außer, dass sie den Kopf zur Seite wandte.

Nicht gerade das, was er sich erhofft hatte, aber es war ja noch Zeit. Es musste einfach klappen.

Kaum hatte Gail ihren Vortrag beendet, war Annie schon aus dem Sitzungsraum verschwunden. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich weiterhin von Caspar kritisch mustern zu lassen. Geschweige denn, irgendwelche Einverständniserklärungen zu unterschreiben. Und sie wollte auch nicht über ihre Gründe diskutieren, warum sie das Filmprojekt ablehnte. Die gingen ihn nichts an. Es genügte, dass er wusste, dass sie kein Interesse daran hatte.

Sie schleppte Tori mit in die Cafeteria, weil sie nach dem Sitzungsstress dringend einen Kaffee brauchte. Immer noch konnte sie das Bild von Caspar in den zerwühlten Laken nicht aus ihrem Kopf vertreiben. Annie war von sich selbst entsetzt. Sie brauchte unbedingt Abstand zu ihm, damit sie diese beunruhigenden Gedanken verscheuchen konnte.

Und um sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Leider aber entkam sie dem heißesten Thema des Tages selbst in der Cafeteria nicht. Alle redeten darüber.

Auch Tori. „Was hast du eigentlich gegen ihn?“, fragte sie.

„Es hat nichts mit ihm persönlich zu tun“, versuchte Annie zu erklären. „Mir geht es gegen den Strich, dass ich auf Schritt und Tritt gefilmt werden soll. Ich bin hier, um meinen Job zu machen. Ich schulde es den Patienten, mein Bestes zu geben. Ich habe keine Lust auf Leute, die mir ständig im Weg stehen. Und das schließt ihn mit ein.“

Abgesehen davon war die Vorstellung, eng mit Caspar St. Claire zusammenzuarbeiten, alles andere als verlockend. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, in seiner Gegenwart fühlte sie sich seltsam schutzlos und verletzlich. Ein Zustand, den sie fürchtete. Sie wollte nicht, dass ihre Arbeit darunter litt.

„Also, es sieht so aus, als würde er bleiben“, meinte Tori. „Zumindest die nächsten acht Wochen. Er wird für all die Babys verantwortlich sein, die du auf die Welt holst. Du kannst ihm nicht ausweichen. Und ehrlich gesagt, verstehe ich auch nicht, warum du das willst.“

Annie seufzte. „Da hast du wohl recht. Aber ich möchte nicht gefilmt werden. Bestimmt werden die Kameraleute es bald leid sein, immer nur meinen Hinterkopf aufs Bild zu bekommen, und mich dann hoffentlich in Ruhe arbeiten lassen.“

Tori lachte. „Wirklich erstaunlich. Du bist wahrscheinlich die einzige Frau im ganzen Krankenhaus, die sich beschwert, weil sie mit Dr. Sonnyboy zusammenarbeiten soll. Genieß es doch. Sämtliche Frauen der Stadt werden dich beneiden.“

Annie konnte sich nicht vorstellen, auch nur eine einzige Minute mit dem Mann zu genießen, und hätte nur zu gern mit Tori getauscht. Mit jeder anderen. „Ich bin sicher, du bekommst deine Gelegenheit, solange er hier ist. Du kannst doch dafür sorgen, dass du auf dem Dienstplan stehst, wenn gedreht wird. Du bietest dein Gesicht bei den Aufnahmen an, dann werden sie mich nicht mehr brauchen.“

„Ich stehe im OP, mit einer Maske vor dem Gesicht“, murrte Tori und nahm ihren Kaffee. „He, warum trägst du nicht bei der Visite eine Maske, das würde doch dein Problem lösen, oder?“

Annie funkelte Tori nur an und goss sich stumm Milch in den Kaffee. Aber Tori war noch nicht fertig.

„Caspar St. Claire.“ Sie seufzte. „Sogar sein Name klingt nach einem Schauspieler.“

Annie schnaubte. „Wahrscheinlich ein Pseudonym, damit er sich besser anhört. Ehrlich, wer hat denn einen solchen Namen?“

„Gefällt Ihnen mein Name nicht, Dr. Simpson?“

Na toll! Annie schloss die Augen und stöhnte unterdrückt. Wieder hatte er sich herangeschlichen und alles mit angehört. In Zukunft musste sie vorsichtiger sein. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Tori sich mit Mühe ein Lächeln verkniff. Annie drehte sich um und schaute Dr. Sonnyboy direkt ins Gesicht.

Er dagegen unterdrückte sein Lächeln nicht. Im Gegenteil, er schien sich großartig zu amüsieren. Am liebsten hätte sie mit Ja geantwortet, nur um ihm eins auszuwischen. Aber das wäre gelogen. Ihr gefiel der Name, ein Name, den man nicht so leicht wieder vergaß – wie den Mann, der ihn trug. Ob echt oder nicht, er passte genau zu ihm.

„Sie haben einen beeindruckenden Namen“, gab sie widerstrebend zu. „Allerdings ist er so ungewöhnlich, dass ich mich frage, ob Sie ihn sich ausgedacht haben.“ Sie musste den Kopf heben, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Caspar St. Claire war fast einen Kopf größer als sie.

„Ich gebe zu, er ist ungewöhnlich, kann Ihnen jedoch versichern, dass meine Eltern ihn mir mitgegeben haben. Und nur unter diesem Namen darf ich praktizieren.“

Annie zuckte mit den Schultern. Ein Punkt für ihn.

„So wie es aussieht, muss ich Sie von vielem überzeugen, was mich betrifft, Dr. Simpson.“ Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sein warmer Atem ihr Gesicht streifte. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie beunruhigt? Ich möchte Sie wirklich bei diesem Projekt mit an Bord haben. Sie als Geburtshelferin und ich als Kinderarzt werden viel miteinander zu tun haben, und ich denke, wenn wir einen Weg finden, gut zusammenzuarbeiten, ist das für jeden von Vorteil. Sollten wir eventuelle Differenzen nicht klären, solange wir noch die Zeit dazu haben?“

„Sie mögen die Zeit haben, Dr. St. Claire, doch ich muss mich jetzt um meine Patientinnen kümmern.“

Das hatte schnippisch geklungen, aber der Mann kam ihr einfach zu nahe. Die tiefgründigen Augen, sein Atem auf ihrer Haut, die Wärme seines breitschultrigen Körpers … all das verwirrte ihre Sinne. Sie konnte kaum klar denken. Brauchte Distanz. Sofort.

Annie nahm ihren Kaffee, umklammerte dabei den Pappbecher so fest, dass sie ihn beinahe zerdrückt hätte, und bedeutete ihrer Freundin mit einem wenig freundlichen Blick, mitzukommen. Dann marschierte sie los.

„Das war echt unhöflich“, kritisierte Tori sie, während sie mit Annie mühsam Schritt hielt. „Du musst dich gut mit ihm stellen. Kann nämlich sein, dass er sonst dafür sorgt, dass du auf den Aufnahmen wenig vorteilhaft aussiehst.“

„Das würde er nicht wagen!“ Annie blieb stehen.

„Nein, wahrscheinlich nicht“, stimmte Tori ihr zu. „Hättest du Gail zugehört, wüsstest du, dass keiner von ihnen die Absicht hat, irgendjemand von uns in ein schlechtes Licht zu rücken. Sie wollen den Zuschauern einen Einblick in den normalen Alltag eines Krankenhauses bieten. Aber Gails Loyalität wird immer zuerst Caspar gelten. Deswegen rate ich dir, einfach nur nett und freundlich zu sein.“

Annie verfluchte das Schicksal. Wieso hatte die Produktionsfirma ausgerechnet diese Klinik ausgesucht? Sie wollte doch einfach nur ihre Arbeit tun und nicht ständig dabei gefilmt werden. Ambitionen, als Vorzeigeärztin zu glänzen, hatte sie auch nicht.

Andererseits, was schadete es schon, ein bisschen nett zu sein? Besser wäre es allerdings, wenn sie ihm so weit wie möglich aus dem Weg ging.

Was ihr auch für den Rest des Nachmittags gelang. Beinahe jedenfalls.

Denn als sie nach Dienstschluss durch die Eingangshalle ging, fiel ihr Blick auf eine der Lokalzeitungen, die dort auslagen. Ein großes Foto zeigte einen lächelnden Caspar St. Claire. Neugierig griff sie nach dem Blatt, das schon ein paar Tage alt war.

Bei näherem Hinsehen erkannte sie nun auch Caspars Begleiterin, eine hochgewachsene attraktive Blondine, die eine beliebte Unterhaltungsshow im Fernsehen moderierte. Wie magisch angezogen, fing sie an, den Artikel zu lesen. Er begann mit einer Schilderung von Caspars Leben und leitete dann über zum landesweiten Erfolg der Krankenhausserie.

„Na, steht da etwas Interessantes?“

Beim Klang von Caspars warmer tiefer Stimme schreckte sie zusammen. Ihr Blick glitt über seine schmalen Hüften, den flachen Bauch und höher bis zu den breiten Schultern, bevor sie bemerkte, was sie da tat, und ihm schnell ins Gesicht sah. Er lächelte leicht ironisch, als wartete er nur darauf, dass sie abstritt, den Artikel über ihn zu lesen.

Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun! „Sie haben mich gestört, ehe ich zu den pikanten Einzelheiten kommen konnte.“

Er lachte. „Warum fragen Sie mich nicht persönlich, wenn Sie etwas über mich wissen wollen? Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie stellen eine Frage, und danach bin ich dran.“

Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Lächeln Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen ließ. „Mount Gambier und Melbourne – das ist schon ein Riesenunterschied. Wie hat man Sie überredet herzukommen?“

Annie selbst war freiwillig hergezogen, weil sie hoffte, die ländliche Lage und der Job würden ihr helfen, ein neues Leben zu beginnen. Aber es wunderte sie, dass hier in dieser kleinen Stadt eine Fernsehserie produziert werden sollte – und dass ein Mann wie Caspar St. Claire dabei mitspielte. Zwar war er in der Gegend aufgewachsen, lebte aber schon lange nicht mehr in Mount Gambier. Was mochte ihn bewogen haben zurückzukehren? Mit seiner ganzen Lebensart, seinem Fachwissen und dem Promi-Status passte er viel besser in Großstädte wie Melbourne oder Sydney.

„Ich wollte herkommen.“

„Warum?“

„Das sind schon zwei Fragen“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Jetzt bin ich an der Reihe. Was haben Sie nach Dienstschluss vor?“

Seine Frage überrumpelte sie. Sie wollte schon sagen „Nichts“, als ihr bewusst wurde, dass er sie dann vielleicht einladen würde, und das wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Annie dachte sich schnell eine Ausrede aus.

„Ich gehe ins Fitnessstudio“, erklärte sie, was auch in gewisser Weise der Wahrheit entsprach. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie den Sport heute eigentlich ausfallen lassen wollte. Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Gut, dann sehen wir uns morgen“, erwiderte er.

Als er Richtung Ausgang schlenderte, blieb sie absichtlich zurück. Sie wollte nicht mit ihm zusammen gehen. Von der Halle aus sah sie, wie er in seinen Wagen stieg. Er fuhr einen silbernen Audi TT, genau der richtige Wagen für einen erfolgreichen Arzt aus der Großstadt. Was mag ihm das Fernsehen bezahlen? fragte sie sich unwillkürlich, vertrieb den Gedanken aber rasch. Es ging sie absolut nichts an.

Annie beschloss, doch ins Fitnessstudio zu gehen. Einerseits wollte sie Tori nicht enttäuschen, und andererseits hoffte sie, nicht ständig an die morgigen Dreharbeiten denken zu müssen.

„Hast du dich nun entschlossen zu unterschreiben?“, fragte Tori, als sie sich vor dem Trainingsraum trafen.

„Nein. Du?“

Tori nickte. „Also, ich finde das Projekt sehr spannend. Und es reizt mich schon, mit Caspar zusammenzuarbeiten. Phil ist wirklich ein exzellenter Kinderarzt, aber er könnte mein Vater sein. Caspar übernimmt ja während seiner Auszeit seinen Posten. Ich könnte mir kaum Besseres vorstellen, als mit Caspar St. Claire im OP zu stehen.“

So gesehen hatte Tori recht, aber Annie mochte ihr nicht aus vollem Herzen zustimmen. „Mir wäre er lieber ohne die ganzen Kameras“, erwiderte sie.

„Tja, die gehören nun mal dazu“, meinte Tori. „Und sieh es einfach mal so: Du möchtest doch eine Vertragsverlängerung, oder? Ich denke, bei dem Projekt mitzumachen, verbessert deine Chancen.“

Der Trainer bat um Aufmerksamkeit, und so beendeten sie ihre Unterhaltung, denn Annie war noch nicht fit genug, um gleichzeitig zu trainieren und zu reden. Aber trainieren und nachdenken, das konnte sie schon.

Ihr Vertrag mit dem Krankenhaus war auf ein Jahr befristet. Es war ungemein wichtig für sie, dass er verlängert wurde. Sie brauchte den Job, und sie brauchte das Gehalt. Auch wenn sich in ihr alles dagegen sträubte, so wusste sie doch, dass Tori recht hatte. Sie würde die Einwilligung unterschreiben und auch mit Caspar St. Claire zusammenarbeiten müssen.

Am nächsten Morgen parkte ein Lastwagen mit dem Logo des Fernsehsenders vor dem Krankenhaus, sodass Annie gleich bei Dienstbeginn wieder an die unsägliche Geschichte erinnert wurde.

Die Dreharbeiten würden heute beginnen, alles schien bereit. Allein der Gedanke, dass ihr schon bald ein Kameramann überallhin folgen würde, schlug ihr auf den Magen.

Seufzend machte sie sich auf den Weg zur Entbindungsstation. Ihr war klar, dass sie heute irgendwann Caspar begegnen würde. Aber noch immer hatte sie sich nicht durchringen können zu unterschreiben.

Mit gesenktem Kopf eilte sie an der Säuglingsstation vorbei, falls Caspar sich dort befand. Sie wollte das Unausweichliche so lange wie möglich hinauszögern. Am Stationstresen blieb sie kurz stehen, um sich über Neuigkeiten zu informieren, bevor sie ihre Visite begann, dann hastete sie weiter.

Für die Visite nahm sie sich Zeit, denn sie hatte erst am Nachmittag Sprechstunde. Vielleicht war Caspar dann bereits gegangen.

Als sie schließlich fertig war, ging sie noch einmal zur Stationszentrale, um Krankenberichte zu unterschreiben.

Noch während sie dabei war, wurde ihr klar, dass Caspar nicht weit sein konnte, denn aus allen Richtungen tauchten auf einmal junge Krankenschwestern im Flur auf, die wohl gehört hatten, dass er kommen würde.

Sie blickte von ihren Unterlagen auf und war nicht überrascht, ihn zu sehen, gefolgt von einem Schwarm Schwestern, die sich fast gegenseitig umrannten in ihrem Eifer, ihm ihre Hilfe anzubieten. Ungewollt musste sie lächeln, und zum ersten Mal, seit Caspar im Blue Lake Hospital angekommen war, verbesserte sich ihre Stimmung. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich freute, den Mann zu sehen! Flüchtig überlegte sie, so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt, und sich einfach aus dem Staub zu machen. Aber es war zu spät. Er kam direkt auf sie zu. Mit einem charmanten Lächeln auf dem attraktiven Gesicht.

Dachte er, ihr Lächeln hätte ihm gegolten? Wahrscheinlich.

Zugegeben, er sah wirklich nett aus, wenn er lächelte. Beinahe hätte sie zurückgelächelt, doch dann fiel ihr ein, dass sie keine der jungen, leicht zu beeindruckenden Schwestern war und dass Dr. Sonnyboy dabei war, ihr gewohntes friedliches Leben zu stören.

„Guten Morgen“, sagte sie sachlich. „Haben Sie sich schon ein wenig umgesehen?“

„Ja, alle hier sind wirklich sehr hilfsbereit“, erwiderte er, blickte sie aber einen Moment länger an als nötig, so als wollte er sagen: Alle, außer Ihnen .

Da hatte er eben Pech gehabt. Auch wenn er es gewohnt war, dass alle nach seiner Pfeife tanzten.

„Wo ist das Kamerateam?“, fragte sie, ohne auf seinen stummen Vorwurf einzugehen.

„Die sind damit beschäftigt, die technischen Gegebenheiten zu checken, bevor es losgeht – Lichtverhältnisse, Beleuchtung, Akustik und dergleichen.“

„Wie groß ist das Team denn?“

„Es sind nur wenige Leute. Liam, der Kameramann, Keegan ist für Ton und Beleuchtung zuständig, und Gail, die Produzentin, kennen Sie ja bereits.“

„Keine Maske?“

„Keine Maske.“

Das war bei ihm auch nicht nötig, musste sie sich eingestehen. Der Mann sah einfach verboten gut aus. Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein. Schöne Männer waren ihr schon immer suspekt gewesen.

„Unser Budget ist sehr beschränkt, deswegen kann der Sender dem Krankenhaus gegenüber finanziell sehr großzügig sein. Wir haben nicht viele Ausgaben.“

„Und was ist mit Ihrem Honorar?“ Sie hatte spontan an seinen teuren Sportwagen gedacht, und die Worte waren heraus, ehe sie sie zurückhalten konnte. „Entschuldigen Sie, vergessen Sie meine Frage bitte, es geht mich nichts an.“ Peinlich berührt überlegte Annie, wie sie das Thema wechseln konnte, und blickte sich suchend um.

Die Schwestern um sie herum taten sehr beschäftigt, wollten jedoch bestimmt nur einen Blick auf Caspar werfen. Da er gestern bei der Besprechung über alle Teilnehmer gut informiert schien, fragte sie sich, ob er auch das Pflegepersonal kannte.

„Soll ich sie Ihnen vorstellen, oder sind Sie bereits im Bilde?“, fragte sie zurückhaltend.

„Noch hatte ich keine Zeit, mir alle Namen zu merken, nur die wichtigsten“, erwiderte er. Dabei blickte er sie intensiv an, und Annie hatte das Gefühl, hilflos unter einem Mikroskop zu liegen.

„Und was sollte dann dieser kleine Trick gestern?“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, die Nummer von gestern Abend, dass Sie schon alles über die Anwesenden wüssten.“

„Das war keine Nummer. Ich bin gern vorbereitet, vor allem, wenn meine Gesprächspartner sich untereinander bereits kennen.“

„Dr. Simpson?“ Ellen, eine der älteren Hebammen, hielt einen Hörer in der Hand, das Mikrofon mit der Hand abgedeckt. „Eine Ihrer Patientinnen ist am Apparat, Kylie Jones. Die Fruchtblase ist geplatzt. Möchten Sie ihre Patientenakte?“

Annie schüttelte den Kopf. „Nein, danke, nicht nötig. Ist ihr Ehemann zu Hause?“

„Moment bitte.“ Ellen sprach kurz, schüttelte dann den Kopf. „Er kommt erst nächste Woche nach Hause.“

Annie wusste, dass Paul Jones in einer Mine tätig war, regelmäßig zwei Wochen arbeitete und anschließend zwei Wochen freihatte. „Sagen Sie ihr, dass wir einen Krankenwagen schicken. Wenn es geht, soll sie ihren Mann noch benachrichtigen, damit er so schnell wie möglich herkommt.“

Annie wandte sich an Caspar. „Kylie ist in der dreiunddreißigsten Woche mit Zwillingen schwanger. Ich brauche Ihre Unterstützung.“ Ob es ihr passte oder nicht.

„Natürlich.“ Seine Augen blitzten. Ein warmes Gefühl überlief Annie, und in ihrem Bauch flatterten schon wieder Schmetterlinge. „Ich dachte, Sie würden mich nie fragen“, meinte er und zog sein Handy aus der Tasche.

„Wen wollen Sie anrufen?“

„Das Kamerateam.“

„Was? Nein!“, protestierte sie sofort.

„Wieso Nein? Deswegen sind wir doch hier.“

Annie war anderer Meinung. „Warum wollen Sie ausgerechnet Kylie filmen? Sie kennen sie nicht, wissen nicht das Geringste über sie.“ Und ich will keine Kamera auf meiner Entbindungsstation .

Caspar gab sich nicht so leicht geschlagen.

„Darum werden wir uns hinterher kümmern“, erklärte er unbeeindruckt. „Wir können ihre Geschichte und die Entwicklung der Babys dokumentieren.“

Sie ahnte, dass er nicht nachgeben würde. „Diese beiden Kinder kommen zu früh zur Welt“, gab sie eindringlich zu bedenken. „Zuerst geht es doch um ihr Überleben.“

„Ich bin Kinderarzt, Sie müssen mir vertrauen. Ich bin sehr gut in meinem Job und habe ebenso wie Sie den hippokratischen Eid geschworen.“ Caspar ließ nicht mit sich reden. „Es ist die perfekte Story – eine Zwillingsfrühgeburt, zu der der Vater nicht rechtzeitig kommen kann. Es liegt in meinem eigenen Interesse, dafür zu sorgen, dass es ein Happy End gibt, und dann können wir auch noch eine gefühlvolle Wiedersehensszene filmen.“

„Vergessen Sie nicht, dass ich auf der Entbindungsstation bin und meine Einwilligung noch nicht gegeben habe.“

Caspar zuckte mit den Schultern. „Wir halten Sie aus dem Bild raus. Uns geht es um Kylie und die Babys. Wenn Sie wollen, können wir mit Stimmen aus dem Off oder Musik Ihre Worte überspielen. Kein Problem für die moderne Technik.“

„Wollen Sie mir erzählen, dass Sie mich ohne meine Einwilligung filmen werden?“

„Sind Sie immer so streitlustig?“, fragte er mit einem breiten Grinsen, und wieder funkelten seine Augen.

Amüsierte er sich etwa über sie? Glaubte er, sie meinte es nicht ernst?

Wieder regte sich dieses merkwürdige, irritierende Flattern in ihrem Bauch, und sie versuchte, es zu ignorieren. Annie wollte den Mann nicht anziehend finden. Das würde alles nur noch komplizierter machen.

„Nur, wenn ich glaube, dass jemand mit seiner Meinung falschliegt!“, fuhr sie ihn an.

„Immer mit der Ruhe, Dr. Simpson. Wir können Sie herausschneiden, aber Sie können uns das Filmen nicht verbieten. Die Verwaltung hat es genehmigt, und dann brauche ich nur noch Kylies Einwilligung. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern die fertige Episode, bevor sie gesendet wird.“

Der Kerl ist unmöglich! dachte sie gereizt. „Woher soll ich wissen, dass ich mich auf Ihr Wort verlassen kann?“ Schlechte Erfahrungen hatte sie in dieser Hinsicht schließlich genug gemacht.

„Es ist fruchtlos, jetzt darüber zu diskutieren. In erster Linie hängt sowieso alles von Kylie ab“, meinte Caspar gelassen.

Er griff zum Handy und wählte. Annie stand da und kochte innerlich. Wenn er glaubte, er würde sich jedes Mal durchsetzen, irrte er sich. Aber im Moment hatte er die besseren Karten, das wusste sie. Kylies Babys brauchten seine Hilfe, daran konnte sie nichts ändern.

Blieb nur zu hoffen, dass Kylie bei der Geburt nicht gefilmt werden wollte. Wenn doch, muss ich wohl oder übel nachgeben. Annie hasste es, hilflos zu sein. Sie hatte sich geschworen, allein über ihr Leben zu bestimmen, sich von niemandem etwas vorschreiben zu lassen. Aber seit Caspar in dieses Krankenhaus spaziert war, hatte sie das Gefühl, nichts mehr im Griff zu haben.

„Was halten Sie davon, wenn wir unsere Differenzen vergessen, und Sie erzählen mir von Kylie?“, sagte Caspar, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Egal, ob wir die Geburt nun filmen oder nicht, um die Kinder kümmere ich mich auf jeden Fall – gibt es also etwas, das ich wissen sollte? Irgendwelche Probleme während der Schwangerschaft?“

Bevor Annie antworten konnte, unterbrach Ellen das Gespräch. „Der Krankenwagen ist gleich da.“

„Ich möchte mit den Sanitätern sprechen“, erklärte Annie Caspar, weil sie notgedrungen mit ihm zusammenarbeiten musste. „Wenn Sie mitkommen, kann ich Sie unterwegs informieren. Kylie hatte bislang eine völlig normale Schwangerschaft. Sie ist jung, dreiundzwanzig, zum ersten Mal schwanger, zweieiige Zwillinge. Ich erwarte keine Probleme, abgesehen von den üblichen bei einer Frühgeburt.“

Sie erreichten den Krankenwagen, als die Sanitäter gerade die Wagentüren öffneten. Caspar hatte wieder zum Handy gegriffen und instruierte sein Produktionsteam, in die Notaufnahme zu kommen. Hoffentlich ist er in der Lage, sich auf zwei Sachen gleichzeitig zu konzentrieren, dachte Annie. Die Babys brauchten seine volle Aufmerksamkeit.

„Kennen Sie die Patientin?“, erkundigte sich der Sanitäter, als Annie sich vorstellte, und als sie nickte, fuhr er fort: „Zumindest die Fruchtblase des einen Zwillings ist geplatzt. Die Mutter hat einen erhöhten Blutdruck, 165 zu 95. Die fetalen Herzschläge bei beiden ungefähr 140.“

„Wie sieht es mit Wehentätigkeit aus?“

„Schwache Kontraktionen. Einige Minuten auseinander.“

Annie sprach eine der Schwestern an, die ihnen nach draußen gefolgt waren. „Können Sie Dr. Williams bitten herzukommen?“ Kylies hoher Blutdruck gefiel ihr nicht, und vielleicht wäre eine Epiduralanästhesie angebracht, aber das sollte Tori entscheiden.

Die Sanitäter zogen die Trage mit der Patientin aus dem Wagen, und Annie beugte sich über sie. „Willkommen, Kylie. Ich hatte Sie nicht so früh bei uns erwartet. Wir bringen Sie jetzt in die Notaufnahme und sehen uns mal an, was Ihre Babys machen.“ Annie musste wissen, wie weit die Geburt fortgeschritten war. Kylie sollte möglichst nicht pressen, bevor sie die Entbindungsstation erreicht hatten.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Caspar neben ihr stand. Natürlich musste sie ihn vorstellen, das war klar. Aber er ergriff selbst die Initiative.

„Hallo, Kylie, ich bin …“

„Caspar St. Claire!“ Kylie schnappte nach Luft. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Was machen Sie denn hier?“

Annie fragte sich, wie die werdende Mutter in ehrfürchtiger Bewunderung für den Mann alles andere um sich herum vergessen konnte. Sie an Kylies Stelle hätte an ihre Babys gedacht.

„Wir drehen die nächste Folge von RPE hier im Blue Lake Hospital. Möchten Sie dabei mitmachen?“, fragte er sie, während Kylie ins Gebäude gerollt wurde.

„Sie holen meine Kinder auf die Welt? Und das sieht man im Fernsehen?“

Annies Laune verschlechterte sich zunehmend, aber Caspar schüttelte den Kopf.

„Nein, Dr. Simpson wird Ihre Kinder holen, und ich kümmere mich nach der Geburt um sie. All das filmen wir, und natürlich bekommen Sie eine Kopie der Aufnahmen, die Sie Ihrem Mann zeigen können, wenn er wieder zu Hause ist.“

Da wusste Annie, Caspar hatte gewonnen. Kylie litt natürlich darunter, dass ihr Mann bei der Geburt nicht dabei sein konnte, und wenn Caspar ihr Problem löste, indem er die Entbindung aufzeichnete, würde Kylie ihn garantiert nicht aus dem Kreißsaal werfen.

„Ich fühle mich besser, wenn Sie dabei sind, Dr. St. Claire.“ Kylie strahlte Annie an. „Können Sie es glauben, Dr. Simpson? Meine Familie kommt ins Fernsehen.“

Annie wollte keine schlechte Verliererin sein, und außerdem hatte sie keine Zeit zum Diskutieren. Ihre Patientin ging vor, sie allein war jetzt wichtig – vor allem ihr hoher Blutdruck –, und nicht die Frage, ob sie für eine Viertelstunde eine Fernsehberühmtheit sein wollte oder nicht.

Widerstrebend zwang sie sich zu einem Lächeln. „Okay, dann bringen wir Sie jetzt rein.“

3. KAPITEL

Gerade als Kylie ins Krankenhausbett gehoben wurde, tauchte das Kamerateam auf. Caspar sprach kurz mit seinen Mitarbeitern. Annie war erleichtert, dass es tatsächlich nur zwei Männer waren, aber sie hatte keine Zeit, sich weiter mit ihnen zu befassen, sondern begann die Vorhänge ums Bett zuzuziehen, damit Kylie sich ungestört das Krankenhaushemd anziehen konnte.

„Lassen Sie uns eine Minute Zeit, ja?“, bat sie Caspar. Kylie war kaum umgezogen, da stand er schon wieder neben ihrem Bett und legte ihr den Gürtel um, der mit dem Herztonschreiber verbunden war.

Annie warf einen Blick auf den Monitor, der Kylies Blutdruck anzeigte. 150 zu 90. Immer noch recht hoch, aber nicht mehr gefährlich. War Kylie nur aufgeregt gewesen?

Wahrscheinlich. Die drohende Frühgeburt, der Mann weit weg von zu Hause, so etwas würde fast jeder werdenden Mutter Angst machen. Kyle wirkte entspannter als bei ihrer Ankunft, lag ruhig da und verfolgte aufmerksam jede Bewegung von Caspar.

Vielleicht hat ihr erhöhter Blutdruck weniger mit ihren Ängsten als mit dem gut aussehenden Kinderarzt zu tun, dachte Annie amüsiert. Anscheinend reagierten alle Frauen auf Caspar St. Claire gleich. Sie selbst eingeschlossen, was sie sich nur ungern eingestand. Er hingegen schien es gar nicht zu bemerken … zumindest sah man es ihm nicht an.

Der Monitor zeigte nun die Herztöne zweier Kinder an. Caspar drehte sich zu Annie um und hob lächelnd den Daumen. Er wirkte völlig entspannt, und das würde Kylie helfen.

Sie musste sich ein Beispiel an ihm nehmen. „Also, Kylie“, sagte sie und begab sich ans Fußende. „Ich möchte Sie kurz untersuchen, damit wir wissen, woran wir sind.“

Annie überlegte, ob sie dem Kamerateam sagen sollte, was sie filmen durften und was nicht, aber im Moment nahmen sie Kylies Gesicht auf – und natürlich das von Caspar. Klar, die Zuschauer wollten den attraktiven Arzt sehen.

Bei der Untersuchung stellte sie überrascht fest, dass der Muttermund stark geweitet war. „Haben Sie schon länger Wehen?“

„Nein, die kamen erst, nachdem ich im Krankenhaus angerufen hatte.“

„Und sonstige Schmerzen?“

„Mir tut das Kreuz etwas weh, aber die letzten Tage habe ich das ganze Haus geputzt und mich dabei wohl ein wenig übernommen.“

„Es sieht so aus, als wäre zumindest der eine Zwilling entschlossen, heute auf die Welt zu kommen. Er liegt gut, und ich schätze, Sie befinden sich bereits in der ersten Phase der Geburt.“ Annie wandte sich an Tori, die gerade hereinkam. „Ich würde gern deine Meinung hören, ob wir eine Epiduralspritze geben sollen, um Kylies Blutdruck zu senken.“

Tori blickte auf den Monitor, der jetzt 140 zu 85 anzeigte. „Der Blutdruck ist okay.“

Annie nickte zustimmend. „Er war um einiges höher, als sie eingeliefert wurde. Kylie ist in der dreiunddreißigsten Woche, erwartet Zwillinge und kommt mit den Umständen gut zurecht.“

„Da es eine Doppelgeburt ist, bleibe ich noch eine Weile in der Nähe, nur für alle Fälle“, sagte Tori. „Ich nehme an, du hast einen OP-Saal bereit?“

Annie nickte wieder. Allerdings hoffte sie, dass sie ihn nicht brauchte. Und auch, dass die Zwillinge nicht in der Notaufnahme zur Welt kamen. Sie wandte sich an Caspar. „Wo soll ich die Kinder holen, was meinen Sie? Hier oder im Kreißsaal?“

„Ich denke, die Entbindungsstation ist für eine entspannte Geburt besser geeignet“, meinte er. „Außerdem ist es näher zur Kinder- und Säuglingsstation.“

„Und viel schöner“, meinte Annie zu Kylie. „Freundlich und hell, dazu entspannende Musik. Wenn Sie einverstanden sind, gebe ich Ihnen jetzt eine Spritze, die die Lungenreife der Kinder fördert, und dann legen wir los.“ Sie zog Cortison auf, injizierte das Medikament und wandte sich dann ans Geburtsteam. „Okay, Leute, auf geht’s.“

In weniger als zehn Minuten hatten sie Kylie auf die Entbindungsstation gebracht. Der Abstand zwischen den Wehen verringerte sich rapide, und als die Gruppe den Kreißsaal erreichte, hatten schon die Presswehen eingesetzt.

Annie stellte sich so, dass Liam mit seiner Kamera hinter ihr stand – aus zwei Gründen. So konnte sie ihn für sich ausblenden, und zweitens hatte er immer nur ihren Hinterkopf im Bild. Aber während sie Kylie durch die Geburt führte, erkannte sie, dass Liam überhaupt nicht an ihr selbst interessiert war. Wie in der Notaufnahme, konzentrierte er sich nur auf Kylie und Caspar.

Das erste Baby war ein Mädchen. Klein und faltig, typisch für ein Frühchen, als hinge die Haut viel zu locker an dem kleinen Körper. Doch es hatte alle Finger und Zehen und auch sonst keine Fehlbildungen. Caspar stand hinter Annie, als sie das Kind holte. Natürlich konnte sie ihn nicht sehen, aber sie spürte die Wärme seines großen, starken Körpers. Als sie sich umdrehte, streckte er die Arme aus, um das Neugeborene zu übernehmen.

Dabei streiften seine Hände ihre Haut, und Annie wurde seltsam heiß. Schon wenn er sie anlächelte, hatte sie das Gefühl, dahinzuschmelzen, aber diese Berührung … als würde sie innerlich brennen. Gut, dass sie saß, denn ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, eine süße Schwäche, die sich überall in ihrem Körper ausbreitete.

Und dann, so plötzlich, wie die Hitze gekommen war, verschwand sie, ersetzt von kühler Leere, als er das Baby an sich nahm.

In seinen großen Händen wirkte der Säugling noch winziger. Annie holte unauffällig tief Luft und rieb ihre Finger, wünschte sich die Wärme zurück. Wie konnte das sein, dass sie körperlich so heftig reagierte? Schließlich war sie neunundzwanzig, geschieden und wirklich nicht unerfahren. Ging es anderen Frauen ähnlich? Und wie sollte man sich bei solchen Wechselbädern der Gefühle auf seine Arbeit konzentrieren?

Ich darf mich von Caspar St. Claire nicht so ablenken lassen!

Ärgerlich auf sich selbst, dass sie sich nicht im Griff hatte, wandte sie sich wieder ihrer Patientin zu. Sie wartete, bis das Baby den ersten Schrei ausstieß, klemmte die Nabelschnur ab und durchtrennte sie, bevor sie sich um den zweiten Zwilling kümmerte.

Caspar beendete den Apgar-Test und reichte das kleine Mädchen seiner glücklichen Mutter. Dann sah er Annie fragend an.

„Die Fruchtblase ist noch intakt“, informierte sie ihn. Das zweite Baby hatte es nicht so eilig, auf die Welt zu kommen. „Aber das Kind liegt in Steißlage.“

„Können Sie es drehen?“

„Ich denke schon.“ Sie hoffte es, denn sie wollte Kylie einen Kaiserschnitt ersparen. Kylie würde mit zwei Kindern schon genug zu tun haben, da sollte sie sich nicht auch noch von den Folgen einer Operation erholen müssen.

Doch zu ihrer Erleichterung gelang es Annie, das Baby ohne große Schwierigkeiten zu drehen. Kurz überprüfte sie die Werte an den Monitoren und freute sich, dass Kylies Blutdruck sich im normalen Bereich bewegte, genau wie die Vitalwerte des Ungeborenen.

Das Kind stand nicht unter Stress, was bedeutete, sie konnten in Ruhe darauf warten, dass es auf die Welt kommen wollte. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

„Gute Arbeit.“

Caspars Lob löste ein warmes Gefühl in ihr aus. Sie blickte auf. Er lächelte sie an. Sie erwiderte sein Lächeln, und wieder spürte sie diese Hitze im Bauch, wenn auch nicht vergleichbar mit der, als er sie berührt hatte.

Und plötzlich war sie froh, dass er bei ihr war. Sie arbeiteten gut zusammen.

„Sobald ihre Wehen wieder einsetzen, nehme ich eine Amniotomie vor, und dann wird hoffentlich wieder alles so glattgehen wie beim ersten Zwilling.“

Caspar hatte inzwischen das kleine Mädchen dem zweiten Apgar-Test unterzogen und legte es in den Brutkasten, um es warm zu halten. Kylies Wehen kamen stärker und regelmäßiger.

Annie öffnete die Fruchtblase, und gleich darauf waren die Schultern des Babys zu sehen. Diesmal war es ein Junge, mit 2600 Gramm etwas schwerer als seine ältere Schwester.

Caspar wartete darauf, dass sie ihm das Kind übergab, und obwohl Annie diesmal auf den Körperkontakt vorbereitet war, hatte er fast die gleiche atemberaubende Wirkung wie vorhin. Während Caspar den Kleinen versorgte, kümmerte sich Annie um die Nachgeburt.

Bald darauf wurden die Kinder auf die Säuglingsstation gebracht. Der Junge benötigte zusätzlich Sauerstoff, ansonsten aber war er gesund. Annie hatte Liam und seine Kamera völlig ausgeblendet, und erst als dieser Caspar folgte, wurde ihr seine Anwesenheit wieder bewusst. Sie hatte während der Geburt tatsächlich vergessen, dass sie gefilmt worden waren.

Schwester Ellen begleitete Kylie ins Badezimmer, und Annies Arbeit war beendet. Caspar und die Zwillinge waren fort, und in wenigen Minuten würde Ellen Kylie ebenfalls auf die Säuglingsstation bringen. Normalerweise wäre Annie bei ihrer Patientin geblieben, aber sie wollte Caspar nicht folgen. Außerdem musste sie gleich zur ambulanten Sprechstunde. Trotzdem ließ sie sich noch ein wenig Zeit, um sich wieder zu fangen.

Die unerwartete Anziehung zu Caspar hatte alte Wunden aufgerissen. Der Mann sah verboten gut aus, es war also nur eine rein körperliche Anziehung, die diese heftigen Gefühle in ihr auslöste. Annie wusste aus leidvoller Erfahrung, welche Probleme daraus entstehen konnten.

In ihrer eigenen Familie hatte sie erlebt, was passierte, wenn Sex die einzige Basis in einer Beziehung war. Ihre Mutter war ein abschreckendes Beispiel dafür gewesen. So wollte Annie nicht werden, niemals!

Jahrelang hatte ihre Mutter immer wieder beschrieben, wie sie sich auf den ersten Blick bis über beide Ohren in Annies Vater verliebt hatte. Die beiden hatten nicht die Finger voneinander lassen können, aber emotional war die Beziehung ein Desaster gewesen. Eigentlich hatte sie außer Sex nichts miteinander verbunden. Ungezählte Male trennten und vertrugen sie sich wieder, und kam es zur Versöhnung, hatten sie nur Augen füreinander. Alles andere war unwichtig. Vor allem ihre Tochter.

Annie hatte sich geschworen, nie so zu werden, und sie war sicher gewesen, dass sie einmal eine echte Liebesbeziehung haben würde, die über reinen Sex hinausging. Mit einundzwanzig glaubte sie, den richtigen Partner gefunden zu haben, und doch war sie mit neunundzwanzig eine geschiedene Frau, kinderlos und ohne ein wirkliches Zuhause.

Seit der Scheidung war es immer ein bittersüßes Erlebnis gewesen, den Kindern anderer Frauen auf die Welt zu helfen. Sie liebte ihre Arbeit, aber jedes Neugeborene erinnerte sie schmerzlich an ihre Sehnsucht, selbst Mutter zu sein. Und da ihr dreißigster Geburtstag unaufhaltsam näher rückte, wagte sie kaum noch zu hoffen, dass sie jemals Kinder haben würde. Die Scheidung hatte sie Haus und Job gekostet und wahrscheinlich auch die Chance, jemals eine eigene Familie zu haben.

Aber auf der Säuglingsstation herumzusitzen und sich zu bemitleiden, führte auch nicht weiter.

Annie riss sich zusammen. Arbeit hatte sie genug.

Erst als Caspar – auf dem Weg zum Abendessen bei seiner Schwester – im Wagen saß, kam er dazu, über den Tag nachzudenken. Wie immer, war er spät dran. Die Filmaufnahmen von Kylie und ihren Zwillingen hatten länger gedauert als gedacht. Aber insgesamt gesehen war es ein erfolgreicher Tag gewesen. Nach Kylie hatten sie einen weiteren interessanten Fall gefilmt, der die Zusammenarbeit mit Colin Young, dem orthopädischen Chirurgen, erforderte. Caspar war allerdings nicht beteiligt gewesen. Das Team war jedoch mit den Aufnahmen zufrieden gewesen, ein guter Anfang also.

Caspar zählte es als großen Erfolg, dass Annie Simpson mit dem Filmen der Geburt einverstanden gewesen war. Ihre fachlichen Fähigkeiten und ihre ruhige Art hatten ihn beeindruckt. Sie war offen und ehrlich, redete nicht um den heißen Brei herum. Das gefiel ihm. Ihre Patientinnen kamen für sie an erster Stelle, und auf der Entbindungsstation machte sie deutlich, wer dort das Sagen hatte.

Immer noch hatte er ihren Jasminduft in der Nase. Dieser zarte Duft war sogar noch da, nachdem Caspar sich geduscht und umgezogen hatte. Zumindest bildete er es sich ein.

Tiffany, eine der Krankenschwestern, hatte ihn eingeladen, sich mit ihr am Abend im Royal Hotel zu treffen, aber er war bereits verabredet. Und wenn Annie ihn gefragt hätte? Hätte er das Essen bei seiner Schwester abgesagt? Sie war eine attraktive Frau, da bestand kein Zweifel. Aber egal wie verlockend sie war, er konnte seine Schwester nicht enttäuschen.

Bald darauf hielt er auf der Auffahrt seiner Schwester, wo seine Nichte und sein Neffe vor der Garage gerade Basketball spielten.

„Du bist spät dran“, tadelte seine Nichte ihn, als er sie in die Arme zog.

„Es ging nicht früher, tut mir leid“, entschuldigte er sich.

„Komm mit rein“, meinte sein Neffe nach einem letzten Wurf und zerrte Caspar mit sich.

„Wie geht es Grandpa?“, fragte Caspar, als sie das Haus betraten.

„Er weiß heute, wer wir sind, und das ist schon gut.“

Caspars Vater erhob sich aus seinem Sessel, als sie das Wohnzimmer betraten. Er war ein großer Mann und schien gebeugter zu gehen als das letzte Mal, meinte Caspar sich zu erinnern. Ansonsten aber sah er unverändert aus.

Der alte Mann vor ihm war der Grund, warum Caspar darauf gedrängt hatte, die nächste Staffel von RPE in Mount Gambier zu drehen. Hier konnte er sich mit den Problemen befassen, die die Demenz seines Vaters verursachte, und helfen. Bisher hatten sich Caspars Schwestern allein um den Vater gekümmert.

Bis vor einigen Wochen hatte Joseph St. Claire bei Caspars Schwester Kristin gelebt, aber sie hatte mit zwei Kindern schon genug zu tun und erwartete außerdem ihr drittes Kind. Zusammen mit ihrem Mann bewirtschaftete sie ein Weingut, eine gute halbe Stunde von der Stadt entfernt. Zusätzlich auch noch ihren Vater zu betreuen, war einfach nicht zu schaffen. Deshalb hatte Caspars ältere Schwester Brigitte ihn bei sich aufgenommen.

Joes graue Augen leuchteten auf, als er Caspar hereinkommen sah. „Caspar, mein Junge, wie geht es dir?“

Caspar mochte gar nicht daran denken, wie es war, wenn sein Vater ihn nicht mehr erkannte. Eines Tages würde es so weit kommen, aber heute zum Glück noch nicht. Seine Erleichterung hielt leider nur kurz an.

„Wie ist dein Abschlussexamen gelaufen?“, fragte sein Vater.

Caspar hatte sein Examen bereits vor fünf Jahren im Alter von achtundzwanzig abgelegt.

Brigitte hatte die Frage mitbekommen, weil sie gerade aus der Küche kam. „Hi, kleiner Bruder“, sagte sie und umarmte ihn. Dann wechselte sie rasch das Thema und verkündete laut und deutlich: „Kommt essen.“

„Wir reden später darüber“, flüsterte sie Caspar zu, als sich die Familie im Esszimmer versammelte.

„Wollen wir nicht auf Mutter warten?“, fragte Joe mit gerunzelter Stirn, als Brigittes Mann den Braten anschnitt.

„Sie ist heute Abend nicht hier, Dad. Sie hat doch ihren Bridgeabend.“

Caspar runzelte die Stirn. Ihre Mutter war vor drei Jahren gestorben. Was erzählte Brigitte denn da?

„Ich erkläre es dir nachher“, hauchte sie ihm über den Tisch hinweg zu.

Caspar nickte kurz und widmete sich dem Essen. Brigitte war eine hervorragende Köchin, schon lange nicht mehr hatte er einen so leckeren Braten gegessen – auch wenn er ihn nicht uneingeschränkt genießen konnte. Der verschlechterte Zustand seines Vaters machte ihm Sorgen.

Und natürlich stellten sich auch gleich Schuldgefühle ein. Weil er ihn nicht so oft besuchte, wie er sollte, und auch, weil er seinen Schwestern die Last aufbürdete, statt seinen Teil zu tragen.

Nach dem Essen halfen Brigittes Kinder ihrem Großvater, sich bettfertig zu machen, während Caspar seiner Schwester in der Küche zur Hand ging. Beim Essen hatte sein Vater sich nicht wieder nach seiner Frau erkundigt. Entweder hatte er seine Frage vergessen oder sich daran erinnert, dass sie nicht mehr lebte.

„Dad hat vergessen, dass Mum gestorben ist?“, fragte er Brigitte, als er die Teller zusammenstellte.

„Manchmal erinnert er sich und dann wieder nicht. Es ist zu schwierig, es ihm zu erklären. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, immer wieder von Neuem zu hören, dass Mum gestorben ist? Für Dad ist es dann so, als hörte er es zum ersten Mal. Das ist für ihn sehr deprimierend, und für uns alle anderen auch. Morgen kann er sich vielleicht wieder erinnern, und wenn nicht, ist es okay, aber es ist besser, er erinnert sich an irgendetwas, als dass er immer wieder den Schmerz neu durchleben muss.“

„Mir war gar nicht bewusst, dass er so schnell abbaut.“

„Ich glaube, der Umzug von Kristin hierher hat ihn noch mehr verwirrt“, meinte Brigitte, während sie heißes Wasser für Töpfe und Pfannen in die Spüle einließ. „Und so schnell hat sich sein Zustand auch nicht verschlechtert. Das mag dir so vorkommen, weil du ihn ein paar Monate nicht gesehen hast.“

Es schwang keine Kritik mit, dennoch verstärkten ihre Worte seine Schuldgefühle. Eigentlich hatte er keine echte Entschuldigung. Mount Gambier lag nur wenige Autostunden von seinem Haus in Melbourne entfernt. Seine Arbeit und das Abdrehen der vorherigen Staffel hatten ihn zwar monatelang durchgängig beschäftigt, aber auch seine Schwestern arbeiteten und hatten sich trotzdem um ihren Vater gekümmert.

„Erzähl, was machst du so?“, wechselte sie das Thema. „Hast du nicht irgendwelchen interessanten Klatsch zu bieten? Hast du eine feste Freundin? Auf dem Zeitungsfoto von der Talentshow warst du mit der Moderatorin zu sehen.“

„Wir sind einige Male miteinander ausgegangen, aber sonst verbindet uns eigentlich nichts.“ Im Bett passten sie gut zusammen, doch das würde er seiner Schwester nicht erzählen.

Brigitte lachte. „Außer, dass ihr beide im Fernsehen auftretet.“

„Stimmt.“ Caspar grinste. „Aber glaub mir, ich sehe mich nicht als Promi – und möchte auch keine Beziehung zu irgendeiner Berühmtheit haben.“

„Nein, dazu bist du viel zu anspruchsvoll“, neckte sie ihn.

Obwohl er im Fernsehen zu sehen war, interessierte ihn das Geschäft nicht. Nicht, weil er meinte, es läge unter seinem Niveau, sondern weil er sich andere Prioritäten gesetzt hatte. Und eine Karriere in den Medien stand ganz weit unten auf seiner Rangliste. Caspar liebte seinen Beruf und hatte die Rolle bei RPE nur angenommen, um einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen, wie Medizin in der Praxis ablief. Und um Spendengelder für bestimmte Projekte zu sammeln.

„Ich hätte nicht gedacht, dass diese Serie so einschlagen würde, und hätte wirklich gern mehr Privatleben als jetzt.“

„Wer weiß, vielleicht finden Kristin und ich eines Tages hier die richtige Frau für dich, und dann hast du einen Grund, in der Stadt zu bleiben. Ich weiß genau, welchen Typ Frau du brauchst.“ Brigitte lachte.

Caspar wusste, er sollte nicht fragen, aber die Neugier war stärker. „Und welcher ist das?“

„Eine mit genügend Selbstbewusstsein. Eine, die dir nicht immer deinen Willen oder dich allein bestimmen lässt.“

„Das hört sich ja an, als wäre ich herrschsüchtig“, protestierte er.

„Ganz und gar nicht, aber du hast immer getan, was du wolltest. Du hast gern das Heft in der Hand. Du brauchst eine Frau, die dir auch mal Kontra gibt. Eine, die klar Stellung bezieht und ihren Standpunkt verteidigt.“

Unwillkürlich musste er an eine hübsche Brünette mit herzförmigem Gesicht und der Figur einer zierlichen Ballerina denken. Dr. Annie Simpson scheute sich nicht, ihre Meinung zu sagen. Und zwar sehr deutlich. Ob sie seinen Schwestern gefallen würde?

Bei dem spontanen Gedanken, Annie um ein Date zu bitten, hätte er beinahe laut aufgelacht. Was für eine dumme Idee! Für so etwas hatte er nun wirklich keine Zeit. Da gab es Wichtigeres. „Durch meine Arbeit und die Filmaufnahmen hatte ich nicht einmal genug Zeit, mich um Dad zu kümmern – wie soll ich mich da noch mit Frauen verabreden? Die PR-Abteilung hat mindestens ein halbes Dutzend passende Begleiterinnen parat, wenn mal eine gebraucht wird.“

Es war ihm sehr gelegen gekommen, denn es bedeutete gute Publicity für die Serie und kaum Aufwand für ihn selbst.

„Vielleicht sind wir besser als die PR-Abteilung“, meinte Brigitte.

„Danke, aber dafür fehlt mir einfach die Zeit.“

Er war nicht interessiert an einer festen Beziehung. Die wenigsten Paare waren richtig glücklich. Was also sollte die Suche nach der richtigen Frau, wenn er sowieso überzeugt war, dass es sie nicht gab? Und warum Zeit und Aufwand vergeuden für etwas, das nicht existierte? Die Enttäuschung konnte er sich ersparen.

Caspar hatte gelernt, was es bedeutete, ausgeliefert zu sein und keine Kontrolle über das Handeln anderer zu haben. Also konzentrierte er sich auf das, was er kontrollieren konnte – sein eigenes Tun. Schöne Frauen, die nur darauf warteten, mit ihm auszugehen, gab es genug. Ihm genügten kurze, unverbindliche Affären. Da hatte er alles im Griff.

Er glaubte nicht an Märchen. Man hatte ihn einfach weggegeben, als er noch ein Baby war. Zwar hatte er Glück gehabt, dass zwei Menschen ihn zu sich genommen und ihm ein Zuhause geschenkt hatten. Aber so viel Glück ein zweites Mal zu erwarten, das erschien ihm vermessen und völlig unrealistisch.

„Und egal, was du denkst“, sagte er zu seiner Schwester. „Jede Frau, mit der ich mich öffentlich sehen lasse, wird keine ruhige Minute vor den Medien haben, nicht einmal in Mount Gambier.“

„Wenn dir dein Privatleben so wichtig ist, warum wohnst du dann nicht bei uns statt in einem Apartment?“

„Du würdest dich wundern, was dann hier los wäre. Meine Fans machen mich überall ausfindig, egal, wo ich bin. Weder du noch deine Familie hättet eure Freude daran, ständig von neugierigen Fans belagert zu werden, oder?“

Brigitte zuckte mit den Schultern. „Dad ist nachts sehr unruhig und läuft viel herum. Du könntest ihm Gesellschaft leisten, wenn du spät aus dem Krankenhaus kommst.“

„Möchtest du, dass ich bleibe? Könntest du Hilfe gebrauchen?“

„Nein, nicht nötig. Es reicht schon, dass du in der Stadt bist. Dann können wir uns wenigstens absprechen und gemeinsam Entscheidungen treffen.“

„Es tut mir leid, ich war bislang keine große Hilfe. Du und Kristin, ihr habt die ganze Last geschultert.“

„Kristin mehr als ich“, sagte Brigitte. „Wir haben es zwar geschafft, aber es wird immer schwieriger. Dad baut weiter ab, Kristin bekommt bald ihr Kind, und ich muss leider zu einer Fortbildung nach England. Ein paar Wochen bleiben uns noch, doch dann wird es problematisch. Wir müssen sehen, dass wir schnell einen Heimplatz für ihn bekommen.“

„Wie viele Möglichkeiten bleiben denn?“

„Wir haben ihn auf mehrere Bewerbungslisten setzen lassen. Allerdings erschwert es die Lage, dass er eine spezielle Demenzbetreuung braucht. Meinst du, du könntest vielleicht deine Verbindungen spielen lassen?“

„Ich vermute, ihr werdet mehr Erfolg haben als ich“, sagte Caspar. „Ihr seid aus der Gegend. Ich nicht mehr.“

„Aber du bist überall sehr bekannt und dazu Mediziner – das müsste doch schon helfen.“

„Ich kann versuchen, die Namen der Ärzte herauszufinden, die diese Heime betreuen, vielleicht lässt sich da etwas machen. Aber letztendlich entscheidet die Pflegeleitung. Gib mir doch die Namen der Heime, und dann sehe ich, was ich tun kann.“

Caspar wusste, er musste sich anstrengen, eine Lösung zu finden. Es wurde Zeit, selbst seinen Teil beizutragen. Und zwar sehr bald.

Annies Wochenende schleppte sich dahin. Sie hatte ihre Visiten gemacht, war mit Tori zum Sport gegangen und hatte Einkäufe erledigt. Und jetzt war sie merkwürdig rastlos. Der Sonntagnachmittag lag vor ihr, und sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

In den letzten Monaten war sie immer zufrieden gewesen, mit sich allein zu sein, wenn sie von der Arbeit kam, aber heute langweilte sie sich. Ihr Telefon blieb stumm, es gab keine Schwangere, die ihre Hilfe brauchte.

Sie beschloss, sich einen Film auszuleihen. Rasch schlüpfte sie in ihre Laufschuhe und steckte Handy, Hausschlüssel und Geldbörse in ihre kleine Hüfttasche.

Auf halber Strecke klingelte ihr Telefon. Es war die Notaufnahme. An der Millicent Road hatte es einen Autounfall gegeben. Eins der Opfer war eine Schwangere, und Tang, der diensthabende Arzt, wollte ihre Einschätzung wissen.

Es würde noch etwas dauern, bis der Krankenwagen mit der Patientin eintraf, mehr war nicht bekannt. Annie entschied sich, direkt zur Klinik zu laufen.

Caspar hörte, wie sich die automatischen Türen zur Notaufnahme öffneten. Im nächsten Moment stieg ihm ein leichter Jasminduft in die Nase, und er wusste, dass Annie da war. Ständig hatte er nach ihr Ausschau gehalten, aber an diesem Wochenende wurden keine Kinder geboren, wie er dann erfuhr.

Das Blue Lake Hospital hatte ein weites ländliches Einzugsgebiet, doch es war nie so viel los wie in einem Großstadtkrankenhaus. Durchschnittlich gab es pro Woche nur zwei Geburten.

Er drehte sich um.

Annie kam herein, ihre Wangen waren gerötet, und sie atmete schwer. Sie trug eine hautenge Jogginghose und ein dazu passendes Top. Sie hatte wundervolle Beine und trotz ihrer zierlichen Figur sanfte Rundungen an den richtigen Stellen.

Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht und beugte sich vor, stützte sich dabei mit den Händen in den Hüften ab, und bot ihm so einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt. Verlangen stieg unerwartet in ihm auf.

Er verdrängte es. Jetzt ging es um Wichtigeres. Annie hatte zwar inzwischen die Einwilligung unterschrieben, doch er wusste, dass sie dem Filmprojekt nicht gerade entspannt gegenüberstand. Auch wenn die Zusammenarbeit am ersten Tag ganz gut geklappt hatte, so musste er erst noch ihr Vertrauen gewinnen.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

Annie richtete sich auf und nickte. „Bin nur nicht so gut im Training“, erwiderte sie. Die Strecke war länger als gewohnt gewesen.

Über Caspars Schulter sah sie das Kamerateam und begriff, dass er nicht wie sie hergerufen worden war, sondern dass er Dienst gehabt haben musste. Er hatte einen dunklen Bartschatten, was sein markantes Gesicht noch männlicher erscheinen ließ – und attraktiver. Annie zwang sich, sich zu konzentrieren. Ablenkung konnte sie jetzt nicht gebrauchen.

„Sie haben gearbeitet?“ Dass auch am Wochenende gedreht wurde, hätte sie nicht gedacht.

„Es gab ein paar interessante Fälle, und gestern haben wir das Wiedersehen von Kylie und Paul gefilmt.“

Noch immer hatte Annie etwas dagegen, dass im Krankenhaus Aufnahmen gemacht wurden, aber ehe sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, kam Tang auf sie zu.

„Was wissen Sie über den Unfall, Tang?“, fragte sie den jungen Assistenzarzt.

„Ein Pkw-Fahrer hat sich beim Überholen eines Lkws überschätzt. Er streifte das Heck des Lasters, und sein Wagen überschlug sich und rutschte die Böschung hinunter.“

Annie zuckte zusammen. Unfälle mit Lastwagen kamen in der Gegend häufiger vor, oft mit für die Pkw-Fahrer schlimmen Folgen. Annie hatte ungern mit Autounfallopfern zu tun. Ihr Mann hatte keine Skrupel gehabt, sich betrunken ans Steuer zu setzen, und Autounfälle erinnerten sie jedes Mal an ihre gescheiterte Ehe.

„Der Fahrer ist mit Rückenverletzungen per Hubschrauber nach Adelaide gebracht worden“, fuhr Tang fort. „Seine Frau ist auf dem Weg hierher. Der Lkw-Fahrer steht unter Schock.“

„Dann haben wir also nur eine Patientin“, bemerkte Annie, als sie die Sirenen hörte.

„Vielleicht auch zwei“, meinte Caspar. „Es hängt davon ab, was mit dem Baby ist.“

„Hoffen wir, es bleibt bei der einen Patientin“, sagte Annie, als der Krankenwagen vor dem Eingang vorfuhr.

Die Rettungssanitäter verschwendeten keine Zeit mit langen Vorreden. „Bewusstlos, weiblich, achtzehnte Schwangerschaftswoche, Blutdruck achtzig zu fünfzig, Verdacht auf Beckenfraktur, aber keine sichtbaren ernsten Verletzungen. Ihr Name ist Suzanne.“

Das Kamerateam stand hinter Annie, aber sie kümmerte sich nicht darum. „Haben Sie noch mehr Informationen?“, wollte sie von dem zweiten Sanitäter wissen.

„Ihr Ehemann wurde bewusstlos am Unfallort geborgen.“

Während die Rollliege mit Suzanne eilig hineingeschoben wurde, liefen Annie und Caspar neben ihr her.

„Zuerst brauchen wir ein CT“, sagte Annie zu Tang, als sie sich den OP-Kittel überstreifte. „Der niedrige Blutdruck kann auf innere Blutungen hindeuten. Wir müssen auf einen Beckenbruch prüfen.“

Gleich darauf wurde die Patientin von der Liege in ein Bett gehoben und an verschiedene Monitore angeschlossen.

„Nehmen Sie Blutproben und bestimmen Sie ihre Blutgruppe“, instruierte Tang die Schwestern, während diese noch die Elektroden befestigten und eine Infusion vorbereiteten.

Der Raum war voller Leute, die genau wussten, was sie zu tun hatten. Bevor sie Suzanne zum Computertomografen bringen konnten, musste sie erst stabilisiert werden. Und für Kameras war weder Zeit noch Platz.

„Sie dürfen uns nicht folgen“, sagte sie zu Liam. „Sie haben keine Einwilligung der Patientin, sie zu filmen.“

„Diese Einwilligung können wir uns nachträglich besorgen.“ Caspar ließ sich gar nicht erst auf eine Diskussion mit ihr ein, und sie hatte weder die Zeit noch Energie, mit ihm zu streiten.

„Wenn uns das Team im Weg steht, werfe ich alle hinaus“, erklärte sie bestimmt. Dann wandte sie sich wieder ihrer Patientin zu, um sie für die Röntgenaufnahmen vorzubereiten.

Das CT sah nicht gut aus. Es zeigte massive innere Blutungen und eine Fraktur der rechten Hüftgelenkspfanne.

Eilig wurde die Patientin in den OP gebracht, wo Annie versuchen musste, ihre Blutungen zu stoppen, bevor der orthopädische Chirurg sich der Hüfte annehmen konnte. Annie war froh, dass Tori die diensthabende Anästhesistin war, sie arbeiteten immer gut zusammen. Die OP-Schwestern führten Suzanne permanent Blut zu, um den schweren Blutverlust auszugleichen, während Annie, Tang und Caspar sich die Hände schrubbten und sich auf die Operation vorbereiteten.

Annie stand dabei neben Caspar, die Arme bis zu den Ellbogen mit Seifenschaum bedeckt. Sie holte tief Luft. Caspar war bereit zu assistieren. Wenn sie Suzanne und ihr Baby retten wollten, brauchte sie jede Hilfe. Tang war zwar ein fähiger junger Arzt, aber ihm fehlte die Erfahrung für einen solch schwierigen Fall.

Caspar hingegen strahlte Selbstsicherheit, Zuversicht und Ruhe aus und gab ihr damit das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können.

Annie drückte die OP-Tür mit dem Rücken auf. Suzanne war bereits narkotisiert und lag unter sterilen Tüchern da, nur der Bauchbereich war sichtbar. Ihre Bauchdecke war gewölbt, aber wohl eher durch die inneren Blutungen als durch die Schwangerschaft. Sie durften keine Zeit verlieren. Caspar stand jetzt neben ihr, und Annie machte sich an die Arbeit, vergessen war dabei das Kamerateam im Hintergrund.

Als sie jedoch den Bauchraum eröffnete, bot sich ihnen ein Anblick, schlimmer als erwartet.

Sehr viel schlimmer.

4. KAPITEL

„Oh nein!“ Annie wollte nicht glauben, was sie sah. Das CT hatte massive Blutungen im Bauchraum gezeigt, doch die genaue Ursache war nicht zu erkennen gewesen. Erst jetzt wurde das ganze Ausmaß der Verletzungen sichtbar.

Die Gebärmutter war rupturiert, der große Riss im oberen Quadranten deutlich zu sehen. Der Fetus, ein kleiner Junge, lag außerhalb des Uterus im Bauchraum. Annie fuhr mit dem Finger die Nabelschnur entlang, hoffte, dass ihre Augen sie täuschten. Vergeblich. Auch die Nabelschnur war gerissen.

Annie blickte Caspar an. Wollte von ihm hören, dass alles nicht so schlimm war, wie es aussah. Wollte, dass er ihr sagte, es würde alles gut werden.

Natürlich konnte er das nicht.

Ihre Blicke verfingen sich. Annie sah das Mitgefühl in seinen grünen Augen. Und die Verzweiflung.

Das Baby war blau und leblos.

„Für das Kind können wir nichts mehr tun“, sagte Caspar mit rauer Stimme. „Wir müssen versuchen, die Mutter zu retten.“

Trotzdem suchte er nach einem Puls, nach Anzeichen von Leben. Aber sie beide wussten, dass es zu spät war. Behutsam hob er das Kind heraus. Es war winzig, vielleicht fünfzehn Zentimeter lang und kaum größer als Caspars Hand. Der kleine Kopf ruhte auf seinen Fingern. Caspar wickelte es vorsichtig in ein Tuch, bevor er es einer der Schwestern reichte.

„Können Sie eine Wärmelampe besorgen? Ich möchte ihn warm halten“, sagte er zu der Schwester. „Vielleicht möchte Suzanne ihn einen Moment in die Arme nehmen, wenn sie aufwacht. Aber achten Sie darauf, dass sie ihn nicht sofort sieht. Das könnte ein zu großer Schock für sie sein.“

Die Schwester nickte, und Annie drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Sie wusste nicht, was Suzanne wollte, wenn sie aufwachte, aber bestimmt wollte sie nicht hören, dass ihr Kind gestorben war. Doch es gefiel ihr, dass Caspar an alles dachte.

Das Baby war so winzig. Es wog bestimmt nicht mehr als ein paar hundert Gramm. Mit achtzehn Wochen war es auch rechtlich keine Totgeburt, zu jung, um offiziell eingetragen zu werden. Es war herzzerreißend, aber sie durften keine Zeit verlieren, sie mussten versuchen, die Mutter zu retten. Eine Schwester hängte eine weitere Blutkonserve an den Infusionsständer, denn Suzanne blutete weiterhin heftig.

Während Annie die Blutung zu stillen versuchte, blendete sie alle Gedanken an das tote Baby aus. Jeder Handgriff saß, routiniert und geübt. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, deprimierend, weil sie lange nicht wusste, ob ihre Bemühungen nicht doch umsonst waren. Schließlich waren die Gefäße genäht, die Blutung gestoppt. Als Nächstes musste Annie sich mit dem Riss in der Gebärmutter befassen.

Das dauerte einige Minuten, aber schließlich konnte sie den Bauch wieder schließen. Sie hatte es geschafft, den Uterus zu erhalten, sodass Suzanne die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, nicht für immer verwehrt war. Auch wenn es sie im Moment nicht über den Schmerz hinwegtrösten würde.

Und noch war nicht alles geschafft. Der orthopädische Chirurg musste sich um die Beckenfraktur kümmern. Annie war sich sicher, dass Suzanne sich eher von dem Beckenbruch als von ihrem gebrochenen Herzen erholen würde.

Eine Schwester brachte ein Kinderbettchen mit Wärmelampe, in das das tote Baby hineingelegt wurde. Annie versuchte beim Hinausgehen nicht auf Suzannes Sohn zu schauen, aber das war unmöglich. Ihr Blick wurde wie magnetisch von dem winzigen Bündel angezogen, und wieder verschwamm ihr die Sicht. Wie tragisch manche Lebenswege verliefen …

Sie senkte den Kopf und machte sich auf den Weg zum Waschraum. Wie würde Suzanne nur die schreckliche Nachricht ertragen, dass ihr Mann Hunderte von Kilometern entfernt schwer verletzt in einem anderen Krankenhaus lag und ihr Kind tot war?

Im Waschraum riss sie sich Maske, Handschuhe und Kappe ab und warf alles in den Abfalleimer, bevor sie den Kittel auszog. Sie lehnte sich schwach gegen das Waschbecken, schloss die Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Nur wenige Augenblicke hatte sie für sich, dann wurde die Tür geöffnet und jemand kam zu ihr herüber.

„He, was ist los?“

Sie hielt die Augen geschlossen, als Caspars tiefe Stimme sie tröstlich umfing, und dann legte er die Arme um sie und zog sie an seine Brust. Annie spürte seine Wärme, seinen starken Körper und nahm seinen männlichen Duft wahr. Sie fühlte sich beschützt und sicher vor ihren traurigen Gedanken.

Caspar zögerte nicht, als er Annie in Tränen aufgelöst allein im Waschraum erblickte. Sie in die Arme zu ziehen, war das Natürlichste der Welt.

Und doch ganz anders, als wenn er seine Schwestern umarmte, um sie zu trösten.

Er versuchte, den Gedanken zu vertreiben und sich zu sagen, das hätte er für jede getan. Dass Annie nicht anders war als andere.

Aber es fühlte sich nicht so an.

Während er ihr sanft über den Rücken strich, ließ ihr Schluchzen langsam nach. Aber ihre Tränen hinterließen einen feuchten Fleck auf seinem Kittel, Tränen, die sie um ein totes Baby und seine Mutter geweint hatte.

Er wusste, was sie empfand. Für ihn war es auch schrecklich, wenn er ein Leben nicht retten konnte. Ein Baby zu verlieren, war fürchterlich, besonders weil er dann wieder an sein eigenes Schicksal denken musste. Heute noch fragte er sich oft, ob seine eigene Mutter darunter gelitten hatte, ihn wegzugeben. Ob es sie jemals interessiert hatte, was aus ihm geworden war. Aber er hatte gelernt, nicht mehr damit zu hadern, es war Vergangenheit. Nur die Gegenwart zählte, und im Moment waren Annie und Suzanne wichtiger als alles andere.

Die Tür öffnete sich. Liam erschien, die Kamera auf der Schulter. Caspar schüttelte den Kopf, bedeutete ihm, wieder zu verschwinden. Annie wäre bestimmt außer sich, wenn sie ihn bemerkte und annehmen musste, dass er diese Szene filmen wollte.

Annie nahm die Hände vom Gesicht und legte sie auf seine Brust. Schmale Handflächen pressten sich auf sein Hemd und strahlten eine Wärme aus, die ihm direkt ins Herz strömte. Sein Puls beschleunigte sich, Verlangen erfasste ihn, und auf einmal fiel ihm das Atmen schwer.

Sie durfte nicht merken, welche Wirkung sie auf ihn hatte. Caspar wich zurück, nur ein bisschen, sodass er sie immer noch halten konnte. „Wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie bedrückt?“

Annie hob den Kopf. Ihr Gesicht war tränennass, die Wimpern schimmerten feucht. Ihre Nasenspitze war gerötet, und trotzdem fand er Annie wunderschön. Es war unglaublich – noch nie war ihm eine Frau begegnet, die auch mit verweinten, geröteten Augen so schön aussah.

Und er wusste, er befand sich in Schwierigkeiten. Er hatte sich Prioritäten gesetzt: sein Dad, sein Job, die Fernsehserie. Für mehr hatte er keine Zeit. Und Annie Simpson war eindeutig mehr .

Annie fröstelte, als Caspar zurücktrat und sie nur noch an den Armen hielt. Sie blickte ihn an. Gerade eben noch war sie an seine Brust geschmiegt gewesen.

Wie hatte das geschehen können? Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie musste ihn mental unbedingt schleunigst wieder in den Kasten mit der Aufschrift Nicht öffnen! stecken und den Deckel schließen!

Sie konnte es nicht fassen, dass sie ihn so nahe an sich herangelassen hatte. Caspar hatte eine unsichtbare Grenze überschritten, und sie hatte ihn nicht daran gehindert.

Weil es dir gefallen hat, flüsterte eine feine Stimme in ihrem Kopf. Es war so schön gewesen, in seinen Armen zu liegen. Deswegen hatte sie sich nicht dagegen gewehrt. Und noch immer presste sie ihre Hände gegen seine Brust, berührte ihn.

Sie brauchte Abstand. Schnell.

Annie nahm die Hände weg, wischte sich über die Wangen, damit er dachte, sie wollte sich die Tränen trocknen. Sie war verlegen, verwirrt und auch wütend auf sich und ihn. Er hatte sie überrumpelt, und auf einmal fragte sie sich, ob seine tröstliche Geste wirklich völlig uneigennützig gewesen war.

Vielleicht hatte er die Situation einfach ausgenutzt, um damit zu erreichen, dass sie sich nicht mehr so sehr gegen die Filmaufnahmen sträubte.

„Sie können diese Aufnahmen nicht benutzen“, fuhr sie ihn an.

Sein Gesicht verdüsterte sich. Caspar antwortete nicht sofort, sah Annie nur an.

„Das ist es, was Ihnen Probleme macht?“, sagte er schließlich.

„Niemand sollte Zeuge einer solchen Szene sein. Es ist einfach zu traurig. Erzählen Sie mir bitte nicht, dass Sie dies Ihren Zuschauern zumuten möchten!“

„Ich bezweifle, dass wir von Suzanne die Erlaubnis dazu erhalten, und wir werden auch nicht fragen. Selbstverständlich stimme ich Ihnen zu, dass niemand die tragischen Details sehen will. Wenn wir Suzannes Geschichte zeigen, dann wird der Fokus darauf liegen, dass wir ihr Leben haben retten können, und nicht darauf, dass sie ihr Baby verloren hat.“

Annie entschuldigte sich nicht für ihren Vorwurf, versuchte jedoch, ihren Ärger in den Griff zu bekommen. Es fiel ihr schwer, weiterhin wütend zu sein, wenn er mit ihr einer Meinung war. Aber sie musste herausfinden, ob sie ihm vertrauen konnte.

Im OP hatte sie dieses Vertrauen gehabt. Doch konnte sie ihm wirklich vertrauen, dass er die Interessen ihrer Patientin über die seiner Zuschauer stellte?

Eigentlich blieb ihr keine Wahl. Schließlich durfte sie ihn nicht für etwas verdammen, das er noch nicht getan hatte.

Etwas sanfter antwortete sie: „Wussten Sie, dass Suzanne und ihr Mann auf dem Weg von Robe hierher waren, weil morgen ein Vorsorgetermin mit Ultraschalluntersuchung anstand?“

„Nein.“

„Sie kam voll froher Erwartung her, und nun warten nur bedrückende Nachrichten auf sie. Ihr Mann liegt schwer verletzt weit entfernt im Krankenhaus, und sie hat ihr Kind verloren.“

„Sie haben ihr das Leben gerettet.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir dafür dankbar sein wird.“

„Sie haben getan, was menschenmöglich war. Es wird bestimmt sehr schwer für sie werden, aber sie kann Ihnen keine Schuld anlasten. Niemand konnte dem Kind mehr helfen, auch ich nicht. Möchten Sie, dass jemand anders es ihr sagt?“

Annie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist schon okay.“

„Bestimmt? Wenn Sie aufgewühlt sind, sollten Sie es vielleicht mir überlassen. Ich muss sowieso irgendwann mit ihr sprechen.“

Annie verspürte einen dumpfen Druck im Magen bei dem Gedanken an das Gespräch, aber es war ihre Aufgabe. Bevor Caspar hergekommen war, hatte sie auch alles allein bewältigt. Wieso ließ sie sich dann von ihm in die Arme nehmen und sich Unterstützung anbieten? Sie brauchte sie nicht und ihn auch nicht.

Sie trat einen Schritt beiseite, sodass er sie loslassen musste. „Ich kümmere mich darum“, sagte sie beherrscht.

„Sie wird noch eine Weile im OP sein, also müssten Sie noch länger warten. Kann ich Sie nach Hause bringen? Ich hole Sie später wieder ab, wenn sie aus der Narkose erwacht ist.“

„Danke, aber ich warte solange in meinem Büro.“ Annie straffte die Schultern und ging zur Tür, bevor sie der Versuchung nachgeben und wieder Trost in seinen Armen suchen konnte.

Sie wollte nicht von ihm abhängig sein. Von niemandem.

Annie mochte glauben, dass sie mit der Situation fertig werden würde, aber Caspar hatte nicht die Absicht, es dabei zu belassen. Nicht, nachdem er sie in Tränen aufgelöst im Waschraum gefunden hatte. Er machte sich Sorgen um sie. Seit er sie kannte, hatte er versucht herauszufinden, was sie wollte. Nun wusste er es. Ein Happy End.

Beinahe hätte er gelächelt. Eigentlich hätte er es erraten müssen. Wollten nicht alle Frauen ein Happy End in ihrem Leben? Natürlich konnte er keine Wunder vollbringen, aber wenigstens dafür sorgen, dass es ihr besser ging.

Dazu brauchte er ein wenig Glück, und er bekam es, als Gail anrief und ihm die Lösung praktisch auf dem Silbertablett servierte.

Caspar machte sich an die Arbeit. Schwungvoll und froh darüber, dass er einen Plan hatte. Er bat die Schwestern, ihn sofort zu informieren, wenn Suzanne aufwachte. Nicht, weil er mit ihr reden wollte, sondern um Annie nicht zu verpassen.

Als sie einige Zeit später den Aufwachraum wieder verließ, bemerkte sie ihn zunächst nicht. Sie war blass im Gesicht, und dunkle Schatten ließen ihre schönen braunen Augen noch größer erscheinen. Ihre rosigen Lippen waren fest aufeinandergepresst, und sie sah müde aus.

Dann entdeckte sie ihn, ihre Miene verschloss sich, und er begriff, dass sie nicht müde, sondern unsagbar traurig war. Ihm wurde das Herz schwer. Er hätte sie so gern wieder in die Arme genommen, sie getröstet, aber das wäre falsch gewesen.

Sie zögerte, und er fragte sich, ob sie auf ihn zukommen oder ihm aus dem Weg gehen würde.

„Wie fühlen Sie sich?“ Eine unpassende Frage, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Und er musste etwas sagen, sonst wäre er einfach zu ihr gegangen und hätte sie tröstend an sich gezogen.

Eigentlich war Annie nicht überrascht, Caspar im Flur zu sehen. Langsam gewöhnte sie sich daran, dass er immer dann auftauchte, wenn sie es am allerwenigsten erwartete. Zuerst freute sie sich sogar, doch dann fragte sie sich, warum er hier war. Hoffentlich wollte er nicht etwas filmen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

Aber seine Frage hatte nicht der Arbeit gegolten, sondern ihr persönlich. Und er hatte auch nicht gefragt, wie ihr Gespräch mit Suzanne verlaufen war, so als wüsste er, wie schwer es für sie gewesen sein musste.

Annie stand zwei, drei Schritte von ihm entfernt, zwang sich, Abstand zu wahren. Sie zuckte nur mit den Schultern, denn sie war erschöpft, körperlich und seelisch.

„Wir haben getan, was wir konnten. Mehr war nicht möglich“, sagte er. „Sie haben ihr das Leben gerettet, und für ihren Sohn konnten Sie nichts mehr tun – ich auch nicht. An manchen Tagen ist es wichtig, das zu sehen, was man erreicht hat.“

Annie wusste, dass er recht hatte, aber dennoch fühlte sie sich nicht besser. Auf ihren Schultern schien eine drückende Last zu liegen.

„Ich glaube, ich habe etwas, das Sie aufmuntern könnte, wenn Sie möchten“, fuhr er fort.

Sie war überrascht. „Was denn? Sie kennen mich doch kaum, und ich weiß ja selbst nicht, was mir helfen könnte.“

„Gail hat angerufen. Sie hat die erste Kopie der Dreharbeiten vom Freitag bekommen. Die Geburt und die Szene, wo Paul zum ersten Mal seine beiden Zwillinge und Kylie sieht. Ich dachte, das möchten Sie sich vielleicht ansehen.“

„Sie meinen, es würde mir guttun, Aufnahmen zu sehen, die ich eigentlich nicht haben wollte?“

Er lächelte sie an. „Es scheint Ihnen schon ein wenig besser zu gehen.“

„Wieso?“

„Sie sind wieder kratzbürstig.“

Es stimmt, es geht mir schon wieder besser, gestand sie sich ein. Es musste damit zu tun haben, dass er hier war, jemand, der das Drama selbst miterlebt hatte. Jemand, der verstand, wie schwer der Tag gewesen war, und der ihr die Last ein wenig erleichterte. Und dass er in der perfekt sitzenden Jeans und dem meerblauen T-Shirt unglaublich gut aussah, half auch ein wenig.

„Bitte“, sagte er.

Sie zögerte.

„Ich fahre Sie hin und bringe Sie hinterher auch nach Hause“, bot er an, aber das verunsicherte sie erst recht. Nicht, weil sie nicht mit ihm fahren wollte, im Gegenteil. Aber dicht neben ihm in dem engen Sportwagen zu sitzen, könnte schwierig werden. Die Erinnerung, wie er sie in den Armen hielt, war noch zu frisch.

Sie konnte nicht leugnen, dass es sich gut angefühlt hatte, aber es hatte sie auch sehr verwirrt. Nein, verwirrt war nicht das richtige Wort. Es hatte eher einen inneren Konflikt ausgelöst. Sie wollte keine Nähe zu Caspar. Sie wollte niemandem nahe sein. Und doch hatte sie sich von ihm trösten lassen. Einfach so.

Die Freunde, die sie hier gefunden hatte, seit sie nach Mount Gambier gezogen war, konnte sie an einer Hand abzählen. Eher an einem Finger – Tori –, und es lag nicht daran, dass man sie hier nicht willkommen geheißen hatte. Annie lebte sehr zurückgezogen. Suchte keinen Kontakt.

Und Caspar? Hatte sie sich nicht geschworen, Abstand zu ihm zu halten? Nur um ihren Vorsatz bei der erstbesten Gelegenheit über den Haufen zu werfen? Sie vertraute Caspar spontan, während andere Leute sich ihr Vertrauen erst hart erarbeiten mussten …

Sie hatte kein leichtes Leben gehabt, und es fiel ihr besonders schwer, anderen zu vertrauen. Ihrer Erfahrung nach handelten die wenigsten Menschen aus reiner Herzensgüte. Die meisten hatten nur ihren eigenen Vorteil im Sinn.

„Denken Sie daran, dass Sie nicht mit dem Wagen hier sind“, erinnerte er sie.

Natürlich hätte sie sich das Material später ansehen können, aber die Vorstellung, in ihre leere Wohnung zu kommen, verstärkte ihre melancholische Stimmung noch. Mit Caspar zu fahren, erschien ihr viel verlockender.

5. KAPITEL

Verlockender schon, aber bestimmt nicht sehr vernünftig, dachte Annie, als sie sich neben Caspar im Wagen anschnallte. Es roch nach warmem Leder im Innenraum. Caspar nach Pfefferminz.

Der Wagen war klein. Caspar nicht.

Die Sitze waren weich und bequem. Caspar war maskulin, schlank, was in ihr ein prickelndes Unbehagen auslöste.

Aber jetzt ist es zu spät, dachte sie, als er losfuhr. Sie wandte das Gesicht vom Fenster ab, weil sie nicht in seinem Wagen gesehen werden wollte, aber auch das war kein guter Plan, denn nun musste sie Caspar ansehen.

Entspannt steuerte er den PS-starken Wagen durch die Straßen. Das satte Brummen des Motors, die feinen Vibrationen, die Annie spürte, verstärkten nur die sinnliche Spannung, die durch ihren Körper rieselte.

Caspars Kinn war von einem dunklen Bartschatten bedeckt. Annie schloss die Augen, und in ihrer Fantasie entstanden erotische Bilder, in denen raue Stoppeln auf weicher Haut, weich wie das Leder unter ihren Fingern, eine Rolle spielten.

Rasch öffnete sie die Augen wieder. Mit der Realität würde sie wohl besser umgehen können. Ihr Blick fiel auf Caspars lange, sonnengebräunte Finger, die locker das lederbespannte Lenkrad hielten. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie sich auf ihren Armen angefühlt hatten. Warm, verführerisch. Hastig riss sie den Blick wieder von Caspar los.

„Was für ein schicker Wagen“, versuchte sie eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „Die Produktionsfirma zahlt Ihnen sicher ein üppiges Honorar.“ Kaum waren die Worte heraus, hätte sie sich am liebsten ans Schienbein getreten. Wie konnte sie nur so taktlos sein?

„Das ist schon das zweite Mal, dass Sie von meinem Honorar sprechen. Gefällt es Ihnen nicht, dass mich die Firma bezahlen könnte?“ Er schaute weiterhin auf die Straße, und auch seine Stimme verriet nicht, ob er ihr die Bemerkung übel genommen hatte.

„Es ist immer ein Unterschied, wenn jemand sich für etwas bezahlen lässt“, meinte sie. „Für Geld tun manche Leute Dinge, die sie vielleicht sonst nicht tun würden.“ Sie selbst eingeschlossen, denn sie hatte die Einwilligung unterschrieben, weil sie ihren Job behalten wollte. Weil sie das Geld brauchte. Hätte die Scheidung ihr nicht einen Berg Schulden beschert, wäre sie jetzt auch nicht in Mount Gambier. Hier waren die Lebenshaltungskosten erheblich günstiger, und Annie hoffte, deshalb umso schneller wieder ein normales Leben führen zu können.

Allerdings nutzte sie nicht die Notlagen anderer Menschen, um ihr Bankkonto aufzufüllen. Caspar war hoffentlich nicht nur hinter dem Geld her. Heute hatte er so viel Mitgefühl gezeigt. Sie wollte nicht enttäuscht werden.

Eigentlich sollte es ihr nichts ausmachen. Tat es aber.

„Sie haben vollkommen recht“, erwiderte Caspar da.

„Wie bitte?“

„Für manche ist das Finanzielle ausschlaggebend. Aber ich mache das hier nicht wegen des Geldes. Die Produktionsfirma bezahlt mir keine Gage. Ich lasse mich einfach nur bei meiner ärztlichen Tätigkeit filmen. Wenn sie mich bezahlten, müssten sie alle hier bezahlen. Was indirekt ja auch der Fall ist, denn das Krankenhaus erhält eine sehr großzügige Spende.“

„Dann arbeiten Sie also umsonst?“ Damit hatte sie nicht gerechnet. Einerseits freute sie sich, dass er es nicht wegen des Geldes tat, aber warum ließ er sich bei seinem Job filmen? Irgendeinen persönlichen Nutzen musste er doch davon haben.

„Ich mache bei dieser Serie mit, weil ich letztendlich hoffe, darüber mehr Gelder für Gesundheitsprogramme und Initiativen durch die Regierung lockerzumachen. Es gibt so viele unterfinanzierte Bereiche. Und …“, fuhr er fort, als er auf den Parkplatz des Gebäudes einbog, in dem der örtliche Fernsehsender seinen Sitz hatte. „… falls Sie sich dadurch besser fühlen – jetzt bin ich nicht mehr im Dienst.“

Das Gebäude war relativ klein und schlicht, grau gestrichen und hatte diverse Antennen und Satellitenschüsseln auf dem Dach. Caspar hielt ihr die Eingangstür auf, und Annie ging voran. Sie schaute sich um. Vor ihnen lag ein kurzer Flur mit mehreren geschlossenen Türen, aber nirgends war ein Mensch zu sehen.

„Wo sind die Mitarbeiter?“, fragte sie.

Caspar bedeutete ihr mitzukommen. „Gail ist schon nach Hause gegangen, aber sie hat alles für mich hergerichtet. Die anderen bereiten die Nachrichten vor, da sind wir niemandem im Weg.“

Das war es nicht, was ihr Sorgen machte. Sei nicht albern, dachte sie. Nur weil ihre Hormone Überstunden machten, wenn sie mit ihm allein war, hieß das noch lange nicht, dass irgendetwas passieren musste. Warum sollte er sie attraktiv finden? An schönen Frauen hatte er bestimmt keinen Mangel, also warum sollte er ihr überhaupt einen zweiten Blick gönnen?

Er führte sie zu einem kleinen Vorführraum. An einer Wand stand ein langer Tisch mit diversen Hightech-Boxen und Monitoren. Darüber hingen Bildschirme. Es gab drei Sessel, die dicht nebeneinander platziert waren.

Caspar zog Annie einen Sessel hervor, ehe er sich ebenfalls setzte. Er drückte ein paar Knöpfe, betätigte Schalter, und einer der Bildschirme begann zu leuchten. Er war nicht sehr groß, und Caspar rückte mit seinem Stuhl näher an ihren heran, damit sie beide direkt davor saßen. Nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander.

Annie zog ihre Füße unter den Sessel, damit sich ihre Knie nicht berührten, aber sie fühlte deutlich Caspars Körperwärme. Noch immer trug sie ihre Sportkleidung, nackte Arme, deren feine Härchen sich jetzt aufrichteten. Die Luft war wie elektrisch geladen.

Ihre Brustwarzen wurden hart und zeichneten sich deutlich unter dem dünnen Top ab. Rasch verschränkte sie die Arme vor der Brust und versuchte, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren.

Kylie war zu sehen, dazu im Vordergrund Annies Hinterkopf. Die Szene begann damit, dass darüber diskutiert wurde, wo die Kinder zur Welt kommen sollten – in der Notaufnahme oder der Entbindungsstation, dann folgte ein Schnitt, und Kylie wurde durch die Korridore gerollt.

Annie hätte schwören können, dass der Film schneller lief, damit es so aussah, als würden alle eilen, und dann, nach dem nächsten Schnitt, war die Geburt des ersten Zwillings zu sehen. Alles wirkte hektischer und aufregender, als es tatsächlich gewesen war. Annie war fasziniert. Wenn Gail dies bei ihr schaffte, dann noch viel mehr beim normalen Zuschauer. Und genau darauf kam es an.

Annie war so auf die nächsten Bilder gespannt, dass sie beinahe vergaß, dass Caspar neben ihr saß.

Liam hatte einige Großaufnahmen gemacht. Kylie, wie sie ihr erstes Kind an sich drückte und dabei überglücklich lächelte. Caspar, der den zweiten Zwilling hielt und absolut toll aussah.

Auch von Annie gab es Aufnahmen, aber meistens von hinten, abgesehen von ein paar Bildern, die sie ihm Profil zeigten, als sie Caspar das Kind reichte. Dabei hatte sie einen verträumten Ausdruck im Gesicht. Es war der Moment, wo Caspar sie das erste Mal berührte und sie völlig durcheinandergebracht hatte.

Glücklicherweise sah es so aus, als würde sie auf das Baby blicken. Spontan wollte sie ihn bitten, diese Szene herauszuschneiden, aber das wäre lächerlich, wie ihr gleich darauf klar wurde. Die Szene gehörte dazu, war Teil von Kylies Geschichte.

Nur ein kleiner Teil des Films zeigte die eigentliche Geburt der Zwillinge, hauptsächlich gab es Szenen von Kylies und Pauls Wiedersehen und den Moment, in dem er seine Kinder das erste Mal sah. Caspar war oft im Bild, sie hingegen nur ab und zu.

„Was meinen Sie?“, fragte er, als der Bildschirm wieder schwarz wurde.

„Sehr gut geschnitten“, gab sie zu. Und der Film hatte sie tatsächlich von den tragischen Ereignissen vorher abgelenkt. Was offenbar auch Caspars Absicht gewesen war.

Er drückte auf einen Schalter, und das Deckenlicht ging wieder an. „Und nicht zu viele Aufnahmen von Ihnen?“ Er lächelte charmant.

„Nicht zu viele.“

„Dürfen wir sie verwenden?“

Annie nickte.

„Und wie ist es bei zukünftigen Episoden? Machen Sie auch noch beim zweiten Teil mit?“

„Ich möchte nicht aktiv mitspielen, aber wenn es so bleibt wie in diesem Teil, bin ich gern dabei.“

„Wunderbar. Wollen wir etwas trinken gehen und auf unsere Zusammenarbeit anstoßen?“

Er wollte mit ihr ausgehen? Sich mit ihr in aller Öffentlichkeit sehen lassen?

Auch wenn er vielleicht die besten Absichten wegen der Serie hatte, hieß das noch lange nicht, dass sich ihre berufliche Zusammenarbeit auch aufs Privatleben erstreckte.

Caspar sollte in der Kiste mit der Aufschrift Nicht öffnen! bleiben.

„Dafür bin ich nicht angezogen.“ Sie deutete auf ihr sportliches Outfit. Kurz glaubte sie, Enttäuschung in seinen Augen zu lesen. Spontan fügte sie hinzu: „Sie hatten mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Wenn Sie mögen, können wir dort einen Kaffee trinken.“

Auch wenn Caspar fand, dass sie in ihrer Sportkleidung gut genug aussah, so war die Alternative nicht weniger reizvoll. Die erste Runde ging an ihn. Sie hatte die Einwilligung unterschrieben und war auch nicht mehr ganz so misstrauisch. Die letzte Viertelstunde war sie zudem meist friedlich gewesen, und nun lud sie ihn auch noch zu einem Kaffee bei sich ein. Ausgezeichnet.

Annie wies ihm den Weg zu einem Haus am Stadtrand, umgeben von alten Obstbäumen. Für eine einzige Person wirkte es zu groß, und doch hatte er den Eindruck, dass sie allein darin lebte. Die Rückseite des Hauses war beinahe völlig von blühendem Jasmin bedeckt.

Sie betraten das Haus durch den Hintereingang, der direkt in die Küche führte, die sich offenbar immer noch im Originalzustand befand. Schmale Schränke standen an zwei Seiten, und ein großer Küchenschrank nahm fast eine weitere Wand ein. In der Mitte stand ein Tisch mit einer Resopalplatte, dazu vier plastikbezogene Stühle.

Die moderne chromglänzende Kaffeemaschine auf der Arbeitsplatte wirkte daher völlig fehl am Platz.

Eine Einrichtung aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte er nicht erwartet. Er fühlte sich in eine längst vergangene Zeit versetzt, in den Speisesaal seines ehemaligen Internats.

„Gehört das Haus Ihnen?“, fragte er.

„Nein, es ist gemietet.“ Sie stellte ihre Handtasche ab. „Möbliert“, fügte sie noch hinzu, als sie seinen Rundumblick bemerkte.

„Bis auf die Kaffeemaschine, vermutlich.“

Annie nickte. „Und mein Bett. Aber mein Vermieter lässt das Haus gerade renovieren.“

„Während Sie hier wohnen?“, fragte er erstaunt.

„Es ist schon ein wenig unbequem, aber da ich tagsüber nicht da bin, ist es nicht so schlimm. Und die Miete ist dadurch günstig. Die Küche ist der letzte Raum auf der Liste, alles andere ist schon fertig.“ Sie gab Kaffee in die Maschine. „Setzen Sie sich doch. Ich rufe nur schnell im Krankenhaus an, um mich nach Suzanne zu erkundigen.“

„Alles in Ordnung?“, fragte Caspar, als sie zurückkehrte.

„Sie hat Beruhigungsmittel bekommen, und ihre Werte sind in Ordnung. Wir haben also die Blutung stoppen können.“

„Dann geht es Ihnen nun ein wenig besser?“

„Was die Filmarbeiten und Suzanne betrifft, ja. Aber ich kann das Baby nicht vergessen.“ Sie stellte ihm den Kaffeebecher, Milch und Zucker auf den Tisch.

Dann griff sie nach einem alten, gemütlich weiten Pulli, der auf der Stuhllehne hing, zog ihn über und setzte sich. Der ausgeleierte Ausschnitt rutschte auf der einen Seite herunter und entblößte ihre Schulter.

Caspar musste sich zwingen, nicht auf ihre samtige Haut zu starren. Also rührte er in seinem Kaffee, obwohl er weder Milch noch Zucker hineingegeben hatte.

„Einen Patienten zu verlieren, ist immer schwer“, sagte er dann. „Gibt es in der Stadt irgendwelche Anlaufstellen für Familien und medizinisches Personal, an die man sich im Notfall wenden kann?“

„Wahrscheinlich.“

Er war erstaunt, dass sie es nicht wusste. „Und was haben Sie bisher in solchen Fällen getan?“

„In dem halben Jahr, seit ich hier bin, habe ich weder ein Baby noch eine Mutter verloren“, erklärte sie. „Hoch riskante Schwangerschaften schicken wir immer rechtzeitig nach Melbourne oder Adelaide, und das werden wir auch weiterhin tun. So etwas wie heute möchte ich nicht so bald wieder erleben.“

Eigentlich niemals. Sie würde lange brauchen, um das Bild des winzigen leblosen Babys in Caspars Händen zu vergessen.

Und ob sie heute Nacht würde schlafen können, wusste sie auch nicht. Sie leerte ihren Becher und stellte ihn ab. Der Tisch war schmal, und als Caspar im selben Moment seinen Becher absetzte, streiften sich ihre Hände. Annie erstarrte, ihr Herz raste.

Als sie aufsah, blickte sie direkt in Caspars Augen. Sie waren dunkler geworden, der Blick intensiv, forschend.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung, und das genügte, um den Bann zu brechen. Annie zog ihre Hand zurück, atmete vorsichtig durch und wandte sich der hochträchtigen Katze zu, die die Gelegenheit genutzt und sich durch die offene Hintertür hereingeschlichen hatte.

„Na, Aggie, hast du Hunger?“

„Ist das Ihre Katze? Sie sind wohl nur von Schwangeren umgeben, wie?“

Annie lachte, stand auf und schloss die Tür. Aggie war ihre Rettung. „Nein, sie gehört Bert, meinem Vermieter. Er wohnt nebenan, aber Aggie weiß, dass ich ein weiches Herz habe. Ich überlege, ob ich später eins ihrer Kätzchen nehme.“

Als sie von dem achtzigjährigen Bert sprach, wurde ihr bewusst, dass Caspar außer ihm der einzige Mann war, den sie je zu sich eingeladen hatte. Während Bert fast Teil der Einrichtung zu sein schien, so war Caspar der genaue Gegensatz dazu. Er war zu groß, zu dynamisch für diesen kleinen Raum. Und zu männlich für ihren Seelenfrieden.

Statt Distanz zu wahren, hatte sie den verbotenen Kasten weit geöffnet. Hoffentlich war es nicht schon zu spät, Caspar wieder hineinzustopfen und den Deckel fest zu schließen …

„Haben Sie vor, in Mount Gambier zu bleiben?“, fragte er.

„Schon möglich. Ich habe zwar nur einen befristeten Vertrag, aber es wäre schon schön, irgendwo für längere Zeit zu leben“, sagte sie, während sie Katzenfutter in eine kleine Schale füllte und auf den Boden stellte.

„Sind Sie oft umgezogen?“

Sie nickte nur.

„Warum? Der Arbeit wegen?“

„Nein. Ich musste als Kind oft umziehen.“

„Wegen der Arbeit Ihrer Eltern?“

„Nicht nur. Meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater Zimmermann und häufig arbeitslos. Die Beziehung meiner Eltern war sehr wechselhaft, auch weil er oft keine Arbeit hatte. Er arbeitete auf Baustellen, manchmal für Bergwerksunternehmen, manchmal in kleinen Städten – wo immer er einen Job finden konnte.“

Annie überlegte, wie viel sie von sich preisgeben wollte, fuhr dann aber fort: „Meistens folgten wir ihm, aber wir blieben nie länger an einem Ort. Es war immer wieder das gleiche Lied. War der Bau fertig, wurde mein Vater entlassen. Anstatt sich sofort etwas Neues zu suchen, verbrachte er die Zeit lieber in der Kneipe, was zum Streit mit meiner Mutter führte, und irgendwann hatte sie dann die Nase voll, packte unsere Sachen, und wir zogen fort.“

„Und wohin?“

„Zurück zu meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter. Aber nie für lange. Irgendwann hatte Dad dann wieder einen Job und flehte sie an, zu ihm zurückzukommen. Und sie konnte ihm nicht widerstehen. Ich habe das alles nie begriffen und verstehe es bis heute noch nicht. Mum hat immer gesagt, meistens ginge es ihr schlecht, wenn sie mit ihm zusammen war, aber ohne ihn ginge es ihr noch schlechter.“

„Wie oft sind Sie umgezogen?“

„Manchmal alle paar Monate. Länger als ein Jahr sind wir nirgends geblieben.“ Sie verschloss die Katzenfuttertüte und stellte sie wieder unter die Spüle. „Ich wünsche es keinem Kind, so aufwachsen zu müssen, nie zu wissen, wo man am nächsten Tag sein wird. Menschen einfach so verlassen zu müssen und niemals ein wirkliches Zuhause zu haben.“

„Und das ging so weiter, bis Sie anfingen zu studieren?“

„Nein, bis ich zwölf war.“

„Was geschah da?“

„Meine Eltern kamen bei einem Hausbrand ums Leben.“

Annie hörte, wie er nach Luft schnappte.

„Annie, das tut mir so leid. Waren Sie dabei?“

Sie nickte. „Ich schlief schon, und irgendetwas weckte mich. Der Nachbar fand mich im Flur und schaffte es, mich hinauszubringen. Aber er konnte nicht ins Zimmer meiner Eltern. Das Feuer war dort ausgebrochen, und als endlich die Feuerwehr kam, war es bereits zu spät. Ich habe als Einzige überlebt.“

„War außer Ihren Eltern und Ihnen niemand im Haus? Ihre Geschwister?“

„Ich bin ein Einzelkind. Meine Mutter wollte nicht noch mehr Kinder, um ihnen das ständige Umziehen zu ersparen.“

„Wurden Sie verletzt?“

„Körperlich nicht. Nach dem Brand litt ich unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und konnte drei Monate nicht sprechen. Die Medien stürzten sich auf das Unglück und schlachteten es aus, besonders weil ich durch das Unglück die Sprache verloren hatte. Das war meine erste Erfahrung mit ihnen.“

„Als Zwölfjährige, nach einem so traumatischen Erlebnis?“

„Ja.“

„Jetzt verstehe ich, warum Sie nicht gern gefilmt werden.“

Sie erzählte nicht, dass sie sich lange nicht an das Unglück erinnern konnte und die ersten drei Tage zu einer Pflegefamilie kam, weil niemand aus ihr den Namen ihrer Großmutter herausbekam.

„Wo haben Sie danach gelebt?“

„Bei meiner Gran. Ihr Haus war der einzige Ort, den ich je als Zuhause empfunden habe.“ Dort fühlte sie sich geliebt, sicher und geborgen, und sie hatte sich geschworen, sich irgendwann selbst ein solches Zuhause zu schaffen.

„Was ist mit ihr?“

„Gran ist gestorben, und ich musste das Haus verkaufen.“ Sie tat so, als wäre dies erst vor Kurzem gewesen und der Verkauf hinge mit ihrem Tod zusammen. Aber ihre Gran war schon vor neun Jahren gestorben. Annie studierte damals noch. Ihre Großmutter hatte nicht mehr miterlebt, dass Annie sich in diese unglückliche Ehe stürzte, die sie letztendlich das Haus und noch viel mehr gekostet hatte.

Caspar brauchte nicht zu wissen, dass sie es verkaufen musste, um Schadensersatz und Strafen zu bezahlen, zu denen ihr Mann verurteilt worden war. Da er betrunken gefahren war, zahlte die Versicherung keinen Dollar. Als ihre Großmutter starb, hatte sie den einzigen Menschen verloren, der sie wirklich geliebt hatte. Annie hatte sie durch einen Ehemann ersetzen wollen, und dann auch noch ihr Heim zu verlieren, war fast das Ende für sie gewesen.

Aber das war eine andere Geschichte, die sie Caspar nicht erzählen wollte. Damals hatte sie nach vorn blicken wollen, und hier aufs Land zu ziehen, war Teil des Heilungsprozesses. Ihr Neuanfang.

„Haben Sie sonst keine Familie? Tanten, Onkel, Cousins oder Cousinen?“

Annie schüttelte den Kopf. „Nein, niemand. Aber was ist mit Ihrer Familie? Leben alle noch in der Gegend?“

Caspar nickte. „Ja, Dad und meine Schwestern leben hier.“

„Sehen Sie sie oft?“

„Nein. Das war auch der Grund, warum ich darauf gedrängt habe, dass hier gedreht wird, als man nach geeigneten Kliniken suchte.“

„Ach, das war Ihre Idee?“ Annie war überrascht. Neben dem Kasten mit der Aufschrift Nicht öffnen! hatte sie ihn auch gleich in die Schublade Erfolgreicher Großstadtarzt gesteckt. Nicht besonders fair von ihr. Aber sie hatte seine Berühmtheit, die maßgeschneiderten Anzüge und den teuren Sportwagen zusammengezählt und dabei übersehen, dass er sich gar nicht wie ein eingebildeter Promi-Arzt verhielt.

„Dad ist dement“, erklärte er. „Zu lange habe ich es allein meinen Schwestern überlassen, sich um ihn kümmern. Jetzt sollte auch ich meinen Teil beitragen, denke ich. Und dass wir hier filmen, macht es mir möglich.“

„Ist Ihr Vater im Pflegeheim?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Er wohnt bei einer meiner Schwestern, aber wir suchen nach einem Heim. Er baut geistig stark ab.“

„Warum nehmen Sie nicht einfach Urlaub? Sie müssen doch sicher nicht während der gesamten Dreharbeiten vor Ort sein, oder?“

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Arbeiten macht mir Spaß.“

„Wohnen Sie bei einer Ihrer Schwestern?“

„Nein. Die Produktionsfirma stellt uns allen Apartments nahe am See zur Verfügung. Aber ich esse abends zumeist bei meiner Schwester Brigitte.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Was mich daran erinnert, dass ich schon wieder zu spät zum Essen komme.“ Er stand auf. „Ich muss los, sonst werde ich irgendwann nicht mehr eingeladen.“

Fast hätte sie ihn gefragt, ob er nicht bleiben und mit ihr zusammen essen wollte. Zum Glück siegte ihr gesunder Menschenverstand. Ihr Essen würde vielleicht gerade für zwei Frauen reichen, bestimmt aber nicht für einen großen, kräftigen Mann mit gesundem Appetit.

Außerdem, warum sollte er bleiben wollen? Die Gedanken an ihre Gran machten Annie wieder einmal bewusst, wie einsam sie war und wie sehr sie ihr fehlte. Aber Caspar hatte damit nichts zu tun. Es war besser, wenn er ging.

„Danke für den Kaffee.“ Caspar kam zu ihr und blieb vor ihr stehen. Annie stand mit dem Rücken zur Spüle und musste daran denken, dass sie vor ein paar Stunden genauso gestanden hatten. Es kam ihr wie eine kleine Ewigkeit vor.

Ihre Augen befanden sich in Höhe seiner Brust. Wenn sie jetzt die Hand hob, würde sie sie sein Herz fühlen können. Nur mit Mühe behielt sie ihre Hände da, wo sie waren.

Da streckte er die Hand aus, und Annie hielt den Atem an, wartete. Caspar senkte den Kopf, sie hob ihren, und ihre Blicke trafen sich.

6. KAPITEL

„Kommen Sie allein zurecht?“

Ihr wurde klar, dass er nur nach dem Türknauf griff. Enttäuschung überflutete sie, vertrieb schlagartig das wundervolle warme Gefühl in ihrem Bauch. „Ja, natürlich“, erwiderte sie. Schließlich war sie es gewohnt, allein zu sein, auch wenn es ihr nicht immer gefiel.

Er verharrte einen Moment, und Annie dachte schon, er wollte ihr noch etwas sagen. Doch dann drehte er am Knauf, öffnete die Tür und schloss sie hinter sich.

Annie lehnte sich dagegen und versuchte ihre widersprüchlichen Gefühle zu verstehen. Verlangen, Enttäuschung, Erleichterung und Einsamkeit kämpften miteinander.

Die Einsamkeit gewann und verstärkte noch die Leere des Raums, nachdem Caspar gegangen war.

Sie spürte einen dumpfen Druck im Magen. Aber sie wusste, was ihr half. Darin hatte sie reichlich Übung. Sich beschäftigen. Sie brachte die Becher zur Spüle, um sie abzuwaschen. Aggie schmiegte sich dicht an ihre Beine, als würde sie ihre Gefühle verstehen.

Das Telefon klingelte, während Annie gerade den zweiten Becher abtrocknete.

„He, sag mal, was ist eigentlich los? Den ganzen Nachmittag versuche ich dich schon zu erreichen“, beschwerte sich Tori ohne Einleitung.

„Ich war beschäftigt.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Annie hörte deutlich ihr Lächeln heraus. „Was ich eigentlich wissen will, ist, womit ihr zwei euch beschäftigt habt. Wenn du meine Anrufe ignoriert hast, weil du stundenlang heißen Sex gehabt hast, ist das okay. Aber eine andere Ausrede akzeptiere ich nicht.“

Annie hatte Toris Anrufe vom Handy nicht angenommen, weil sie wusste, wenn es etwas Dringendes war, würde man sie vom Krankenhaus aus über das Festnetz anrufen.

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Er hat mich mitgenommen, um mir die Rohfassung der Filmaufnahmen zu zeigen. Mehr war nicht.“ Und mehr wollte sie ihr auch nicht erzählen. Außerdem, was gab es denn zu erzählen? Es war ja nichts gewesen.

„Dann ist er jetzt also nicht bei dir?“

„Nein.“

„Ich komme rüber und bringe eine DVD mit. Du darfst dir gern eine nette Geschichte ausdenken, um mich zu unterhalten. Eine, in der du vorkommst und unser heißer Doktor und rattenscharfer Sex!“ Sie lachte vergnügt.

„Erwarte nicht zu viel.“ Annie musste lächeln. Wenn Tori hier aufkreuzte, war sie immerhin nicht mehr allein.

Annie wusste nicht, sollte sie nun enttäuscht oder froh sein, dass sie Caspar in den letzten Tagen kaum gesehen hatte. Es wurden keine Babys geboren, und es gab auch keine Fälle, die für das Kamerateam interessant gewesen wären.

Bei ihren Visiten begegnete sie ihm zwar manchmal, aber es gab nichts zu besprechen, und sie brauchte auch seine Hilfe nicht. Im Fernsehen hatte sie ein Interview mit ihm vor dem Krankenhaus gesehen, ebenso ein Foto in der Lokalzeitung. Aber das machte ihr nur wieder die Unterschiede zwischen ihnen deutlich. Er stand gern im Mittelpunkt der Medien, und sie eben nicht.

Zudem war es ihr auch ein wenig unangenehm, dass sie ihm ihre Familiengeschichte anvertraut hatte – und dass sie dachte, er würde sie küssen. Und dass sie es sich gewünscht hatte.

Die Zeit schien dahinzukriechen. Zum ersten Mal, seit Annie aufs Land gezogen war, kamen ihr die Tage eintönig vor, und sie wünschte sich ein bisschen mehr Aufregung. Und Caspar St. Claire war zweifellos ein aufregender Mann.

Aber er ist nichts für dich, sagte sie sich. Du kommst sehr gut allein zurecht .

Vor der Mittagspause stand noch eine Patientin auf ihrer Liste. Danach konnte sie ihren Gedanken nachhängen, aber jetzt schuldete sie es der jungen Frau, dass sie sich konzentrierte. Sie griff nach dem Überweisungsschein auf ihrem Schreibtisch. Als sie ihn durchlas, erinnerte sie sich an ein Telefongespräch Anfang der Woche, bei dem es um diese Patientin gegangen war.

Taylor Cartwright war sechzehn und ging noch zur Schule. Sie glaubte, von ihrem Freund schwanger zu sein, und kam zusammen mit ihrer Rektorin, Mrs. Brigitte Lucas, zum vereinbarten Termin. Die Rektorin hatte Annie vorab telefonisch einige Informationen gegeben. Taylor kam aus einer sehr religiösen Familie, sie wollte ihren Eltern nichts sagen, bis nicht wirklich feststand, dass sie schwanger war.

Annie fand es ungewöhnlich, dass das Mädchen sich der Schulleiterin anvertraut hatte, aber sie wollte sich erst einen Eindruck von beiden machen, ehe sie ihre Schlüsse zog. Sie bat beide in ihr Sprechzimmer.

Taylor erwies sich als ein vernünftiges junges Mädchen, gesund und ziemlich rundlich. Es könnten viele Wochen vergehen, bevor man ihr ansah, dass sie schwanger war.

„Ich vermute, dass du deine Periode nicht bekommen oder leichte Blutungen entdeckt hast?“, begann Annie das Gespräch. „Hast du denn zu Hause einen Schwangerschaftstest gemacht?“

„Ja. Mrs. Lucas hat mir einen Test aus der Apotheke mitgebracht, denn ich hatte Angst, man könnte mich dort sehen und es Mum erzählen.“

Dass eine Rektorin so etwas übernahm, war ungewöhnlich. Annie blickte Mrs. Lucas fragend an.

„An unserer Schule gibt es ein Programm für minderjährige Mütter“, erklärte die Rektorin. „Es bietet ihnen besondere Unterstützung, damit sie ihren Schulabschluss machen können.“

Annie blickte Taylor an. „Der Test war positiv?“

Taylor nickte stumm.

„Ich werde noch einen Test machen, nur um sicher zu sein, und sobald wir das Ergebnis haben, sprechen wir darüber, wie es weitergeht“, wandte sich Annie an das junge Mädchen. „Weiß du noch, wann du das letzte Mal deine Periode bekommen hast?“

„Mrs. Lucas hat mir gesagt, dass Sie das fragen würden.“ Sie nannte das Datum.

Annie schickte sie für die Urinprobe zur Toilette, rechnete nach und stellte Brigitte einige Fragen.

„Haben Sie viele minderjährige schwangere Schülerinnen?“ In den sechs Monaten, seit sie hier arbeitete, hatte sie keine einzige kennengelernt.

„Nein, zum Glück nicht. Zurzeit haben wir vier junge Mütter, die die Schule abschließen wollen. Sie werden von ihren Eltern unterstützt. Deshalb ist Taylor ein Sonderfall. Aber alle Mädchen an unserer Schule wissen, dass sie mich jederzeit um Hilfe bitten können. Und dass sie die Schule nicht wegen des Kindes abbrechen müssen. Mag sein, dass sie ein oder zwei Jahre länger brauchen, aber für ihre Zukunft zahlt es sich auf jeden Fall aus.“

Annie versuchte, sich vorzustellen, wie man so jung ein Kind hatte und gleichzeitig seinen Schulabschluss schaffen musste. Sie selbst wollte nicht alleinerziehende Mutter sein, sie wünschte sich eine richtige Familie mit dem richtigen Mann. Aber je näher ihr dreißigster Geburtstag rückte, umso mehr zweifelte sie daran, dass ihr Traum in Erfüllung gehen würde.

Aber jetzt habe ich andere Probleme zu lösen, dachte sie, als Taylor zurückkam.

„Positiv“, erklärte Annie gleich darauf.

Taylor erblasste, und Annie war froh, dass sie gewartet hatte, bis das junge Mädchen saß. Auch wenn der erste Test eigentlich schon alles gesagt hatte, so schien Taylor doch gehofft zu haben, sie wäre nicht schwanger. Und nun saß sie niedergeschlagen da.

Brigitte nahm ihre Hand. „Beide Tests sind positiv. Du bist offenbar wirklich schwanger.“

Erleichtert sah Annie, dass Taylor die Schultern straffte, als sie Brigitte anblickte.

„Und wie geht es nun weiter?“, wandte sich Brigitte an Annie. Auch Taylor sah sie fragend an.

Annie lächelte dem Mädchen zu. „Es sind allerhand Entscheidungen zu treffen und Dinge zu besprechen, aber zuerst wollen wir einen Blick auf dein Baby werfen.“

„Kann ich es sehen?“ Taylors Stimme schwankte leicht, aber dass sie das Ergebnis annahm, war ein gutes Zeichen.

„Ich kann eine Ultraschallaufnahme machen, die uns ein Bild deines Kindes zeigt. Dabei kann ich auch den Geburtstermin genauer bestimmen.“ Und sehen, ob der Fetus normal entwickelt ist, dachte sie.

Taylor legte sich auf die Liege, entblößte den Bauch, und Annie prüfte kurz ihren Blutdruck, ehe sie das Gel auftrug und mit dem Ultraschallkopf über die Bauchdecke glitt.

Rasch zeichnete sich die Fruchtblase mit dem winzigen Kind auf dem Monitor ab.

„Da ist dein Baby“, sagte sie und deutete darauf. „Zwei Arme, zwei Beine. Sieht alles so aus, wie es in der zehnten Woche sein soll. Siehst du dort die Bewegung, als würde sich eine Anemone öffnen und schließen? Das ist das Herz deines Kindes.“

„Ist ja cool! Es sieht ja aus wie ein richtiger Mensch.“

„Dann freust du dich also?“, fragte Brigitte.

„Das kann ich noch nicht sagen“, erwiderte ihre Schülerin ehrlich. „Aber auf jeden Fall werde ich es behalten. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass da ein kleiner Mensch in mir wächst.“

„Was ist mit dem Vater des Kindes?“, fragte Annie, als sie die Aufnahme ausdruckte. Sie gab sie Taylor und wischte ihr das Gel ab. „Weiß er es schon?“

Taylor schüttelte den Kopf und starrte auf das Schwarz-Weiß-Foto ihres Babys. „Noch nicht. Aber ich muss es ihm sagen.“ Kurz zögerte sie, setzte dann hinzu: „Und meinen Eltern.“

Annie hoffte für sie, dass ihre Eltern und ihr Freund sie nicht im Stich ließen.

„Du hast einige wichtige Entscheidungen zu treffen“, sagte Annie zu ihr, als das junge Mädchen von der Liege rutschte. „Und wenn du es dem Vater des Kindes und deinen Eltern gesagt hast, würde ich gern einen Termin mit dir vereinbaren, zu dem du alle mitbringen kannst, die dir zur Seite stehen wollen. Ganz bestimmt haben sie Fragen.“

Sie machte eine Pause. „Es ist nicht eilig, denn mit dem Baby ist alles in Ordnung. Aber du kannst jederzeit zu mir kommen. Irgendwann sollten wir uns auch über Verhütung unterhalten und darüber, wie man Geschlechtskrankheiten vermeidet.“

Taylor wurde flammend rot. Annie wunderte sich immer wieder, wie peinlich diese Themen waren, obwohl die jungen Leute doch völlig ungeschützt miteinander geschlafen hatten.

Autor

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