Historical Exklusiv Band 8

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GAYLE WILSON: JULIE - DIE GÖTTLICHE
Bei Nacht und Nebel flieht Julie aus Paris. Vorbei ist die glanzvolle Zeit, in der sie als - die Göttliche - in den Spielsalons Triumphe gefeiert, Herzen gewonnen hat! Jetzt ist der Einsatz ungleich höher: Es geht um ihr Leben, denn die Franzosen halten sie für eine Spionin. Sie will nach London, doch noch in Frankreich begegnet ihr der faszinierende Devon Burke. Sein Ziel heißt Paris, und Julie geht ein gewagtes Spiel ein.

SALLY CHENEY: HERZ IM SPIEL
Herzlos setzt Mariannes Vormund sie als Pfand im Glücksspiel ein - und verliert sie an den vermögenden Peter Desmond. Voll banger Erwartungen, wie ihr Schicksal in den Händen des Fremden aussehen wird, reist Marianne zu seinem Landsitz. Dort tritt ihr ein sehr attraktiver Mann entgegen. Sein erster heißer Kuss lässt keinen Zweifel daran, für wen er sie hält und was er mit ihr vorhat.


  • Erscheinungstag 19.06.2006
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783864944581
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Gayle Wilson

Julie – Die Göttliche

PROLOG

Paris, Januar 1815

„Ihre Einsätze bitte, Gentlemen.“

Ihre Stimme klang melodisch, als sie zu den Spielern sprach, die sich erwartungsvoll um den Tisch geschart hatten. Juliette de Valmé hielt ihre schlanken Finger mit den schockierend lackierten Nägeln einen Moment über den Stapel Pharokarten, um den Männern Zeit zu lassen, ihre Wettbeträge auf den Tisch zu legen.

„Können Sie uns eine Erklärung für dieses Phänomen liefern, meine Liebe? Weshalb kommen wir jeden Abend hier zusammen, um unser Geld an eine Frau mit solch einem erstaunlichen Glück zu verlieren?“ bemerkte ein Stammgast.

„Vielleicht sollten Sie Ihre Einsätze klüger platzieren, dann brauchten Sie Juliette nicht mit so dummen Fragen zu belästigen“, antwortete ein anderer lachend. „Ich kann mir niemand vorstellen, gegen den ich lieber verlieren würde. Mein Herz und mein Geld gehören Ihnen“, schloss er und verbeugte sich höflich in Richtung der hübschen Bankhalterin.

„Ich glaube, Sie haben Recht“, meinte sie ironisch und deutete mit einer graziösen Handbewegung auf das Kartenpaar, das sie gerade vom Stapel genommen hatte. Die Spieler am Tisch lachten über ihre Bemerkung und ihr anhaltendes Glück.

„Offensichtlich sind wir alle in derselben misslichen Lage – nämlich so betört, dass wir unsere Verluste in der Hoffnung auf ein reizendes Lächeln, ein freundliches Wort und einen gelegentlichen Gewinn klaglos ertragen, wobei Letzteres nicht ganz so wichtig ist“, meinte Baron du Deffand.

„Wie uncharmant, Deffand“, warf ein anderer junger Adeliger ein, der Abend für Abend um einen Platz an diesem besonderen Tisch kämpfte. „Ich persönlich habe kein Interesse daran, hier Geld zu gewinnen“, fuhr er, an Juliette gewandt, fort. „Es ist mir egal, wie viel Louisdor Sie mir aus der Tasche ziehen. Mir genügt es, wenn ich mich an Ihrem strahlenden Glanz weiden darf.“

Julie sah ihn unter halbgesenkten dichtbewimperten dunklen Augen an und meinte unbekümmert: „Die Frage ist nur, ob Sie mich morgen noch ebenso mögen werden, nachdem Sie Ihre Verluste zusammengerechnet haben.“

„Mein Herz gehört Ihnen bis in alle Ewigkeit“, erklärte der Mann und legte die Hand auf die Brust, um seine Ernsthaftigkeit zu unterstreichen.

„Dann kann ich nur hoffen, dass Ihre Bankiers ebenso ehrlich und Ihre Konten ebenso unerschöpflich sind wie Ihre Hingabe, mein lieber Graf“, erwiderte sie und zog seinen Einsatz geschickt heran. Lautes Gelächter auf Kosten des Adeligen erscholl, und ein äußerst eifersüchtiger Spieler, der zu seinem Bedauern an einem anderen Tisch hatte Platz nehmen müssen, bewunderte nicht nur das Glück und die Schönheit, sondern auch Juliettes Schlagfertigkeit.

Das Flackern der österreichischen Kandelaber und der Lärm der Menge, die sich in diesem eleganten Kasino im Pariser Marais-Viertel versammelt hatte, war Juliette de Valmé seit frühester Kindheit vertraut. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie in dem einen oder anderen Spielsalon verbracht und verstand sehr gut, weshalb manche Menschen diese Räumlichkeiten als Hölle bezeichneten.

Eine aufgedeckte Karte oder eine Drehung des Rouletterads konnte das Seelenheil eines Menschen in arge Bedrängnis bringen. Sie hatte nicht selten Verlierer den Tisch verlassen sehen, wo die Mitstreiter begierig den Zusammenbruch seiner Hoffnungen beobachtet hatten. Nicht wenige hatten ihrem Leben irgendwo in einer schmalen Pariser Gasse ein Ende bereitet, nachdem ihnen die ganze Tragweite ihres Verlustes bewusst geworden war.

Zumindest wurde im Haus ihres Vaters nicht falsch gespielt. Natürlich standen die Chancen immer zu Gunsten des Kasinos. Aber es gab keine gezinkten Karten, und an den Rouletterädern war nicht herumgepfuscht worden. Ihr Vater legte Wert auf Ehrlichkeit, und sie hielt sich an seine Anweisung, seit sie zunehmend freie Hand in diesem Geschäft hatte, das sie seit drei Jahren führte.

Zum Glück war die Gewinnspanne ausgezeichnet, vor allem jetzt, nach der Niederlage Napoleons. Seitdem gesellten sich immer mehr englische Adelige zu der ausgewählten Schar jener, die Abend für Abend Einlass in das bekannteste Kasino der Stadt begehrten.

Juliette wusste, dass die Beliebtheit des Spielsalons zum großen Teil ihrer Anwesenheit zu verdanken war. Es gehörte zu ihren beruflichen Pflichten, nie versiegende gute Laune zu verbreiten, Betrunkene freundlich hinauszukomplimentieren, ganz gleich, welche Rache sie wegen ihrer Verluste schworen, und Bakkarat, Siebzehnundvier sowie Pharo nach jenem geschickten Muster zu spielen, das sie selbst im Schlaf beherrschte.

Sie war sich darüber klar, dass die Herren, die sich um ihren Tisch versammelten, selten auf ihre schlanken Finger schauten. Es war ihnen gleichgültig, ob diese besondere Geberin einige Taschenspielertricks beim Verteilen der Karten verwendete. Die faszinierten Blicke richteten sich vielmehr auf die schimmernden blauschwarzen aufgesteckten Locken oder auf die dichten Wimpern, die ihre ausdrucksvollen funkelnden Augen betonten, manchmal aber auch verbargen, oder auf die freizügigen Dekolletes ihrer neuen Kleider, die gerade diese Woche von LeRoy, dem berühmtesten Couturier der modischsten Stadt der Welt, geliefert worden waren.

Heute Abend trug Juliette ein leuchtendrotes Kleid, hatte etwas Rouge auf den Wangen verteilt und die Lippen geschminkt, um ihren hellen Teint zu betonen. Jeder Mann im Raum erkannte, dass ihre natürliche Schönheit, ein Erbe ihrer anglofranzösischen Herkunft, durch ein sorgfältig aufgelegtes Make-up verstärkt wurde. Aber es störte niemanden. Sie liebten an ihr, was sie bei ihrer eigenen Frau zutiefst verabscheut hätten.

Wie beiläufig beobachtete Juliette das Treiben an den Tischen im Salon, ohne die Unterhaltung an ihrem eigenen zu vernachlässigen. Seit einigen Minuten bemerkte sie eine Erregung unter ihren Gästen, die sich auf einen gut aussehenden, stark angetrunkenen englischen Adeligen konzentrierten, der hohe Einsätze machte und von einigen Freunden immer weiter angestachelt wurde.

Sie hatte Jeans warnenden Blick bemerkt. Deshalb beendete sie ihr Spiel ohne jede Eile und stand unter den enttäuschten Bemerkungen und nicht allzu ernst gemeinten Vorwürfen der Runde auf und ging zu dem Tisch hinüber.

Der Engländer nahm seine Verluste unbekümmert hin und gab nicht dem Kasino die Schuld an seinem Pech. Aber er war stark betrunken, und ihr Vater wünschte nicht, dass sie einem Spieler, der nicht mehr Herr seiner Sinne war, den letzten Taler aus der Tasche zog.

Deshalb trat sie so nahe an den Mann heran, dass er spätestens durch den Duft ihres teuren Parfüms auf ihre Anwesenheit aufmerksam werden musste. Sie lächelte über sein Erstaunen, so eine charmante Mademoiselle an seiner Seite zu finden, und sah, dass seine Wangen vom Alkoholgenuss leicht gerötet waren. Ein Lamm, reif für die Schlachtbank. Wenn der Narr entschlossen war, sein gesamtes Vermögen zu verlieren, musste er sich einen anderen Spielsalon suchen.

Juliette legte ihre kleine, sorgfältig manikürte Hand locker auf seinen Arm und erkannte, dass das Interesse des Spielers vom Kartentisch rasch zu jener wesentlich angenehmeren Beschäftigung wechselte, die die Reaktion seines Körpers ihm suggerierte.

„Ich kenne ein ruhiges Plätzchen, wo wir allein sein können“, flüsterte sie so leise in akzentfreiem Englisch, dass nur er es hörte.

Er legte seine verschwitzte Hand auf ihre Finger und zog sie charmant, wenn auch ungeschickt an die Lippen.

Ein Wüstling ist er bestimmt nicht, dachte Juliette belustigt und setzte ihren Weg zwischen den Tischen fort. Aus Erfahrung wusste sie, dass der Mann ihr folgen würde. Ohne hinüber zu sehen, bemerkte sie die dunkle Gestalt, die auf der anderen Seite des Salons parallel zu ihr mitlief. Jean, dem sie es verdankte, dass sie sich in dieser ausschließlich von Männern beherrschten Welt hatte durchsetzen können, unterstützte ihre Absicht auch jetzt voll und ganz.

Sie waren schon durch die Hintertür in die kühle Abendluft gelangt, bevor der junge Mann merkte, wohin es ging.

„Erinnern Sie sich an die Anschrift, wo Sie wohnen?“ fragte Julie und hörte, dass Jean ebenfalls nach draußen kam.

„Natürlich“, antwortete der Engländer überrascht und überlegte, ob Julie etwa mit ihm aufs Zimmer gehen wollte. Selbst in seinem angetrunkenen Zustand konnte er sich lebhaft vorstellen, was seine Gastgeberin, eine Freundin seiner Eltern, davon halten würde, wenn er eine Dame der Halbwelt mitbrachte, so schön sie auch sein mochte.

„Dann nennen Sie sie dem Kutscher“, verlangte Juliette und drückte ihm eine kleine schwere Börse mit Münzen in die Hand. „Unterrichten Sie außerdem Ihre Freunde davon, dass Sie alle gemeinsam in Zukunft bei uns Hausverbot haben. Falls Sie unbedingt noch den letzten Taler verlieren möchten, muss es anderswo geschehen. Bonsoir, Monsieur, und willkommen in Paris, wo man selten ein zweites Mal Gelegenheit erhält, sich zum Narren zu machen.“

Rasch wandte sie sich ab und überließ den Engländer Jeans bewährten Händen. Sie hörte die besänftigende Stimme des Franzosen, der den sich wehrenden jungen Mann beruhigte, und vergaß den Zwischenfall bald.

Julie kannte kaum ein anderes Leben, sah man von den wenigen Jahren ab, die sie nach dem Tod ihrer Mutter als unglückliches junges Mädchen in einer Klosterschule verbracht hatte. Sobald ihr Vater bemerkte, dass sie dort außer guten Manieren kaum etwas lernte, hatte er sie zu sich geholt und nacheinander eine ganze Reihe von Privatlehrern eingestellt. In seinem Pariser Spielsalon war sie von ihren Lehrern in Literatur unterwiesen worden, während das Leben ihr zahlreiche Erfahrungen beigebracht hatte. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war Julie kaum noch eine menschliche Schwäche fremd.

„Ich habe ihn in eine Droschke gesetzt und nach Hause fahren lassen“, flüsterte Jean ihr jetzt ins Ohr.

Sie drehte sich um und lächelte in das narbige Gesicht des Mannes, der seit drei Jahren wie ein Bruder zu ihr war. Ihr Vater hatte Jean kennen gelernt, und sie hatte nie erfahren, wie er den Franzosen überredet hatte, die Aufsicht des Kasinos zu übernehmen.

Jeans Anwesenheit wirkte einschüchternd, sein Blick war aufmerksam und seine Reaktion blitzschnell. Dies alles sorgte für jene strenge Kontrolle, ohne die es bei der Führung eines erfolgreichen Spielsalons in diesen unsicheren Zeiten nicht ging. Natürlich erhielt Jean ein großzügiges Gehalt. Doch es war längst nicht so viel, wie er erwarten durfte, und Julie fragte sich manchmal, weshalb er blieb.

Ihr Vater vermutete, dass es ein Geheimnis in der Vergangenheit des ehemaligen Spielers gab. Jean war viel zu weit gereist, zu kenntnisreich, zu gebildet und sich seiner Fähigkeiten zu sehr bewusst, als dass der Lebenslauf zu ihm gepasst hätte, den er bei seiner Bewerbung vorgelegt hatte. Seine Vergangenheit war ebenso tabu wie die Herkunft der Narben in seinem Gesicht.

Juliette vermutete, dass Jean wie viele seiner Zeitgenossen irgendwo geflüchtet war. Allerdings hatte sie noch nie erlebt, dass der Franzose vor etwas zurückschreckte. Er war groß, blickte meist finster drein, sah aber, trotz seines vernarbten Gesichts und des schwarzen zurückgebundenen Haars, nicht schlecht aus. Mit seinen haselnussbraunen Augen beobachtete er sie träge und merkte offensichtlich, dass sie in einer Weise über ihn nachdachte, die im Widerspruch zu ihrer sonstigen Beziehung stand.

Für sie war er immer nur Jean gewesen und gehörte inzwischen beinahe ebenso zur Familie wie ihr Vater. Deshalb beschleunigte sich ihr Puls nicht bei Jeans Lächeln, mit dem er auf ihren prüfenden Blick reagierte.

„Eigentlich war der Kerl schon ein bisschen zu alt, um vor der eigenen Torheit bewahrt zu werden“, sagte Jean leise. Es war ein leichter Tadel dafür, dass Julie sich strikt an die Anweisungen ihres Vaters hielt.

„Er war doch noch ein halbes Kind“, verteidigte sie sich.

„Er war älter als Sie“, wandte Jean belustigt ein. Doch sein Lächeln verschwand augenblicklich, sobald er den schmerzlichen Ausdruck in ihren dunklen Augen bemerkte.

„Ich bin viel älter als er, das wissen Sie genau“, erklärte Julie bestimmt.

Den Daumen unter ihrem Kinn, sagte er freundlich: „So alt sind Sie nun auch wieder nicht, Kleines. Sie sind noch jung genug, das versichere ich Ihnen.“

Diesmal lächelte sie unwillkürlich. „Und wozu bin ich Ihrer Ansicht nach noch jung genug, mein Freund?“ erkundigte sie sich.

„Für alles, was Sie sich wünschen“, antwortete er sofort.

„Also bessere Weine zu einem geringeren Preis, einen ebenso guten Umsatz im Oktober und einen Kohlenhändler, der seine nächste Rechnung vergisst“, zählte sie amüsiert auf.

„Nein“, widersprach Jean leise. „Es wird die Zeit kommen, in der Sie die Verantwortung für diesen Salon nicht mehr zu tragen brauchen, weil ein anderer sie Ihnen abnimmt.“

„Für Märchen bin ich etwas zu alt“, zog Julie ihn auf. „Die erzählen Sie lieber dem jungen Mann, den Sie gerade in die Kutsche verfrachtet haben. Mir steht nicht der Sinn danach. Ehrlich gesagt, bin ich nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch ein anderes Leben führen möchte. Der Gedanke, einen Mann zu heiraten und ihm möglichst viele Kinder zu gebären, kann mich gewiss nicht reizen. Ich glaube, ich werde mich mit den Übeln begnügen, die ich schon kenne.“

„Sind Sie der Meinung, dass die Heirat ein Übel ist? Ich weiß, dass manche Menschen das eheliche Glück durchaus genießen. Außerdem hatte ich nicht an einen x-beliebigen Mann gedacht.“

„Nein?“ Julie lachte, wie Jean es erwartet hatte. „Die einzigen Männer, die ich kenne, sind die Kaufleute, die ihre Rechnungen kassieren wollen. Und unsere edlen Kunden. Wollen Sie etwa andeuten …“

„Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass es noch andere Männer gibt und dass Sie diese Tatsache eines Tages selber entdecken werden.“

„Und die interessieren sich selbstverständlich für mich“, bemerkte Julie spöttisch. „Die Angebote, die ich bisher erhalten habe, bezogen sich nicht auf eine Heirat. Das kann ich Ihnen versichern. Und daran wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern.“

An Jean hatte sie nie als Liebhaber gedacht. Sie brauchte ihn auf eine andere Weise. Deshalb betrachtete sie seine Äußerungen als jenes kameradschaftliche Geplänkel, an das sie gewöhnt war.

Jean merkte erneut, wie stark Julie auf seine Freundschaft angewiesen war. Lächelnd nahm er eine ihrer dunklen Locken zwischen seine langen Finger. „Wenn Sie tatsächlich entschlossen sind, Ihre Erfahrung in der Leitung einer Spielhölle nicht gegen die Führung eines Haushalts einzutauschen, schlage ich vor, dass Sie zu Ihren Höflingen zurückkehren, die die Rückkehr Ihrer Hoheit bereits ungeduldig erwarten.“

Jean verbeugte sich tief. Sein geschmeidiger Körper verriet die Kraft, die in ihm steckte. Er hatte sie nur wenige Male anwenden müssen, als er noch neu im Kasino gewesen war. Inzwischen hatte sich sein Ruf so gefestigt, dass er solche Beweise nicht mehr benötigte.

Julie berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen und warf ihm eine Kusshand zu. Rasch wandte sie sich ab, kehrte zu ihrem Tisch zurück und merkte nicht, dass Jean ihr durch den Saal folgte. Wenig später entstand eine leichte Unruhe an einem Roulettetisch und erinnerte ihn an seine Pflichten.

Kurz nach drei trat Jean zu Julie, brachte ihr eine Nachricht ihres Vaters und nahm ihren Platz am Pharotisch ein. Geschickt lenkte er die Gäste mit einigen Spielzügen zu Ungunsten des Hauses ab, damit sie keine Einwände gegen den Wechsel erhoben.

Es war ziemlich ungewöhnlich, dass ihr Vater sie an einem so erfolgreichen Nachmittag zu sich rief. Deshalb eilte Julie in sein Büro, in dem er sich seit einigen Jahren nur noch um die Bücher kümmerte.

Viscount Ashford saß am Tisch und hatte einen dicken Wollschal zum Schutz gegen die kühle Nachtluft um die schmalen Schultern gelegt. Seine feingliedrigen Hände – Hände eines englischen Aristokraten, der er seiner Herkunft nach war –, lagen auf der Schreibtischplatte. Julie und er wussten seit vielen Monaten, wie krank er war, hatten aber dafür gesorgt, dass davon nichts nach draußen drang. Heute spürte sie sofort die ungewöhnliche Erregung ihres Vaters.

„Schließ die Tür“, forderte er Julie auf und wartete, bis sie seinem Wunsch nachgekommen war. „Du weißt, dass ich niemals etwas von dir verlangen würde, was nicht gut für dich wäre.“

„Natürlich“, sagte Julie. „Du …“ Doch er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen und ließ sie nicht aus den Augen.

„Ich fürchte, ich habe dich durch meine Geheimdiensttätigkeit aus Liebe zu meiner Heimat in große Gefahr gebracht“, fuhr der Viscount fort. „Du hast längst gemerkt, dass der Spielsalon seit Jahren eine Tarnung für diese Aktivitäten bot. Leider sieht es ganz danach aus, als hätten die französischen Behörden meine Rolle beim Sturz des Kaisers jetzt entdeckt. Sie betrachten dies als Verrat, als Spionage gegen meine Wahlheimat. Nach England …“

Er konnte nicht weiter sprechen. Beide wussten, dass er die geliebte Heimat nie wieder sehen würde. Beruhigend legte Julie ihm die Hände auf die Schultern. Doch er riss sich zusammen und fuhr ungewöhnlich drängend fort: „Und deshalb musst du schnellstens von hier verschwinden, Julie. Nimm alles Geld aus dem Tresor und fliehe. Tauch irgendwo auf dem Land unter. Geh so weit weg von Paris, wie es dir möglich ist. Einige Leute wollen dich in ihre Gewalt bringen, weil sie glauben, dass du als meine Tochter …“

Er zögerte erneut und schüttelte den Kopf. „Sie sind zu allem fähig, um Informationen über meine Kontakte zu England zu bekommen. Auch vor Folterungen würden sie nicht zurückschrecken, Julie. Du kannst dir nicht vorstellen, was du erleiden müsstest, wenn du in ihre Hände fielst.“

„Ich weiß doch überhaupt nichts“, begann Julie und redete nicht weiter, denn ihr Vater sah aufmerksam zur Tür. Der Ton der Unterhaltung und das Gelächter im Spielsalon hatten sich verändert.

Mit zitternden Fingern deutete er auf den Tresor hinter sich, und sie nahm rasch den kleinen schweren Beutel heraus, der für solche Notfälle darin bereitzuliegen schien. Erstaunt stellte sie fest, dass die Akten, die ihr Vater hier aufbewahrt hatte, nicht mehr vorhanden waren.

„Uns bleibt weniger Zeit, als ich glaubte. Vergiss nie, dass ich dich sehr liebe, Kleines.“

Julie war ziemlich verwirrt. Doch sie erkannte ebenfalls die Unruhe, die im Kasino herrschte.

„Jean“, flüsterte sie und drehte sich unwillkürlich zur Tür. Er hatte ihren Platz am Tisch eingenommen und befand sich vielleicht in Gefahr. Sie musste ihn unbedingt warnen.

„Nein“, sagte ihr Vater und hielt ihren Arm verzweifelt fest. „Begreifst du nicht? Jean hält die Leute auf, um dir Zeit zur Flucht zu geben. Und du verschwendest diese kostbaren Minuten.“

„Meinst du, ich lasse zu, dass Jean sich für mich opfert?“ fragte Julie energisch und versuchte, sich von ihrem Vater loszumachen. „Glaubst du, ich will meine Freiheit auf seine Kosten behalten?“

„An Jean sind sie nicht interessiert. Aus ihrer Sicht ist er ein treuer Franzose. Außerdem …“ Ihr Vater zögerte einen Moment. „Hier ist nichts zu finden, was Jean mit meiner Tätigkeit in Verbindung bringen könnte. Dich wird man dagegen nicht für unschuldig halten. Da du meine Tochter bist, wird man glauben, dass du etwas weißt, was für sie wichtig sein kann. Nutz die Gelegenheit, die Jean dir bietet, Julie. Er kann in dieser Situation erheblich besser für sich sorgen als du für dich. Wenn du in ihre Hände fällst … Nichts und niemand wird dich in einem französischen Gefängnis schützen. Nichts …“

Wieder erklangen laute Stimmen hinter der verschlossenen Tür, und Viscount Ashford öffnete die Schreibtischschublade. Julie entdeckte seine Pistole und fragte sich, wie er mit diesem halben Spielzeug jemand aufhalten wollte.

„Sei kein Narr“, sagte sie und versuchte, die Waffe in die Schublade zurückzuschieben. „Damit kannst du dich nicht wehren.“

„Ich habe nicht die Absicht“, antwortete er gelassen und sah sie fest an. Endlich lockerte Julie den Griff, denn sie hatte verstanden.

„Der Gedanke an einen langsamen Tod war mir immer zuwider. Was könnte ich mir schöneres wünschen, als für England zu sterben? Kann es ein besseres Ende geben? Aber nicht von ihren Händen. Nicht zu Tode gefoltert, um die Namen jener zu verraten, denen ich so lange gedient habe. So wie ich es möchte, Julie. Auf meine Weise.“

Weder Angst noch Bedauern war in seinen dunklen Augen zu lesen.

Zögernd ließ Juli die knochige Hand mit der Waffe los, legte die Arme um ihren Vater und zog ihn an sich. Sie barg das Gesicht an seinem schütteren weißen Haar und kämpfte mit den Tränen, die hinter ihren Lidern brannten. Endlich senkte sie den Kopf, presste die Lippen auf die runzelige Wange und sagte ihm stumm Lebewohl.

„Sei tapfer, mein Herz“, bat er.

„So tapfer wie mein Vater“, flüsterte sie.

„Geh jetzt“, forderte er sie auf und schob sie zurück.

Julie nickte und gehorchte widerstrebend. Ihr Vater wusste immer genau, was richtig für sie war. Deshalb nahm sie ihren Mantel vom Haken und öffnete vorsichtig die Tür zu der schmalen Gasse hinter dem Haus. Niemand war zu sehen. Sie hatte die Schwelle schon beinahe überschritten, da flüsterte ihr Vater noch: „Halt nach dem Hinkenden Ausschau, Julie. Als ich merkte, dass ich enttarnt worden war, habe ich sein Spionagenetz zerstört und ihm eine Nachricht geschickt. Er wird bestimmt kommen.“

Irgendjemand warf sich gegen die verschlossene Tür. Viscount Ashford gestikulierte wild mit beiden Armen. Rasch schloss Julie die Tür hinter sich und eilte hinaus in die Dunkelheit. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte ihr Vater von diesem hinkenden Mann gesagt?

Sie hörte einen einzigen Schuss aus der winzigen Pistole und kurz darauf das unvermeidliche Splittern der Holztür. Was jetzt noch in dem kleinen Büro geschah, hatte keine Bedeutung mehr für sie. Deshalb rannte sie in die schützende Dunkelheit und fort von dem Haus, in dem sie so viele Jahre ihres Leben verbracht hatte.

1. KAPITEL

London, März 1815

Keiner der Horse Guards wunderte sich, dass die Lampen in diesem besonderen Büro noch nicht gelöscht waren. Angesichts der Nachrichten, die langsam vom Kontinent herüberkamen, war das Licht in dem Raum, wo Colonel Devon Burke über einem Stapel dechiffrierter Depeschen hockte, gewiss nicht das einzige, was an diesem Frühlingstag in Whitehall um Mitternacht noch brannte.

Doch der Mann, der an seinem mit Papieren überhäuften Schreibtisch saß, hatte während der letzten Monate zu oft die Morgendämmerung durch die großen zweiflügeligen Fenster heraufziehen sehen. Für ihn war die Arbeit eine Zuflucht geworden, eine Flucht vor der Leere. Die Verspannung in seinem Nacken und das unangenehme Ziehen zwischen seinen Schultern, das schon vor einer Stunde begonnen hatte, erinnerten ihn daran, dass er heute Nacht die Grenzen seiner Belastbarkeit überschritten hatte.

Er legte beide Handflächen auf den Schreibtisch und stand mühsam auf. Die Verkrampfung in seinem Rücken und die Taubheit in seinem rechten Bein waren wohl der Preis, den er für diese nächtliche Wache zu zahlen hatte. Leicht hinkend ging er zum Fenster, straffte die Schultern und reckte mühsam die schmerzenden Muskeln.

Vor der hohen Scheibe blieb er stehen, in der sich seine Gestalt spiegelte. Der Glanz seines kurzen kastanienbraunen Haars, der wachsame Blick seiner dunkelblauen Augen und die feinen Linien in seinem markanten Gesicht wurden von der Dunkelheit draußen verschluckt. Dagegen zeichneten sich seine breiten Schultern, seine muskulöse Brust unter dem eleganten Rock, seine schmale Taille und die langen kräftigen Beine in der hautengen Hose sowie die glänzenden Schaftstiefel deutlich in der Fensterscheibe ab.

Von der Veränderung, die Devon Burke in den letzten beiden Jahren durchgemacht hatte, war äußerlich nichts mehr zu erkennen. Als Invalide war er nach der Schlacht von Salamanca zum Sterben in die Heimat zurückgeholt worden. Doch zum Erstaunen aller hatte er die schwere Verletzung als Folge einer Explosion eines französischen Schrapnells in unmittelbarer Nähe überlebt.

Allerdings war sein Leben monatelang von einem winzigen Metallsplitter bedroht gewesen, der gefährlich nahe an seiner Wirbelsäule gesteckt hatte und jederzeit hätte wandern können. An diese Zeit erinnerte Devon sich lieber nicht.

Auch nicht an zahlreiche andere Dinge.

Deshalb war er hier, in dieser ausschließlich von Männern bestimmten Umgebung. Doch ein Hauch von Lavendel oder der graziöse Gang einer Frau auf der Straße genügten, und die unerwünschten Erinnerungen kehrten zurück.

Elizabeth, dachte er und spürte die beklemmende Kälte, mit der sie ihn zurückgewiesen hatte. Er wusste, dass dem Bild dieser Frau, die ihn die letzten fünf Jahre durch alle Tagund Nachtträume verfolgt hatte, unausweichlich weitere, viel schlimmere Bilder folgen würden, die er ebenfalls vergessen musste.

Nur die Gewissheit, dass Elizabeth auf ihn wartete, hatte verhindert, dass er in der Hölle der unzähligen Schlachten nicht den Verstand verlor. Ihretwegen hatte er die endlosen Operationen durch den französischen Chirurgen über sich ergehen lassen, den sein Schwager wundersamerweise aufgetrieben hatte, und versucht, wieder jener Mann zu werden, der er vor seiner Verwundung gewesen war.

Und dann …

Wie hatte er solch ein Narr sein können. Keinen Moment war ihm der Gedanke gekommen, dass Elizabeth all die langen Monate ihr eigenes Leben geführt hatte. Sobald er sich kräftig genug gefühlt hatte, war er aufgebrochen, um erneut um ihre Hand anzuhalten.

Doch Elizabeth war schon mit dem Earl of March verheiratet gewesen, der alt genug war, um ihr Vater zu sein, und hatte ein Kind von ihm erwartet. Devon schloss die Augen, um das Bild der jungen Frau mit dem Earl zu verdrängen, der noch dazu als Lebemann galt.

In den vergangenen Monaten hatte Devon seinen Zorn und das Gefühl, betrogen worden zu sein, allmählich überwunden. Doch die bittere Enttäuschung blieb eine Bedrohung für seinen hart erkämpften Seelenfrieden.

Devon wehrte sich gegen die Gefühle, die er seit langem als Selbstmitleid erkannt hatte. Er lehnte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe und presste beide Hände auf die Fensterbank. Plötzlich hörte er, wie die Tür zu seinem Büro geöffnet wurde.

Verärgert wappnete er sich innerlich gegen den Eindringling in seiner Zufluchtsstätte.

Er löste die Hände von der Fensterbank, fasste die Feder fester, die er unbewusst von seinem Schreibtisch mitgenommen hatte, und bog den Kiel, bis er brach. Erbost drehte er sich um und warf das nun unbrauchbare Gerät zu den zahlreichen Akten auf seinem Tisch.

„Solch ein Unfug“, schimpfte er und schwieg, denn er entdeckte den Mann auf der Schwelle.

„Sie müssen häufiger aus dem Büro heraus. Dann wird der Papierkrieg nicht solch eine Plage. Selbst seine Durchlaucht wusste das“, sagte die vertraute Stimme ruhig.

„Moss?“ fragte Devon ungläubig. Im ersten Moment konnte er sich nicht vorstellen, weshalb der äußerst vertrauenswürdige Diener seines Schwagers zu dieser frühen Morgenstunde bei ihm auftauchte. Gleich darauf fielen Devon alle möglichen Schreckensmeldungen ein, weshalb der Duke of Avon ausgerechnet diesen Mann zu ihm geschickt haben könnte.

„Weshalb sind Sie hier?“ flüsterte er und fürchtete sich unwillkürlich vor der Antwort. Der Diener war dem brillanten, rätselhaften Herzog, der Devons einzige Schwester geheiratet hatte, absolut ergeben. „Ist etwas mit Emily? Oder mit Will?“

„Mit Ihrer Schwester und Ihrem Neffen ist alles in Ordnung. Nicht wegen Ihrer Durchlaucht bin ich hier. Ich benötige Ihre Hilfe, Colonel.“

„Bitte, reden Sie. Sie brauchen nur …“ begann Devon.

Avons Diener unterbrach ihn sofort. „Sie sollen wissen, dass mir die Entscheidung, Sie aufzusuchen, nicht leicht gefallen ist. Doch angesichts dessen, was Sie für den Herzog empfinden …“ Moss zögerte zum ersten Mal, und Devon merkte, dass der Diener seine Worte sorgfältig wählte. „Und wenn man bedenkt, was Sie ihm verdanken …“

Er sprach nicht weiter. Sie wussten beide, dass der Mann, von dem hier die Rede war, diese Anspielung scharf zurückgewiesen hätte. Dominic verlangte niemals eine Gegenleistung von Leuten, denen er verbunden war.

Vor zwei Jahren hatte der Duke of Avon Devon einen Posten in der Spionage angeboten und ihm dadurch die Möglichkeit verschafft, trotz der schweren Kriegsverletzung einen wertvollen Dienst für sein Vaterland zu leisten. Avon hatte auch nicht geruht, bis er einen hervorragenden Chirurgen für ihn gefunden hatte. Der Franzose hatte die gefährliche Operation gewagt und den Metallsplitter entfernt, was Devon das Leben gerettet hatte.

„Ich erinnere mich, was Sie am Tag seiner Abreise gesagt haben“, fuhr der Diener fort. „Deshalb dachte ich, Sie wären vielleicht bereit …“

„Ich verdanke Dominic mehr als mein Leben, Moss. Außerdem ist er mein Freund. Was immer Sie …“

„Sie sind jener Bruder, den er nie hatte“, unterbrach Moss Devon erneut. „Und ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, was ihm Ihre Freundschaft bedeutet.“

„Und mir“, ergänzte Devon leise. „Wollen Sie mir nicht sagen, was der Herzog von mir wünscht?“

„Seine Durchlaucht hat mich nicht geschickt.“ Moss schwieg einen Moment, und Devon wartete. Offensichtlich hatte der Diener eine Bitte, die sein Herr missbilligen würde. „Ich brauche Sie, um den Herzog zu finden“, stieß Moss endlich hervor.

„Den Herzog zu finden?“ wiederholte Devon, und seine Stimme wurde unwillkürlich lauter. „Was zum Teufel soll das heißen?“

„Seine Durchlaucht ist verschwunden, und ich bekomme keine Verbindung nach Frankreich. Keiner der Agenten antwortet. Es ist, als wären sie vom Erdboden verschwunden und der Herzog mit ihnen. Ich kann nicht nach ihm suchen, denn ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich die Herzogin und das Kind niemals allein lassen werde. Er sagte, ich wäre nicht mehr für ihn zuständig, sondern solle mich ausschließlich um Ihre Durchlaucht und seinen Sohn kümmern. Ich habe mein Wort noch nie gebrochen. Deshalb bin ich hier.“

„Verschwunden … Meine Güte, Moss, wissen Sie nicht …“ begann er, sprach aber nicht weiter. Der Diener konnte unmöglich erfahren haben, was in Frankreich geschehen war. Erst gestern war die Depesche mit dem Vermerk „Streng geheim“ auf seinen Schreibtisch gekommen. Napoleon war von Elba geflohen und marschierte zurzeit in Richtung Paris.

„Seit wann haben Sie nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Devon und überlegte, was das Verschwinden des Mannes, der für die Niederlage des Kaisers von entscheidender Bedeutung gewesen war, für den englischen Geheimdienst bedeutete. Avon war nicht nur sein Freund und der Ehemann seiner Schwester, er war auch Englands Meisterspion. Sein Verschwinden zu diesem Zeitpunkt konnte kein Zufall sein.

„Beinahe drei Monate“, antwortete Moss, und Devon bekam einen gehörigen Schreck.

„Drei Monate“, wiederholte er. „Wie ist das möglich? Elizabeth hat Briefe von ihm bekommen, die …“

„… die er vor seiner Abreise geschrieben hatte. Seine Durchlaucht wusste, dass er keine Möglichkeit haben würde, der Herzogin aus Frankreich zu schreiben. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Deshalb gab er mir die Briefe. Aber jetzt habe ich keine mehr, und sie wird gewiss Verdacht schöpfen. Der Herzog hatte nicht vor, so lange fortzubleiben.“ Moss schwieg einen Moment.

„Natürlich weiß ich, dass er durchaus in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Er würde mich eine Memme nennen, wüsste er, dass ich mir Gedanken über sein Verschwinden mache. Aber drei Monate, Colonel! Da ist etwas schief gelaufen. Ich habe es geahnt, bevor er ging, und wollte es ihm schonend beibringen. Aber …“ Der Diener redete nicht weiter.

„Drei Monate“, sagte Devon nachdenklich. Er erinnerte sich an die eigene böse Vorahnung, als er an jenem Dezembermorgen in der dämmrigen Halle des herzoglichen Stadthauses gestanden hatte, wo Dominic den anderen gelassen seine Mission erklärte. Sein wichtigster Agent in Paris hatte ihm eine kurze Warnung über das Spionagenetz geschickt, das sich über ganz Frankreich erstreckte.

Nach dieser Depesche hatte der Herzog keinen Kontakt mehr zu dem Mann aufnehmen können. Deshalb war er persönlich losgezogen, um den Grund für den Zusammenbruch eines Systems herauszufinden, das ihm während des Kriegs unschätzbare Dienste geleistet hatte.

„Jemand hat sich in das Spiel eingemischt, das die Diplomaten auf dem Wiener Kongress treiben“, hatte der Herzog gesagt. „Die Einsätze sind zu hoch, als dass wir in Ruhe abwarten können, inwieweit der neue Spieler das Ergebnis beeinflusst.“

Devon erinnerte sich, was er seinem Freund an jenem kühlen Morgen geschworen hatte: „Falls du mich brauchst, Dominic, schick mir eine Nachricht. Du weißt, dass ich sofort, kommen werde, und wenn ich dafür den Schlünden der Hölle entsteigen müsste.“

Unerklärlicherweise hatte er furchtbare Angst um den Mann gehabt, von dem er sich verabschiedet hatte.

Drei Monate … Hoffentlich war die Spur nicht längst verwischt, um sie noch aufnehmen zu können.

2. KAPITEL

Frankreich, eine Woche später

Zur Belustigung der Zuschauer wehrte der Junge sich vergeblich gegen den stahlharten Griff des stämmigen Bauern und beteuerte seine Unschuld. Da sich der Beweis für seine Missetat deutlich in den Taschen seines fleckigen Kittels abzeichnete, war es ein ziemlich sinnloses Unterfangen.

Obwohl er eindeutig der Unterlegene war, fühlte sich keiner der französischen Dorfbewohner veranlasst, zu seinen Gunsten einzugreifen. Der Bauer zerrte ihn zu seinem Wagen, mit dem er Äpfel zum Markt hatte fahren wollen, und war furchtbar wütend über den wenn auch kleinen Diebstahl des Bengels.

Vergeblich trommelte der Junge mit beiden Fäusten auf den kräftigen Unterarm des Mannes, mit dem er den mageren Körper des Knaben umklammerte. Der Bauer wollte ihn auf den Wagen werfen, wo ein weiterer Mann hilfsbereit wartete. Die Äpfel hatte er ganz nach vorn geschoben und zumindest für den Moment vergessen. Viel wichtiger war es, den gefährlichen Dieb der Justiz zu übergeben.

„Du wirst keine Äpfel mehr stehlen“, versicherte der Bauer dem Jungen. Der Mann packte ihn nun auch noch mit dem anderen Arm. Wie wild stieß der Junge mit den Holzpantinen um sich, die er an den schmutzigen Füßen trug. Doch der Bauer wich ihm geschickt aus, und der Kleine verlor einen der beiden Schuhe. Die Zuschauer lachten amüsiert. Der Junge schimpfte lautstark und versuchte, mit dem anderen Fuß nach den Zehen des Mannes zu treten.

Das Kind war völlig machtlos gegenüber den Kräften des Mannes, der ihn gefangen hielt. Vielleicht erregten seine Hilflosigkeit und seine unermüdliche Gegenwehr das Mitleid des blauäugigen Fremden, der die Szene gelassen beobachtete. Er hatte sein Pferd angehalten und sich nach einer Unterkunft erkundigen wollen. In diesem Moment wurde seine Aufmerksamkeit von dem Gelächter der versammelten Menge und den schrillen Protesten des Jungen angezogen.

Eine ganze Weile saß er schon unbemerkt auf seinem Schimmel. Ohne das interessante Spektakel hätten die Leute den Fremden in ihrer Mitte gewiss längst bemerkt. Die von der Landstraße verstaubten Schaftstiefel und die Wildlederhose wiesen ihn trotz des schlichten Leinenhemds und des Lederwamses als Angehörigen eines Standes aus. Wegen der strahlenden Märzsonne an diesem Nachmittag hatte er seinen Wollmantel ausgezogen und in die Satteltasche gepackt.

Der Junge ist völlig wehrlos, dachte er erneut, während er den ungleichen Kampf beobachtete. Von den eigenen Erinnerungen getrieben, drängte er sein gut ausgebildetes Pferd zwischen die Versammelten.

Widerstrebend teilte sich die Menge, und der Reiter blieb vor dem Obstbauern stehen, der den zappelnden Burschen fest im Griff hatte.

„Lass ihn laufen“, sagte der Fremde leise. Bei dem ruhigen Befehlston mit dem leichten Akzent hielten alle unwillkürlich den Atem an, sogar der wild um sich schlagende Junge. Mit seinen dunklen Augen in dem schmalen, erstaunlich schmutzigen Gesicht blickte er ihm hoffnungsvoll entgegen.

Sein Retter saß militärisch aufrecht auf einem gewaltigen Pferd. Während der Knabe ihn beobachtete, zog der Unbekannte eine Münze aus dem Wams, die mehr wert war als die ganze Apfelfuhre, und warf sie dem Bauern vor die Füße.

Wie angewurzelt blieb der Mann stehen und reagierte nicht auf das großzügige Angebot. Die Dorfbewohner begannen ungläubig zu murmeln und wunderten sich, weshalb er zögerte, solch ein Geschenk der Vorsehung anzunehmen.

„Lass ihn laufen“, wiederholte der Mann ebenso ruhig wie zuvor. „Deine Äpfel sind mehr als bezahlt.“

Der brutale Kerl, der den Burschen immer noch hielt, betrachtete das Gesicht des Fremden über sich aufmerksam. Die gerade Nase des Reiters war ein wenig von der Sonne verbrannt, und das markante Kinn war entschlossen vorgeschoben. Doch erst der Blick in die dunkelblauen Augen veranlasste den Bauern, seine wulstigen Finger von dem Gefangenen zu lösen und die Goldmünze aufzuheben, die verlockend im Straßenstaub glänzte.

Wie der Blitz schoss der Junge davon und flüchtete sich an die staubigen Stiefel seines Retters, die in den Steigbügeln eines abgenutzten, aber zweifellos teuren Sattels steckten. Juliette sah zu ihrem Helden auf und bemerkte das verräterische Zucken um dessen Mundwinkel. Dann wendete der Fremde sein Pferd in Richtung Gasthof.

Plötzlich bekam Juliette furchtbare Angst, denn ihr wurde klar, dass sie dem Bauern erneut schutzlos ausliefert war. Die guten Dorfbewohner würden sich auch jetzt nicht rühren. Rasch nahm sie ihren Platz neben dem Vollblüter wieder ein. Der Reiter schien keine Eile zu haben. Mühelos konnte sie mit ihm Schritt halten.

Sie spürte, dass der Reiter sie mit seinen blauen Augen beobachtete, und hüpfte auf einem Fuß, bis sie auch den zweiten Holzschuh abgestreift hatte, obwohl der Boden noch sehr kalt war. „Möchten Monsieur einen Führer?“ bot sie hilfsbereit an.

Prüfend betrachtete der Mann ihr Gesicht.

„Kennst du das ‚Weiße Pferd‘?“ fragte er nachdenklich.

„Natürlich“, versicherte sie ihm und ging vor dem langsam trabenden Tier her.

Der Reiter wollte nicht zum Eingang des Gasthofs, der im Schatten dichter Bäume stand, sondern lenkte sein Pferd direkt zu den Ställen.

Auf der Schwelle blieb Juliette stehen und schnupperte wie ein Welpe. Ein Geruch nach Heu, geöltem Leder, Pferden und Jauche erfüllte die Luft. Sie atmete tief ein und stellte fest, dass der Fremde sie ebenso eindringlich ansah wie zuvor den brutalen Bauern. Jetzt zog er eine weitere Münze hervor, und geschickt fing sie das Geldstück auf.

Es war nicht so viel wert wie jenes, mit dem der Fremde ihren Peiniger bestochen hatte, aber eine mehr als großzügige Belohnung für den kleinen Dienst, den sie dem Fremden erwiesen hatte.

Flüchtig lächelte er, als er ihre Geschicklichkeit bemerkte. „Danke“, sagte er und ritt mit seinem Tier den schmalen Gang zwischen den Boxen entlang.

Juliette betrachtete die Münze und blickte dem Fremden nach, der langsam vom Pferd stieg. Er verzog einen Moment sein hübsches Gesicht und fluchte vernehmlich auf Englisch. Ein Engländer! dachte sie. Das erklärte vieles. Der Fremde rollte die Schultern, reckte seine Rückenmuskeln und seufzte tief.

Juliettes Lippen zuckten unwillkürlich. „Monsieur ist das Reiten nicht gewöhnt?“ fragte sie treuherzig. Die schmerzenden Muskeln ließen darauf schließen, dass es sich um einen unerfahrenen Reiter handelte, der zu viele Stunden im Sattel verbracht hatte.

Der Engländer, der schon auf einem Pferd gesessen hatte, bevor er laufen konnte, sah sie bei der unerwarteten Frage erstaunt an, ehe er lachte.

„Offensichtlich nicht“, stimmte er ihr zu. „Zumindest nicht mehr.“ Immer noch lächelnd, fuhr er fort: „Worauf wartest du noch? Das Abenteuer ist vorbei. Geh nach Hause, und bitte deine Mutter, ein Gebet für alle Dummköpfe dieser Welt zu sprechen“, forderte er sie auf.

Juliette nickte widerstrebend. Ohne den Fremden aus den Augen zu lassen, biss sie auf die Münze, um deren Echtheit zu prüfen. Zufrieden wandte sie sich ab und trat aus dem dunklen Stall in die Nachmittagssonne hinaus.

Ein Engländer, dachte sie erneut. Kein Wunder, dass der Fremde ihr zu Hilfe geeilt war. Die Engländer waren dafür bekannt, dass sie Drachen töteten und junge Mädchen aus deren Fängen retteten. Vor allem blonde junge Mädchen. Amüsiert lächelte sie vor sich hin.

Juliette war in Gedanken so mit ihrem Retter beschäftigt, dass sie den Mann nicht bemerkte, der auf der anderen Seite des Hofes wartete. Sie schob die kalten Hände tief in die Taschen und entdeckte überrascht einen Apfel, den der Bauer hineingestopft hatte, um seinen Angriff zu rechtfertigen. Sie biss hinein, verzog das Gesicht und spuckte den sauren Brocken sofort wieder aus.

Gerade wollte sie auch den restlichen Apfel wegwerfen, da wurde ihr Arm nach hinten gedreht und eine Hand auf ihren Mund gelegt.

„Du bist sehr klug“, flüsterte der Mann in die zerzausten kurzen Locken, die den Kopf des jungen Mädchens umrahmten. „Aber nicht so klug, um jemand wie mich auszutricksen.“

Im nächsten Moment schrie er leise auf, denn Julie hatte ihn kräftig in die Hand gebissen, mit der er ihr den Mund verschloss.

Wütend schlug der Mann ihr ins Gesicht und stopfte ihr blitzschnell ein schmutziges Taschentuch als Knebel in den Mund.

Die Arme wurden ihr nach hinten gedreht, und sie wurde brutal auf das Fuhrwerk geworfen. Wie betäubt blieb sie einige Minuten liegen. Dann erkannte sie, dass ihre jetzige Situation erheblich misslicher war als vorhin, denn der Wagen fuhr los und wurde immer schneller.

Doch die Zugpferde waren nur zwei armselige Klepper und dem muskulösen Wallach des Fremden nicht gewachsen, der seinen Herrn heute schon viele Meilen getragen hatte.

Tief über den Hals des Tieres gebeugt, galoppierte der Reiter dem Fuhrwerk hinterher und verkürzte rasch die Entfernung. Erst als er sich aufrichtete und Juliette etwas zurief, merkte sie, dass er sattellos ritt.

Verblüfft erkannte sie, was ihr Retter vorhatte, befreite sich von dem Knebel und kroch ans Wagenende.

Sie hörte seinen knappen Befehl durch das Hufgeklapper und das Rattern des Wagens kaum, aber sie verstand, was er wollte.

„Spring!“ forderte der Fremde sie auf, und sie zögerte keine Sekunde. Mühelos überwand sie den Abstand zwischen der Rückseite des Wagens und dem galoppierenden Pferd. Der Reiter fing sie zu tief auf, so dass sie einige Sekunden lang mit dem Gewicht ihres schlanken Körpers an einem Arm hing.

Fest sahen sie sich an und wussten beide, dass Worte nichts an dem Ergebnis seiner Anstrengungen oder den Folgen seines Scheiterns ändern würden. Mit letzter Kraft zog Devon Juliette sicher zu sich hinauf. Einen Moment wurde ihm Schwarz vor Augen, und er versuchte verzweifelt, nicht das Bewusstsein zu verlieren, während sie ihm vertrauensvoll die Arme um den Nacken legte.

Endlich hatte er sich trotz der viel zu harten Belastung seiner Rückenmuskeln wieder in der Gewalt und schlang den linken Arm um Juliettes schmale Taille.

„Diesmal keine Äpfel?“ fragte Devon leise und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, welche Anstrengung ihn ihre Rettung gekostet hatte.

„Nein, keine Äpfel“, antwortete sie ebenso gespielt ernst.

Er ergriff die Zügel und wendete sein Pferd in die entgegengesetzte Richtung. Doch der Kampf, sie in die Höhe zu ziehen, hatte gefährlich lange gedauert.

Juliette spürte, wie ihr Retter unter dem Schuss zusammenzuckte, den sie von Beginn an angstvoll erwartet hatte. Er presste die Hacken in die schweißüberströmten Flanken des Pferdes, beugte sich schützend über den zarten Körper, von dem er jetzt wusste, dass er keinem Jungen gehörte, und galoppierte vor seinem hartnäckigen Verfolger davon.

Der erschöpfte Wallach vermochte nur noch zu traben, und schon vor einigen Minuten hatte Devon zu zittern begonnen.

„Ich weiß einen Platz, wo wir uns verstecken können“, sagte Juliette, denn sie wusste jetzt, wo sie waren. „Er ist ganz in der Nähe“, fuhr sie zuversichtlich fort.

„Egal, wo er ist“, stieß Devon hervor. „Hauptsache …“

Der muskulöse Arm löste sich, mit dem er sie während des wilden Ritts sicher gehalten hatte, und ohne jede Vorwarnung rutschte Devon vom Pferderücken zu Boden.

Erschrocken sprang Julie hinunter und kniete sich neben ihren Retter. Sanft berührte sie seine Stirn und streichelte, ohne zu überlegen, seine stoppelige Wange. Devon warf den Kopf unruhig hin und her und stöhnte leise. Trotz der Dunkelheit bemerkte sie das Blut auf seinem weißen Hemd. Es war so viel, dass sie die Wunde ohne ausreichendes Licht unmöglich erkennen und erst recht nicht verbinden konnte.

Sie sah auf und blickte prüfend die vom Mond beschienene Straße entlang. Kein Geräusch war zu hören. Vielleicht hatte ihr Verfolger aufgegeben. Ihr blieb keine Wahl. Das Zigeunerlager war ziemlich nahe. Trotzdem ließ sie den verletzten Mann ungern allein, um Hilfe zu holen.

Entschlossen zog Julie den erschöpften Wallach zu einem nahen Baumstumpf und setzte mühsam auf. Mit den nackten Hacken trat sie gegen die schweißbedeckten Flanken des Tieres. Es drehte den Kopf noch einmal zu der Gestalt, die reglos am Boden lag. Dann überließ es sich der Führung der zarten Finger, die seine Zügel ergriffen hatten.

Später ruhten dieselben kühlen Finger auf Devons Stirn, und sein Bewusstsein kehrte allmählich zurück. Gedämpfte Geräusche drangen an sein Ohr, und kurz darauf öffnete er die Augen.

Eine Klinge blitzte im Schein der Öllampe, und er fragte sich, was das Mädchen mit dem Messer vorhatte. Endlich wurde sein Blick so klar, dass er sah, wie gefährlich nahe sie die Spitze an seinen Körper führte. Blitzschnell packte er ihr zartes Handgelenk und blickte in das schmutzige Gesicht seiner Begleiterin. Er verdrehte ihre Hand ein wenig, und das Messer fiel auf den Holzboden, auf dem er saß. Sein Rücken lehnte an etwas Hartem.

„Was haben Sie vor?“ fuhr Devon Juliette heiser an und erkannte die eigene Stimme kaum wieder.

„Beruhigen Sie sich“, sagte sie besänftigend. „Ich wollte gerade Ihren Ärmel aufschlitzen.“

„Warum?“ fragte er und überlegte angestrengt, weshalb er hier war. Er schloss die Augen wieder, denn er war von dem Blutverlust zu geschwächt. Immer wieder hatte er das Bewusstsein verloren, während man ihn auf einen Ponykarren geladen und hierher gebracht hatte. Er erinnerte sich an andere Stimmen. Männliche Stimmen. Aber alles machte nicht viel Sinn.

Endlich öffnete Devon die Lider wieder und stellte fest, dass zwei dunkelbraune Augen ihn aufmerksam betrachteten. Es waren dieselben Augen des Mädchens, das ihm am Nachmittag so tapfer entgegengeblickt hatte, als er es beinahe unter die tödlichen Hufe seines Wallachs hatte fallen lassen. Sie waren wunderschön und passten überhaupt nicht zu dem verschmutzten Gesicht und den zerzausten schwarzen Locken, die es umrahmten.

„Weshalb sind Sie wie ein Junge gekleidet?“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Juliette leise. Sie hob das Messer auf und ließ es im Bund ihrer formlosen Hose unter dem Hemd verschwinden. „Niemand sonst …“

„Wahrscheinlich ist noch niemand meilenweit mit Ihnen geritten und hat Sie dabei an seinen Körper gepresst. Sie mögen zwar eine knabenhaft schlanke Figur haben …“

„Knabenhaft?“ unterbrach ihn die unbestrittene Göttin der Pariser Halbwelt erstaunt. Sie senkte die Wimpern etwas und lächelte ihn verführerisch an. Überrascht stellte sie fest, dass ihr Retter kein bisschen von ihrem koketten Gehabe beeindruckt war.

„Einen sehr überzeugenden knabenhaften Körper“, versicherte er und schloss erneut die Augen.

Juliette wunderte sich, wie verärgert sie über diese Bemerkung war. Natürlich hatte sie dies gewollt. Mit beachtlichem schauspielerischem Talent hatte sie sich in die Rolle eines Jungen hineingefunden und war äußerst zufrieden mit ihrer Leistung gewesen. Deshalb begriff sie nicht, weshalb ihr die Äußerung dieses Mannes über ihre gelungene Verkleidung nicht gefiel.

„Lassen Sie mich das machen“, hörte Devon eine andere Stimme. Sie hatte die Männer angeleitet, die ihn in dieses Lager gebracht hatten.

Ungeduldig schob der Anführer der Zigeuner Juliette beiseite und ergriff Devons Ärmel. Er ließ die Spitze des eigenen Messers rasch hineingleiten und schlitzte den Stoff geschickt auf. Daraufhin fasste er die beiden Seiten und zog sie so weit auseinander, bis das Einschussloch freilag. Er drehte den Arm etwas, damit er die Wunde in dem schwachen Licht besser sehen konnte.

Devon keuchte unwillkürlich und biss energisch die Zähne zusammen, um trotz seiner Schmerzen keinen weiteren Laut von sich zu geben.

„Bewegen Sie Ihre Finger“, forderte der alte Mann ihn auf, und Devon stellte erleichtert fest, dass es ihm keine Mühe bereitete.

„Und jetzt das Handgelenk.“

Wieder führte Devon die Anweisung aus.

„Nichts gebrochen“, erklärte der Zigeuner zufrieden und griff nach etwas auf einem Tisch hinter sich. Seine goldenen Ohrringe schimmerten durch das silbergraue Haar. Jetzt blickte Devon zu dem Mädchen, das jetzt neben ihm kniete und eine Laterne hielt. Irgendetwas an ihrem herzförmigen Gesicht machte ihn stutzig.

„Hier“, sagte der alte Mann und reichte ihm eine Steingutflasche.

Als Devon zögerte, schüttelte der Zigeuner sie. „Es ist Whisky. Trinken Sie einen Schluck“, forderte er ihn auf. „Sie werden ihn brauchen.“

„Weshalb?“ wollte Devon wissen.

„Weil ich Ihre Wunde reinigen muss. Es ist nur eine Fleischwunde. Die größte Gefahr besteht darin, dass sie sich entzündet. Wenn wir das verhindern können …“

„Und wie?“ erkundigte er sich leise und ließ den alten Mann nicht aus den Augen.

Der Zigeuner hob die Flasche wieder hoch. „Schon die Römer benutzten Alkohol, um die Heilung zu beschleunigen“, erklärte er.

Devon holte tief Luft, nahm die Flasche und trank, so lange und so viel er konnte. Die Flüssigkeit brannte ebenso stark wie die Wunde.

Mit dem linken Ärmel wischte er sich über den Mund und reichte dem alten Mann den Whisky.

„Halten Sie seinen Arm“, forderte der Zigeuner Juliette auf. Als sie erschrocken zusammenzuckte, lachte er verächtlich.

„Wenn Sie ohnmächtig werden, hole ich lieber einen meiner Männer.“

Da er Juliette während der Wochen, die sie bei ihm und seinen Leuten im Lager gewesen war, ziemlich gut kennen gelernt hatte, wunderte er sich nicht, dass sie einen Moment zu Boden schaute, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen. Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Blick ebenso ruhig wie der von Devon, der an der Wand des Wohnwagens lehnte und sie aufmerksam beobachtete.

„Ich werde nicht ohnmächtig“, erklärte sie fest und fasste Devons Hand. Mit der anderen Hand stützte sie seinen Ellbogen und hielt seinen Arm dem alten Mann zur Behandlung hin. Ihre Finger zitterten kein bisschen.

Der Alkohol brannte genauso schrecklich, wie Devon es befürchtet hatte. Unwillkürlich krallte er die Finger um Juliettes zarte Hand, die seine immer noch hielt. Doch nach dem ersten Keuchen, als der Alkohol die offene Wunde berührte, kam kein Laut mehr über seine Lippen.

Endlich war alles vorbei. Erstaunlich sanft entfernte der alte Mann die rosa gefärbte Flüssigkeit sowie das kräftig fließende Blut und verband die Wunde danach mit Baumwollstreifen. Zum Abschluss drückte er den verletzten Arm fest an Devons Bauch.

Er öffnete die Augen, und der Zigeuner reichte ihm erneut den Whisky. Während Devon trank, stellte er fest, dass das Mädchen den Wohnwagen verlassen hatte. Er war froh darüber und wollte die Flasche zurückgeben.

„Behalten Sie sie“, sagte der alte Mann. „Sie werden sie noch brauchen.“

Erneut schloss Devon die Augen und lehnte den Kopf an die harte Wand hinter sich. Wahrscheinlich hatte der Zigeuner Recht.

Juliette stand draußen und atmete in tiefen Zügen die kühle Nachtluft ein.

„Ich werde nicht ohnmächtig“, hatte sie drinnen erklärt. Erst jetzt merkte sie, wie nahe sie diesem Zustand trotz ihrer Beteuerung gewesen war.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen schob der alte Mann den Vorhang des Wohnwagens beiseite, in dem Devon lag. Weil ihm keine Wahl blieb, ließ Devon sich bei der Morgentoilette helfen. Der Zigeuner untersuchte die Wunde und erneuerte den Verband. Devon war ihm unendlich dankbar, dass er die Prozedur mit dem Whisky trotz der eindeutigen Schwellung der Wundränder und des leichten Fiebers, das ihn erfasst hatte, nicht wiederholte.

Nachdem der alte Mann wieder gegangen war, legte Devon sich auf das schmale Bett zurück und überlegte, wie wertlos er für den Duke of Avon geworden war. Und das nur, weil er unbedingt ein Zigeunermädchen hatte retten wollen, das aus irgendeinem Grund als Junge verkleidet gewesen war. Wahrscheinlich wurde seine Reise nach Frankreich tatsächlich zu jener Irrfahrt, die er befürchtet hatte.

Devon öffnete nicht einmal die Augen, als er hörte, wie jemand die Stufen des Wohnwagens heraufkam. Inständig hoffte er, der Besucher würde annehmen, er schliefe fest, und ihn in Ruhe lassen.

Erst als Juliette nahe an das niedrige Bett herangetreten war, roch er den Eintopf, den sie in einer Tonschüssel gebracht hatte, und schaute hoch.

Sie war heute wie ein Mädchen gekleidet. Ihr schimmerndes schwarzes Haar kräuselte sich zu Locken und war mit einem weinroten Seidenband geschmückt. Das Gesicht hatte sie sich sauber gewaschen. Die nackten Schultern hatten einen etwas dunkleren Ton als die tief ausgeschnittene Bauernbluse. Bewegte sich Juliette, so schwang der lange gemusterte Rock um ihre schmalen Fesseln und ihre Füße, die in Sandaletten steckten.

Julie wartete, dass sich die Wirkung ihrer sorgfältigen Aufmachung in der Miene des Mannes abzeichnete, der sie schweigend betrachtete. Immer wieder hatte man ihr versichert, wie schön sie sei. Trotzdem hatte sich ihr Ärger darüber, dass Devon ihren Körper als „überzeugend knabenhaft“ bezeichnet hatte, noch nicht gelegt. Sie wartete auf die gewohnte Bewunderung und wurde erneut von dem prüfenden Blick seiner dunkelblauen Augen enttäuscht.

Kein Wunder, dass ich sie für ein Kind gehalten habe, dachte Devon, der die zierliche Julie eingehend musterte. Zwar ließ sich ihre Schönheit nicht leugnen, doch sie war genau das Gegenteil dessen, was er bisher an einer Frau geliebt hatte. Deshalb wunderte er sich über seine Reaktion, die diese erstaunliche Verwandlung hervorrief.

Einen Moment erinnerte er sich an Elizabeth, die für sein Empfinden alle Merkmale weiblicher Schönheit aufwies. Ihre kühle, zurückhaltende Art, ihre Eleganz, das fein geschnittene Gesicht hatten ihm stets den Atem geraubt. Er begriff nicht, weshalb ihn eine Frau plötzlich anzog, die diesem Ideal völlig widersprach. Gewiss war seine Reaktion auf den verlockenden Duft des Essens zurückzuführen und nicht auf das hübsche schlanke Mädchen, das es gebracht hatte.

„Ich dachte, Sie wären vielleicht hungrig“, sagte Julie und betrachtete den Engländer aufmerksam. Seine Lippen waren jetzt fest zusammengepresst, und die Züge um den Mund kamen ihr zu ausgeprägt für sein Alter vor.

„Nein“, erklärte er bestimmt, und sie bemerkte bei ihm denselben Stolz, den sie von ihrem englischen Vater kannte.

„Ich habe nicht die Absicht, Sie zu füttern“, sagte sie und streckte Devon die Hand hin.

Der schwankte nur einen kurzen Augenblick zwischen Stolz und Hunger, ehe er sich von ihr aufhelfen ließ. Sobald er auf der Bettkante saß, stellte sie die gefüllte Schüssel auf den kleinen Tisch im Mittelgang des Wohnwagens. Sie schob die wenigen Sachen beiseite, die darauf lagen, holte einen kleinen Brotlaib aus der Rocktasche, der in eine saubere Serviette gewickelt war, und legte ihn neben die Schüssel. Anschließend schenkte sie einen Becher Wasser aus dem Krug ein, den sie gestern Abend für Devon bereitgestellt hatte. Er hatte es nicht bemerkt, denn er war infolge des starken Blutverlusts, der Wirkung des Whiskys und der Erschöpfung sofort eingeschlafen.

Plötzlich erkannte er, dass Juliette ihre Vorbereitungen für seine Mahlzeit abgeschlossen hatte und auf ihn wartete.

Mit der linken Hand fasste er den Bettpfosten und zog sich hoch. Zwar bewegte er sich nicht gerade geschmeidig, aber er war auf den Füßen. Erst jetzt merkte er, dass sie ihn beobachtete und seine Bewegungen aufmerksam verfolgte. Das Hinsetzen würde ihm ebenso schwer fallen.

Was macht das schon, dachte er verächtlich. Angesichts seines Zustands vor sechs Monaten konnte er froh sein, dass seine Beeinträchtigung nach der Heldentat von gestern nicht viel größer war. Er legte die linke Hand flach auf den Tisch, hoffte, dass das Möbelstück stabiler war, als es aussah, und ließ sich langsam auf dem Stuhl nieder.

Diesmal warf er Juliette nicht einmal einen Blick zu. Mit der linken Hand nahm er den Löffel und begann zu essen. Trotz seines Hungers und der Tatsache, dass er die falsche Hand dazu benutzen musste, ließen seine Manieren nichts zu wünschen übrig.

Juliette hatte keinen Zweifel, was dies bedeutete. Die Art des Engländers zu sprechen, seine Sachen, selbst seine Ausrüstung und sein wertvolles Pferd wiesen ihn als Angehörigen eines Standes aus, der ihresgleichen nur wegen der „Dienste“ tolerierte, die sie ihm leisten konnte. Zum Glück bemerkte er ihr spöttisches Lächeln nicht.

Er griff nach dem kleinen Brot und erkannte im selben Moment, dass er es unmöglich mit einer Hand brechen konnte. Da er keinesfalls in den ganzen Laib beißen wollte, verzichtete er darauf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Eintopf. Im Vergleich zu den kargen Mahlzeiten, die er in Spanien bekommen hatte, war dies ein wahres Festmahl.

Julie merkte, was in ihm vorging. Wie selbstverständlich nahm sie das Brot und begann, es in kleine Stücke zu brechen. Devon bemerkte eine leichte Schwellung an ihrer linken Hand und überlegte, ob die Verletzung von dem Streit mit dem Obstbauern stammte.

„Danke“, sagte er, nachdem sie das Brot in mundgerechte Portionen aufgeteilt hatte.

„Was ist mit Ihrem Rücken passiert?“ fragte Julie leise. Er hatte geahnt, dass diese Frage kommen würde. Trotzdem hatte er gehofft, dass Julie sie nicht stellen würde.

Den Kopf gesenkt, betrachtete Devon einen Moment das würzige Fleisch in der Schüssel. Juliette sah nur das kurz geschnittene kastanienbraune Haar ihres Retters, das im Licht schimmerte, und die Hand, die den Löffel hielt. Als Devon endlich aufschaute, blitzten seine Augen überraschenderweise belustigt.

„Nun“, begann er wie ein Geschichtenerzähler. „Es war einmal ein Junge, der beim Apfelstehlen erwischt worden war und …“

„Nein“, unterbrach Juliette Devon sofort. „Ich habe es schon vorher bemerkt. Im Pferdestall. Deshalb glaubte ich, Sie wären kein geübter Reiter.“

Sie sprach nicht weiter, und Devon stellte fest, dass sie seine Reitkünste soeben in Frage gestellt hatte. Eine förmliche Entschuldigung konnte er wohl nicht erwarten. Doch damit war ihre Frage noch nicht beantwortet.

„Schrapnell“, verkündete er kurz angebunden und aß wieder von dem Eintopf. Das musste als Erklärung genügen.

„Schrapnell?“ wiederholte Juliette erstaunt. „Dann waren Sie Soldat?“

Devon schwieg. Die Aufgabe seines Berufs gehörte zu jenen Themen, über die er nicht ohne innere Erregung sprechen konnte. Er hatte es nicht einmal versucht, außer mit seinem Vater.

„Merkwürdig“, begann Julie, und Devon sah auf, weil sie leise lachte. „Ich hatte geglaubt, Sie wären etwas ganz anderes.“ Prüfend betrachtete sie seine müde blickenden Augen.

Er neigte den Kopf zur Seite und wartete.

„Ein Aristokrat“, wagte sie sich weiter vor. „Ein sehr reicher Mylord“, fügte sie spöttisch hinzu.

„Und die mögen Sie nicht?“ fragte er. „Dann wird es Sie freuen, zu hören, dass ich keiner bin.“

„Sie tragen keinen großartigen englischen Titel?“

„Aber auch nicht den niedrigsten“, versicherte er ihr und verzog die Mundwinkel zu jenem Lächeln, das ihr gestern schon so gefallen hatte.

„Vielleicht fehlt mir der Respekt vor dem Adel, weil ich während der Revolutionsjahre aufgewachsen bin“, meinte Julie. In Wirklichkeit lag es an der Behandlung, die sie von den Männern dieses Standes erfahren hatte. Die unschicklichen Anspielungen, die eindeutigen Angebote, der Glanz in den lüsternen Augen … Sie hatte nichts Bewundernswertes an den Adeligen entdeckt, die das Kasino ihres Vaters bevölkerten.

„Auch Bonapartes neuer Aristokratie war es nicht gelungen, mich umzustimmen“, gab sie aufrichtig zu. „Kennen Sie einen einzigen Adeligen, der seines Titels würdig wäre?“ fragte sie herausfordernd.

„So spricht eine echte Revolutionärin“, antwortete Devon und lächelte über die verständliche Rebellion des Zigeunermädchens. „Kein Wunder, dass die königlichen Familien ganz Europas bei dem Gedanken an die Verbreitung dieser Meinung zittern. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich kenne Adelige, die ihrem Titel und ihrer Stellung gerecht werden“, fuhr er fort und dachte an den Mann, den er unbedingt finden musste. „Nicht nur Reiche und Mächtige missbrauchen ihre Position. Ich dachte, davon hätte Robespierres Blutbad auch den letzten überzeugt.“

„Ich war damals nicht in Paris“, sagte Juliette und schwieg gleich darauf erschrocken. Niemandem durfte sie trauen, nicht einmal einem Menschen, der sein Leben für sie gewagt hatte. Es war schon gefährlich genug, dass sie hierher zurückgekehrt war. Wenn Fouchés Leute ihre Spuren bis in das Dorf verfolgen konnten, in dem sie nach dem Aufenthalt bei den Zigeunern gelebt hatte, würden sie gewiss auch herausbekommen, wo sie gewesen war, bevor sie sich in einen Waisenjungen verwandelt hatte. Und dann …

„Meinen Sie, dass Sie ein Rasiermesser für mich auftreiben könnten?“ fragte Devon plötzlich und holte sie damit in die Gegenwart zurück. „Ich würde dies hier gern loswerden.“ Er hatte seinen Eintopf inzwischen gegessen und strich sich mit den langen gebräunten Fingern über die raue Wange.

Julie verfolgte die Bewegung und überlegte, welche Farbe sein Bart wohl hätte, wenn er ihn wachsen ließe.

Plötzlich merkte Julie, dass ihre Gedanken in eine viel zu persönliche Richtung abschweiften. Alles Mögliche an diesem Mann fiel ihr auf: sein Lächeln, die dichten Wimpern, die seine blauen Augen umrahmten, und die Lachfältchen an den Winkeln zu beiden Seiten. Du liebe Güte, dachte sie. Ich fühle mich ja zu dem Engländer hingezogen.

Dies widersprach derart ihrer sonstigen argwöhnischen Haltung gegenüber den Männern, dass sie ihrem Eindruck zunächst nicht traute. Nachdenklich betrachtete sie Devons markantes Gesicht und seine schön geschwungenen Lippen … O nein, nicht schon wieder, ging es ihr durch den Kopf und wunderte sich, dass der Engländer sie so merkwürdig ansah. Dann fiel ihr ein, dass er auf eine Antwort von ihr wartete. Was hatte er gefragt? Sie überlegte angestrengt. Ach ja, es ging um ein Rasiermesser.

„Wollen Sie sich mit der linken Hand rasieren?“ stieß sie mühsam hervor.

„Ich habe gedacht … Vielleicht könnten Sie …“

„Ich habe noch nie einen Mann rasiert“, flüsterte Julie. Nervös räusperte sie sich und sah zu Boden.

„Nun, schlimmer, als würde ich es mit der linken Hand versuchen, kann es gewiss nicht werden“, meinte er lachend.

Julie schaute hoch und blickte ihm direkt in die strahlenden Augen. Plötzlich wurden ihr die Knie weich.

Was ist bloß mit mir los? fragte sie sich verärgert. In Wirklichkeit wusste sie es genau. Schon der Gedanke, diesen Mann zu berühren, sein Gesicht anzufassen und so nahe bei ihm zu stehen, dass sie ihn rasieren konnte, verwirrte sie restlos.

„Eigentlich müsste ich ja den alten Zigeuner darum bitten. Aber die Vorstellung, dass er ein Rasiermesser dicht an meinem Hals hält …“ Devon beendete den Satz nicht, sondern lächelte erneut und wartete, dass sie auf seinen Scherz einging.

Julie reagierte nicht darauf. Was habe ich falsch gemacht? überlegte Devon. Gleich darauf wurde ihm klar, dass er das Zigeunermädchen soeben tief gekränkt hatte. Der alte Mann war so nett gewesen, ihn bei sich aufzunehmen, und er, Devon, hatte ihn zum Dank dafür beleidigt. Vielleicht waren die beiden sogar verwandt.

„Er ist Ihr Vater, nicht wahr? Tut mir Leid. Ich hatte Sie nicht kränken wollen, sondern …“

„Mein Vater?“ wiederholte Julie ungläubig und dachte an den würdigen englischen Aristokraten, der seine einzige Tochter gehätschelt und verwöhnt hatte. „Nein, er ist nicht mein Vater“, wehrte sie hitzig ab. „Sie haben Recht. Er würde Ihnen die Kehle durchschneiden, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn es sich für ihn lohnte.“

Erbost wandte sie sich ab und ließ Devon allein.

Er blickte auf den Vorhang, der noch eine ganze Weile nach Juliettes dramatischem Abgang hin und her schwang.

„Er ist nicht mein Vater“, hatte sie gesagt. Weshalb hatte sie sich so heftig gegen seine, Devons, Vermutung gewehrt?

Der alte Mann und das hübsche dunkelhaarige junge Mädchen … Der Gedanke war ebenso abstoßend wie das Bild von Elizabeth und March. Devon erinnerte sich, wie Juliette mit ihren schlanken Fingern seinen Arm berührt und seine stoppelige Wange gestreichelt hatte. Die Vorstellung, dass diese Finger ebenso verlockend durch die silbergrauen Locken des Zigeuners gleiten könnten, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Obwohl sich ihre wilde, exotische Schönheit nicht mit der vollkommenen von Elizabeth messen konnte, ließ ihn das Mädchen nicht gleichgültig.

Devon blieb am Tisch sitzen. Rhythmisch bewegte er die geschwollenen Finger seiner rechten Hand und verdrängte jeden Gedanken an Juliette. Kurz darauf schwankte der Wohnwagen erneut und kündete den nächsten Besucher an. Devon sah auf und merkte, dass der Zigeuner ihn interessiert beobachtete.

„Schmerzen die Finger?“ fragte der alte Mann. „Meinen Sie, die Bewegung hilft dagegen?“

„Schaden kann sie jedenfalls nicht“, antwortete Devon kurz angebunden, der keine Lust hatte, mit dem Zigeuner zu sprechen. Er konnte sich noch so oft ermahnen, dass ihn die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem Mädchen nichts anging. Deshalb war er nicht nach Frankreich gekommen. Er musste sich ausschließlich auf seine Aufgabe konzentrieren. Doch es half alles nichts.

„Es spielt sowieso keine Rolle“, meinte der Zigeuner und war offensichtlich bester Laune. „Julie ist sehr geschickt“, schloss er und dachte an den äußerst lukrativen Vorschlag, den sie ihm gerade gemacht hatte.

Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass Devon plötzlich die Hand zur Faust ballte. Die Engländer sind ein seltsames Volk, dachte er. Doch er war nicht in den Wagen gekommen, um mit dem Mann über die Kunstfertigkeit zu reden, die er soeben bei Julie entdeckt hatte.

„Ich habe Ihnen ein Hemd gebracht“, erklärte er und legte das indigoblaue Kleidungsstück auf den Tisch.

Devon löste die Faust und berührte den weichen Stoff.

„Ich kann nicht dafür bezahlen“, erwiderte er und riss sich zusammen. „Mein ganzes Geld war in meinen Satteltaschen. Ich habe sie im Stall des Gasthofs gelassen, als ich dem Mädchen nachritt.“

„Das macht nichts“, wehrte der alte Mann seinen Einwand ab. „Sie wird mich reichlich für das Hemd entschädigen.“

Devon sprang auf, und sein Stuhl stürzte nach hinten. „Das kommt nicht in Frage“, erklärte er wütend. „Ich weiß nicht, was für eine Vereinbarung Sie mit ihr getroffen haben. Aber auf diese Weise wird sie nicht dafür bezahlen.“ Er packte das Hemd, knüllte es zusammen und schleuderte es dem alten Mann gegen die Brust. Es rutschte unbeachtet zu Boden.

Verblüfft sah der Zigeuner ihn an. Dann wurde ihm mit einemmal klar, weshalb Devon so zornig war.

„Meinen Sie etwa …“ begann er und winkte verächtlich ab. „Sie glauben, dass ich mich mit jungen Mädchen vergnüge“, fuhr er spöttisch fort. „Dabei habe ich Enkel, die älter sind als sie. Meine Frau würde Julie die Kehle durchschneiden und mir wahrscheinlich auch“, fügte er belustigt hinzu.

Die Unterstellung des Engländers schmeichelte seiner Eitelkeit sehr. Das würde eine gute Geschichte ergeben.

„Wie sollte sie sonst …“ fragte Devon und wurde sofort unterbrochen.

„Das muss Sie Ihnen selber sagen. Julie ist ebenso mein Gast wie Sie, in diesem Fall ein zahlender Gast, und hat ihre eigenen Geheimnisse. Ich habe nicht gefragt, was ein englischer Adeliger in – diesen unruhigen Zeiten in Frankreich zu suchen hat“, bemerkte der alte Mann, seine Worte sorgfältig wählend.

An seiner vorsichtigen Ausdrucksweise erkannte Devon, dass der Zigeuner von Napoleons langsamem, aber unerbittlichem Marsch auf die Hauptstadt wusste. Aus welcher Quelle bezog der Zigeuner seine Nachrichten?

„Ich habe auch Julie nicht gefragt, weshalb sie hier ist“, fuhr er fort.

„Sie ist kein Mitglied Ihres …“ Devon zögerte, denn er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.

„Meines Harems?“ schlug der alte Mann spöttisch vor und zog die buschigen weißen Brauen hoch. „Sie gehört auch nicht zu meiner Familie“, ergänzte er, als Devon verlegen den Kopf schüttelte.

Daraufhin drehte der Zigeuner sich um und wäre beinahe auf das zerknüllte Hemd getreten. Entschlossen hob er es auf und warf es Devon zu. Zu seinem Erstaunen reagierte der Engländer blitzschnell, denn er griff sofort zu.

„Betrachten Sie es als Geschenk“, erklärte der alte Mann, schob den Vorhang beiseite und stieg die drei flachen Stufen des Wohnwagens wieder hinab.

Devon dachte nicht länger über die Verärgerung des Zigeuners nach. Das Mädchen ging ihm nicht aus dem Sinn. Sie sei sein Gast, hatte sein Gastgeber ihm erklärt. Wenn sie nicht zu seinem Clan gehörte, wer war sie dann? Von dem Alten würde er die Antwort nicht bekommen, das war ihm klar.

Er blickte auf das Hemd. Seine Aufmerksamkeit wurde sofort von dem roten Fleck gefangen, der sich deutlich von dem Dunkelblau abhob. Neugierig betrachtete er das Geschenk näher und hob es mühsam mit beiden Händen hoch, bis er die gestickten roten Blüten auf dem Kragen und den breiten Manschetten erkannte.

Unwillkürlich verzog er die Lippen bei dem Gedanken an das Bild, das er darin abgeben würde. Nie im Leben hatte er so etwas Ausgefallenes getragen. Die prächtigen Uniformen, die er all die Jahre besessen hatte, waren ihm nicht ungewöhnlich erschienen. Sie waren die sehr ehrenwerte Bekleidung, die seinen Berufsstand auswies.

Unter größter Anstrengung gelang es Devon, das blutverschmierte zerrissene Hemd auszuziehen, das er seit zwei Tagen trug, sich mit dem restlichen kalten Wasser aus dem Krug zu waschen und das frische Hemd überzustreifen. Danach fuhr er sich mit den feuchten Fingern durch das Haar.

Zumindest fühlte er sich jetzt sauber. In Portugal hatte er erfahren, welch einen wundersamen Auftrieb einem eine ordentliche Körperwäsche und eine Rasur geben konnte. Nachdenklich strich er sich über die Wangen und spürte die zwei Tage alten Stoppeln. Gegen die konnte er leider nichts unternehmen.

Wieder senkte sich der Wohnwagen und kündete einen Besucher an. Devon drehte sich zur Tür und erwartete den alten Mann zurück. Stattdessen stand das Mädchen auf der Schwelle und hielt vorsichtig eine Schüssel mit dampfendem Wasser, ein Rasiermesser und ein weißes Flanelltuch in beiden Händen.

Julie begegnete seinem erschrockenen Blick mit einem Lächeln. Sie hatte genügend Zeit gehabt, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Es konnte sich nur um Dankbarkeit handeln, was durchaus verständlich war. Immerhin hatte der Engländer ihr das Leben gerettet, und zwar unter keineswegs geringen persönlichen Opfern.

Mein Held, dachte sie spöttisch, während sie alles für die Rasur bereitlegte. Sie hatte die Aufgabe beinahe als Herausforderung angenommen. Gewiss war sie beherrscht genug, um einen Mann zu rasieren, ohne wegen seiner langen Wimpern, seiner markanten Nase oder seiner blauen Augen in Ohnmacht zu fallen.

Erst jetzt bemerkte sie das indigoblaue Hemd, das er trug. Der bestickte Kragen, die Manschetten und die weiten bauschigen Ärmel passten nicht zu der hautengen Wildlederhose, die seine muskulösen Schenkel umspannte und oben in den glänzenden Schaftstiefeln verschwand. Das dunkle Blau des Hemdes betonte die Farbe seiner Augen und milderte die Blässe seines Gesichts. Sein kurzes kastanienbraunes Haar war noch feucht.

„Das ist ein sehr hübsches Hemd“, sagte Julie und unterdrückte krampfhaft ein amüsiertes Lächeln.

„Ich weiß, es sieht lächerlich an mir aus. Aber zumindest ist es sauber“, antwortete Devon schmunzelnd.

Obwohl Julie sich vorhin ernsthaft gescholten hatte und sich dabei alle verächtlichen Eigenschaften seines Standes in Erinnerung gerufen hatte, spürte sie ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Bisher war ihr Herz stets erstaunlich unberührt von den Männern geblieben. Bei diesem Engländer, der die Gabe hatte, über sich selber zu lachen, war das anders.

„Möchten Sie immer noch von mir rasiert werden?“ fragte sie so gelassen wie möglich.

Überrascht blickte er sie an. „Ja, natürlich. Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Eine Rasur würde meine Genesung weiter vorantreiben“, fügte er hinzu.

„Sie sehen wirklich besser aus.“

„Es geht mir ausgezeichnet. Ich brauche wirklich nur noch eine Rasur, dann bin ich ein neuer Mensch“, versicherte er ihr.

„Ich wüsste nicht, was ich gegen den alten einzuwenden hätte“, gab Julie unbekümmert zu. „Ich habe mich noch gar nicht für Ihre Hilfe bedankt. Ohne Sie …“

„Rasieren Sie mich, dann sind wir quitt“, unterbrach er sie. Dankbarkeit machte ihn verlegen. Vor allem, wenn es sich um etwas handelte, was jeder anständige Mensch getan hätte. Der Gedanke, dass eine junge Frau gewaltsam entführt werden könnte, ohne dass jemand half, war ihm unvorstellbar. Deshalb hatte er nicht lange überlegt und sofort eingegriffen. Er erinnerte sich, wie mühsam er wieder auf sein Pferd gestiegen war, das er kurz zuvor abgesattelt hatte, und lächelte unwillkürlich.

„Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen“, schlug Julie vor und überlegte, was dieses Lächeln bedeuten könnte. „Sie sind ziemlich groß.“

Devon setzte sich auf den Stuhl, und sie stellte zufrieden fest, dass er sich längst nicht mehr so vorsichtig bewegte wie gestern.

Aus der Rocktasche holte sie das Stück Seife, das sie von einer Zigeunerin bekommen hatte, feuchtete es an und rieb es zwischen beiden Händen. Kurz darauf hatte sich lockerer Schaum gebildet. Doch bei dem Gedanken, den Schaum auf Devons Gesicht zu verteilen, zögerte sie.

Reglos stand sie mit ausgestreckten Armen da, und das Wasser tropfte auf seinen Schenkel.

„Was ist los?“ fragte Devon.

Julie schüttelte den Kopf, um den Bann zu lösen, und legte die Handflächen an seine Wangen. Ob er ihr Erschauern gespürt hatte, als sie seine warme Haut berührt hatte? Entschlossen seifte sie sein Gesicht ein, stellte weiteren Schaum her und trug ihn auf seinem Kinn und dem schmalen Streifen zwischen seiner Nase und den Lippen auf. Devon drehte den Kopf zur Seite, um ihr die Arbeit zu erleichtern, und sie gab sorgfältig Acht, dass die Art und Weise, wie sie ihn berührte, nichts von ihren Gefühlen verriet.

Erleichtert atmete Julie auf, als sie mit dem Einseifen fertig war, und entspannte sich etwas. Devon merkte erst jetzt, dass er die Augen geschlossen hatte, sobald sie seine Wangen berührte.

Es hatte etwas aufregend Sinnliches, wie sie mit ihren schlanken Fingern sehr vorsichtig sein Gesicht behandelte. Unwillkürlich reagierte er auf ihre festen Brüste, die sich dabei genau in seiner Augenhöhe befanden. Der angenehme Duft, den sie verströmte, stieg ihm in die Nase, während sie sich bewegte.

Devon zwang sich, an die eisigen Bergflüsse in den Pyrenäen zu denken. Er stellte sich vor, dass er in die kühlen Fluten stieg und immer tiefer tauchte. Trotzdem nahm er die Finger wahr, die seine Wangen streichelten, und die Brüste, die sich so verlockend unmittelbar vor seinem Gesicht bewegten. Verlegen rutschte er hin und her und kreuzte vorsichtshalber die Beine.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte Julie unvermittelt und überlegte, ob ihm der Rücken schmerzte. Sie merkte ziemlich deutlich, dass er sich unbehaglich fühlte.

„Natürlich“, antwortete Devon fest und legte den verletzten Arm vorsorglich auf den Schoß. Die Bewegung schien Julie zu überzeugen, denn sie nahm das Rasiermesser und drehte seinen Kopf zur Seite, damit sie besser an die Wange herankam.

Der Druck der Klinge war leichter zu ertragen als ihre Hände. Doch wegen der pendelnden Bewegung musste Julie noch näher an Devon herantreten. Sie beugte sich so tief über ihn, dass sie ihn beinahe berührte, und stützte das Knie gegen seinen Schenkel. Wieder waren ihre Brüste unmittelbar vor seinem Gesicht. Er brauchte nur die Finger zu bewegen oder den Kopf etwas zu senken, dann konnte er die verlockenden Rundungen berühren.

Plötzlich richtete Julie sich auf, und Devon überlegte, ob sie seine Gedanken erraten hatte. Er blickte sie forschend an und stellte fest, dass sie die Stellen prüfend betrachtete, die sie gerade rasiert hatte. Sie schob die Zungenspitze zwischen ihre gleichmäßigen kleinen Zähne und lächelte schalkhaft, als sie seine Miene bemerkte.

„Nicht so professionell wie Sie es gewohnt sind, fürchte ich“, sagte sie.

„Schlechter als vorher kann es unmöglich sein“, versicherte er ihr. Wenn sie bloß fertig wird, bevor ich uns beide in Verlegenheit bringe, dachte er.

Plötzlich stutzte Devon. War er vielleicht nur deshalb nicht abgeneigt, mit Julie eine Liebesnacht zu verbringen, weil sie nicht zu den eleganten kühlen Damen seines Gesellschaftskreises gehörte? Sein Wunsch widersprach völlig dem strengen Ehrenkodex, an den er sich sonst bei Beziehungen zu Frauen hielt. Julie war eine allein stehende, schutzlose Frau, sah man von dem Zufluchtsort hier ab, für den sie bezahlten.

„Dorthin“, sagte sie leise und drehte sein Kinn mit ihren schlanken Fingern zur anderen Seite.

Ich war zu lange ohne eine Frau, verspottete Devon sich selber. Außerdem ist sie sehr hübsch. Vielleicht … Entschlossen verdrängte er den Gedanken.

Solange er nicht das Geheimnis kannte, das diese junge Frau hütete, musste er seine Gefühle ihr gegenüber eisern unter Kontrolle halten.

4. KAPITEL

Es wurde schon dunkel, als Devon die drei Stufen von seinem Wohnwagen hinabstieg und einen Blick auf das Zigeunerlager warf. Nachdem Julie gegangen war, hatte er sich wieder hingelegt und war wegen seines leichten Fiebers fest eingeschlafen.

Eine Zigeunerin hatte ihn geweckt, als sie ihm Brot und einen kleinen Käse zum Abendessen brachte. Er hatte alles verzehrt. Je schneller er zu Kräften kam, desto eher konnte er die Suche nach seinem Schwager wieder aufnehmen. Deshalb war er schließlich nach Frankreich gekommen und nicht, um das Geheimnis einer jungen Frau zu entschlüsseln.

Julie saß an einem kleinen Tisch unter einer großen Eiche und hantierte mit irgendetwas. Devon betrachtete die verstreuten Wohnwagen und stellte fest, dass sich niemand um ihn oder Julie kümmerte. Ohne lange zu überlegen, trat er an den Tisch und beobachtete, wie sie geschickt die Finger bewegte.

Jetzt sah Julie auf, lächelte ihm zu und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Becher, die sie blitzschnell hin und her schob.

Heute Morgen war sie gezwungen gewesen, ernsthaft über ihre finanzielle Lage nachzudenken. Die Gastfreundschaft des Zigeuners gründete sich einzig und allein auf ihrer Zahlungsfähigkeit. Der alte Mann hatte sie aufgenommen, weil sie die Münzen ihres Vaters vorweisen konnte. Das Geld, das ihr noch blieb, reichte nicht einmal für ihr eigenes Essen, geschweige denn für die Verpflegung einer weiteren Person.

Deshalb hatte sie dem alten Mann ein nicht ungefährliches, aber notwendiges Angebot gemacht. Natürlich hatte er eine Probe ihres Könnens verlangt und seine Begeisterung nicht verbergen können.

Der Zigeuner hatte es zwar nicht bemerkt. Doch Julie wusste, dass sie nach drei Monaten fern vom Kasino restlos aus der Übung war. Allerdings hätte ihr Vater dieses Spiel niemals in seinem Haus geduldet und wäre entsetzt gewesen, wenn er sie hätte sehen können. Das Spiel beruhte auf einer reinen Täuschung und hatte nichts mit Geschicklichkeit oder einer bestimmten Strategie zu tun. Doch ihr blieb keine Wahl, wenn sie weiterhin den Schutz des Zigeuners für sich und den Mann genießen wollte, der sie jetzt beobachtete.

Plötzlich versagte ihr die linke Hand den Dienst, und die Kugel, die sie zwischen die Finger geklemmt hatte, rollte über den Tisch und fiel ins Gras hinunter.

„O nein“, schimpfte Julie leise. Wenn das morgen auf dem Jahrmarkt passierte, landete sie im Dorfgefängnis oder endete mit einem Messer im Rücken. Unwillkürlich zog sie die leicht geschwollenen Finger an.

Unerwartet fasste Devon ihre Hand, drehte sie herum und bemerkte erneut die leichte Verfärbung, die er schon früher festgestellt hatte.

„Was ist mit den Fingern passiert?“ fragte er und massierte die zarten Knöchel. „Es sieht aus, als …“ Gleich darauf erinnerte er sich, dass er Julies Hand gequetscht hatte, während der alte Mann seine offene Wunde mit Whisky behandelt hatte. „Meine Güte, das war ich“, bekannte Devon schuldbewusst.

Er wartete und hoffte, dass Julie es abstreiten würde. Doch sie sah ihn nur ruhig an und überließ ihm vertrauensvoll ihre zarten geschundenen Finger.

„Tut mir Leid“, sagte Devon leise. „Ich hatte nicht die Absicht …“

Julie zog ihre Hand fort und schüttelte lächelnd den Kopf. „Es ist nicht weiter schlimm. Wahrscheinlich habe ich mich verletzt, als der Grobian mich auf den Wagen schleuderte.“ Die Lüge kam ihr mühelos über die Lippen, und sie wechselte sogleich das Thema. „Das macht das Spiel etwas spannender.“

„Das Spiel?“ fragte Devon unsicher.

„Le jeu des gobelets.“

„Le jeu …“ wiederholte er und verstand kein Wort.

„Das Becherspiel, auch Hütchenspiel genannt“, antwortete sie auf Englisch.

Erst jetzt erkannte Devon, dass Julie die ganze Zeit seine Muttersprache benutzt hatte. Ihr Englisch war ebenso akzentfrei und gepflegt wie seines. Er könnte sie ohne weiteres in einen Londoner Ballsaal führen. Niemand würde den Verdacht schöpfen, dass sie keine jener Debütantinnen war, die jedes Jahr in die Hauptstadt kamen, um ihren Eintritt in die Gesellschaft zu feiern.

Julie bemerkte seine nachdenkliche Miene. „Mein Vater war Engländer“, antwortete sie, als hätte sie damit die Frage nach ihrer Herkunft bereits ausreichend geklärt. „Kennen Sie das Hütchenspiel? Es ist derzeit groß in Mode. Der Zigeuner ist einverstanden, dass wir bei seinem Clan bleiben, wenn ich ihm die Einnahmen aus diesem Spiel überlasse. Die Einsätze der Leute, die wir morgen auf dem Jahrmarkt damit anziehen werden, dürften die Kosten für unsere Unterkunft und Verpflegung mehr als ausreichend decken. Der Alte wird fürstlich für seine Gastfreundschaft bezahlt.“

„Danke, dass Sie sich gestern meiner angenommen haben“, sagte Devon.

„Wir sind quitt. Haben Sie das vergessen?“ erwiderte sie und dachte unwillkürlich an die prickelnde Nähe in dem kleinen Wohnwagen. Weshalb konnte sie bei Devon nicht jenen Abstand wahren, der ihr im Umgang mit anderen Männern mühelos gelang? „Möchten Sie mir beim Üben zusehen?“ fuhr sie fort, um das Thema zu wechseln.

„Ja, gern“, versicherte er ihr. Julie ließ die Kugel wieder verschwinden und wirbelte die Becher noch schneller im Kreis.

Endlich blickte sie ihn fragend an, und er antwortete überzeugt: „Der mittlere.“

Sie hob den Becher an, doch es war nichts darunter.

„Wie …“ begann er, und sie lachte leise.

„Kein Zauberer verrät seine Tricks. Die Becher können nicht schwindeln. Also haben Sie nicht richtig hingeschaut. Versuchen Sie es noch einmal“, bot sie ihm großzügig an.

Devon hätte nicht gedacht, dass sie ihre Finger noch schneller bewegen könnte. Als sie diesmal innehielt, war er nicht mehr so sicher. Natürlich irrte er sich erneut.

„Zum Glück haben Sie kein Geld eingesetzt“, meinte Julie lachend. „Noch einmal?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, bewegte sie die Hände so langsam, dass der arglose Zuschauer keinen Zweifel haben konnte, den Weg der Kugel zu verfolgen.

Als sie wieder aufsah, merkte sie, dass Devon nicht ihre Hände beobachtete, sondern ihr Gesicht. Die Luft schien plötzlich zu knistern.

„Wer sind Sie?“ fragte er leise und ließ sie nicht aus den Augen.

Julie legte die Hände über die Becher und rührte sich nicht. „Zurzeit ein Zigeunermädchen“, antwortete sie nach einer Weile. „Eine junge Frau mit einer Fähigkeit, die der alte Mann für sich nutzen will.“ Ihre dunklen Augen blitzten. „Die Fähigkeit zur Täuschung“, fuhr sie beinahe herausfordernd fort. Sie drehte die Hände, und Devon sah, dass die Kugel nicht unter einem Becher steckte, sondern zwischen zwei Fingern eingeklemmt war.

Julie bemerkte die feine Falte zwischen seinen Brauen, nahm die Becher und die Kugel in eine Hand und stand auf.

„Meine Geschicklichkeit besteht darin, die Leute glauben zu lassen, dass sie etwas sehen, während ich …“ Sie bemerkte seinen Blick und schwieg.

„Während Sie die Zuschauer in Wirklichkeit betrügen“, ergänzte er und wunderte sich, wie hart seine Beschuldigung klang. Aber der Gedanke, dass Julie die Leute bewusst täuschen wollte, die morgen mit ihr spielen würden, war ihm unerträglich.

„Und was ist mit Ihnen, wenn Sie den Feind glauben lassen, dass Ihre Streitkräfte stärker sind als seine, oder dass Sie einen Angriff von einer bestimmten Seite planen und in Wirklichkeit von der anderen loslegen?“ wandte sie ein.

„Das ist …“

„Keine Täuschung?“ fragte sie spöttisch.

„Es ist kein Betrug“, beharrte Devon.

„Die Engländer und ihre starren Regeln. Wenn man eine bricht …“ Erschrocken hielt sie inne. Sie hatte schon viel zu viel von sich verraten.

„Wenn man eine bricht?“ wiederholte er ruhig.

„Wird es einem nie verziehen“, meinte sie leise.

„Was haben Sie?“ fragte Devon, denn er merkte, dass Julie mühsam um Fassung rang. „Weinen Sie etwa?“

„Nein, ich weine nicht“, antwortete sie verächtlich und senkte rasch den Kopf. „Ich weine nie“, fügte sie trotzig hinzu. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie ihn spöttisch an.

Vielleicht hatte er sich tatsächlich geirrt.

„Wer sind Sie?“ ließ Devon nicht locker.

Doch sie wandte sich ab, denn sie ertrug den missbilligenden Ausdruck in seinen Augen nicht. Jetzt begriff sie, was ihr Vater durchgemacht hatte und weshalb Männer wie Devon ihn aus der Heimat hatten vertreiben können.

„Irgendeine Frau“, wich sie aus. Mit wiegenden Hüften schritt sie durch das Lager davon, so dass der bunte Rock verlockend um ihre nackten Fesseln schwang. Sie war sicher, dass Devon ihr nachschauen würde.

Der lange Nachmittag war sehr erfolgreich gewesen. Zahlreiche Menschen waren auf den alten Marktplatz gekommen, um sich hier zu amüsieren.

Julies Schultern begannen zu schmerzen von den vielen Stunden, die sie die Leute mit geschickten Fingerbewegungen unterhalten hatte. Der alte Zigeuner beobachtete sie scharf, während sein Clan die Einsätze der Zuschauer einsammelte.

Es war sehr ungewöhnlich, dass eine Frau, noch dazu eine so hübsche, sich in der Öffentlichkeit mit dem Glücksspiel befasste. Deshalb zog sie erheblich mehr Spieler an als ihre zahlreichen Mitstreiter.

Ein Mann an ihrem Tisch war ziemlich betrunken. Da er ohne Rücksicht auf seine Verluste immer öfter wettete, forderte der Zigeuner Julie mit einer leichten Kopfbewegung auf, den Trunkenbold so stark wie möglich auszunehmen. Deshalb ließ sie es zu, dass er gelegentlich ihren Arm tätschelte und einmal sogar mit den Fingern über ihre nackte Schulter streifte. Solange der alte Zigeuner in unmittelbarer Nähe war, drohte ihr keine Gefahr. Sie unterdrückte ihren Abscheu und begann erneut, die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu ziehen.

Etwa in der Mitte des Spiels legte der Betrunkene plötzlich seine verschwitzten Hände auf ihre Schultern und ließ sie langsam tiefer gleiten. Energisch schüttelte sie seine Finger ab und schauderte unwillkürlich vor Ekel bei dem Gedanken, er könnte ihre Brüste berühren.

Die Menge murrte unwillig über die Unterbrechung des Spiels, und Julie hob den Kopf, um die Leute mit einem strahlenden Lächeln bei Laune zu halten. In diesem Moment begegnete sie dem wütenden Blick des Engländers, der wie ein Racheengel vor ihrem Tisch stand.

„Rühr sie ja nicht noch einmal an“, befahl Devon leise und sah den Trunkenbold fest an. Devon war genauso ruhig wie damals, als er sie aus den Fängen des Obstbauern befreit hatte.

Der Mann torkelte angriffslustig um den Tisch herum und ging auf den Engländer los. Devon spreizte die Beine, beugte ein wenig die Knie und bereitete sich auf den Kampf vor, den alle erwarteten.

Der Mann schlug präziser zu, als es nach dem Grad seiner Trunkenheit anzunehmen war. Doch Devon drehte im richtigen Moment den Oberkörper, so dass der Schlag wirkungslos an seinem linken Ohr vorüberglitt. Lauernd umkreisten sich die beiden Streithähne. Der Betrunkene hob erneut die Fäuste und deutete an, dass er noch einmal versuchen würde, einen Schlag in Devons Gesicht zu landen.

Entschlossen sprang Julie auf, schlüpfte unter dem Ellbogen des Betrunkenen hindurch und stellte sich zwischen die beiden Männer.

„Hören Sie auf“, zischte sie Devon zu, der beinahe entspannt in Kampfstellung dastand. „Meine Güte, gehen Sie endlich. Was haben Sie sich dabei gedacht?“

Devons blaue Augen blitzten verärgert auf. Gleich darauf wandte er sich von Julie ab und sah seinen Gegner wieder an.

„Gehören Sie zu ihm?“ fragte der Betrunkene, der jetzt hinter Julie trat und sich ungeschickt verbeugte. „Ich bitte um Entschuldigung“, wandte er sich spöttisch an Devon. „Wie hätte ich wissen können, dass sie Ihre Hure ist. Ich dachte, sie wäre für jeden zu haben. Immerhin …“

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment landete Devons wohlgesetzte Linke auf seiner Nase, und weitere Beleidigungen blieben unausgesprochen.

Der Menge hatte die Störung ihres Vergnügens nicht besonders gefallen … Aber der Betrunkene war einer von ihnen. Nachdem er plötzlich wehrlos am Boden lag, traten sie drohend auf den Engländer zu.

„Was fällt Ihnen ein?“ fuhr Julie Devon an. „Wissen Sie eigentlich, was Sie getan haben?“

Verblüfft sah er sie an und fasste ihren Ellbogen. Doch sie riss sich noch wütender los als von dem Trunkenbold. Sie wusste genau, wie der Zigeuner auf den Verlust seiner reichen Beute reagieren würde. Die Stimmung unter den Zuschauern war ziemlich feindselig geworden. Julies Bemühungen, sie bei Laune zu halten, schienen vergeblich gewesen zu sein.

Mit einemmal war der Zigeuner neben ihr und zog sie energisch beiseite. Sie wehrte sich nicht.

„Morgen“, versprach er den murrenden Zuschauern. „Kommt morgen wieder. Für heute ist das Spiel beendet.“

„Und was ist mit unserem Geld?“ rief jemand und meinte den Einsatz, den sie bereits bezahlt hatten. Die anderen fielen sofort in seine Klage ein.

Der Zigeuner gab seinen Männern ein Zeichen, das Geld zurückzuzahlen, und schob Julie wütend die Straße vor sich her.

„Entweder halten Sie Ihren Mann in Schach, oder Sie verlassen das Lager“, forderte der Zigeuner sie auf, sobald sie außer Hörweite der Leute waren. „So etwas wie eben passiert nicht noch einmal. Das nächste Mal jage ich ihm persönlich ein Messer zwischen die Rippen.“

„Er ist nicht mein Mann“, erklärte Julie hitzig. „Ich kann ihn nicht in Schach halten.“

„Dann werden Sie ihn los, oder ich übernehme das für Sie. Sie hatten mir nicht gesagt, dass er so ein Narr ist. Was hat er sich dabei gedacht?“ fügte der Zigeuner verständnislos hinzu.

Wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis, und ihr Ärger verflog. „Er wollte mich beschützen“, sagte sie leise. Das war ihr zwar ebenso unbegreiflich wie dem alten Mann, machte aus der Sicht des Engländers aber einen Sinn.

„Wovor? Sie waren nicht in Gefahr“, erwiderte der Zigeuner und ärgerte sich immer noch, dass der Fremde ihn um eine reiche Beute gebracht hatte.

Julie sah den alten Mann mit rätselhafter Miene an. „Der Engländer wollte nicht, dass der Kerl mich anfasste.“

„Er hat Ihnen doch nicht weh getan“, wies der Zigeuner ihre Erklärung zurück.

„Er hatte die Hände auf …“ begann sie und sprach nicht weiter. Niemals würde sie dem Zigeuner verständlich machen können, wie ungehörig diese Berührung in den Augen des Engländers gewesen war. Der Gedanke, dass Devon sie beschützen wollte, wie es einer Frau seiner Ansicht nach zustand, war erstaunlich angenehm. Jean hätte den Trunkenbold einfach weggelockt und dafür gesorgt, dass die Gäste nicht verärgert wurden. Devon dagegen hatte ihre Ehre verteidigt.

„Dass er das ja nicht noch einmal tut. Machen Sie ihm das klar oder …“ drohte der alte Mann und ließ keine Widerrede zu. Sein Wort war hier Gesetz. Julie konnte es sich nicht leisten, seine Befehle zu missachten.

„Es wird nicht noch einmal vorkommen. Darauf können Sie sich verlassen“, versprach sie hastig.

Der Alte sah sie einen Moment fest an. Dann nickte er, ging davon und ließ sie auf der Straße allein.

Julie entdeckte Devon am Fluss, wo die Pferde angebunden waren. Gelassen stand er am Ufer, und sein Wallach graste friedlich in der Nähe. Devon hielt einen Stock in den feingliedrigen Händen, zerbrach ihn gemächlich und warf die Stücke ziellos in den Strom.

Obwohl ihre leichten Schuhe kein Geräusch auf dem moosbewachsenen Hang machten, drehte er sich um und blickte ihr entgegen. Julie nahm an, er wollte etwas zu dem Vorfall am Nachmittag sagen. Doch er wartete schweigend.

„Wenn Sie sich noch einmal einmischen, wird der alte Mann Sie umbringen“, warnte sie Devon.

Anstatt sie ungläubig anzusehen oder verärgert über ihre Mitteilung zu sein, blickte er belustigt drein.

„Halten Sie meine Worte für einen Scherz?“ fuhr Julie auf und hatte plötzlich furchtbare Angst um den Engländer. „Der Zigeuner meint es bitterernst.“ Sie machte eine weit ausholende Armbewegung und zeigte auf die Pferde und die Wohnwagen. „Er ist hier Richter und Vollstrecker in einer Person. Kein Gesetz der Welt kann ihn daran hindern, Sie im Schlaf zu ermorden, wenn er es beschließt. Wir sind hier nicht in London.“

„Man versucht schon seit einigen Jahren, mich umzubringen“, erwiderte Devon lächelnd. „Das Recht scheint erstaunlich wenig dagegen ausrichten zu können. Allerdings glaube ich kaum, dass der Zigeuner mehr Erfolg damit haben wird als die anderen.“ Es klang spöttisch.

„Tut mir Leid“, sagte Julie erbost. „Mir scheint, ich habe mich geirrt. Ich dachte, Sie wären nur leichtsinnig. Jetzt wird mir klar, dass Sie obendrein noch dumm sind. Nun, zumindest habe ich Sie gewarnt.“

Seine Gelassenheit machte sie ebenso wütend wie ihre Angst.

„Begreifen Sie nicht?“ begann sie erneut, doch er unterbrach sie sofort.

„Ich verstehe nicht, weshalb Sie vorhin so verärgert waren. Eher hätte ich angenommen …“

„Das kann ich Ihnen leicht erklären. Sie haben sich in etwas eingemischt, das Sie nichts anging. Ich hatte eine Vereinbarung mit dem Zigeuner getroffen. Durch Ihre Heldentat hat er viel Geld verloren. Wegen nichts und wieder nichts. Sie hatten keine Veranlassung …“

Erschrocken schwieg sie, denn ihr fiel ein, weshalb der Engländer eingegriffen hatte. „Kein Wunder, dass der alte Mann wütend war und es immer noch ist. Sie haben keine Ahnung, wie gefährlich er sein kann.“

„Hat es Sie denn nicht gestört, dass der Kerl Sie betatscht und eine Hure genannt hat?“ fragte Devon leise.

„Ihre Hure“, erinnerte Julie ihn gereizt. „Außerdem hat er das nur gesagt, weil Sie sich eingemischt hatten.“

Devon erwiderte nichts auf ihre Beschuldigung. Obwohl sie wusste, dass sie ungerecht war, fuhr sie fort: „Weshalb sollte ich wegen der Worte eines Trunkenbolds beleidigt sein? Glauben Sie mir, man hat schon Schlimmeres zu mir gesagt“, erklärte sie und lächelte flüchtig.

Devon entging der bittere Unterton in ihrer Stimme nicht. „Schlimmeres als meine Hure?“ fragte er ruhig.

„Ich bedeute Ihnen nichts. Sie sollen mich nicht verteidigen. Das will ich nicht. Ich brauche keinen strahlenden Ritter, der mich beschützt“, entgegnete sie heftig. Es machte ihr nichts aus, dass der Kerl auf dem Jahrmarkt sie als Hure bezeichnet hatte. Aber es aus Devons Mund zu hören …

„Dann genügt Ihnen der ‚Schutz‘ des Zigeuners?“ fragte Devon spöttisch. „Heute Nachmittag habe ich niemanden entdeckt, der Sie beschützt hätte.“

„Weil ich nicht in Gefahr war.“

„Körperlich wahrscheinlich nicht. Aber …“ Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: „Aber Ihr Ruf und Ihre Ehre.“

Julie lachte verächtlich. „Mein Ruf“, wiederholte sie spöttisch. „Und meine Ehre. Vielleicht hätten Sie dem Trunkenbold besser zuhören sollen. Er schien entschieden anders darüber zu denken als Sie.“

Schmerzlich berührt schwieg sie, denn sie entdeckte denselben Ausdruck in Devons Augen wie gestern, als sie ihm die Kugel zwischen ihren Finger gezeigt hatte. Um einem weiteren Vorwurf zuvorzukommen, fuhr sie fort: „Ich lüge, ich täusche, und ich betrüge sogar.“

„Huren Sie auch herum?“ fragte er leise und merkte, dass sie entsetzt den Atem anhielt.

Julie schluckte heftig.

Er beobachtete sie aufmerksam. „Wie viel?“ Seine Stimme verriet keinerlei Gefühl.

„Wofür?“ flüsterte Julie und verstand nicht, was er meinte.

„Wie viel verlangen Sie, wenn Sie sich anbieten?“ Wie der Betrunkene legte Devon ihr die Hände auf die nackten Schultern und lächelte abschätzig.

„Nein, bitte nicht“, wehrte sie ab und wünschte, sie könnte die letzten Minuten ungeschehen machen. Sie hatte diese Situation bewusst heraufbeschworen. Aber es war viel schmerzlicher zu ertragen, als sie sich vorgestellt hatte. Bisher hatte der Engländer sie mit jener Höflichkeit behandelt, über die man sich in ihren Kreisen lustig machte. Jetzt verhielt er sich ihr gegenüber geringschätzig, und sie hätte alles darum gegeben, wenn es wieder so wie früher zwischen ihnen sein könnte.

Autor

Gayle Wilson
Gayle Wilson hat zweimal den RITA® Award gewonnen. 2000 und 2004 in der Kategorie „Romantic Suspense Novel“. Im Angesicht, dass sie zweimal den RITA® - Award gewonnen hatte, wurde sie für 50 andere Preise nominiert oder damit ausgezeichnet. Gayle Wilson hat einen Master – Abschluss in Lehramt. Sie arbeitet als...
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