Historical Exklusiv Band 80

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

ZWEI HERZEN IM WINTER von MERIEL FULLER
Den Mantel fest um den Leib geschlungen, beobachtet Emmeline einen geheimnisvollen Fremden im Hafen - der sie in letzter Sekunde vor einem herabstürzenden Weinfass rettet. Trotzdem verspürt die schöne Normannin keine Erleichterung, sondern helle Wut. Untersteht sich dieser attraktive Ritter schließlich, sie für eine Hure zu halten! Dennoch entflammt eine Leidenschaft in ihr, die so wild ist wie das Wintermeer …

DER HIGHLANDER UND DIE EISKÖNIGIN von JOANNE ROCK
Stolz, schön und kalt wie eine Eiskönigin steht Cristiana vor ihm. Duncan weiß genau, dass sein heißer Kuss ihr Herz zum Schmelzen bringen könnte! So war es damals, und so wird es wieder sein, wenn die Leidenschaft zwischen ihnen erneut entflammt. Aber nicht um die Widerspenstige zu erobern, ist der Highlander im Wintersturm zum Sitz der verfeindeten Domhnaills geritten - sondern um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen!


  • Erscheinungstag 03.12.2019
  • Bandnummer 80
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737160
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Meriel Fuller, Joanne Rock

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 80

1. KAPITEL

Barfleur, Normandie – im Jahr 1135

Fröstelnd zog Emmeline den Wollumhang enger um ihre Schultern und die weite Kapuze tief in die Stirn. Sie war aus dem Haus zum Hafen gelaufen, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre blonde Haarmähne zu flechten – und hatte sich damit ein missbilligendes Zungenschnalzen und eine tadelnde Bemerkung ihrer Mutter eingehandelt. Emmeline legte keinen Wert auf ihre äußere Erscheinung, wünschte aber, sie hätte sich ein zusätzliches warmes Untergewand angezogen. Wichtig war ihr nur zu wissen, ob die Belle Saumur endlich von der Fahrt durch den Ärmelkanal heimgekehrt war.

Ein scharfer Wind wehte die Flussmündung herauf über die Mole, fuhr ihr unter die Röcke bis in die Knochen. Die Kälte verschlimmerte den Schmerz in ihrem verletzten Fuß, dem sie allerdings keine Beachtung schenkte, da ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schiff ihres Vaters galt. Ihrem Schiff. Tatsächlich lag die Belle Saumur in einiger Entfernung im offenen Meer, knapp hinter dem Leuchtturm, der die Flussmündung markierte. Dieu merci! Gott hatte ihre Gebete erhört. Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie: Das Schiff war ihr einziger Besitz, sicherte ihrer Mutter und ihr einen bescheidenen Lebensunterhalt und gestattete ihr ein freies Leben. Sie war keinem Herrn und Gebieter Rechenschaft schuldig – auch keinem Ehemann. Sie wünschte nur, ihre Mutter würde das ebenso sehen wie sie, statt sie ständig zu bedrängen, wieder zu heiraten. Eine Vorstellung, die ihr gründlich zuwider war, vor der ihr graute.

Mit zusammengekniffenen Augen gegen die grelle Morgensonne, deren Strahlen durch den Nebel drangen, beobachtete sie zwei Männer an Bord, die den Anker geworfen hatten und nun an der Leine zogen, um zu prüfen, ob er Grund gefasst hatte. Offenbar war die Belle Saumur gerade erst eingelaufen. Das riesige Rahsegel flatterte schlaff im Wind, nachdem die Mannschaft die Taue gelöst, die Fock aber noch nicht aufgerollt hatten. Der bauchige Rumpf lag tief im Wasser, ein Zeichen dafür, dass der Frachtraum voll beladen war. Mittlerweile hatten drei Lastkähne das Schiff erreicht, um die Fracht zu löschen. Um diese Tageszeit herrschte Ebbe, und der Wasserstand war zu niedrig, um das Schiff direkt an der Mole zu entladen. Monsieur Lecherche, ihr Schiffsführer, musste noch einige Zeit warten, bevor die Belle Saumur im sicheren Hafen vertäut werden konnte.

„Madame de Lonnieres, Madame de Lonnieres!“ Geoffrey Beaufort, ein wohlhabender Kaufmann aus Barfleur, winkte ihr aus einem Frachtkahn zu. Der flache Kiel des Ruderboots knirschte über den groben Kies an Land. Geoffrey sprang über den Bootsrand, watete mit seinen schweren Lederstiefeln durchs seichte Wasser und rannte ihr auf den Bohlen des Landestegs zur Begrüßung entgegen.

Emmeline umarmte ihn herzlich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter seines feuchten, vom Salzwasser klebrigen Mantels. „Dem Herrn sei Dank, dass du wohlbehalten wieder daheim bist. In den letzten Tagen gab es Schreckensmeldungen über Stürme im Kanal …“

Geoffrey registrierte mit Besorgnis die dunklen Ringe der Erschöpfung unter ihren leuchtend grünen Augen. „Du sollst dir nicht so viele Gedanken machen, Emmeline. Du siehst müde aus.“

„Die Belle Saumur ist mein einziger Besitz“, antwortete sie ausweichend und zog die Kapuze tiefer über das blonde Haar.

„Dein Bootsführer und seine Mannschaft sind die erfahrensten Seefahrer weit und breit.“

Sie nickte. „Das ist ja auch der Grund, warum ich keine andere Mannschaft anheure.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich war wirklich besorgt, Geoffrey. Ihr hattet euch um mehr als eine Woche verspätet.“

Der Kaufmann legte seine fleischige gerötete Hand ans Herz. „Das ist allein meine Schuld, Emmeline. Bitte verzeih, aber ich wollte unbedingt den großen Markt in Winchester abwarten, der nur einmal im Jahr stattfindet. Es wäre eine Schande gewesen, ihn zu verpassen. Dort werden die besten flandrischen Tuche angeboten, die ich hier mit großem Gewinn verkaufen kann.“ Er bemerkte ihr Stirnrunzeln. „Sei unbesorgt, ich bezahle selbstverständlich für die zusätzliche Zeit. Diese Zusage habe ich Monsieur Lecherche bereits gegeben.“ Er verzog seine rissig aufgesprungenen Lippen zu einem schuldbewussten Lächeln. „Sieh nur, wie viel Ware ich mitgebracht habe. Und ich habe alle Weinbestände verkauft.“ Emmeline blickte zum flachen Uferstreifen hinüber, wo ein Kahn entladen wurde. Drei Männer waren nötig, um die Jutesäcke, in denen die Stoffballen verpackt waren, einen nach dem anderen aus dem Kahn zu hieven und auf einen wartenden Ochsenkarren zu laden.

„Und deshalb hast du die leeren Weinfässer auseinandernehmen lassen, Geoffrey, sonst hätte der Frachtraum nicht ausgereicht.“

„Auch für diese Kosten komme ich auf.“

Emmeline nickte zustimmend. In ihrer augenblicklichen Situation konnte sie es sich nicht leisten, die Fässer auf ihre Kosten wieder zusammensetzen zu lassen; eine mühselige Arbeit für einen Fassbauer, für die normalerweise der Schiffseigner aufkommen musste.

„Augenblick, ich habe etwas für dich, Emmeline.“ Geoffrey strahlte übers ganze wettergegerbte Gesicht. „Einen Brief von deiner Schwester.“

Emmeline nagte an ihrer Unterlippe, während Geoffrey im Lederbeutel an seinem Gürtel kramte. Sie konnte kaum glauben, dass ihre ältere Schwester sich meldete. Nachdem Sylvie an der Seite eines Edelmannes ein neues Leben in England begonnen hatte, wollte sie offenbar jede Verbindung zu ihrer Vergangenheit abbrechen. Die spärlichen Nachrichten, die Emmeline anfänglich noch von ihr erhalten hatte, berichteten von Reichtum, riesigen Ländereien und Burgen sowie der fürsorglichen Zuneigung ihres Gemahls Lord Edgar. Nachdem die kleine Rose gestorben war, hatte Emmeline sich für das kaltherzige Verhalten ihrer Schwester geschämt, doch mittlerweile waren ihre Gefühle zu gleichgültiger Resignation abgeflaut.

Geoffrey reichte ihr ein zusammengerolltes Pergament, das Emmeline mit zitternden Fingern an sich nahm. Danach löste sie das rote Band und entrollte das Papier. Sie hielt das im Wind flatternde Blatt oben und unten fest und überflog den Inhalt. Beim Lesen der hingekritzelten Worte wurde ihr kalt ums Herz: Ich lebe in ständiger Angst. Bitte komm und hilf mir. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Verzeih.

Emmeline schloss die Augen.

Die krakeligen und hastig hingeworfenen Buchstaben tanzten vor ihrem inneren Auge: Es war ein in großer Eile und Verzweiflung verfasster Hilferuf. Was für ein Unterschied zu ihrer letzten Begegnung mit Sylvie, die in einem kostbar bestickten Gewand auf der Schwelle des bescheidenen strohgedeckten Hauses in Barfleur gestanden hatte. Eine stolze und schöne Frau, die sich nicht darum kümmerte, was ihre Familie von ihr hielt, in deren Obhut sie ihr Töchterchen Rose gab, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Sie hatte sich so sehr nach einem sorglosen Leben in Luxus und Wohlstand gesehnt und duldete nicht, dass ihr jemand dabei im Wege stand.

„Da stimmt etwas nicht“, sagte Emmeline gedehnt und wandte sich verstört an Geoffrey.

„Keine schlechten Nachrichten, will ich hoffen?“ Geoffrey musterte Emmelines bekümmerte Miene.

„Meine Schwester ist in Nöten“, antwortete sie beklommen. „Wann hast du sie gesehen?“

„Mir wurde die Ehre zuteil, eine Nacht auf Waldeath zu verbringen, als Gast deiner Schwester und ihres Gemahls Lord Edgar.“

„Wie geht es ihr? Ist sie wohlauf?“

Geoffrey breitete die Hände aus, ohne recht zu wissen, was er antworten sollte. „Sie wirkte ein wenig flatterig, aber …“

„So war sie schon immer“, beendete Emmeline seinen Satz mit einem dünnen Lächeln. Sylvies reizbares launisches Wesen war natürlich auch Geoffrey nicht fremd. „Vielen Dank für den Brief.“ Sie verstaute das knisternde Pergament in dem bestickten Beutel an ihrem Gürtel. Ein merkwürdiges Gefühl drohenden Unheils beschlich sie, während sie Überlegungen anstellte, wie sie Sylvie erreichen konnte.

„Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen, Emmeline.“ Geoffrey tätschelte ihr beschwichtigend den Arm. „Ihr Gemahl scheint ihr sehr zugetan zu sein, hatte ich jedenfalls den Eindruck.“

„Falls die Belle Saumur vor Einsetzen der Winterstürme eine letzte Überfahrt schafft, besuche ich sie in England“, sagte Emmeline entschlossen. Aber Geoffrey hörte ihr nicht mehr zu. Sein Blick war über ihre Schulter gerichtet, und seine Miene hellte sich wieder auf. Auf dem Steg näherte sich eine junge Frau mit drei bunt gekleideten kleinen Kindern, deren helle Stimmen sich mit dem Kreischen der tief kreisenden Seemöwen mischten.

„Ah, sieh an! Marie und die Kleinen!“ Geoffrey strahlte beim Anblick seiner Familie. Auch Emmeline lächelte ihrer Freundin entgegen. Marie war annähernd so groß wie ihr Ehemann und bewegte sich in anmutiger Grazie, obwohl drei Kinder an ihren Röcken hingen. Emmeline, einen halben Kopf kleiner, bildete mit ihrem hellen Teint und dem blonden Haar einen lebhaften Kontrast zu Maries schwarzen Locken und gebräunter Haut. Emmeline verwünschte häufig ihre weiblichen Rundungen, da es schwierig war, in einer Männerwelt Geschäfte zu machen, wenn die Männer ständig auf ihren Busen starrten, statt ihr zuzuhören. Zum Glück handelte es sich meist um Kaufleute, die aus alter Freundschaft und Treue zu ihrem verstorbenen Vater ihre Waren auf der Belle Saumur verschifften, nicht zuletzt auch in der Gewissheit einer sicheren Überfahrt und einer erfahrenen Mannschaft. Jüngere Kaufleute bevorzugten neue und wendigere Schiffe, die in den Werften entlang der Küste in Caen und Dieppe gebaut wurden.

„Ich könnte schwören, die Kleinen sind in den paar Wochen meiner Abwesenheit wieder gewachsen“, rief Geoffrey, hob jedes der Kinder der Reihe nach hoch und wirbelte es unter lautem Freudengeschrei durch die Luft. „Womit fütterst sie nur, Weib?“ Er drückte seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Emmeline fühlte sich ein wenig unbehaglich bei der herzlichen Begrüßungsszene. Vielleicht verspürte sie auch einen Stich des Bedauerns? Sie seufzte. An ihre unglückliche Ehe mit Giffard de Lonnieres hatte sie lediglich bittere Erinnerungen und wusste, dass ihr dieses Familienglück niemals beschieden sein würde.

Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters Anselm hatte Emmeline hilflos zusehen müssen, wie Giffard, auf den die Schiffswerft ihres Vaters bei der Eheschließung übergegangen war, folgenschwere Fehler machte und viel Geld durch Fehlspekulationen verlor. Sie hatte lernen müssen, ihm keine Vorhaltungen zu machen, obwohl er das Geschäft beinahe in den Ruin getrieben hätte. Als er bei einem Jagdunfall ums Leben kam, hatte Emmeline nichts als Erleichterung verspürt. Mit seinem Tod ging das Recht, den Handel weiterzuführen, auf seine Witwe über, und Emmeline hatte sich fest vorgenommen, das Geschäft zu neuer Blüte zu bringen. Es war ihr Lebensinhalt geworden, ungeachtet der unablässigen Ermahnungen ihrer Mutter, mehr auf ihr Äußeres zu achten, um wieder einen Ehemann zu finden. Ihre Mutter durfte nie erfahren, was Giffard ihr hinter verschlossenen Türen angetan hatte. Nichts von den Demütigungen und Beschimpfungen, den Fußtritten und Schlägen, bis er sie eines Tages die Treppe hinuntergestoßen hatte. Emmeline schüttelte den Kopf, um die quälenden Erinnerungen zu bannen.

„Wir haben uns also unnötig Sorgen gemacht, wie, petite amie?“ Marie schlang den Arm um Emmeline. „Die See stellt uns Frauen oft auf eine harte Probe.“ Ihr Tonfall klang heiter, doch ihre Augen glänzten feucht, als sie die raue Hand ihres Mannes dankbar drückte.

Geoffreys Aufmerksamkeit galt wieder dem Entladen des Schiffes. „Ich werde im Lagerhaus gebraucht“, verkündete er. „Ich will die Säcke und Kisten zählen und prüfen, ob nichts beschädigt ist.“ Er fing Emmelines Blick auf, deren Wangen und Nase vom kalten Wind gerötet waren. „Aber es ist gewiss alles in Ordnung. Ich werde dir genau berichten. Willst du mit uns essen, Emmeline? Marie hat uns gewiss ein kräftiges Morgenmahl bereitet.“ Er zwinkerte seiner Frau liebevoll zu.

Emmeline schüttelte den Kopf. „Danke für die Einladung, mein Freund, aber ich warte auf den Bootsführer und muss die Mannschaft auszahlen.“

„Aber Emmeline“, gab Marie zu bedenken, „die Männer haben noch Stunden zu tun. Du holst dir den Tod hier auf dem windigen Landesteg. Komm, ich habe dich ewig nicht gesehen.“ Die Wollröcke schlugen Emmeline um die Beine, ihre Füße waren eiskalt geworden, und sie geriet in Versuchung, die Einladung anzunehmen.

„Ich sage Monsieur Lecherche Bescheid, wo er dich findet, wenn die Männer fertig sind“, fügte Geoffrey aufmunternd hinzu. Mit vor Kälte wässrigen Augen blickte Emmeline zu den Lagerschuppen hinüber, die den Hafen an der Flussmündung säumten. Geoffreys Haus mit einem hohen Schindeldach, das auch als Warenlager diente, war das stattlichste Gebäude.

„Geht schon voraus, es dauert nicht mehr lang“, willigte Emmeline schließlich lachend ein. „Ich sehe Monsieur Lecherche bereits an Deck. Er wird bald übersetzen. Wenn ich mit ihm gesprochen habe, komme ich nach. Versprochen.“

Mit gespreizten Beinen, um das sanfte Schaukeln auszugleichen, stand Lord Talvas of Boulogne im Bug der Belle Saumur und blickte missmutig zum kleinen Hafen hinüber. Barfleur anzulaufen bedeutete für ihn, zwei weitere Tage nach Norden zu reiten, um seine Eltern zu besuchen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er den größeren Hafen von Boulogne gewählt. Unglücklicherweise war das Großsegel seines Schiffes bei der letzten Überfahrt nach England der Länge nach gerissen und erforderte umfangreiche Ausbesserungsarbeiten, wodurch er gezwungen war, das nächste Schiff zu nehmen, bevor die Winterstürme einsetzten. Er wollte Weihnachten mit seinen Eltern verbringen und auf seinen Ländereien in der Normandie nach dem Rechten sehen, ehe er wieder nach England zurückkehrte. Er hielt sich nicht gern lange in der Normandie auf, da ihn mit diesem Land zu viele schmerzliche Erinnerungen verbanden. Als sein Schwager Stephen von seiner bevorstehenden Reise nach Boulogne erfuhr, hatte er Talvas gebeten, der Kaiserin Maud einen Besuch auf ihrer Burgfeste in Torigny abzustatten, um etwas über die Pläne der einzigen legitimen Tochter von König Henry I. in Erfahrung zu bringen, die als Unruhestifterin berüchtigt war. Maud, eine Enkelin von Wilhelm dem Eroberer, nannte sich nach dem Tod ihres deutschen Gemahls Kaiser Heinrich V. fortan imperatrix und führte das Siegel einer Kaiserin. König Henry, der ohne männliche Erben war, hatte seine Barone verpflichtet, Prinzessin Maud als Thronerbin anzuerkennen. Also musste Talvas damit rechnen, einige Wochen in diesem verhassten Land zu verbringen. Er schwang die sehnigen Beine über die hohe Bootswand, kletterte die Strickleiter nach unten und sprang in den Kahn.

Die Sonne begann die Dunstschwaden aufzusaugen, als der kleine Hafen erwachte. Einige Fischerboote, die kurz vor Morgengrauen ausgelaufen waren, kehrten bereits mit reichem Fang zurück. Die zuckenden Fischleiber in den Holzkisten glänzten silbrig. Die Fischer entluden ihren Fang weiter flussaufwärts direkt neben dem Markt von Barfleur, wo ihre Boote sich drängten und gegeneinander stießen, da jeder sich den besten Platz am Ufer sichern wollte.

Emmeline wippte auf und ab, krümmte die Zehen, um ihre Füße zu wärmen, während sich hinter ihr der wuchtige Querbalken des einzigen Lastkrans von Barfleur langsam in Bewegung setzte und Weinfässer aus einem Kahn hievte, der am Steg festgemacht hatte. Von den bauchigen Fässern fanden nur drei Stück in einem Boot Platz. Die zwei Männer, die den Kran bedienten, ächzten vor Anstrengung, während sie an dem faustdicken Seil zogen, das am Ende des Querbalkens befestigt war, um die Last aus dem flachen Kahn zu heben. Sobald das Fass in dem verschnürten Netz über den Holzplanken schwebte, setzte das knirschende Geräusch ein, mit dem der senkrechte Pfosten in der Höhlung des Steins gedreht wurde, um das Fass zu dem am Ufer wartenden Ochsenkarren zu schwenken.

Emmeline beobachtete, wie das Ruderboot, in dem ihr Schiffsführer stand, sich dem Ufer näherte. Sie kniff die Augen zusammen. Die grelle Spiegelung der tief stehenden Wintersonne auf den tanzenden Wellen blendete sie. Irgendwie erschien ihr Monsieur Lecherche größer und breiter als sonst. Vermutlich hatte auch er sich mit mehreren Schichten wollener Kleidung gegen die Kälte geschützt. Normalerweise blieb er an Bord, bis die Fracht vollständig entladen war, und wachte darüber, dass keiner der Seeleute sich heimlich etwas in die Tasche steckte. Da auf seine Besatzung absoluter Verlass war, fürchtete Emmeline, er sei vorzeitig von Bord gegangen, um ihr einen Schaden zu melden.

Als das Boot mit beängstigender Geschwindigkeit über den Kies knirschte, blieb ihr der Mund offen stehen. Der Hüne, der über den Bootsrand ins seichte Wasser sprang, war nicht ihr Bootsführer! Es war aber kein anderes Segelschiff am Horizont zu sehen! Was in Gottes Namen hatte dieser Fremde auf ihrem Schiff zu suchen? Es war ihr strikter Grundsatz, keine Passagiere zu befördern. Das wusste Lecherche genau.

Verdutzt sah sie, wie der Mann in langen Sätzen über die Mole direkt in ihre Richtung stürmte. Gleich bleibt er stehen, dachte Emmeline, ohne zurückzuweichen. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von ihm gewonnen, funkelnd blaue Augen unter buschig schwarzen Brauen und scharf geschnittene Gesichtszüge, bevor sein mächtiger Körper gegen sie prallte, sie nach hinten schleuderte und unter seinem schweren Gewicht begrub. Hinter ihnen krachte ein Weinfass mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Steg, ein Schwall gaskonischen Weins ergoss sich sprudelnd auf die Planken und sickerte durch die Ritzen.

Das Gesicht an den Wollumhang des Berserkers gepresst, der nach Meer und Tang roch, versuchte Emmeline wütend und halb erstickt zu protestieren. Sein mächtiger Körper presste ihr die Luft aus den Lungen und drückte sie schmerzhaft auf die harten Holzplanken. Arme und Beine unter seinem Gewicht gefangen, konnte sie sich nicht zur Wehr setzen.

„Runter von mir! Lasst mich los!“, stieß sie gepresst hervor. Das bleierne Gewicht rollte von ihr. Sie hatte das Gefühl, der Hüne habe ihr sämtliche Knochen gebrochen und die Rippen eingedrückt. Benommen und nach Atem ringend, setzte sie sich auf und fasste mit zitternden Händen an ihren schmerzenden Hinterkopf. Ihre blonde Haarfülle wallte ihr über Schultern und Rücken. Wo war ihre Kapuze? Fahrig tastete sie danach. Im vergeblichen Versuch, ihre Würde zu wahren, zog sie die Kapuze tief in die Stirn, um die widerspenstige Mähne darunter zu verbergen. Dann hob sie den Blick und begegnete dem spöttischen Funkeln blauer Augen.

„Ist es nicht noch ein wenig früh am Tag, um Eurem Gewerbe nachzugehen, Madame?“, fragte er trocken. „Oder ist für Euch die Nacht noch nicht zu Ende?“

Emmeline kniff beschämt und empört zugleich die Augen zu.

2. KAPITEL

Was fällt Euch ein, Monsieur, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“ Entrüstet versuchte Emmeline, auf die Füße zu kommen, wobei ihr erneut ein paar widerspenstige blonde Locken ins Gesicht fielen. Und dann wäre sie vor Schreck beinahe wieder umgefallen beim Anblick des Fremden, der sich wie ein bedrohlicher Bär über ihr auftürmte. Seine untere Gesichtshälfte war von Bartstoppeln verdunkelt, eine Locke seines kurz geschnittenen schwarzen Haares hing ihm in die Stirn, der Wind blähte seinen Umhang, verdeckte die Sonne und warf einen unheilvollen Schatten über sie.

Ein seltsamer Schauer durchrieselte sie. War es Angst oder eine andere Empfindung, die sie nicht zu deuten wusste? Dieser unverschämte Fremdling hatte kein Recht, sie einzuschüchtern, mochte er von ihr denken, was er wollte. Er ist nur ein Mann, beschwor sie sich. Nach allem, was Giffard ihr angetan hatte, wusste sie nun wenigstens, mit Männern umzugehen. Nur Mut! Ihr Blick wanderte argwöhnisch von schweren Lederstiefeln, die er an seinen kraftvollen Beinen trug, nach oben zum braunen Lederwams, das seinen breiten Brustkorb umspannte. Der flatternde dunkelblaue Umhang wies ihn als Edelmann aus. Nur Adelige trugen dieses kostbare Indigoblau, ein Blau, das zur Farbe seiner Augen passte, deren Strahlkraft ihren Herzschlag ins Stolpern brachte.

„Wie, wenn ich bitten darf, soll ich eine Dirne sonst ansprechen?“ Sein hochmütiger Tonfall machte sie nur noch wütender.

Mit fahrigen Händen begann Emmeline ihre Haarfülle wieder unter der Kapuze zu bändigen. Ihr Kopf schmerzte unter der Berührung ihrer Finger. „Ich bin keine Dirne, Monsieur. Nur ein Dummkopf würde mich mit einer Hure verwechseln.“

Der Fremde lachte tief und kehlig. „Dann bin ich wohl ein Dummkopf. Soweit ich weiß, wagt sich nur eine Dirne oder eine ausgesprochen törichte Frau mit offenem Haar in eine Hafengegend, ohne auf ein frivoles Abenteuer aus zu sein. Zu welcher Sorte zählt Ihr?“

„Das geht Euch nichts an!“

„Es geht mich sehr wohl etwas an, seit ich Euch vor dem herabstürzenden Weinfass gerettet habe. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, denn vermutlich hätte kein anderer einer wie Euch das Leben gerettet.“

Gütiger Himmel, er hält mich tatsächlich für eine Hure, dachte sie erschrocken. „Und wieso habt Ihr es getan?“, fragte sie spitz.

Er zog die breiten Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber wer will schon zusehen, wenn ein Leben unnötig vergeudet wird. Das Fass hätte Euch zerquetscht.“ Er blickte anmaßend über seine kühn geschwungene Nase auf sie herab. „Im Übrigen hätte jede andere sich mittlerweile bei mir bedankt.“

„Danke schön“, säuselte sie spöttisch. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Sie raffte Umhang und Röcke um sich und überlegte, wie sie möglichst würdevoll auf die Beine kommen könnte, ohne dass dieser hochfahrende Fremdling ihre Behinderung bemerkte. Wenn sie sich nur an etwas hochziehen könnte! Je schneller sie diesen grässlichen Kerl loswurde, umso besser.

„Ich helfe Euch“, bot er ihr an. Sie starrte auf seinen vornehmen Lederhandschuh, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie wie ein Häufchen Elend in ihren abgetragenen Schuhen und heruntergerutschten Beinlingen vor ihm kauerte. „Ich schaffe es alleine“, murmelte sie zähneknirschend.

„Wie Ihr wünscht.“ Er zog die Hand zurück und richtete sich auf.

Mittlerweile lungerten ein paar Hafenarbeiter in der Nähe herum, einige mit besorgter Miene, andere registrierten ihre Demütigung mit einem leichten Grinsen. Zornig schob sie die Röcke nach unten und bedeckte ihre Füße, als ein Kaufmann sich einen Weg durch die Gaffenden bahnte.

„Madame de Lonnieres, Ihr seid es! Ich bitte tausendmal um Entschuldigung“, versicherte der untersetzte Mann in heller Aufregung und wedelte mit feisten Händen vor seinem aufgeregt geröteten Gesicht herum. „Erst vorhin habe ich die Seile noch überprüfen lassen, das müsst Ihr mir glauben.“

„Offenbar nicht sorgfältig genug“, bemerkte der Fremde trocken. „Die Frau wäre beinahe von dem herabstürzenden Fass erschlagen worden.“ Er musterte den beleibten Mann finster.

Die Splitter der Fassbretter lagen auf dem Steg verstreut wie Knochen eines Skeletts. Der Rotwein versickerte wie Blut in die Planken des Stegs. Über der makaberen Szene zogen die Möwen ihre Kreise, deren Schreie wie Todesklagen klangen.

„Madame?“

Die Stimme des Fremden drang wie durch Nebel an Emmelines Ohr, der erst jetzt wirklich bewusst wurde, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Da sie nicht reagierte, beugte er sich über sie, legte seine Hände unter ihre Achseln und zog sie auf die Füße.

„Monsieur!“, schrie sie aufbrausend, als sie seine Finger gefährlich nahe an den Unterseiten ihrer Brüste spürte. In ihrer Magengrube setzte ein Flattern ein, das sie hastig verdrängte. Sie wich ein paar Schritte zurückwich, nachdem sie auf den Füßen stand. „Fasst mich nicht an!“, zischte sie.

Er ließ sie jäh los. „Keine Sorge, Madame, ich habe nicht die Absicht, Nutzen aus Eurem ‚Gewerbe‘ zu ziehen.“ Der Blick seiner blauen Augen heftete sich verwirrend tief in die ihren. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass Ihr sicher auf den Füßen steht.“

Emmeline richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, nur um festzustellen, dass ihr geradeaus gerichteter Blick bis zur Verschnürung seines Wamses reichte. Sie bog den Kopf in den Nacken, bebend vor Zorn. „Nun seht mich genau an!“ Sie stocherte mit dem Zeigefinger angriffslustig nach ihm, um diesen schwarzhaarigen Barbaren endgültig in seine Schranken verweisen. „Ihr habt wohl keine Augen im Kopf! Ich bin viel zu alt, um … um so eine zu sein!“

Die Mundwinkel des Fremden zuckten, dann erhellte ein breites Lächeln seine hageren Gesichtszüge. Diese Frau, die ihm kaum bis zu den Schultern reichte, amüsierte ihn – nein, sie weckte sein Interesse, dabei sollte er sie wegen ihrer Unbotmäßigkeit in Ketten legen lassen. Er musterte sie aus halb verhangenen Augen, wie sie aufrecht, stolz und störrisch vor ihm stand. Ihr auffallend goldblondes Haar war mittlerweile wieder unter der weiten Kapuze verborgen, ihre großen grünen Augen blitzten in ihrem schmalen alabasterhellen Gesicht, das in ihm den absurden Wunsch weckte, ihre Wange zu streicheln. Die verführerischen Rundungen ihrer zierlichen Figur unter dem weiten Umhang hatte er bereits ertastet. Als er sie auf die Füße zog, hatte sie sich leicht wie eine Feder angefühlt.

Er schüttelte den Kopf. „Ich muss Euch widersprechen, Madame.“ Seine tiefe melodische Stimme umschmeichelte Emmelines Ohr. „Mit Eurer Schönheit und Eurer Gestalt könnt Ihr einem Mann gewiss Vergnügen bereiten.“ Seine unverschämten Worte trafen sie wie Faustschläge und zerschmetterten ihre mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung. Mit geballten Fäusten, die Wangen flammend rot übergossen, wich sie noch einen Schritt nach hinten.

„Ihr geht entschieden zu weit, Monsieur! Ihr solltet Euch schämen!“

Seine Miene blieb gleichmütig. Der Wutausbruch dieses kleinen Zankteufels war ihm eine willkommene Ablenkung nach der anstrengenden Überfahrt. Zerstreut fragte er sich, wie weit er sie reizen konnte, bevor sie die Beherrschung endgültig verlor.

„Nun, Monsieur? Was habt Ihr zu Eurer Rechtfertigung vorzubringen?“

Sie behandelte ihn wie ein Kind, verweigerte ihm beharrlich den nötigen Respekt, den ein Edelmann verdiente – nein, den sie im schuldete. Offenbar hatte sie keine Ahnung, wer er war und welchen Rang er repräsentierte.

„Seid Ihr immer so übellaunig und zänkisch?“

Die Knöchel ihrer geballten Fäuste schimmerten hell, so sehr drückte sie ihre Fingernägel ins Fleisch ihrer Handflächen. Am liebsten hätte er aufgelacht. Hatte sie tatsächlich die Absicht, ihn anzugreifen? Er zog hochmütig eine dunkle Braue hoch. Offenbar verstand sie den Wink, verzog die Mundwinkel und öffnete die Fäuste. Er beobachtete sie gelassen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich vor Frauen in Acht zu nehmen, deren geziertes Benehmen häufig ihr wahres Wesen verbarg. Aber dieses zierliche Geschöpf war keine Hure. Die heftige Röte aus Scham und Wut, die ihr zartes Gesicht bei seinen abfälligen Bemerkungen überflog, war ihm Beweis genug.

„Emmeline, Emmeline, was ist geschehen?“ Geoffrey eilte atemlos herbei. „Ich hörte den ohrenbetäubenden Krach im Lagerhaus … Oh, Lord Talvas, ich wünsche Euch einen guten Morgen.“ Zu Emmelines großem Erstaunen zog Geoffrey den Hut und verneigte sich ehrerbietig vor dem Fremden.

„Kennst du diesen Mann etwa?“, fragte Emmeline herrisch.

Geoffrey lächelte. „Aber natürlich. Wir überquerten gemeinsam den Ärmelkanal.“

„Auf meinem Schiff?“, hakte sie schneidend nach.

„Auf Eurem Schiff?“ Der Fremde zog eine Braue hoch. „Meint Ihr nicht das Schiff Eures Vaters? Oder das Eures Ehemanns?“

„Nein, ich spreche von meinem Schiff. Mein Schiff, das unter keinen Umständen fremde Passagiere aufnimmt. Wie kommt es, dass Monsieur Lecherche …?“

„Emmeline!“ Geoffreys sonst so ruhige Stimme hatte einen warnenden Unterton angenommen, als er sie am Ärmel zog. „Verzeiht, Mylord, ich habe versäumt, Euch vorzustellen.“ Er räusperte sich. „Lord Talvas of Boulogne, darf ich Euch Madame Emmeline de Lonnieres vorstellen? Sie ist die Eignerin der Belle Saumur.“

„Enchanté“, murmelte Lord Talvas, streifte den Handschuh ab und ergriff mit warmen sehnigen Fingern Emmelines eiskalte Hand. Er wirkte allerdings keineswegs entzückt, als er sich über ihre Hand neigte, wobei ihm eine rabenschwarze Locke in die Stirn fiel. Emmeline widerstand dem Drang, ihm ihre Finger brüsk zu entziehen. Er hob den Kopf und begegnete ihrem argwöhnisch musternden Blick.

„Ihr hättet mich darüber aufklären sollen, wer Ihr seid, Madame“, sagte er mit leisem Vorwurf, während er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich begegnete man nicht alle Tage einem weiblichen Schiffseigner.

„Ihr habt mir keine Gelegenheit gegeben mit Euren voreiligen Anschuldigungen.“ Die Brust wurde ihr seltsam eng, als sie erneut in den Bann seiner blauen Augen geriet, und sie war sich seines festen Händedrucks beklommen bewusst. Hastig entzog sie sich ihm und schlug die Augen nieder.

Geoffrey spürte die Spannung zwischen den beiden, ohne sich den Grund dafür erklären zu können. „Die Mutter von Lord Talvas ist die Schwägerin des Königs, Emmeline. Lord Talvas kehrt von einem Besuch seiner Ländereien in England zurück.“ Geoffrey legte großen Nachdruck in seine Worte.

„Und aus welchem Grund?“ Emmeline bemühte sich keineswegs, höflich zu sein, missachtete absichtlich Geoffreys ausdrücklichen Hinweis auf die verwandtschaftlichen Beziehungen dieses Rüpels mit König Henry und weigerte sich beharrlich, sich von seinem hohen Rang einschüchtern zu lassen. Immerhin gab es auch für den Adel Grundregeln der Höflichkeit.

„Emmeline, auf ein Wort.“ Geoffrey nahm sie beiseite. „Vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden. Lord Talvas’ Schwester ist mit Stephen of Blois verheiratet, dem Enkelsohn von Wilhelm dem Eroberer. Du sprichst mit einer Königlichen Hoheit. Ich rate dir dringend, ihm den nötigen Respekt zu erweisen.“

„Pah, Respekt!“, zischte sie. „Dieser Mensch hat selbst keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Der unverschämte Kerl hielt mich für eine Hafendirne …“

„So gern ich hier den ganzen Tag herumstehen und Höflichkeiten austauschen würde“, unterbrach Lord Talvas das leise geführte Gespräch, „doch ich muss mich verabschieden. Meine Pferde werden entladen.“

Zwei glänzend gestriegelte Pferde, eine kastanienbraune Stute und ein schwarzer Hengst, deren Geläuf mit Jutesäcken umwickelt war, um sie vor Verletzungen auf dem Seetransport zu schützen, wurden von einem hochgewachsenen blonden Mann behutsam an den aufgestapelten Kisten und Weinfässern an der Hafenstraße vorbeigeführt. Als er Lord Talvas erkannte, ließ er die Zügel los und winkte freudestrahlend herüber.

„Mylord! Welche Freude, dich zu sehen. Dem Himmel sei Dank, dass du wohlbehalten gelandet bist.“ Er schlug Lord Talvas mit derber Hand freundschaftlich auf den Rücken.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Guillame. Nimm die Zügel auf, bevor die Pferde durchgehen.“ Talvas erwiderte den Schlag auf die Schulter, eine kameradschaftlich vertrauliche Geste, die Emmeline verwunderte. „Woher weißt du, dass ich hier an Land gehe?“

Guillame schlang sich die Zügel um die Hand. „Ich wusste, dass du entweder in Boulogne oder in Barfleur landest. Die Gefolgsmänner deines Vaters warten in Boulogne, also nahm ich hier in Barfleur Quartier. Seit beinahe zwei Wochen komme ich jeden Morgen zum Hafen, um deine Ankunft zu erwarten.“

„Jeden Morgen?“, platzte Emmeline heraus, verblüfft über die Treue des Mannes. Nun entsann sie sich, sein offenes Gesicht gesehen zu haben … jeden Morgen. „Aber Ihr seid nicht auf Eurem Schiff gereist, Mylord?“ Sie wandte sich fragend an Lord Talvas. „Wieso habt Ihr mein Schiff genommen?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf eine Erklärung.

„Mein Schiff wurde auf der Überfahrt nach England beschädigt und muss repariert werden. Zum Glück begegnete ich Eurem Bootsführer Monsieur Lecherche, der sich bereit erklärte, mich mitzunehmen.“ Sein Blick heftete sich auf Emmelines volle Lippen, während er sich auf eine weitere respektlose Entgegnung von ihr gefasst machte.

„Damit hat er gegen meine Anweisungen verstoßen“, erwiderte Emmeline tadelnd. „Er ist nicht befugt, Passagiere mitzunehmen.“

„Nun, er hat für sein Entgegenkommen eine hübsche Summe verlangt. Aus meinem Unglück habt Ihr Gewinn geschlagen, Madame.“

„Es geht mir nicht um Gold. Ihr hättet irgendwer sein können ein … ein Pirat, der mir mein Schiff raubt.“ Emmeline wusste, dass ihr Einwand wenig überzeugend klang. In Wahrheit kam ihr jede Summe gelegen, da sie durch Giffards Misswirtschaft immer noch Schulden zu tilgen hatte.

Lord Talvas lächelte spöttisch, und hinter dem dunklen Schatten seines Stoppelbarts blitzten weiße Zähne. „Ich bin aber nicht irgendwer. Ich bin Talvas of Boulogne und kein Fremder für Euren Bootsführer.“ Er blickte ihr wieder tief in die Augen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nein, er war nicht irgendwer. Er war ein umwerfend gut aussehender Mann, vor dem sie sich in Acht nehmen musste. Sie verschränkte abweisend die Arme vor der Brust; seine verwirrende Wirkung auf sie schwächte ihr Selbstvertrauen.

Guillame ergriff das Wort und ersparte ihr eine Erwiderung. „Nach ein paar Tagen vergeblichen Wartens war mir klar, dass dein Schiff zu Schaden gekommen sein muss“, erklärte er. „Deshalb erkundigte ich mich bei den Schiffseignern, ob sie einen Transport aus England erwarteten. Wie sich herausstellte, wartete nur noch Madame de Lonnieres auf ihr Schiff.“ Nun entsann Emmeline sich, dass der junge Mann ihr vor ein paar Tagen Fragen gestellt hatte.

„Und mir war das Glück hold“, stellte Lord Talvas fest, den Emmelines finstere Miene erheiterte. Dieser Frau lag offenbar das Schicksal ihres Schiffes mehr am Herzen als das eines Menschen. „Wie gut, dass ich das letzte Schiff fand, das die Überfahrt noch vor den Winterstürmen wagte.“ Er wandte sich wieder an Guillame. „Erwartet man uns?“

„Morgen, Mylord. Ich habe eine Herberge im Ort gefunden.“ Guillame beschwichtigte die Pferde, als eine kreischende Schar Möwen dicht über ihre Köpfe flog, und lehnte seinen breiten Rücken gegen die unruhig tänzelnden Tiere. „Talvas, es ist etwas geschehen“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Aber ich weiß nicht, was es ist. Die Kaiserin verkündete gestern, sie beabsichtigt, so rasch wie möglich nach England zu reisen. Sie sucht dringend ein Schiff.“

Talvas’ Miene versteinerte. Er warf Emmeline und Geoffrey einen argwöhnischen Blick zu. „Morgen wird sie mich gewiss Näheres wissen lassen“, murmelte er und brachte Guillame mit einem warnenden Stirnrunzeln zum Schweigen. Dann tätschelte er sein Pferd, stellte den Fuß in den Steigbügel, schwang sich in den Sattel und hielt die Zügel straff. Der Faltenwurf seines blauen Umhangs breitete sich über den glänzenden Pferderumpf. Er setzte seinen zerbeulten, vom Salzwasser fleckigen Hut auf und blickte zu Emmeline herab. „Madame, ich verabschiede mich. Es war mir ein Vergnügen, das ich allerdings nicht wiederholen möchte.“ Damit lenkte er den Hengst durch die Menschenmenge, die sich am Hafen versammelt hatte, gefolgt von Guillame auf der braunen Stute.

„Ganz meinerseits“, murmelte Emmeline, an seinen breiten Rücken gerichtet.

„Du wirst es nicht glauben, Maman. Der unhöflichste Rüpel, der mir je begegnet ist!“ Emmeline saß auf dem Hocker und rieb sich die Arme, ihre Hände und Füße fühlten sich eiskalt und taub an vom langen Warten auf der Mole. Und sie war noch aufgewühlt von der unliebsamen Begegnung mit diesem Lord Talvas, der ihr schmachvoll bewiesen hatte, wie töricht ihr Vorsatz war, sich nie wieder von einem Mann einschüchtern zu lassen. Mit klammen Fingern tastete sie nach dem Amulett aus Jade an ihrem Hals. Es gab ihr Trost, den kostbaren Stein zu spüren, und sie dachte an die weisen Worte ihres Vaters. Anselm Duhamel hatte gelegentlich eines seiner Schiffe auf große Fahrt begleitet. Von einer Handelsreise nach Norden hatte er ihr die Halskette mitgebracht. Noch im gleichen Jahr war das Unglück geschehen. Sein Schiff zerschellte an der Felsenküste, und alle Mann an Bord ertranken. Das war kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Emmeline hatte den schmerzlichen Verlust nie wirklich überwunden, was sie sich aber nur selten eingestand. Sie wusste jedoch auch, dass ihr Vater stolz auf sie wäre, weil sie sein Vermächtnis in Ehren hielt. Vorsichtig steckte sie das Amulett wieder in den Ausschnitt ihres hellgrünen Bliauts, jenes in der Taille geschnürten Übergewands.

„Halt still, Kind, sonst kann ich dein zerzaustes Haar nicht entwirren“, schalt ihre Mutter. Felice Duhamel zerrte unbarmherzig mit einem Hornkamm an den langen Locken. „Wie war gleich der Name des Mannes?“

Emmeline griff nach dem Becher mit gewürztem heißen Apfelmost. Der heiße Dampf wärmte ihr die Finger und das Gesicht. Vorsichtig nippte sie daran, um sich den Mund nicht zu verbrennen. Das süße Gebräu benetzte ihre Kehle und breitete eine wohltuende Wärme in ihr aus, wirkte wie Balsam auf ihren inneren Aufruhr.

„Emmeline?“

„Sein Name ist Lord Talvas of Boulogne. Ich habe noch nie von ihm gehört, aber Geoffrey meint, ich müsse ihn kennen.“

Das Zerren hörte auf.

„Maman? Emmeline drehte sich über die Schulter zu ihrer Mutter um, die schreckensbleich geworden war. In der engen Stube war es halbdunkel. Draußen hatten sich graue Wolken vor die Sonne geschoben, es würde bald regnen.

„Guter Gott, Emmeline, was hast du zu ihm gesagt? Lord Talvas ist aus königlichem Geblüt … du weißt, wer sein Schwager ist …“

„Ja, das weiß ich, Maman“, fiel Emmeline ihr ins Wort. „Er ist ein angeheirateter Neffe des Königs von England und Herzogs der Normandie …“

„Er hätte dich in den Kerker werfen können wegen deiner Aufsässigkeit.“

Emmeline stellte den Becher hart auf den hell gescheuerten Eichentisch, sprang auf und zog an dem Kamm, der sich im Gewirr ihrer Haare verheddert hatte. Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn bei dem Gedanken an den abscheulich hochnäsigen Kerl. Durch das hastige Aufspringen fuhr ihr ein stechender Schmerz in den verletzten Fußknöchel, sie suchte Halt am Küchentisch, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

„Ich weiß nur, Mutter, dass er mich beschuldigte … ein loses Frauenzimmer zu sein.“ Da! Sie hatte es ausgesprochen.

Ihre Mutter starrte sie mit offenem Mund an. „Mein Gott, Emmeline!“ Felice griff nach den kalten Händen ihrer Tochter. „Was hast du getan? Lieber Himmel, es ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du mit offenem Haar aus dem Haus läufst.“

Emmeline biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. Sie hätte ihre Mutter nicht aufregen dürfen, die furchtbar unter dem Verlust ihres Ehemanns gelitten hatte und nach seinem Tod tagelang weinend im Bett lag. Emmeline war stets bemüht, ihr keinen Kummer zu bereiten, wollte sie trösten und beschützen. Nun ging sie vor ihr in die Knie und nahm sie bei den Händen. „Nimm es dir nicht zu Herzen, Mutter. Er hat gewiss bereits vergessen, dass ich überhaupt existiere. Im Übrigen wurde das Missverständnis mit Geoffreys Unterstützung aufgeklärt, der ihm sagte, wer ich bin. Wahrscheinlich sehe ich den Mann nie wieder in meinem ganzen Leben.“ Sie richtete sich auf und nahm ihre Mutter in die Arme. „Willst du mir das Haar weiter kämmen und zu einem ordentlichen Zopf flechten?“ Sie reichte Felice den Kamm und setzte sich wieder ans Feuer.

Felice musterte ihre Tochter bang, bevor sie den Kamm wieder durch das lange blonde Haar zog. Sie kannte diesen eigensinnigen Ausdruck und wusste, dass sie vergeblich auf weitere Einzelheiten des peinlichen Vorfalls warten würde. Mit der gleichen störrischen Verschlossenheit reagierte Emmeline, wenn Felice ihr Fragen über ihre Ehe mit Giffard de Lonnieres stellte. Über diese Verbindung schwieg sie wie ein Grab. Felice war jedoch nach wie vor der Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, Emmeline damals mit Giffard verheiratet zu haben, als der reiche Kaufmann zwei Jahre nach Anselms Tod um ihre Hand angehalten hatte. Felice war immer davon ausgegangen, Emmeline führe eine glückliche Ehe. Als aber Giffard bei einem Jagdunfall ums Leben kam, hatte Emmeline seltsam ungerührt, ja erleichtert gewirkt.

Nachdem das Haar ihrer Tochter zu zwei dicken Zöpfen geflochten war, die ihr wie goldene Stränge über den Rücken hingen, nahm Felice einen dichten Leinenschleier aus dem Weidenkorb und befestigte ihn unter einem schmalen Goldreif auf ihrem Scheitel, den sie mit Nadeln feststeckte. Dabei nahm sie sich fest vor, Emmeline nie wieder mit offenem Haar aus dem Haus zu lassen. Welche Schande!

„Geoffrey brachte mir eine Nachricht von Sylvie“, begann Emmeline nach einer Weile und brach das Schweigen. Sie holte das knisternde Pergament aus dem Beutel an ihrem Gürtel. Mittlerweile war es draußen noch dunkler geworden. Der Regen prasselte leise gegen die straff gespannte Ziegenhaut an den Fensteröffnungen.

„Was schreibt sie?“, fragte Felice teilnahmslos. Sie hatte ihrer ältesten Tochter nie verziehen, ihr Kind im Stich gelassen zu haben.

„Es scheint ihr nicht gut zu gehen in England, Maman. Ich werde sie besuchen.“

„Wieso eigentlich? Sylvie hat sich dafür entschieden, Barfleur und uns den Rücken zu kehren mit … diesem Mann. Und sie hat ihr Kind im Stich gelassen.“ Felice stocherte mit dem Schürhaken aufgebracht in der Glut. Ein Funkenregen stieg auf, die Flammen züngelten am Wasserkessel hoch, der über dem Feuer hing. Der würzige Duft nach frisch gebackenem Brot im Ofen erfüllte die Stube.

Emmeline wandte sich wieder an ihre Mutter. Ihr großen grünen Augen glänzten in ihrem bleichen, herzförmigen Gesicht. „Weil sie deine Tochter und meine Schwester ist. Weil wir die Pflicht haben, uns um sie zu kümmern, trotz allem, was sie sich zuschulden kommen ließ.“

„Du hast ein gutes Herz, mein Kind“, entgegnete Felice ungerührt. „Aber wenn ich daran denke, was sie uns angetan hat …“, sie schüttelte den Kopf, „… fällt es mir schwer, ihr zu verzeihen.“

„Sie konnte doch nicht wissen, dass die kleine Rose krank wird. Es war nicht ihre Schuld.“

Felice nickte stumm und holte einen runden Laib mit brauner Kruste aus dem Ofen. Emmelines Magen begann zu knurren. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, ohne etwas gegessen zu haben.

„Aber wie willst du nach England kommen?“ Felice schnitt das Brot in dicke Scheiben und hob jäh den Kopf. „Eine Überfahrt um diese Jahreszeit ist doch kaum möglich, ganz zu schweigen von der Rückfahrt.“

„Ich habe eine Idee, Mutter“, sagte Emmeline gedehnt und biss herzhaft in das frische Brot. Sie entsann sich der rätselhaften Bemerkung des jungen Gefährten von Lord Talvas unten am Hafen. „Ich habe das Gefühl, Kaiserin Maud ist auf der Suche nach einem Schiff, das sie nach England bringt.“

Felice entfuhr ein spitzer Schrei. Sie umklammerte die Rückenlehne des Stuhls. Die einzige Tochter von König Henry, Kaiserin Maud, hatte einen furchteinflößenden Ruf und war für ihre Grausamkeit berüchtigt.

„Emmeline, mit solch einer hochgestellten Persönlichkeit hast du nichts zu schaffen. Halte dich von ihr fern! Wieso will sie ausgerechnet jetzt den Kanal überqueren? Gott weiß, was passieren kann. Es ist viel zu gefährlich.“

Emmeline zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Nichts wird passieren, Mutter. Und es geht mich nichts an, aus welchem Grund sie nach England will. Ich weiß lediglich, dass sie einen guten Preis bezahlen wird, vorausgesetzt, ich finde eine erfahrene Mannschaft.“ Lecherche würde in diesem Jahr keine Fahrt mehr wagen, den brauchte sie erst gar nicht zu fragen. Für ihn war das Wetter schon jetzt zu unbeständig und die Strömungen zu gefährlich gewesen. Aber es gab andere Bootsführer, die sie fragen konnte. Mit etwas Glück könnte sie Sylvie schon in einer Woche besuchen.

„Morgen reite ich nach Torigny“, verkündete sie zwischen zwei Bissen.

3. KAPITEL

Kaiserin Maud saß auf einem gepolsterten Hocker am Bett ihres Vaters König Henry. Besorgt nahm sie seine wächserne knochige Hand und schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe diese plötzliche Krankheit nicht, Robert“, sagte sie leise an ihren hageren Halbbruder gerichtet, der an einem der hohen schmalen Fenster des Turmgemachs stand. „Heute früh auf der Jagd war er noch völlig gesund und munter.“

Robert löste den Blick von den kahlen Bäumen des ausgedehnten Laubwalds, und drehte sich um. Sein Haar, das er nach normannischer Art kurzgeschnitten trug, wies den gleichen kastanienbraunen Schimmer auf wie das seiner jüngeren Schwester. Der Earl of Gloucester war seinem hohen Rang entsprechend prächtig gekleidet. Seine eng anliegenden grünen Beinkleider aus feinster Wolle waren vom Knie abwärts mit Lederriemen verschnürt, bis hin zu den knöchelhohen Stiefeln aus weichem Ziegenleder. In dem überheizten Gemach hatte er seine dunkelbraune Tunika abgelegt. Das fein gewebte weiße Leinenhemd stach hell von den feucht glänzenden grauen Mauern ab. Umhang und Schwert hatte er in der Großen Halle abgelegt, als er dabei half, seinen kranken Vater die steinerne Wendeltreppe drei Stockwerke hinauf in den Ostturm zu tragen.

„Offenbar wurde er von einem unerklärlichen Fieber befallen“, stellte Robert fest. „Wir können nichts dagegen tun, Maud. Auch der Arzt ist ratlos.“

Beim Jagdausflug an diesem Morgen war der König plötzlich krank geworden. Robert, der einen Hirsch verfolgte, hatte sich nach seinem Vater umgedreht und ihm zugewinkt, ihm zu folgen. Das bleiche Gesicht des Königs hatte ihm einen Schrecken eingejagt. Noch während Robert kehrtgemacht und vom Pferd gesprungen war, geriet Henry ins Wanken, glitt aus dem Sattel und stürzte ohnmächtig zu Boden.

„Also müssen wir mit seinem Tod rechnen.“ Mauds Worte hallten dumpf von den runden Mauern des Turmgemachs wider, ihre Besorgnis um ihren kranken Vater war nicht zu überhören. Sie hatte ihr Jagdkostüm abgelegt und trug ein wallendes Gewand aus hellrotem Samt, das ihren üppigen Rundungen schmeichelte. Ihre ehemals zierliche Figur, ein Erbgut ihrer Mutter, der angelsächsischen Königin Edith, war seit der Geburt ihres zweiten Sohnes ziemlich unförmig geblieben. Zudem hatte sie die seitlichen Bänder des Bliauts zu eng über ihre Leibesmitte geschnürt.

Die mit kostbaren Juwelen besetzten Ringe an ihren kurzen Fingern funkelten im Widerschein des Feuers. Der in aller Eile herbeigerufene Leibarzt des Königs hatte Anweisung gegeben, das Feuer im Kamin zu schüren, damit die Hitze das Fieber austreibe. Nun prasselten dicke Scheite im mannshohen Steinkamin, in dessen Einfassung kunstvoll verschlungene Ornamentmuster eingemeißelt waren. Maud erhob sich schwerfällig, beugte sich über ihren Vater und küsste ihn auf die bleiche Stirn.

„Denk an dein Versprechen, Vater, das Versprechen, das du mir gegeben hast“, flüsterte sie. Das verächtliche Schnauben vom Fenster her ließ sie die Stirn runzeln.

„Als hättest du ihm je Gelegenheit gegeben, es zu vergessen“, spöttelte Robert und verzog die Mundwinkel. „Haben nicht genug Edle einen Eid darauf geleistet?“

„Ich will es nur noch einmal aus seinem Mund hören!“, entgegnete Maud gereizt.

„Bischöfe, Äbte und Barone des Reiches haben den Schwur geleistet“, rief Robert ihr in Erinnerung. „Was willst du mehr? Alle haben sich damit einverstanden erklärt, dass du nach dem Ableben unseres Vaters die Thronfolge als Königin von England und der Normandie antrittst.“

„Sei nicht ärgerlich mit mir, Robert, das ertrage ich nicht.“ Maud seufzte. „In Wahrheit müsstest du sein Nachfolger werden.“

Robert lachte freudlos. „Der Makel meiner unehelichen Geburt verwehrt mir das Recht, je König zu werden, liebe Schwester. Das würden die Barone niemals dulden.“ Ein Lächeln huschte über seine hageren Gesichtszüge. „Und ich bin zufrieden, wie es ist. Ich habe Gloucester und eine steinreiche Frau.“ Eine Gemahlin, die er wohlweislich auf seine Stammburg verbannt hatte, da es nicht nur auf Torigny ansehnliche Damen gab, mit denen er sich zu vergnügen wusste.

„Ja, eine Gemahlin, die du nur selten siehst, weil du mich ständig begleitest.“

„Der König hat mir deine Sicherheit ans Herz gelegt, wie du sehr wohl weißt.“

„Und dafür bin ich dir dankbar, Robert. Du stehst mir näher als mein Gemahl Geoffrey. Wieso Vater die Heirat mit diesem Einfaltspinsel für mich arrangierte, ist mir ein Rätsel.“

„Nun ja, es war der größte Wunsch unseres Vaters, dich mit Geoffrey of Anjou zu verheiraten.“

„Ein Mann, der elf Jahre jünger ist als ich. Was für ein Witz!“ Maud nestelte am Knoten der golddurchwirkten Kordel an den golddurchwirkten Bettbehängen. „Zuerst verheiratet er mich mit dem deutschen Kaiser, alt genug, um mein Vater zu sein …“

„Zugegeben, mit zwölf warst du damals zu jung …“

„Für die Ehe war ich alt genug, Robert, aber nicht für die Ehe mit einem alten Mann, dessen Sprache ich kaum verstand. Das Bett mit ihm zu teilen war wie …“

Robert hob abwehrend die Hand. „Erspare mit die Einzelheiten. Ich kann mir denken, wie schwer es für dich war.“

Maud verzichtete auf eine weitere Bemerkung und nestelte wieder an der Vorhangschnur. „Mein Gott, wann lernen die Mägde endlich, die Kordeln richtig zu binden? Ich habe es ihnen hundertmal gezeigt.“ Missgelaunt stand sie auf, warf die Schleppe hinter sich und strich glättend über die Falten ihres Bliauts. „Ach Robert, wie ich dieses Warten hasse!“ Sie streckte sich, um die Spannung in ihrem Rücken loszuwerden. „Sollten wir nicht noch mal zur Jagd reiten, statt ihn anzustarren und abzuwarten, bis er … uns verlässt?“

Robert war in drei langen Sätzen bei ihr und nahm sie bei den Schultern. Er spürte ihre Anspannung und Beklommenheit, als sie die Arme abweisend vor der Brust verschränkte. Er kannte ihre ehrgeizigen Pläne. Ihr größtes Ziel bestand darin, Königin zu werden. Sie lebte in der felsenfesten Überzeugung, einen rechtmäßigen Anspruch auf die Thronfolge zu haben – und duldete keinen Widerspruch. „Nein, Maud. Es ist unsere Pflicht, unserem Vater in seiner Todesstunde beizustehen.“

Maud nickte und blickte sinnend auf die reglose Gestalt im Bett, als wolle sie sich die hageren Gesichtszüge ihres Vaters einprägen. Er war ein strenger und grausamer Herrscher, aber ihr war er immer ein guter Vater gewesen, der sie geduldig alles lehrte, was sie wissen musste, um das Reich einst zu regieren. Seine Bemühungen hatten sich nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Bruders William, seinem einzigen legitimen männlichen Erben, deutlich verstärkt. An jenem Tag hatte er seiner Tochter Maud versprochen, dass sie bei seinem Ableben sein Reich erben würde.

Die wachsbleiche Haut spannte sich über seine Wangenknochen und die kühn geschwungene Adlernase. Er starrte mit offenen Augen zum Gebälk hinauf, Augen, die Maud tiefbraun, mit goldenen Einsprengseln in Erinnerung hatte. Augen, die mit ihr gelacht und geweint hatten. Seine schmalen Lippen schimmerten bläulich. Sie horchte auf seinen leise pfeifenden Atem. Ein Röcheln. Und dann nichts mehr. Maud schlug die Hände vors Gesicht. Wenn sie ihren Vater nicht ansah, war der Tod vielleicht nicht wahr.

„Er ist von uns gegangen, Robert. Er ist gestorben. Sieh nur, er atmet nicht mehr.“ Als könne sie die Wahrheit nicht ertragen, wandte sie sich jäh ab, trat an das schmale hohe Fenster und schlang die Arme enger um sich. Robert bekreuzigte sich, bevor er seinem Vater mit sanften Fingern die Augen zudrückte.

Das eiserne Schnappschloss an der schweren Eichentür klickte leise beim Eintreten des Erzbischofs von Rouen, des engsten Vertrauten des Königs.

„Reichlich spät“, murmelte Robert sarkastisch. „Wieso seid Ihr nicht früher gekommen?“

Der Erzbischof trat ans Bett und blickte in die wächserne Totenmaske seines Monarchen. „Der Herr gebe ihm die Ewige Ruhe.“

„Etwas spät, um ihm die letzte Beichte abzunehmen, Eminenz“, bemerkte Robert und bemühte sich, nicht allzu tadelnd zu klingen.

„Ich habe Seiner Majestät bereits die letzte Beichte abgenommen, Earl Robert“, erklärte der Erzbischof in einem schnarrend arroganten Unterton. Eingebettet in die Fettwülste seiner Hängebacken, funkelten kleine Augen. „Falls Ihr daran interessiert seid, es zu hören: Ich habe ihm die Letzte Ölung und die Absolution erteilt. Er ging von uns, wohlversehen mit den heiligen Sterbesakramenten. Gott sei seiner Seele gnädig.“

Maud wandte sich mit fragenden Augen vom Fenster. „Eminenz, sagte mein Vater etwas über …?“

„Worüber?“ Der Erzbischof machte ein erstauntes Gesicht.

„Darüber, dass ich Königin werde. Er hat doch gewiss mit Euch darüber gesprochen, wie?“

Der Bischof schüttelte bereits den Kopf, ehe sie die Frage ausgesprochen hatte. „Nein, Mylady. Davon hat er nichts erwähnt. Er äußerte lediglich den Wunsch, in der Klosterkirche von Reading an der Seite Eurer Frau Mutter beigesetzt zu werden. Allerdings fiel ihm das Sprechen ausgesprochen schwer.“

„Seid Ihr sicher?“ Mauds Stimme überschlug sich vor Aufregung. Sie näherte sich dem beleibten Erzbischof mit Argwohn im Blick.

„Aber ja, Mylady. Ich saß am Bett Eures Vaters und hörte alles, was er sagte. Seine Nachfolge erwähnte er mit keinem Wort. Ich ging davon aus, dass Stephen die Thronfolge antritt.“

Maud zog den Atem scharf ein. „Nein, Ihr irrt gewaltig, Eminenz. Mein Vetter Stephen Count of Blois? Er darf niemals König werden.“

„Aber er ist, besser gesagt, war der Lieblingsneffe Eures Vaters. Ihr beide seid wie Bruder und Schwester zusammen aufgewachsen.“

Maud schüttelte heftig den Kopf und fuhr den Bischof an wie ein bissiger Terrier. Der Fettwanst wich einen Schritt zurück. „Ich bin die rechtmäßige Erbin des Throns, Mylord Erzbischof. Das weiß jedes Kind in England. Gott im Himmel, der gesamte englische Adel hat einen Eid darauf geschworen!“

„Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn der englische Adel eine Frau als Königin duldet …“ Der Erzbischof rieb sich nachdenklich das Doppelkinn. „Noch dazu in Anbetracht Eurer Ehe mit dem Comte de Anjou.“

„Was hat meine Ehe damit zu tun?“, entgegnete Maud spitz.

„Anjou ist seit jeher mit England und der Normandie verfeindet. Seien wir doch ehrlich, Euer Vater und Euer Gemahl redeten seit geraumer Zeit kein Wort miteinander.“

„Eine Belanglosigkeit, Eminenz. Immerhin arrangierte mein Vater meine Heirat mit Geoffrey, da er sich dadurch Frieden zwischen der Normandie und Anjou erhoffte.“

„Was ihm in gewisser Weise auch gelungen ist“, pflichtete der Erzbischof ihr bei. „Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass die englischen Barone einen angevinischen Herzog auf dem Thron von England zu sehen wünschen.“

„Er wird den Thron nicht besteigen, sondern ich!“ Mauds Gesicht rötete sich vor Zorn. „Heilige Mutter Gottes, bin ich dazu verdammt, ständig von Narren umgeben zu sein?“

Robert trat einen Schritt vor. „Ich denke, dass …“

„Misch dich nicht ein, Robert. Das ist allein meine Angelegenheit.“ Maud schob ihre rundliche Gestalt zwischen ihren Halbbruder und den Erzbischof. „Hört mir gut zu, Eminenz …“ Sie stocherte ihm mit spitzem Zeigefinger an die Brust. „Auch wenn Ihr glaubt, es besser zu wissen: Ich werde Königin von England und der Normandie sein. Das ist der Wunsch meines Vaters. Er hat alle Barone und kirchlichen Würdenträger davon in Kenntnis gesetzt. Und ich wünsche nicht, dass irgendwer vom Tod des Königs erfährt, ehe ich seinen Leichnam nach England überführt habe. Habt Ihr verstanden?“

Der Erzbischof nickte, wobei sein Doppelkinn wabbelte. „Ich verstehe sehr wohl, Mylady.“ Er warf Robert einen flüchtigen Seitenblick zu, ehe er sich wieder an Maud wandte. „Gestattet, dass ich die Totenwache halte, bevor die Leichenwäscherinnen ihre Arbeit verrichten?“

„Gewiss. Robert wird dafür sorgen, dass Ihr nicht gestört werdet.“ Ein entferntes Greinen war zu hören. Maud verzog übellaunig das Gesicht. „Ich sollte besser nach den Kindern sehen.“ Seufzend wandte sie sich an Robert. „Und du kümmerst dich um eine Überfahrt nach England. So rasch wie möglich.“

Hinter der Stadtmauer von Barfleur und dem öden Marschland erstreckten sich riesige Wälder, ein breiter grüner Gürtel die Berge hinauf bis dicht unter die Felsengipfel, um auf der anderen Seite in tiefe, von reißenden Flüssen durchzogene Täler abzufallen. Unter hohen Buchen und ausladenden Eichen, deren kahle Äste dunkel in den grauen Wolkenhimmel ragten, trabte Emmelines Pferd einen schmalen morastigen Pfad am Ufer des Flusses Argon entlang.

Sie ritt in mäßiger Geschwindigkeit, saß locker im Sattel, passte sich den Bewegungen ihrer Fuchsstute an und hielt die Zügel mit sicherer Hand. Felice hatte sich bei allen Vorbehalten gehütet, ihrer Tochter das verwegene Vorhaben, die Kaiserin aufzusuchen, auszureden. Sie kannte Emmelines störrisches Wesen zu gut und wusste, dass sie sich nicht von ihrem Ziel abbringen ließ. Aber ihr Vater hätte ihren Plan gutgeheißen, dessen war Emmeline sich sicher. Er war stets ein Mann der Tat gewesen, der nichts davon gehalten hatte, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Emmeline zog den Kopf ein, duckte sich unter einem tief hängenden Zweig und lächelte still in sich hinein. Sie wusste natürlich auch, dass er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass sie allein reiste. Ein Stich der Trauer fuhr ihr ins Herz. Nach all den Jahren vermisste sie seinen Rückhalt, seine weisen Ratschläge noch immer. Anselm war stets der ausgleichende ruhende Pol, im Gegensatz zu ihrer ruhelosen, leicht erregbaren Mutter.

Während sie gedankenversunken dahin ritt, eingelullt vom stetigen Rauschen des Flusses zu ihrer Linken, bezog sich der Himmel zunehmend mit schweren grauen Wolken, die den Pfad am Waldrand verdunkelten. Emmeline drückte dem Pferd die Absätze in die warmen Flanken und wechselte in eine schnellere Gangart, um nicht vom Regen bis auf die Haut durchnässt zu werden. Der Wind heulte in den kahlen Baumwipfeln, und plötzlich hörte sie ein anderes Geräusch. Sie zog die Zügel an, brachte die Stute zum Stehen und versuchte es mit seitlich geneigtem Kopf zu orten. Der Wind trug ein metallisches Klicken, das unverkennbare Klirren von Zaumzeug zu ihr herüber. Und dann hörte sie gedämpfte dunkle Stimmen.

Mit klopfendem Herzen schwang sie ein Bein über den Hals des Tieres und sprang in einer Wolke grauer Röcke zu Boden, wobei sie versuchte, das Gewicht auf den gesunden Fuß zu verlagern. Gehetzt Ausschau haltend nach einem Versteck, kletterte sie den steilen Abhang hinauf, um sich und die Stute hinter Bäumen und Gestrüpp zu verbergen. Brombeerdornen rissen an Umhang und Bliaut, zerkratzten ihr Gesicht und Arme und verhedderten sich in ihrem Leinenschleier, als ihr die Kapuze in den Nacken rutschte. Mit halb zugekniffenen Augen tastete sie sich voran, bis ihre Finger gegen Stein stießen: Ein riesiger Felsbrocken versperrte ihr den Weg. Erleichtert brachte sie das Pferd und sich selbst dahinter in Sicherheit, lehnte sich mit schlotternden Knien gegen den kühlen Stein und rang nach Atem. Erst jetzt machte sie sich klar, als die Angst in ihr aufstieg, dass sie einen Fehler begangen hatte, ohne Begleitung durch diese einsamen und undurchdringlichen Wälder zu reiten.

Unten auf dem Pfad näherten sich dunkle Männerstimmen. Dennoch konnte sie nicht widerstehen, den Hals zu recken und in die Tiefe zu spähen. Sie hatte es gerade noch geschafft. An der Wegbiegung tauchten zwei glänzend gestriegelte Pferde auf …

Nein … das durfte nicht wahr sein!

Sie erkannte den unerträglichen Lord Talvas auf den ersten Blick. Er ritt vorneweg, hoch aufgerichtet im Sattel seines Rappens, in seiner typisch herrischen Art, mit einem wachsam suchenden Ausdruck im Gesicht. Hatte er sie gehört? Sein Gefährte Guillame ritt hinter ihm, dessen flachsblondes Haar einen starken Kontrast zum rabenschwarzen Lockenkopf seines Herrn bildete. Emmeline durchlief ein Schauder, das Blut rauschte ihr in den Adern. Die dunklen Schatten, die die Bartstoppeln im Gesicht von Lord Talvas hinterlassen hatten, waren verschwunden; er war jetzt glatt rasiert. Fasziniert blickte sie in das schöne Gesicht des Mannes, der unter ihr vorbeiritt. Hohe Wangenknochen verliehen ihm einen lauernden, raubtierähnlichen Ausdruck. Sein schön geschwungener Mund mit energischer Oberlippe und voller sinnlicher Unterlippe zeigte in den Mundwinkeln feine Grübchen.

Eine befremdliche Hitze durchströmte sie, blitzschnell wich sie hinter den Felsen zurück, presste die Wange an den rauen Stein und atmete den Geruch nach feuchtem Moos ein. Ein merkwürdiges Schwindelgefühl ergriff sie, machte ihr das Denken schwer. Lord Talvas hatte die Kleider gewechselt, deren Pracht keinen Zweifel an seiner adeligen Herkunft ließ. Seine grüne Tunika aus feinster Wolle, vom Knie bis zur Hüfte geschlitzt, um genügend Bewegungsfreiheit im Sattel zu gewähren, war an Saum und rundem Halsausschnitt mit reicher Goldstickerei versehen. Die Ärmel seines dunkelgrünen Überwurfs reichten bis zu den Ellbogen. Der kurze blaue, pelzgefütterte Umhang um seine breiten Schultern blähte sich im Wind und wurde am Hals von einer juwelenbesetzten Spange gehalten.

Während die Reiter unter ihr passierten, wieherte eines der Pferde leise, worauf ihre Stute ebenso leise antwortete, den Kopf senkte und mit einem Vorderhuf ins welke Laub schlug. Emmeline spannte jeden Muskel an, wagte vor Angst kaum zu atmen und hoffte inständig, die Reiter hätten nichts gehört.

Talvas aber zog bereits die Zügel an, drehte sich halb im Sattel um und legte die Hand an den Schwertgriff. Guillame zog seine Waffe mit lautem Geräusch.

„Wer da?“, rief Talvas gebieterisch. Seine klare Stimme hallte durch das Tal. „Zeigt Euch, oder wir holen Euch aus Eurem Versteck!“

Emmeline brach der Schweiß aus allen Poren. Sie hatte nicht die Absicht, sich wie ein gehetztes Wild jagen zu lassen. Die Männer hätten sie im Nu eingeholt. „Ich bin es, Emmeline de Lonnieres.“ Ihre Stimme geriet ihr zu einem jämmerlichen Piepsen, stellte sie verärgert fest. Dann rutschte und schlitterte sie durch Gestrüpp und Laub den steilen Abhang hinunter, während Talvas seinem Gefährten einen irritierten Blick zuwarf, der seine buschigen blonden Brauen hochzog.

„Die Frau vom Hafen in Barfleur“, murmelte Guillame, steckte sein Schwert wieder in die Scheide und stieg vom Pferd.

„Erinnere mich nicht daran.“ Talvas verzog das Gesicht und beobachtete den unbeholfenen Abstieg der jungen Frau. Was für ein Pech, dass ihm diese kleine Hexe schon wieder begegnete. Als sie auf dem Weg landete, das Pferd im Schlepptau, das sie beinahe überrannt hätte, musste er an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Dürre Zweige hatten sich in ihrem Schleier und Wollumhang verfangen. Der blutige Kratzer an ihrer Wange stammte gewiss von Dornen. Auf ihrer glatten Stirn klebten Schmutz und winzige Sandkörner.

„Und wo sind die anderen?“ Talvas stützte die Hände auf den Sattelknauf und beugte sich vor.

„Welche anderen?“, fragte sie verdutzt. Verglichen mit den kostbaren Gewändern der Männer wirkten ihr abgetragener Umhang und das graue Bliaut schäbig, aber bessere Kleidung besaß sie nicht. Der Stoff ihres dunkelbraunen Untergewandes war von etwas besserer Qualität, von dem aber nur ein kurzes Stück sichtbar war unter den fast bis zum Boden reichenden Tütenärmeln.

Talvas Augen sprühten eisblaue Funken. „Spannt meine Geduld nicht auf die Folter, Madame“, grollte er. „Wo ist Eure Begleitung?“

„Ich habe keine Begleitung.“ Emmeline trat von einem Fuß auf den anderen. Der kalte aufgeweichte Lehm drang durch ihre dünnen Ledersohlen.

Talvas schlug die Augen zum Himmel. „Sie reitet ohne Begleitung“, murmelte er in sich hinein. „Und wieso fällt es mir nicht schwer, ihr zu glauben?“

Emmeline entging sein verächtlicher Tonfall keineswegs. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, entgegnete sie aufbrausend.

„Und warum versteckt Ihr Euch hinter einem Felsen?“ Sein Stiefel im eisernen Steigbügel befand sich in Höhe ihrer Schulter. Unvermutet beugte er sich aus dem Sattel und entfernte einen dürren Zweig aus ihrem Schleier. Sie biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte den Drang, wegzulaufen. Seine kühlen Finger streiften ihre Wange. Unter seiner Berührung errötete sie schamhaft, mied seinen Blick und seufzte leise, als er den Zweig ins Wasser warf. „Antwortet, Madame“, knurrte er.

„Ihr hättet Freund oder Feind sein können“, antwortete sie und hielt den Blick auf seine abgewetzte Stiefelspitze gerichtet.

„Richtig.“ Talvas tätschelte den Hals seines unruhig tänzelnden Hengstes. „Habt Ihr denn keine Ahnung, welche Gefahren auf einen Reiter ohne Begleitung lauern, noch dazu auf eine Frau? Guter Gott, selbst ich bin so vernünftig und reite mit meinem Gefährten.“ Er nickte zu Guillame hinüber.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, widersprach sie störrisch.

Talvas musterte ihre zierliche Gestalt geringschätzig von Kopf bis Fuß. „Wenn ich Euch so ansehe, habe ich erhebliche Zweifel daran“, äußerte er herablassend. Aber wieso in aller Welt kümmerte ihn das? Er sollte sie einfach stehen lassen und sich den Teufel um sie scheren! „Wohin wollt Ihr?“

Sie zögerte, ihm ihr Ziel zu nennen. Hinter dem markanten Kopf des Reiters, dessen kühn geschnittenes Profil sich deutlich vor dem bleigrauen Wolkenhimmel abhob, schwankten die Wipfel hoher Nadelbäume heftig im Sturm. Aus den kahlen Ästen einer schlanken Buche flog krächzend ein Krähenschwarm auf.

„Ihr lasst uns warten, Madame.“ Talvas blickte finster in ihr verschlossenes Gesicht. Dreistes Frauenzimmer! Selbst seine Seeleute legten höflichere Manieren an den Tag als diese zänkische kleine Person, die ihn hasserfüllt aus ihren bemerkenswert grünen Augen anfunkelte. Ein Verhalten, das ihm fremd war, da Frauen ihm normalerweise kokette Blicke zuwarfen, was seine Abneigung gegen das schwache Geschlecht nur erhöhte. Es konnte ihm nur recht sein, wenn diese Hexe ihn hasste.

Unwillkürlich machte sie einen Schritt nach hinten und stieß mit den Fersen gegen den Fels. Talvas setzte die Miene eines Mannes auf, der bereit war, einen ganzen Tag auf die richtige Antwort zu warten. Der strenge Zug um seinen Mund, das stahlharte Funkeln seiner Augen – alles deutete auf einen Charakter hin, der nicht so leicht aufgeben würde.

Emmeline seufzte. „Ich reite nach Torigny.“ Sie verkroch sich in ihren dünnen Wollumhang.

„Auch wir reiten nach Torigny.“ Der Wind fuhr in seine dunklen Locken. „Welch ein Zufall, dass wir den gleichen Weg haben. Gestattet uns, Euch zu begleiten.“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Mylord. Ich halte Euch nur auf. Lasst mich getrost meiner Wege ziehen.“ Verflixt! Wurde sie den lästigen Kerl denn nie los? Die Schmerzen in ihrem verletzten Fuß begannen unerträglich zu werden.

Er drohte ihr mit dem Finger. „Nein, Madame. Ihr seid zwar die unerträglichste und widerspenstigste Frau, der ich je begegnete – ein wahres Pech –, dennoch fühle ich mich für Euch verantwortlich.“

Emmeline schloss entnervt die Augen. Vielleicht war das alles nur ein böser Traum.

„Ja, Madame.“ Seine Stimme klang schneidend. „Es ist unsere Pflicht als Ritter, schutzlosen Frauen beizustehen, besonders jungen Witwen, denen ihre neu erworbene Freiheit offenbar zu Kopf gestiegen ist.“

Sein Spott machte sie nur noch wütender, sie lehnte sich Halt suchend an ihr Pferd. „Woher wisst Ihr, dass ich Witwe bin?“, fragte sie mit vor Entrüstung schriller Stimme.

„Ich habe nur geraten.“ Er lachte leise. „Was habt Ihr dem bedauernswerten Mann angetan? Ihn mit Eurer scharfen Zunge in den Wahnsinn getrieben?“ Beide Männer lachten wiehernd.

Emmeline presste die Lippen aufeinander. „Feine Ritter des Königreichs, wahrhaftig!“, höhnte sie. „Ich glaube Euch kein Wort. Und ich muss mir diese Unverschämtheiten nicht gefallen lassen … dieses rüpelhafte Benehmen. Lasst mich vorbei!“ Sie versuchte, den kräftigen Hengst mit ihrem Körpergewicht beiseite zu schieben. Talvas packte sie am Oberarm und stieß sie gegen die Flanke des Pferdes.

„Falls Ihr Wert auf gezierte und feine Lebensart legt, so seid Ihr bei mir an den Falschen geraten“, knurrte er. „Aber ich habe einen Eid auf ritterliche Tugenden geschworen. Und Ihr, junge Frau, vergeudet unsere Zeit mit Eurem Geschwätz.“ Ohne Vorwarnung beugte er sich weit aus dem Sattel, umfing ihre schmale Mitte und hob sie schwungvoll in den Sattel ihres Pferdes. „Ihr kommt mit uns, und das ist ein Befehl!“

4. KAPITEL

Empört über den rüden Ton, den Lord Talvas ihr gegenüber anschlug, setzte Emmeline ihr Pferd in Bewegung. Den Blick auf den Kopf der Stute gerichtet, versuchte sie sich zu beruhigen. Wie konnte dieser Grobian es wagen, sie wie einen Sack Rüben in den Sattel zu werfen? Seine hochfahrende Art beschwor Erinnerungen an ihren Ehemann herauf. Nie würde sie vergessen, was sie in ihrer Ehe mit Giffard gelitten hatte: Zwei Jahre der Verhöhnungen und Beschimpfungen, der Fußtritte und Prügel. Sie ertrug diese Demütigungen ihrer Mutter zuliebe, da Giffard Geld in die Familie gebracht hatte, Geld, das sie in den ersten mageren Jahren nach dem Tod ihres Vaters dringend nötig gehabt hatten. Aber Giffard trank immer maßloser, je öfter sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen und sein Bett zu meiden, bis er sie eines Tages die Treppe hinunterstieß. Im Sturz hatte sie sich den Fuß mehrmals gebrochen, er aber ließ sie tagelang im Haus eingesperrt, ohne den Bruch von einem Arzt versorgen zu lassen. Sie litt furchtbare Schmerzen, bis die Knochen endlich geheilt waren. Ein leichtes Hinken hatte sie jedoch von dem Sturz zurückbehalten.

Ihre Leidenszeit nahm ein Ende, als wenige Wochen später Jäger Giffards Leichnam ins Haus brachten und in der Küche aufbahrten, eine Ehre, die er nicht verdient hatte. An diesem Tage hatte Emmeline sich geschworen, sich nie wieder von irgendeinem Menschen demütigen und Vorschriften machen zu lassen. Dieser Lord Talvas, dieser hünenhafte Fremdling, der sich bedrohlich vor ihr aufgebaut und sie unverschämt gemustert hatte, benahm sich genau wie damals Giffard. Sie konnte sich kaum entsinnen, wann ein Mann sie zum letzten Mal angefasst hatte, doch dieser Rohling schien es sich zur Gewohnheit zu machen, sie grob anzupacken, als wolle er ihr seine körperliche Überlegenheit beweisen. Ein anmaßender tyrannischer Mensch, der offenbar stets seinen Willen durchsetzte. Und dennoch … hier endete die Ähnlichkeit. Giffard war untersetzt gewesen, kaum größer als sie, neigte zur Dickleibigkeit und hatte seine feisten Hände ständig zu Fäusten geballt. Noch lange nach seinem Tod verfolgten sie seine plumpen Annäherungen in Albträumen, wenn er sie mit feuchten Händen betatschte, ihr mit seinem teigigen Gesicht näherkam und sein säuerlicher Branntweingeruch ihr Übelkeit verursachte. Sie verdrängte die ekelhaften Erinnerungen und zwang sich, in der Gegenwart zu bleiben, starrte auf den aufgeweichten Pfad und horchte auf das Plätschern des Flusses. Sie musste die Bilder an diese grauenvolle Zeit vergessen, als sie sich unter Giffards Faustschlägen ducken musste und sich häufig wegen der Blutergüsse am ganzen Körper tagelang kaum bewegen konnte, an eine Zeit, in der sie täglich um ihr Leben gebangt hatte. So etwas würde sie nie wieder zulassen.

Emmeline ritt hinter Lord Talvas, versunken in ihren düsteren Gedanken, und Guillame bildete die Nachhut auf dem schmalen Uferweg. Graue Wolken hingen tief am Himmel, gelegentlich fielen ein paar Regentropfen, und Emmeline hoffte inständig, dass sie Torigny erreichten, bevor die Schleusen des Himmels sich öffneten und der Regen sie bis auf die Haut durchnässte. Immer wieder rief sie sich den Grund dieser beschwerlichen Reise in Erinnerung, die sie nicht nur für sich selbst unternahm und den erhofften Gewinn, sondern auch für ihre Schwester Sylvie, die sich offenbar in großen Nöten befand.

Talvas duckte sich unter einem tief hängenden Ast, dennoch streifte er ihn, sodass sein Rücken hinterher mit glitzernden Regentropfen benetzt war. Emmeline betrachtete zerstreut seinen sehnigen Nacken unter der Krempe seines Hutes, bevor sie sich zwang, den Blick von seinen breiten Schultern zu wenden. Wieso drängte dieser Mann, dem sie erst am Tag zuvor begegnet war, sich so dreist in ihr Leben?

Nach einiger Zeit erreichten die drei Reiter eine Stelle, wo die Böschung flach zum Flussufer führte. Talvas hob den Arm und drehte sich im Sattel um.

„Hier machen wir Rast“, rief er nach hinten, „und tränken die Pferde.“

„Und ich hab einen Bärenhunger“, fügte Guillame hinzu, lenkte sein Pferd ans flache grasbewachsene Ufer und sprang aus dem Sattel. Von diesem löste er den Ledergurt eines Beutels und holte zwei in Tücher gewickelte Bündel heraus. „Die Herbergswirtin hat uns eine kräftige Wegzehrung eingepackt.“ Er warf Talvas ein Bündel zu, das dieser geschickt auffing. Emmeline lenkte ihre Stute ans Ufer, um sie trinken zu lassen. Der freundschaftliche Umgangston der beiden machte sie irgendwie verlegen. Obwohl sie mit Männern Geschäfte machte und Verhandlungen führte, fühlte sich in ihrer Gegenwart befangen. Sie ließ die Zügel los, als Talvas neben sie trat, seine breiten Schultern in Höhe ihres Knies.

„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er unerwartet höflich.

Sie blickte verdutzt zu ihm hinunter, nicht daran gewöhnt, Hilfe von Männern anzunehmen. „Nun … ich …“, stammelte sie. Seine Nähe, sein markantes Gesicht, all das machte sie befangen. „Nein, ich komme zurecht.“ Sie sprang aus dem Sattel, um zu verhindern, dass er sie noch einmal anfasste. Talvas neigte den Kopf seitlich und betrachtete sie mit einem spöttischen Lächeln.

In ihrer Hast vergaß sie, das Gewicht auf den gesunden Fuß zu verlagern, ein stechender Schmerz schoss ihr in den schlecht verheilten Knöchel und zwang sie in die Knie.

„Ruhig Blut“, murmelte Talvas. Rasch fasste er sie am Ellbogen und half ihr auf. „Habt Ihr Schmerzen, Madame? Seid Ihr verletzt?“ Er bückte sich, hob den Saum ihres Bliauts und entblößte schlanke Waden in braunen wollenen Beinlingen.

Emmeline versuchte, ganz erschrocken, seine Hand wegzuschieben. „Nehmt Eure Hände von mir!“, befahl sie entrüstet. „Wie könnt Ihr es wagen! Ich bin nur etwas ungeschickt aufgekommen, mehr nicht.“ Sie hasste seine Besorgnis, seine Nähe war ihr zu aufdringlich und unangenehm. Er roch nach Meer. Der würzige Geruch nach Salz und Tang ließ sie an die endlose Weite des Ozeans denken und an das Rauschen der Brandung.

Guillame hatte bereits seinen Umhang auf dem Gras ausgebreitet und legte darauf knuspriges Brot, cremigen Käse und gebratene Hühnerschenkel. Emmeline lief das Wasser im Mund zusammen.

„Habt Ihr eine Wegzehrung mitgebracht?“, fragte Talvas, der sich wieder aufrichtete. „Oder darf ich Euch etwas von unserem Mahl anbieten?“ Er beobachtete, wie die Röte ihrer Wangen sich allmählich verflüchtigte. Offenbar war es ihr unangenehm, von ihm berührt zu werden.

Emmeline nahm ihren Beutel zur Hand. „Danke nein, ich habe genug zu essen.“

„Dann setzt Euch.“ Talvas wies mit dem Arm auf den ausgebreiteten Umhang.

Sie scheute sich, die paar Schritte unter seiner scharfen Musterung zu gehen, aus Furcht, er würde ihr Hinken bemerken.

„Nur Mut“, drängte er. „Guillame beißt nicht.“ Er ging zu seinem Pferd und löste den Trinkschlauch vom Sattel. Hastig setzte sie sich in Bewegung und stolperte in ihrer Eile, den Umhang zu erreichen, bevor Talvas sich wieder umdrehte. Guillame, der bereits genüsslich an seinem Hühnerbein nagte, schien ihr Ungeschick nicht bemerkt zu haben.

„Und welche Geschäfte führen Euch nach Torigny?“, fragte Talvas beiläufig, als er sich auf seinem Umhang unter einer ausladenden Eiche niederließ und sein Essen auswickelte. Er streckte seine langen Beine von sich, die in rehbraunen, eng anliegenden Wollhosen steckten, vom Knie bis zu den Stiefeln mit breiten Lederriemen verschnürt.

„Das ist meine Sache“, antwortete sie kurz angebunden, nestelte weiter an der steifen Lasche ihres Lederbeutels und mied seinen fragenden Blick. Der Schmerz in ihrem Knöchel war zu einem dumpfen Pochen abgeflaut, auch die Enge in ihrer Brust ließ nach, und sie atmete wieder freier.

Talvas lachte, und die feinen Fältchen um seine Augenwinkel vertieften sich. Belustigt schüttelte er den Kopf über ihre Einsilbigkeit. „Dann lasst mich raten“, meinte er, lehnte den Rücken gegen die schrundige Rinde des alten Baums, verschränkte die Arme und zog spöttisch die Brauen hoch. „Also, Guillame, wir haben es mit einer ungewöhnlichen Frau zu tun, die offenbar nach ihren eigenen Regeln leben will, ohne an ihre eigene Sicherheit, geschweige denn an Sitte und Anstand zu denken.“

Emmeline holte Luft, um zu protestieren, aber Talvas hob abwehrend die Hand. „Moment, Madame, ich bin noch nicht fertig.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Sie besitzt ein Handelsschiff, ihr Leben spielt sich am Hafen ab unter Kaufleuten und Seefahrern. Und sie reist ohne männlichen Schutz durch die Wildnis. Aus welchem Grund wohl?“

„Um Verwandte zu besuchen?“, schlug Guillame vor und kaute an einem Stück Brot.

„Oder um eine Person aufzusuchen, die sie gar nicht kennt?“, spann Talvas den Gedanken weiter, legte den Kopf seitlich und lächelte mit einem teuflischen Funkeln in den Augen.

„Ihr wisst Bescheid!“ Emmeline verengte die Augen. Sie verabscheute die Art, wie er sich lustig über sie machte.

„Ich habe nur geraten und erhalte umgehend die Bestätigung“, entgegnete er gedehnt.

Ein rosiger Hauch überflog ihre Wangen. „Ich habe zufällig gehört, wie Euer Gefährte sagte, dass die Kaiserin ein Schiff braucht, und ich dachte …“

„Ihr dachtet, leichtes Geld damit zu verdienen“, beendete er ihren Satz.

Emmeline warf ihm einen finsteren Blick zu. Er tat geradeso, als handle sie aus reiner Gewinnsucht, als wolle sie der Kaiserin etwas aufschwätzen. „Ich dachte, wir könnten uns gegenseitig helfen“, erklärte sie und senkte den Blick auf den Apfel, den sie aus dem Beutel geholt hatte.

Talvas legte den Kopf in den Nacken, setzte den Trinkschlauch an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck, wischte sich den Mund am Ärmel ab und reichte den Schlauch an Guillame weiter, bevor er sie mit einem vorwurfsvollen Blick durchbohrte. Habgieriges Frauenzimmer! Sie sind alle gleich, diese Weiber, dachte er. Hinter ihrer Schönheit verbargen sich kalte Herzen – geldgierige Raffsucht, die vor nichts zurückschreckte, um ihre eigensüchtigen Ziele zu erreichen. Gold schien das Einzige zu sein, was sie glücklich machte. Für sie zählte sonst nichts, nicht Liebe, Vertrauen oder Freundschaft. Er beobachtete, wie Emmelines kleine weiße Zähne in den Apfel bissen, betrachtete ihre feingliedrigen Finger, ihr schmales Handgelenk unter dem grob gewebten braunen Wollstoff.

Die Frau, die er vor vielen Jahren heiraten wollte, hatte ihn wegen Gold und Reichtum verlassen. Er hätte ihre Ambitionen von Anfang an durchschauen müssen, vom ersten Augenblick an, als er der blonden Schönheit im Haus seiner Eltern in Boulogne begegnet war, aber seine Torheit hatte ihn blind gegen ihren wahren Charakter gemacht. Sie hatte damals seiner Mutter als Zofe gedient und sich vorgenommen, ihn zu verführen. Und er, der damals Achtzehnjährige, hatte sich von ihrem Liebreiz und Charme umgarnen lassen. Er hatte nicht auf die besorgten Blicke seiner Eltern geachtet, die große Bedenken gegen sein heftiges Werben erhoben hatten. Er war völlig verzückt von ihrer Schönheit, dem schimmernden Goldton ihres Haares, ihrem bezaubernden Lächeln. Bald wurde die Verlobung mit einem rauschenden Fest gefeiert, da seine Auserwählte bereits sein Kind unter dem Herzen trug. Allerdings hatte das Paar beschlossen, erst zu heiraten, wenn er den Ritterschlag erhalten und sich seine ersten Sporen verdient hatte.

Talvas musste tief durchatmen, die Kehle schien ihm nahezu zugeschnürt zu sein. Und dann war es zum Streit gekommen, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, durch eigene Leistungen zu Erfolg und Ansehen zu gelangen. Seine Absicht war es, eigene Schiffe zu bauen und damit auf Handelsfahrt zu gehen. Seine Verlobte zeigte sich damit nicht einverstanden und beschwor ihn, die Ländereien und das Gold anzunehmen, die seine Eltern ihm anboten. Zwei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter löste sie völlig unerwartet die Verlobung. Sie verließ ihn wegen eines reichen englischen Adeligen und nahm ihm sein Kind weg. Weder das Mädchen noch die Frau hatte er je wiedergesehen. Talvas verfluchte sie. Das blonde Haar dieser Madame de Lonnieres erinnerten ihn irgendwie an die Frau, die ihm vor langer Zeit das Herz aus dem Leib gerissen und mit Füßen getreten hatte.

Von dieser Stunde an war die See seine Braut, die Wildheit und Unberechenbarkeit der Naturgewalten kamen seinem rastlosen Abenteuergeist entgegen. Er suchte die Gefahr, ohne an die Folgen zu denken. Die Herausforderungen eines Lebens auf dem Meer waren ihm lieber als die Annehmlichkeiten eines geruhsamen Daseins als wohlhabender Landbesitzer und Burgherr. Frauen spielten eine untergeordnete Rolle. Sie blieben gesichtslos, und meist mied er ihre Gesellschaft, suchte sie nur auf, um körperliche Befriedigung zu finden in Begegnungen, die ihm nichts bedeuteten, die ihm höchstens halfen, Vergessen zu finden. Keine Frau würde ihn je wieder zum Narren halten.

„Talvas?“ Guillames Stimme drang durch das Rauschen des Flusses in seine Gedanken. „Meinst du nicht, wir sollten aufbrechen?“ Er warf einen prüfenden Blick in den drohenden Wolkenhimmel.

„Ja, brechen wir auf.“ Talvas sprang auf die Füße, missgelaunt über sich selbst und seine Gedanken an die Vergangenheit. Diese Zeit war endgültig vorüber; er tat gut daran, sie ein für alle Mal zu vergessen. „Madame de Lonnieres, habt Ihr genug gegessen?“, fuhr er sie mürrisch an.

Emmeline warf das Kernhaus des Apfels über ihre Schulter in den Fluss. Den trockenen Brotkanten hatte sie wohlweislich gar nicht ausgepackt, um sich vor den Männern mit ihrer reichhaltigen Wegzehrung nicht schämen zu müssen. Talvas aber bückte sich nach dem Beutel, drehte ihn um und schüttete den Inhalt auf die Decke.

„Ist das alles?“, fragte er, während Emmeline entsetzt auf die Brotkrümel auf dem Umhang starrte, der beschämende Beweis ihres kargen Mahls. „Ich bin nicht hungrig“, erklärte sie achselzuckend, während ihr fein geschnittenes Gesicht sich tiefrot übergoss. Hastig sammelte sie die Brotreste ein und hielt die Hände an die Brust gedrückt. „Bitte nicht …“, stammelte sie, mehr brachte sie nicht über die Lippen.

„Dann esst das Brot unterwegs, Madame. Ich möchte nicht, dass Ihr vor Hunger aus dem Sattel rutscht. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“ Talvas warf ihr den Beutel in den Schoß, griff nach seinem Umhang und stapfte zu seinem geduldig wartenden Pferd.

Guillame führte ihre Stute bereits am Zügel, half ihr mit einem freundlichen Lächeln auf die Füße und hob sie in den Sattel.

„Dankeschön“, murmelte sie erleichtert. „Ihr habt bessere Manieren als Euer Gefährte.“

Guillame sah sie aus gutmütigen Augen an. „Beurteilt ihn nicht zu streng, Madame. Er meint es nicht so.“ Er tätschelte den Hals ihres Pferdes.

„Guillame, beeil dich“, rief Talvas herüber. „Mach dir keine Umstände mit der Frau!“ Guillame schwang sich in den Sattel und nahm die Zügel auf. Hinter Emmelines Rücken warf er seinem Herrn einen bedeutsamen Blick zu.

Talvas furchte die Stirn. „Diese Ausdruck in deinen Augen kenne ich, mein Freund. Was bedrückt dich?“

Mit einem leichten Kopfnicken in Emmelines Richtung sagte er leise: „Diese junge Frau …“

„Was ist mit ihr …?“

„Es ist mir vorher nicht aufgefallen. Aber grade eben … aus der Nähe, nun ja, da bemerkte ich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit …“

„Wage es nicht, ihren Namen auszusprechen, Guillame. Niemals!“

Emmelines Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sie der Burg von Torigny ansichtig wurde. Die mächtige Festung thronte hoch auf dem Plateau einer senkrecht aufragenden Felsenwand über bewaldeten Hügeln, sie schien direkt aus dem Gestein zu wachsen. Die grauen Mauern glänzten im Regen. Auf den Zinnen der vier mächtigen Türme waren die Eisenrüstungen der Wachtposten zu erkennen. Die roten Banner mit dem Wappen der Kaiserin und ihres Gemahls Comte Geoffrey de Anjou flatterten im Wind und bildeten die einzigen Farbtupfer in der düsteren und nebelverhangenen Landschaft. Hinter der Burgfeste, einem imposanten Symbol der Macht, schmiegten sich die Hütten und Ställe des Dorfes von Torigny an den Fuß des Felsens, von den Strohdächern stiegen Rauchsäulen in die hereinbrechende Dämmerung hinauf.

Emmeline holte stockend Atem, worauf ihr Pferd zum Stehen kam, als spüre die Stute die Beklommenheit der Reiterin. Der anhaltende Nieselregen war durch ihren Umhang gedrungen und durchnässte mittlerweile den dünnen Stoff ihres Bliauts.

„Wie gelangen wir denn da hinauf?“, rief sie dem vorausreitenden Lord Talvas zu und spähte suchend die steilen Felswände hinauf.

„Wir reiten durchs Dorf zur anderen Seite. Dort führt ein Weg zum Burgtor“, erklärte er. Sein Ledersattel knirschte leise, als er sich mit einer halben Drehung nach ihr umwandte. „Von dieser Seite gibt es keinen Zugang zur Festung.“ In der zunehmenden Dämmerung konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen, nur das Blitzen seiner blauen Augen und den Anflug eines Lächelns. Emmeline fröstelte, ihre Muskeln schmerzten nach dem langen Ritt. Talvas schien ihre Nervosität zu bemerken. „Habt Ihr Bedenken?“, fragte er leise. „Ziemlich Furcht einflößend, nicht wahr? Genau wie seine Besitzerin.“

„Wollt Ihr mir Angst machen?“, entgegnete Emmeline mit fester Stimme und versuchte, ihr Unbehagen abzuschütteln. Sie rieb sich den Nacken und drückte den Rücken durch, um die Muskelverspannungen zu lösen.

„Nein, Madame, ich will Euch nur vorbereiten auf das, was Euch erwartet. Kommt, wir wollen das Burgtor erreichen, bevor es Nacht wird.“ Mit leichtem Schenkeldruck spornte sie ihr Pferd an. Insgeheim war sie froh um die Begleitung der Ritter, die ihr anfänglich so zuwider war, da sie wohl kaum den Mut aufgebracht hätte, sich allein überhaupt in die Nähe dieser mächtigen Festung zu wagen.

Hinter dem Dorf begann der steile Aufstieg zum Burgtor, und schon bald rutschten die Hufe der Pferde auf dem nassen Kopfsteinpflaster.

„Wir steigen ab“, erklärte Talvas und schwang sich aus dem Sattel, „um den Pferden den Aufstieg zu erleichtern.“ Emmeline nickte und äugte ängstlich in den tiefen Abgrund neben dem schmalen Pfad. Ein einziger Fehltritt – und Ross und Reiter wären rettungslos verloren. Am äußeren Turmhaus hielten zwei bewaffnete Soldaten Wache, die über ihren glänzenden Rüstungen scharlachrote Umhänge mit dem Wappen von König Henry trugen. Zwei goldene Löwen mit mächtigen Mähnen flankierten das königliche Wappen. Der eine repräsentierte England, der zweite die Normandie. Beide Wachen gingen in Habachtstellung, als sie Lord Talvas erkannten, der an Emmelines Seite das schwere Fallgitter passierte. Guillame wurde von ihnen mit Handschlag begrüßt.

„Talvas, Mylord Talvas!“ Ein hagerer, vornehm gewandeter Edelmann eilte den Ankömmlingen durch den Innenhof entgegen, während Stallburschen herbeirannten, um die Pferde zu übernehmen und wegzubringen.

„Earl Robert!“, erwiderte Talvas den Gruß mit unbewegter Miene, nahm den Hut ab und fuhr sich durch die schwarze Lockenmähne. Sie glänzten im flackernden Schein der Fackel, die ein Diener dem Earl vorantrug. „Ich hatte keine Ahnung, Euch hier in Torigny anzutreffen.“

„Wo immer Ihr der Kaiserin begegnet, findet Ihr mich in ihrer Begleitung“, erklärte Earl Robert mit einem gewinnenden Lächeln.

„Eure brüderliche Treue ist bewundernswert“, entgegnete Talvas mit ausgesuchter Höflichkeit.

„Und sie wird bisweilen auf eine harte Probe gestellt.“ Earl Roberts flinker Blick erfasste Emmeline, deren bleiches Gesicht unter der weiten Kapuze halb verborgen war. Er musterte sie mit wachem Interesse von Kopf bis Fuß. „Den Ritter kenne ich.“ Der Earl nickte zu Guillame hinüber. „Aber gehört das Mädchen auch zu Euch? Sie ist ansehnlich.“

Autor

Joanne Rock
Joanne Rock hat sich schon in der Schule Liebesgeschichten ausgedacht, um ihre beste Freundin zu unterhalten. Die Mädchen waren selbst die Stars dieser Abenteuer, die sich um die Schule und die Jungs, die sie gerade mochten, drehten. Joanne Rock gibt zu, dass ihre Geschichten damals eher dem Leben einer Barbie...
Mehr erfahren
Meriel Fuller
Meriel Fuller verbrachte ihre frühe Kindheit als echte Leseratte. Nach der Schule ging sie stets in die Stadtbücherei, wo ihre Mutter als Bibliothekarin arbeitete und las sich fröhlich durch die historischen Liebesromane. Ihre Liebe zur Vergangenheit hat sie von ihrem Vater, ein eifriger Hobby-Historiker, der Meriel und ihre Schwester auf...
Mehr erfahren