Historical Exklusiv Band 99

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VOM FEIND EROBERT von TERRI BRISBIN
Nicht mehr weit bis zum Kloster! Doch bevor Lady Gillian of Thaxted die schützenden Mauern erreicht, wird sie von feindlichen Normannen entdeckt. Und der größte und eindrucksvollste unter ihnen ist Brice Fitzwilliam. Der Eroberer ihres Landes, vor dem sie fliehen wollte – der Mann, dem sie versprochen ist …

DER KUSS DES SCHICKSALS von CATHERINE MARCH
England 1277: Die schöne Lady Beatrice wird von einem Tross erfahrener Krieger auf ihrem Weg nach Glastonbury beschützt. Hier im Kloster will sie auf immer der Welt entsagen. Doch als ihr Blick auf den kühnen Ritter Remy St. Leger fällt, erwacht in ihr der Wunsch, ein einziges Mal in den Armen eines Mannes zu liegen ...


  • Erscheinungstag 03.01.2023
  • Bandnummer 99
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517638
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Terri Brisbin, Catherine March

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 99

PROLOG

Taerford Hall, Wessex, England

Dezember 1066

Bischof Obert hatte eine Zusammenkunft mit dem zweiten Ritter auf der Liste anberaumt, die er bereits vor Monaten erstellt hatte. In diesem Verzeichnis fanden sich all jene, die in den Genuss der Großzügigkeit des künftigen Königs kommen sollten. Er hatte die Papiere dabei, die den Ritter zum Vasallen, den mittellosen Bastard zum reichen Grundherrn machen würden – sofern dieser die ihm zugedachten Ländereien den rebellischen Angelsachsen entreißen konnte, die sie besetzt hielten.

Während er auf Brice Fitzwilliam, den Ritter aus der ­Bretagne, wartete, schritt Obert neben der Tafel auf und ab. Wenn er vor der Krönung Williams wieder in London sein wollte, musste er morgen aufbrechen. Das Treffen mit Fitzwilliam war die letzte Aufgabe, die er hier in Taerford für den normannischen Herzog zu erledigen hatte. Obwohl der Winter schon Einzug gehalten hatte und das Land nach wie vor nicht befriedet war, diente Obert, ohne Rücksicht auf seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse, treu dem zukünf­tigen König. Nach Gott natürlich, fügte er in Gedanken hinzu und wandte sich der Gruppe von Männern zu, die sich ­näherte.

Wie gewohnt fand Obert den Ritter, auf den er wartete, an der Seite von Giles Fitzhenry, dem neuen Lord of Taerford. Wenn er an die vergangenen Wochen zurückdachte, hatte er den einen selten ohne den anderen gesehen, weder in der Halle noch auf dem Hof, kurzum: bei allen alltäglichen Verrichtungen hier in Taerford. Als sie nun, gefolgt von weiteren Männern des Lords of Taerford, auf ihn zukamen, war den beiden Rittern deutlich anzusehen, dass sie sich bis vor Kurzem auf dem Burghof im Kampf geübt hatten. Mit jedem Schritt auf Obert zu wurden die Kämpen stiller, und als sie ihn erreicht hatten, verbeugten sie sich vor ihm wie ein Mann.

„Monseigneur“, begrüßte der Bischof zunächst Giles und wandte sich dann an dessen Gefährten. „Monseigneur“, sprach er auch Brice Fitzwilliam an und nickte ihm zu.

Jeder der Zuhörer wusste, was die gehobene Anrede „gnädiger Herr“ zu bedeuten hatte. Schweigen senkte sich über die Halle, während alle Oberts Worten harrten. In der Miene des Angesprochenen Brice Fitzwilliam spiegelte sich Überraschung, und schließlich lachte er auf. Das war zwar unangebracht, aber der Bischof ging nachsichtig darüber hinweg – die Großzügigkeit eines Bastards, der einem Leidensgenossen den Erfolg gönnte. Das Jauchzen und Gejohle, das auf Brices Lachen hin losgebrochen war, verebbte rasch wieder, denn alle in der Halle warteten gespannt auf die Verlautbarung.

Obert hieß den Ritter vortreten und vor ihm niederknien. Gewiss hätte dies mit mehr Zeremoniell und Förmlichkeit und vor allem vor dem Herzog höchstselbst erfolgen müssen. Aber es herrschten gefahrvolle Zeiten, und sie befanden sich an einem nicht minder gefährlichen Ort – all das rechtfertigte gewisse Zugeständnisse. Lord Giles stand einmal mehr an der Seite des Freundes und legte ihm die Hand auf die Schulter. Obert fuhr fort: „Im ­Namen des Herzogs erkläre ich Euch, Brice Fitzwilliam, zum ­Baron und Lord of Thaxted sowie zum Vasallen des Herzogs“, verkündete er. Ein Treueversprechen unmittelbar dem ­normannischen Herzog gegenüber, der in Kürze König sein würde, war ein geschickter Schachzug. Dadurch sollte ­sichergestellt werden, dass sich der künftige Herrscher in England auf ein dichtes Netz an Kriegern würde stützen können, die Ländereien, Titel und Vermögen allein ihm verdankten. Zwischen König und Vasall standen somit keine anderen Lehnsherren, die Kriegsdienste und andere ­Abgaben beanspruchen könnten. Obert fiel es schwer, sich ein ­Lächeln zu verkneifen, denn dieser Plan stammte von ihm.

„Als Vasall“, fuhr er fort, „habt Ihr das Recht, Euch Land, Vieh, Leibeigene und samt und sonders alles zu eigen zu machen, was der Verräter Eoforwic of Thaxted vor seinem Tod besessen hat.“

Die anwesenden Normannen und Bretonen brachen erneut in Jubel aus. Nur die angelsächsischen Bauern, die diesem Land entstammten, stimmten nicht ein. Obert wusste, dass die Gewinner eines jeden Gefechts verdienten, was sie sich so hart erkämpft hatten. Dennoch war er nicht ohne Mitgefühl und verstand, wie schmachvoll es war, der Besiegte zu sein. Dieser Tag allerdings gehörte dem siegreichen bretonischen Ritter, der vor ihm kniete.

„Der Herzog verfügt, dass Ihr die Tochter Eoforwics ehe­lichen sollt. Ist dies nicht möglich, sollt Ihr Euch eine passende Braut unter den Töchtern der getreuen Vasallen des Umlands suchen.“

Obert überreichte dem frischgebackenen Lord den Stapel gefalteter Pergamente, welche die Übertragung der Ländereien und Titel beurkundeten. Er hielt dem Ritter die geöffneten Hände hin und gab ihm damit das Zeichen, den Lehnseid abzulegen. Brice legte seine Hände in die des Bischofs und begann. Die ernsten Formeln des Gelübdes ließen seine tiefe Stimme beben, als er die Worte nachsprach, die Oberts Schreiber ihm flüsternd vorgab.

„Im Namen des Herrn, vor dem ich, Brice Fitzwilliam und fürderhin Lord of Thaxted, diesen Schwur ablege, sowie im Namen von allem, was da heilig ist, versichere ich William, dem Herzog der Normandie und künftigen König von England, meiner Treue und Ergebenheit. Ich gelobe, alles zu lieben, was er liebt, und alles zu schmähen, was er schmäht, gemäß Gottes Gesetzen und der Ordnung der Welt. Ich schwöre, niemals, weder in Gedanken noch im Wirken, durch Wort, Tat oder Versäumnis etwas zu unternehmen, das ihm nicht wohlgefällig ist – unter der Bedingung, dass er zu mir steht, soweit ich dies verdiene. Und dass er all das erfüllt, über das wir übereingekommen sind, als ich mich ihm und seiner Barmherzigkeit unterworfen und meinen Willen dem seinen unterstellt habe. Dies gelobe ich bedingungslos, ohne etwas anderes zu erwarten als sein Vertrauen und seine Gunst als mein Lehnsherr.“

Obert hob die Stimme, damit alle ihn hörten. „Ich, Obert de Caen, spreche im Namen Williams, Herzog der Normandie und fortan König von England. Hiermit erkenne ich den Lehnseid an, der vor den anwesenden Zeugen und vor Gott geleistet wurde. Und ich verspreche, dass William als Herr und König das Leben ebenso wie das Eigentum von Brice Fitzwilliam of Thaxted schützen und verteidigen wird, der hier bei seiner Ehre schwört, sich vom Willen und Wort des Königs leiten zu lassen. Im Namen des künftigen Königs billige ich die durch diesen Schwur geleisteten Zusicherungen, ohne etwas anderes zu erwarten als Fitzwilliams Vertrauen und seinen Dienst als getreuer Vasall des Königs.“

Obert ließ seine Worte verhallen, ehe er den neuen Lord of Thaxted aufforderte, sich zu erheben. „Auf den Lord of Thaxted!“, rief er. „Thaxted!“

Die Männer fielen in seine Hochrufe ein, stampften mit den Füßen und klatschten in die Hände. Obert ließ sie eine Weile gewähren. Lord Giles klopfte seinem Freund brüderlich auf den Rücken und schloss ihn in die Arme – Gesten, welche die gemeinsamen Jahre der Mühsal und des Triumphs widerspiegelten. Erst als Lady Fayth, die Gemahlin Lord Giles’, die Halle betrat, fiel Obert ein, dass er mit Brice noch über jene andere Dame reden musste, die das Ganze hier ebenfalls betraf. Lady Fayth kam näher, und als sie von Brices Errungenschaft erfuhr, beobachtete Obert, wie ihr Gesichtsausdruck mehrmals wechselte und ihre gemischten Gefühle verriet. Dem Bischof war sehr wohl bewusst, dass das ­schwache ­Geschlecht den Männern das Leben wahrhaftig schwermachen konnte, obwohl Letzteren als Herr oder Gemahl die Vormundschaft oblag.

Obert bemerkte das Zögern in Gruß und Glückwunsch der Dame, das allen anderen entging. Ah, die Weiber und ihr empfindsames Gemüt machen die Dinge für das Mannsvolk stets umso vertrackter. Als Lord Giles neben seine Gemahlin trat und ihre Hand ergriff, erkannte Obert den wohl größten Unterschied zwischen den beiden Rittern, die von ihrem Herrn zum Lord erhoben worden waren.

Lord Giles hatte seine Braut nicht bezwingen müssen, nachdem er sich den Weg zu seinen Ländereien freigekämpft hatte.

Ob das auch auf Lord Brice zutreffen würde, vermochte er nicht zu sagen.

1. KAPITEL

Thaxted Forest, Nordostengland

März 1067

Der Boden unter ihren Füßen bebte, und Gillian fragte sich nach dem Grund. Es war ein schöner Tag, wenn man einmal davon absah, dass der Winter das Land noch in seinem eisigen Griff hielt. Kein Wölkchen befleckte das Blau des Himmels. Sie sah auf, doch nichts deutete auf ein nahendes Unwetter hin, welches das dumpfe Grollen hätte erklären können, das in der Luft lag.

Gillian schlug die Kapuze zurück, trat auf die Straße und blickte in beide Richtungen. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie, was für das Donnern verantwortlich war, und hastete ­zurück in das Dickicht aus Sträuchern und Buschwerk am Straßenrand. Sie wickelte sich fest in ihren schweren Umhang, den sie vor ihrer Flucht stibitzt hatte, und schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass der grobe Stoff dunkelbraun war und ihr somit gute Tarnung bot. Dann lag sie still und ließ die Horde berittener Krieger und Ritter an ihrem Versteck vorbeigaloppieren. Als die Reiter nicht weit entfernt von der Stelle hielten, an der sie reglos und mucksmäuschenstill kauerte, wagte sie nicht einmal zu atmen, aus Angst, die Fremdlinge könnten sie finden und gefangen nehmen.

Die Gesprächsfetzen, die zu ihr herüberdrangen, waren ein Gemisch aus normannischem Französisch und ein paar englischen Brocken, doch die Männer waren zu weit weg und sprachen zu leise, als dass sie sie verstehen konnte. ­Gillian hielt den Kopf gesenkt und wartete darauf, dass sie ihren Weg fortsetzen würden. Als sie stattdessen hörte, wie sie absaßen und die Straße abschritten, begann sie zu zittern. In diesen gefahrvollen Zeiten hier draußen allein aufgegriffen zu werden, mochte ihr sehr wohl den Tod oder Ärgeres einbringen. Daher hatte sie bislang jede Begegnung mit Fremden sorgsam vermieden.

Gillian hatte den Entschluss, ihr Heim zu verlassen und ins Kloster zu fliehen, keineswegs überstürzt getroffen. Auch hatte sie die Folgen ihres Tuns wohl überdacht. Nur wenige Möglichkeiten hatten ihr offengestanden, und diese waren nicht eben verlockend gewesen: entweder die von ihrem Halbbruder Oremund arrangierte Ehe mit einem pockennarbigen Greis oder aber die von diesem räuberischen normannischen Herzog befohlene Heirat mit einem seiner barbarischen ­Krieger. Der übrigens bereits auf dem Weg sein musste, um alles zu zerstören, was sie liebte und ihr etwas bedeutete. Sie konnte nichts anderes tun, als sich möglichst unsichtbar zu machen und zu beten, dass der Trupp weiterzog und sie selbst ihren Weg zum Kloster fortsetzen konnte.

Gillian wartete, während die Männer irgendetwas be­sprachen. Als sich die Stimmen näherten, hielt sie einmal mehr den Atem an, um die Aufmerksamkeit dieser Kerle nicht auf sich zu ziehen. Sie hörte den Namen ihres Zuhauses heraus, auch der ihres Bruders fiel. Wenn diese Fremden doch nur Englisch oder wenigstens so langsam sprechen würden, dass sie mehr verstehen könnte!

Nach einigen Augenblicken, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, entfernten sich die Männer wieder und riefen den übrigen zu, dass nichts zu sehen sei – so viel bekam Gillian jedenfalls mit. Vorsichtig und so langsam wie möglich hob sie den Kopf und beobachtete, wie die Gruppe sich zurückzog. Ein Ritter jedoch stand weiterhin auf dem Weg, nur wenige Schritte von ihrem Schlupfwinkel entfernt. Statt den anderen zu folgen, zog er sich den Helm vom Kopf und klemmte ihn sich unter den Arm. Dabei wandte er sich um.

Das Keuchen war heraus, ehe Gillian es unterdrücken konnte.

Der Ritter war hochgewachsen, kräftig und der stattlichste Mann, den sie je gesehen hatte – sogar im Vergleich zu ihrem Vetter, für den wohl so einige Frauen schwärmten. Der ­Krieger trug das blonde Haar nicht kurz geschoren, wie bei den ­Normannen üblich, sondern es reichte ihm bis zur ­Schulter. Er war zu weit entfernt, als dass sie die Farbe seiner Augen erkennen konnte, doch sein Antlitz fand sie markant und anziehend – und das, obwohl er Normanne war.

Ein Normanne! Noch dazu in voller Kriegsrüstung!

Heilige Jungfrau, schütze mich!

Angestrengt spähte der Ritter in Richtung des Gebüschs, in dem sie sich verbarg. Gillian wagte nicht, sich zu rühren, ja wagte nicht einmal, sich tiefer in das Gewirr aus Zweigen zu ducken, denn der Krieger legte den Kopf schräg, verengte die Augen und verharrte. Sie wusste, er horchte auf ein weiteres Anzeichen dafür, dass sich jemand hier versteckte, und so hockte auch sie reglos da und atmete möglichst flach.

Sie fürchtete schon, er werde gleich das Buschwerk durchstöbern, aber endlich drehte er sich zu seinen Kumpanen um, setzte den Helm wieder auf und kehrte mit ausladenden Schritten zu ihnen zurück. Dabei stieß er einen Schwall an ­Flüchen aus, von denen einige so laut und lästerlich waren, dass Gillian spürte, wie ihr die Schamesröte in die Wangen stieg. Unmöglich konnte dieser Grobian jener Lord sein, dem der Eroberer Thaxted zugesprochen hatte. Kein Edelmann würde sich derart ungehobelt aufführen und solche Ausdrücke in den Mund nehmen. Einen seiner Mannen verglich er gar mit einem Esel, noch dazu mit einem lahmen und unnützen.

Wer also war er und was tat er hier?

Ein Krieger bellte den Befehl zum Aufbruch, und Gillian betete, dass die anderen dem nachkommen würden. Sie bewegte sich erst wieder, als der Staub sich gelegt hatte und nichts mehr zu hören war. Dann setzte sie sich langsam auf und zog den Umhang enger um sich. Sie würde sich nicht vom Fleck rühren, ehe sie nicht Gewissheit hatte, dass eine sichere, ausreichend große Distanz zwischen ihr und dem Reitertrupp lag.

Sie zog den Trinkschlauch mit verdünntem Bier unter dem Umhang hervor und trank gierig, um ihre trockene Kehle zu benetzen. Die Strapazen des meilenweiten Marschs, die staubige Straße und die Angst, die ihr noch immer in den Knochen saß, hatten ihren Hals ausgedörrt. Das Bier war angenehm kühl. Sie war versucht, auch eine Kleinigkeit von dem zu essen, was sie in ihrem Beutel bei sich trug, entschied sich jedoch dagegen. Sie hatte nur so viel mitgenommen, wie sie für den zweitägigen Marsch von Thaxted Hall zum Kloster benötigte, und sie besaß nur wenige Münzen, um mehr zu kaufen.

Wenn es denn unterwegs überhaupt etwas zu erwerben gäbe.

Die letzte Ernte war, nicht zuletzt bedingt durch die schweren Zeiten des Krieges, mager ausgefallen. Als im Herbst König Harold Godwinsons Krieger unweit der Ländereien ihres Vaters vorbeigezogen waren, hatte man ihnen alles gegeben, was entbehrlich schien – darunter auch einen Teil der Vorräte, welche die Menschen auf Thaxted gut durch den Winter gebracht hätten, welcher in jenem Jahr ungewöhnlich früh hereinbrechen sollte. Harold war zunächst nach Norden marschiert, um den Angriff des norwegischen Königs Harald Hardråde zurückzuschlagen, und anschließend nach Süden, um sich der Streitmacht von Herzog William, dem Eindringling aus der Normandie, zu stellen.

Die königlichen Truppen hatten also kaum Zeit gefunden, sich nach der Schlacht gegen die Nordmänner neu zu formieren, bevor sie erneut aufbrechen mussten, um nahe der Küste die normannischen Truppen zu bekämpfen. Und so bedurfte es nur eines einzigen Tages Mitte Oktober, Englands Hoffnungen zu zerschlagen: König Harold fiel bei Hastings und mit ihm viele seiner engsten Verbündeten.

Schlimmer noch – in den Monaten nach jener Schlacht waren Geächtete und Rebellen durchs Land gezogen und hatten sich einfach genommen, was sie benötigten, um das erobernde Normannenheer zu bekämpfen.

Gillian seufzte. Bei der Erinnerung an die zurückliegenden Monate hatte sich ihr Magen zusammengezogen, sodass sie nun nicht mehr ans Essen denken mochte. Außerdem hatte sie genug Zeit vertrödelt. Sie kam auf die Beine, klopfte sich feuchte Erde und Blätter von Kleid und Umhang und bahnte sich einen Weg durchs Dickicht bis zur Straße.

Dass der unplanmäßige Halt sie vermutlich eine ganze Stunde kostbaren Tageslichts gekostet hatte, erkannte sie, als sie zur Sonne aufsah. Sie trat auf die Straße und setzte ihren Weg fort, wobei sie rascher ausschritt als zuvor. Wenn sie das Kloster nicht vor der Dämmerung erreichte, würde sie eine weitere Nacht allein im Wald verbringen müssen – und dieser Gedanke schreckte sie nun umso mehr, da sie fürchtete, die Normannen könnten ihr Gesellschaft leisten.

Eine Stunde zog ins Land und dann noch eine. Während sie weiterwanderte, richtete Gillian ihren Blick stets wachsam nach vorn und horchte auf jeden Laut, der von Gefahr kündete. Sie ging in dieselbe Richtung, in die auch die Männer geritten waren, und hoffte, dass sie weit genug zurückblieb und sie nicht einholte. Als die Sonne im Westen tiefer sank, musste sie einsehen, dass sie das Kloster nicht erreichen würde, bevor die Schwestern die Pforte für die Nacht schlossen. Aber gewiss würde sie im Schatten der Klostermauern genauso sicher schlafen wie dahinter, oder? Mit einem Zipfel ihres Umhangs wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

Gillian beschleunigte ihre Schritte und beschloss, das Stück Brot und den Käse in ihrem Beutel doch zu essen. Sie verschlang die karge Mahlzeit im Gehen und wurde erst langsamer, als der Weg anstieg, was ihr die Gewissheit gab, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte. Von früheren Besuchen wusste sie, dass das Kloster nunmehr nur noch knapp eine Meile entfernt lag. Als sie die Anhöhe erklomm, geriet sie ins Keuchen und musste mehrmals innehalten, um nach Luft zu ringen.

Oben angelangt bot sich ihr ein Anblick, der ihr endgültig den Atem nahm – am Rande der Straße lagerte derselbe Trupp von Kriegern, dem sie vorhin begegnet war. Es hatten sich gar noch Männer hinzugesellt. Gillian starrte angestrengt nach vorn und überlegte, ob sie ihren Weg dennoch fortsetzen sollte. Und wenn sie so tat, als sei sie eine schlichte Bauersfrau, die etwas zu erledigen hatte? Vielleicht würden die Männer sie dann nicht weiter beachten? Entschlossen rang sie den Drang zu fliehen nieder, denn wenn sie davonlief, würde das diese Kerle nur anstacheln, ihr nachzusetzen. Also war es wohl das Beste, ruhig und möglichst unbekümmert weiterzugehen.

Gillian zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, hielt den Kopf gesenkt und setzte einen Fuß vor den anderen. Sie zwang sich, langsam und gemessen auszuschreiten. Aus den Augenwinkeln spähte sie wachsam zu den Kriegern hinüber und wünschte, sie wäre schon an ihnen vorbei. Einige traten an die Straße, aber keiner hielt sie an. Als sie das Lager fast hinter sich gelassen hatte, regte sich schon eine zage Hoffnung in ihrem Herzen, als ihr ein Hüne von einem Mann in den Weg trat.

Sie umrundete ihn oder versuchte es zumindest, doch er folgte ihrer Bewegung. Seine riesige, muskulöse Gestalt zeugte von Kraft, und Gillian überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Sie machte kehrt, um in die Richtung zurückzugehen, aus der sie gekommen war, und sah sich prompt einem weiteren Kerl gegenüber. Ein Dritter und ein Vierter verwehrten ihr, zur Seite auszubrechen, sodass keine Flucht möglich war. Sie atmete tief durch und wartete ab.

„Was tut Ihr so allein auf der Straße, Mädchen?, fragte einer auf Englisch mit schwerem normannischem Zungenschlag.“ „Was verschlägt Euch hierher?“

Gillian hatte sich bei ihrem Marsch durchs Lager eine ­Geschichte zurechtgelegt, um genau diese Frage zu beantworten – wobei sie gehofft hatte, sie nie anbringen zu müssen. Sie wandte sich dem Wortführer zu, ohne ihm in die Augen zu sehen.

„Meine Herrin schickt mich zum Kloster, Mylord“, erklärte sie und hoffte, dass die gehobene Anrede dem einfachen Mann schmeicheln und ihr das Entkommen erleichtern werde. ­Während sie sprach, senkte sie den Kopf noch ein wenig mehr.

„Es ist beinahe dunkel“, sagte jener, der hinter ihr stand. „Kommt, in unserem Lager werdet Ihr heute Nacht sicherer sein.“

War ein Schaf sicher in der Obhut eines Wolfs? Das bezweifelte sie, und fast meinte sie, die Männer geifern zu hören. Kopfschüttelnd schlug sie die Einladung aus. „Die frommen Schwestern erwarten mich, Mylord, ich muss mich eilen. Meine Herrin wird mir zürnen, wenn ich das Kloster nicht erreiche.“

Sie versuchte, den Kerl vor sich beiseitezuschieben, doch der rührte sich kaum. Sie mühte sich ein zweites Mal ohne Erfolg. Ehe sie es ein drittes Mal versuchen konnte, packten zwei der Krieger sie an den Armen und zogen sie mit sich fort zu den anderen. Sosehr sie sich auch wehrte, lockerte sich der eiserne Griff doch kein Stück. Ihr Herz begann zu rasen, wild rauschte das Blut durch ihre Adern, und ihr wurde schwindelig.

Ehe sie sich versah, befand sie sich mitten im Lager, sodass eine Flucht schwerfallen würde. Obgleich sie es ihnen nicht leicht machte, konnte sie die barbarischen Nordmänner nicht aufhalten, ja nicht einmal langsamer wurden sie. Sie schleiften sie einfach zwischen sich mit. Davon schmerzten ihre Arme, und sie wusste, dass sie morgen blaue Flecke haben würde – sofern sie denn die kommende Nacht überlebte.

Die Kerle unterhielten sich gedämpft; sie klangen fahrig und wütend. Etwas stimmte nicht, erfasste sie und beschloss, dies zu ihren Gunsten zu nutzen. Mit aller Wucht ließ sie ­ihren Absatz auf den Fuß des Mannes hinter ihr niedersausen und rammte ihn mit der Hüfte in der Hoffnung, ihn dadurch aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Doch der Fluchtversuch missglückte.

Nur tat ihr Fuß jetzt weh, und sie musste den beiden ­Burschen humpelnd folgen. Endlich blieben sie stehen, und Gillian nahm erneut die Chance wahr, um sich loszureißen und zu flüchten. Einer der Männer griff nach ihr, erwischte jedoch nur ihren Umhang, der nachgab, als die Schnürung riss. Gillian war noch keine zwei Schritte – zwei qualvolle Schritte – weit gekommen, als ihr jemand einen Arm um die Taille schlang und sie hochriss. Nie war sie gegen etwas ­Härteres geprallt – ihr wurde regelrecht die Luft aus der Lunge gepresst. Beinahe hätte sie die Besinnung verloren, als sie mit dem Kopf gegen die metallene Brustpanzerung schlug.

„Wohin so eilig, Mädchen? Seid Ihr etwa nicht geneigt, uns heute Nacht mit Eurer Gesellschaft zu beehren?“

Als sie die Stimme des Kriegers erkannte, der sie fest an sich gedrückt hielt, drohte sie der Schreck zu überwältigen. Jede Aussicht auf Flucht war dahin, und sie argwöhnte, dass diese Finsterlinge allerlei unstatthafte und unsittliche Dinge im Sinn hatten. Sie lauschte dem Gelächter der Umstehenden und wünschte sich sehnlichst eine Ohnmacht herbei. Als der Riese in ihrem Rücken ihr auch den anderen Arm um den Leib schlang und sie auf unschickliche Weise an sich presste, rang sie nach Luft. Er neigte den Kopf so weit, dass sie seinen Atem im Nacken spürte. „Sagt mir, was Ihr begehrt, mein Herz“, raunte er auf Englisch, und seine Worte waren mit einem fremdartigen Akzent gewürzt. „Sagt es mir, und ich werde Eurem Wunsch entsprechen, so gut ich es vermag.“

2. KAPITEL

Aufgrund seiner streckenweise recht erbärmlichen Vergangenheit und des Umstands, als Bastard unter Edelleuten zu leben, war Brice Fitzwilliam durch eine harte Schule gegangen. Dennoch hatte er die Tugend der Geduld nie erlernt, denn diese wurde in seinen Augen maßlos überschätzt und war nichts als ein notwendiges Übel. Die gegenwärtige Lage überzeugte ihn einmal mehr davon.

Er hatte sich, wie vom König verlangt, in Geduld geübt, hatte den Winter ins Land ziehen lassen und ergeben auf die letzten Urkunden gewartet, die ihm Land und Titel des Baron und Lord of Thaxted zugestanden. Anschließend hatte er sich hierher aufgemacht, nur um festzustellen, dass sich die Festungsbewohner gegen ihn verschanzt hatten. Im Gegensatz zu den meisten angelsächsischen Verteidigungsbauten, die nur durch hölzerne Palisaden geschützt wurden, verfügte Thaxted Hall über starke, massive Steinmauern, die auf ein früheres römisches Kastell zurückgingen. Drei Wochen lang hatte Brice auf Verstärkung durch die Truppen seines Freundes Giles gewartet, ohne dass die Eroberung der Feste einen Zoll näher gerückt wäre. Lediglich ein paar entlaufene Bauern hatte er eingefangen. Schließlich hatte er auch noch feststellen müssen, dass ihm seine – wohl nicht zum ersten Mal flüchtige – Braut entwischt war und sich seiner Herrschaft im Schutz des ­Klosters zu entziehen suchte. Nur gut, dass er schon vor Tagen sein Hauptquartier hierher verlegt hatte, um seinen Gegner zu verwirren. Und nur gut, dass Stephen ihn begleitete, denn wenn dieser erst einmal auf eine Spur angesetzt worden war, entkam ihm nichts und niemand. Nicht umsonst nannten sie ihn „den Jäger“.

Nun wand sich eben diese Braut in seinen Armen. Brice war sicher, dass sie nicht ahnte, wer er war oder dass sie ihm gehörte. Ihre leichtsinnige Unbekümmertheit ob der Gefahren auf der Straße machte ihn unsagbar wütend. Wenn er sie nicht aufgegriffen hätte … Der Gedanke daran, was ihr alles hätte zustoßen können, schreckte ihn aus vielerlei Gründen. Eine Lektion war angebracht, und er würde sie ihr erteilen.

Zumindest war sie am Leben, sodass er dafür sorgen konnte, dass sie ihr Handeln überdachte.

„Also, wie viel kostet eine Nacht mit Euch, mein Engel?“ Er ließ die Hand über ihren Körper gleiten und spürte, wie sie unter seiner Berührung erschauderte. „Viele meiner Männer besitzen Münzen und ein wenig hübschen Tand und könnten Euch die Zeit mit ihnen wohl vergelten.“

„Aber ich bin keine Hu-hur…“, stammelte sie. „Ich ver­äußere meine Gunst nicht.“

Brice gab sie frei und riss sie herum, sodass sie ihm gegenüberstand und ihm in die Augen sehen musste. Ihr Anblick raubte ihm fast den Verstand, denn zum ersten Mal sah er seine Braut aus nächster Nähe. Sie war eine Schönheit – und sie war sein.

Die Augen in ihrem herzförmigen Gesicht waren groß und von leuchtend blaugrüner Farbe. Lange dunkelbraune Locken stahlen sich unter dem Kopftuch hervor und fielen über ihre Schultern. Obwohl sie eines dieser weiten angelsächsischen Gewänder trug, ahnte er, dass ihr Leib wunderbar geformt war und jene weiblichen Rundungen aufwies, die er bei seinen Geliebten so schätzte: volle weiche Brüste und wohlgerundete Hüften. Ihrem hartnäckigen Widerstand nach zu urteilen, ­waren ihre Beine und Arme kräftig.

Sein Körper erwachte, noch ehe Brice seine Begutachtung abgeschlossen hatte. Hitze schoss ihm in die Lenden, und er war bereit für all die Dinge, die er ihr so schamlos angedroht hatte. Erst als einer seiner Männer hüstelte, fand Brice die Sprache wieder. „Wenn keine Hure, was dann?“

„Wie ich diesen Männern bereits sagte, hat mich meine Herrin zum Kloster geschickt. Dorthin führt mich mein Weg.“

„Ganz allein, Mädchen? Wo doch in diesen Zeiten so viele Plünderer und Gesetzlose durch den Wald streifen und die Straßen unsicher machen? Hätte Eure Herrin Euch einen ­Begleitschutz mitgeben sollen?“, fragte er und trat einen Schritt näher.

Sie wich zurück, aber die Krieger hinter ihr blieben, wo sie waren, und bildeten eine Mauer, sodass sie in der Falle saß. Brice sah, wie sich zunehmend Furcht in ihren Blick stahl, und wusste, dass die Maske der Tapferkeit zu bröckeln drohte. Doch dann, während er noch all dies beobachtete, riss Gillian sich zusammen, straffte die Schultern und reckte das Kinn.

„Meine Herrin hat derzeit ganz andere Sorgen, Mylord. Zudem weiß sie, dass ich selbstständig bin und mich allein zum Kloster durchschlagen kann.“

Selbstständig? Das sah Brice ganz anders. Da stand sie, vermutlich meilenweit entfernt von ihrem Heim und mutterseelenallein, und das nicht zum ersten Mal. „Töricht“ hätte es eher getroffen, dachte Brice bei sich.

„Seid Ihr närrisch?“, fragte er. „Wollt Ihr Euch unbedingt in Schwierigkeiten bringen?“ Er ließ den Blick an ihren Rundungen hinabwandern und machte keinen Hehl daraus, dass ihm gefiel, was er sah. „Jede Herrin, die in diesen … heiklen Zeiten eine Dienerin auf die Straße schickt, sollte wissen, welche Botschaft sie damit vermittelt.“

Brice meinte fast zu hören, wie sie versuchte, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken und ihre Angst zu bezwingen. In ihren Augen schimmerten erste Tränen, und ihre Lippe – ihre wunderbar volle Unterlippe, die ihn so sehr lockte – bebte leicht. Ah, vielleicht ging ihr endlich auf, wie dumm ihr Vorhaben war?

„Ein Edelmann würde, gleichgültig ob Dame oder Magd, einer Frau sicheres Geleit zum Kloster gewähren. Ein wahrer Edelmann würde niemals die Schutzlosigkeit einer Maid ausnutzen. Ein wahrer Edelmann würde …“ Ehe sie eine weitere Tugend anführen konnte, brachte er sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen.

„Ich habe nie behauptet, ein Edelmann zu sein“, knurrte er. Abermals spürte er Zorn in sich auflodern. „Aber selbst wenn ich einer wäre – sollte Eure Herrin glauben, ein jeder Edelmann sei rechtschaffen und würde sich eine Versuchung, wie Ihr sie darstellt, einfach entgehen lassen, so ist sie einfältiger, als ich dachte.“

Seine Kumpane feixten, denn weder er selbst noch sie waren von edlem Geblüt oder auch nur ehelicher Geburt. Brice bemerkte, dass Gillian verwirrt war. Die meisten Männer hätten sich gewiss von ihr um den kleinen Finger wickeln lassen, aber nicht dieser Haufen hier. Ein jeder von ihnen hatte sich seinen Weg in der Welt durch harte Arbeit, Blut und Schweiß erkämpfen müssen.

Gillian wollte etwas einwenden, fand jedoch keine Worte. Sie senkte den Kopf und wandte sich ab. Sein Bemühen, sie zu demütigen, verschaffte ihm jedoch nicht die Genugtuung, die er sich erhofft hatte. Er warf seinen Männern einen ­raschen Blick zu. Die Nacht brach herein und es gab vieles zu erledigen, nun da ihm seine Braut in die Arme spaziert war. „Bringt sie in mein Zelt und sorgt dafür, dass sie es nicht verlässt“, befahl er.

„Das könnt Ihr nicht tun!“, rief sie. Er machte einen Schritt auf sie zu und zwang sie dadurch, zu ihm aufzublicken. „Die frommen Schwestern …“

„Die frommen Schwestern werden ihr Nachtmahl zu sich nehmen, ihre Gebete sprechen und zu Bett gehen wie jeden Abend, Liebchen. Eure Herrin hätte ihren Plan überdenken sollen, bevor sie ihn ausführte.“

Sie versuchte, ihn fortzuschieben. „Sie erwarten mich. Meine Herrin hat ihnen eine Nachricht geschickt.“

„Ich kann Euch versichern, dass kein Bote im Kloster eingetroffen ist. Wir lagern hier seit Tagen und aus Richtung Thaxted ist niemand gekommen … bis Ihr heute aufgetaucht seid.“ Insgeheim dachte er, dass es doch recht seltsam sei, einen Boten auszuschicken, der die Ankunft einer Magd verkündete. Hätte er nicht gleich selbst die Botschaft überbringen können?

Nach diesen Worten fiel ihr Selbstvertrauen in sich zusammen, und er spürte, wie ihr Kampfesmut erlosch. Sie ließ den Blick über das Lager gleiten, und erst jetzt schien ihr bewusst zu werden, wie viele Krieger sie umgaben und welche Gefahr von ihnen ausging. Sollte es tatsächlich einen Boten gegeben haben, hatten seine Männer ihn jedenfalls nicht gesehen. Wobei durchaus die Möglichkeit bestand, dass der Bursche kehrtgemacht hatte, als er das Lager erspähte, denn ihm musste klar gewesen sein, dass er es nicht würde passieren können.

„Bringt sie fort“, wiederholte Brice leise und trat beiseite, damit Stephen die Anweisung ausführen konnte.

Zunächst schien es, als wolle sich seine junge Braut ­widersetzen, aber dann nickte sie nur und ließ sich fortführen. Wenigstens war sie in Sicherheit, wofür er Gott dankte. Eine Sache weniger, über die er sich in dieser widrigen Lage den Kopf zerbrechen musste. Morgen früh wäre sie sein, ebenso wie ihm Thaxted Hall mitsamt aller Ländereien gehören und er Lord of Thaxted sein würde.

Gemeinsam mit Giles’ Mannen von Taerford und einigen Kriegern des Königs würde Brice die Festung erobern. Er würde die Rebellen und alle anderen vertreiben, die sich ­weigerten, König William die Treue zu schwören. Fortan würde er zu den Reichen und Mächtigen gehören und nicht länger zu den gemeinen Kriegern. Brice atmete tief durch. In den kommenden aufreibenden Tagen stand ihm einiges bevor, doch vielem davon fieberte er voller Tatendrang entgegen.

Nicht dazu gehörte allerdings, sich Lady Gillians Wut zu stellen, wenn diese von seinem Täuschungsmanöver erfuhr.

Stunden verstrichen, in denen Brice Vorbereitungen für den letzten Sturm gegen Thaxted traf und einige persönlichere Dinge regelte, die Lady Gillian betrafen. Er ließ die Mutter Oberin im Kloster wissen, dass die Dame in Sicherheit sei und bald nach Hause zurückkehren werde. Eine großzügige Spende begleitete die Botschaft und würde, so hoffte er, den Weg für zukünftig gute Beziehungen zu den frommen Schwestern ebnen. Er hatte viele Männer den Fehler begehen sehen, dem Klerus den Respekt zu versagen, und er war entschlossen, es besser zu machen.

Die Sonne war schon lange untergegangen, als Brice es an der Zeit fand, den ersten Schritt zu tun, um sein Land in ­Besitz zu nehmen – und seine Braut. Er rief einige Männer in der Nähe zu sich und schritt zum Zelt, das von vier ­Posten bewacht wurde. Einer an jeder Ecke – und keiner wirkte ­sonderlich glücklich.

„Gab’s Schwierigkeiten, Ansel?“, fragte Brice im Näherkommen. Alles wirkte ruhig, doch die Mienen der Wachen und allein schon ihre Zahl kündeten davon, dass der Schein trog. Es war Ansels erster Feldzug, aber Brice war überzeugt, dass der junge Bursche jede ihm anvertraute Aufgabe zu bewältigen wusste.

„Ja“, erwiderte Ansel. „Doch sie ist … Also, die Dame ist … recht willensstark.“ Er schüttelte resigniert den Kopf, als habe er versagt, und Brice sah, dass am Kinn des Mannes die ersten Zeichen einer Prellung sichtbar waren.

Er griff nach der Zeltklappe, hielt jedoch inne. „Sofern die Dame unversehrt ist, stelle ich dein Handeln nicht infrage.“

Ansel nickte, doch noch immer hing etwas Ungeklärtes in der Luft, das Brice nicht greifen konnte. Da näherte sich Stephen.

„Sie wäre dreimal fast entkommen, Brice“, erklärte er. „Einmal ist sie beinahe aus dem Lager entwischt.“ Brice nahm die Wachposten einen nach dem anderen in Augenschein und bemerkte, dass mehrere von ihnen frische Kratzer oder rote Striemen hatten. Schließlich blickte er wieder Stephen an, der geräuschvoll die Luft ausstieß und mit den Schultern zuckte. „Nur zu, ich will die Schuld wohl auf mich nehmen, aber anders ließ sie sich nicht bändigen.“

Sowohl die Worte als auch der Ton ließen Brice zusammenfahren. Was mochten sie mit ihr getan haben? Er nickte ihnen zu. „Bringt der Dame etwas zu essen und holt euch dann selbst etwas. Wenn sie gegessen hat, sehen wir weiter.“

Die Männer verschwanden, und Brice schob die Zeltklappe beiseite. Gebückt, um mit dem Kopf nicht gegen den ­Baldachin zu stoßen, trat er ein und hielt inne. Eine einzelne Laterne erhellte das Dunkel, doch er konnte Lady Gillian deutlich erkennen. Bei ihrem Anblick blieb ihm der Mund offen stehen, und zugleich mühte er sich, sein Herz zu verschließen.

Die Männer hatten zwei dicke Holzpflöcke in die Erde getrieben, der Dame die Hand- und Fußgelenke gefesselt und diese an die Pfähle gebunden. Das Kopftuch hatte sich um ­ihren Hals gewickelt, und ein Knebel verschloss ihr den Mund. Anscheinend hatte sie sich lebhaft gegen die Fesseln gestemmt, und dadurch war ihr Rock nach oben gerutscht, sodass Brice ihre wohlgeformten Fesseln und Waden bewundern konnte. Da ihr die Arme über den Kopf gezwungen worden waren und sich das Oberteil ihres Gewands verdreht hatte, wurden ihre Brüste hart gegen den Stoff gepresst. Unter dem weichen Gewebe zeichneten sich deutlich die festen Spitzen ab.

Brice schluckte, einmal und ein zweites Mal, denn plötzlich war sein Mund wie ausgedörrt. Er ließ die Klappe hinter sich zufallen. Als er näher trat, begann Lady Gillian erneut gegen die Stricke anzukämpfen, wodurch ihr Rock noch ein wenig höher glitt. Während sie sich wand und zu befreien suchte, wurde Brice ein unverhüllter Blick auf ihre Schenkel gewährt. Er ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete, um den schier schmerzhaften Drang zu bezwingen, über ihre zarte weiße Haut zu streichen. Hitze wallte in ihm auf, und er malte sich aus, wo er seine Braut liebkosen und küssen würde, ehe der Morgen anbrach.

Sie murmelte etwas in den Knebel hinein, und Brice wurde plötzlich bewusst, dass er sie nicht so liegen lassen konnte. Er hockte sich neben sie, zückte seinen Dolch und durchschnitt den Stoffstreifen, der den Knebel fixierte. „Ruhig, Mädchen“, sagte er leise. Behutsam strich er ihr die Haare aus dem ­Gesicht und fuhr sanft über ihre Wangen.

Tränen. Sie hatte geweint. Das Wenige, was er bisher über seine Braut erfahren hatte – aus ihrem Verhalten und aus seinen Nachforschungen –, ließ ihn vermuten, dass dieses Zeichen von Schwäche sie beschämen musste. Doch im Moment stand ihm gar nicht der Sinn danach, sie weiter zu demütigen. Er ging zu dem kleinen Tisch, goss ein wenig Wein aus einem Krug in einen metallenen Becher und brachte ihn Gillian.

„Hier, trinkt.“ Er stützte ihren Kopf und hielt ihr den ­Becher an die Lippen. Nachdem sie ihn geleert hatte, füllte er ihn erneut und stürzte den Wein hinunter.

Dann kniete er sich abermals neben sie und machte sich daran, ihre Kleider zu ordnen. Als er ihren entblößten ­Schenkel streifte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen und berührte ihre Haut. Langsam ließ er die Hand über ihren Schenkel bis zum Knie gleiten und wieder hinauf, ehe er den Saum des Gewands fasste. Alles in ihm drängte danach, bis zu jener köstlichen Stelle zwischen ihren Beinen vorzudringen, die unter den Liebkosungen seiner Finger feucht werden würde. Verzweifelt kämpfte er gegen das überwältigende Verlangen an, ihren Körper zu erkunden, und erst Gillians leise Worte brachten ihn wieder zu Verstand.

„Ich bitte Euch, Mylord“, flüsterte sie. „Bitte nicht …“

Stocksteif lag sie da, und das war gut so, denn in ihm rang der Anstand mit dem Begehren seines Körpers, und Letzteres drohte die Schlacht für sich zu entscheiden. Nach einem ­Augenblick, der vielleicht eine Spur zu lange währte, zog Brice den Rock über ihre Beine und wich zurück.

Das unbehagliche Schweigen zwischen ihnen wurde jäh von Ansels Ruf unterbrochen. Brice erhob sich, trat aus dem Zelt und kehrte mit einem Holzteller zurück. Er stellte den Teller auf den kleinen, niedrigen Tisch, zückte erneut seinen Dolch und durchtrennte behutsam die Fesseln an ihren Handgelenken. Sie schnappte nach Luft, als er die Klinge drehte, vermutlich mehr aus Erstaunen als aus einem anderen Grunde, denn Brice achtete darauf, ihr nicht die Haut zu ritzen.

Gillian traute ihm nicht, auch wenn jetzt gerade etwas Sanftes in seinem Blick lag. Noch hatten seine Männer ihr nichts angetan, aber gefesselt und geknebelt und stundenlang sich selbst überlassen zu werden hatten ihre Geduld und ihren Mut auf eine harte Probe gestellt. Obwohl sie unberührt war und dementsprechend unerfahren, hatte sie die Begierde in den Augen dieses Mannes sehr wohl erkannt, als er sie am Bein berührt und Teile ihres Körpers angestarrt hatte, die durch das verrutschte Kleid entblößt worden waren – Stellen, die besser verhüllt geblieben wären. Sie wusste nicht, wie lange sie noch unangetastet und unversehrt bleiben würde, und wagte auch nicht zu fragen.

Doch ohne Fesseln hatte sie eine bessere Chance zu entkommen als verschnürt wie eine Gans. Daher nahm Gillian seine Hand und ließ sich von ihm in eine sitzende Haltung ziehen. Als sie nach den Riemen griff, mit denen ihre Beine an den unteren Pflock gebunden waren, gebot er ihr Einhalt.

„Lasst das“, befahl er barsch, und die tiefe Stimme und der Akzent hatten mehr Wirkung auf sie, als ihr lieb war. Sie zog den Saum ihres Kleids so weit wie möglich über ihre Füße und schnürte ihren Ausschnitt fester zu.

Brice nahm ein Leinentuch, tauchte es in einen Wassereimer am Zelteingang und reichte es Gillian. Sie fuhr sich damit über Gesicht und Hals und wischte den Schmutz fort, den sie sich eingehandelt hatte, als sie sich gegen ihre Bewacher wehrte. Und ebenso die Tränen, die sie trotz aller Versuche, sich zu beherrschen, vergossen hatte. Zuletzt reinigte sie sich die Hände und gab ihm das Tuch zurück. „Merci“, hauchte sie.

Er zuckte zusammen, und sie erkannte ihren Fehler. Eine arme englische Magd sprach kein Französisch. Ein armes englisches Weib war nur des heimischen Dialekts mächtig. Als er in seiner Sprache etwas erwiderte, blinzelte sie daher nur verwirrt und schüttelte den Kopf, als begreife sie nichts. In Wahrheit verstand sie das meiste von dem, was er sagte, sofern er langsam sprach. Das jedoch würde sie weder ihn noch seine Mannen wissen lassen. Solange sie hier war, wollte sie so viel wie möglich in Erfahrung bringen, um es Oremund mitzuteilen, wenn sie nach Thaxted Hall zurückkehrte.

Falls sie jemals zu ihrem Bruder heimfand. Und auch dann war es nur das kleinere von zwei Übeln.

Gillian erbebte, als ihr bewusst wurde, dass sie die kommende Nacht womöglich nicht überleben würde. Schließlich hatten diese Kerle ihr die erfundene Geschichte nicht ­abgenommen und hielten sie für eine Hure. Sofern man sie zwang, ihnen … zu Diensten zu sein, und dies gegen ihren Willen, mochte sie den Morgen nicht mehr erleben, um einen weiteren Fluchtversuch unternehmen zu können. Sie erschauerte vom Kopf bis zu den Sohlen ihrer nackten Füße.

Der Ritter handelte umgehend, wenn auch nicht so, wie sie erwartet hatte. Er rief nach dem Mann namens Stephen und verlangte nach etwas. Nach einem Mantel? Einem Umhang? Bald darauf wurden ihr Umhang und ihre Schuhe ins Zelt gereicht. Beides hatte Gillian schmerzlich vermisst. Der Normanne schüttelte den Umhang aus und legte ihn ihr um die Schultern. Sie griff danach, wickelte sich fest hinein, als ob sie sich dadurch vor allem Kommenden schützen könnte. Stundenlang hatte sie nahezu unbedeckt auf dem kalten ­Boden gelegen, doch unter der dicken Wollschicht wurde ihr rasch wieder warm. Der Mann streifte ihr die Schuhe über, und einmal mehr überraschte sie, wie sanft er dabei vorging. Das Schuhwerk und den Umhang hatten die Wachen ihr abgenommen, nachdem sie sich das letzte Mal an ihnen vorbeigestohlen hatte, denn ihnen war klar, dass Gillian nur in ihren dünnen Kleidern und barfüßig in der Kälte der Nacht nicht weit kommen würde.

Als er ihr den Holzteller reichte, knurrte ihr Magen vernehmlich, sodass sie das Angebotene schlecht ausschlagen konnte. Also nahm sie die Speisen entgegen – ein wenig gebratenes Huhn, ein Brocken Käse und ein Brotkanten – und aß. Welchen Herausforderungen sie sich auch würde stellen müssen, sie musste so stark sein wie nie zuvor. Daher machte sie sich gierig über die Mahlzeit her und verzehrte alles bis auf den letzten Krümel. Als sie aufschaute, bemerkte sie, dass der Krieger jede ihrer Bewegungen verfolgte. Er goss ihr Wein ein, und sie trank.

Gillian ahnte, dass dies lediglich die Ruhe vor einem wie auch immer gearteten Sturm war, den er über sie herein­brechen lassen würde. Sie wünschte sich nun, sie hätte sich mehr Zeit gelassen mit dem Essen, aber ihr leerer Magen und die Strapazen des Tages hatten ihren Tribut gefordert.

Kaum war sie mit Essen und Trinken fertig, wurde es ­draußen vor dem Zelt unruhig. Gillian hörte Stimmen, und sie kamen näher. Hatte Oremund bemerkt, dass sie nicht mehr in Thaxted war? War er ihr nachgesetzt? Griff er vielleicht an, um sie zu retten? Nachdem der Ritter ihr den Teller abgenommen hatte, verstellte sie sich nicht länger, sondern machte sich daran, die Fußfesseln zu lösen. Entweder nahm er es nicht wahr, oder er traute ihr nicht zu, sich zu befreien, denn er verließ einfach das Zelt. Gillian mühte sich nun umso fieberhafter mit den Riemen.

Wenn sie bloß einen Dolch oder ihr kleines Messer hätte – irgendetwas Scharfes, um damit den Knoten zu lösen oder die Fesseln zu durchtrennen! Sie nestelte weiter, bis sie hörte, wie der Kerl namens Stephen sich an ihren Peiniger wandte.

„Die Männer sind so weit.“

Es war, als löschten diese Worte alles in ihrem Kopf aus; ihre Welt schrumpfte zusammen auf den Kampf gegen die Lederriemen. Fahrig zerrte sie mal hier und mal dort. Der Gedanke an das, was sie erwartete, durchzuckte sie wie ein Blitz, und unwillkürlich begann sie zu zittern. Diese Männer würden ihre Gelüste an ihr stillen. Sie alle etwa? Oh, ihr ­Heiligen, steht mir bei!

Gillian rang die Furcht nieder. Sie musste einen klaren Kopf bewahren und auf den passenden Moment warten, um zu entkommen. Und dafür galt es, am Leben zu bleiben. Mehrmals atmete sie tief durch, um die Anspannung abzuschütteln, die sie zu ersticken drohte. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Als der Anführer zurück ins Zelt trat und sich näherte, hielt sie sich vor Augen, dass er ihre einzige Chance war, dies alles zu überleben.

Er hatte sich seines Kettenhemds entledigt und trug nur noch den gesteppten Waffenrock. Das nahm ihr keineswegs die Furcht, denn ohne Rüstung konnte er sich ihr viel leichter aufzwingen. Und das verstärkte ihre Angst – er wirkte noch immer so gefährlich wie zuvor in seiner Brünne. Wieder hockte er sich neben sie und bearbeitete mit seinem tödlichen Dolch die Fesseln, bis sie nachgaben. Er half Gillian auf die Beine und fasste sie um die Taille, als sie ins Straucheln geriet.

„Mylord“, presste sie hervor und sah ihn an. Er gab sie nicht frei. Nein, er hielt sie gar fester als zuvor. „Ich werde … Euch bereitwillig zu Diensten sein, wenn Ihr mir zusichert, mich nicht mit den anderen zu teilen.“

Sie war entsetzt, als sie diese verruchten Worte tatsächlich laut aussprach, aber sie musste aufrichtig wirken, oder sie wäre verloren. Gillian griff nach dem Ausschnitt seiner Tunika, bereit, ihm alles zu versprechen, um am Leben zu bleiben. „Ich möchte nur Euer Lager wärmen, Mylord.“

Er ließ sie so rasch los, dass sie beinahe zu Boden getaumelt wäre. Statt ihn mit der Verheißung fleischlicher Wonnen gütig zu stimmen, hatte sie ihn aufgebracht. Er packte sie am Handgelenk und zerrte sie zur Zeltklappe.

„Nicht, Mylord!“, rief sie, sowohl aus Schmerz ob seines Klammergriffs als auch aus Furcht davor, seinen Kriegern vorgeworfen zu werden. „Ich flehe Euch an, teilt mich nicht mit Euren Männern!“

Wenige Atemzüge später fand sie sich vor dem Zelt wieder und sah sich einer Schar gegenüber, die aus Hunderten von Kriegern bestehen musste. Es war Nacht, aber schon allein das Licht des Vollmonds hätte genügt, ihre Übermacht zu erkennen. Zusammen mit den überall brennenden Fackeln war das Lager taghell. Der Normanne hielt ihr Handgelenk eisern umklammert und riss sie zu sich herum.

„Oh ja, Lady Gillian, Ihr werdet mein Lager in der Tat wärmen heute Nacht“, stieß er gepresst hervor. Er wusste es! Er wusste, wer sie war! Doch ehe sie zu einer Erklärung ansetzen konnte, zog er sie so dicht zu sich heran, dass nur sie seine Worte hören konnte. „Und ich habe keineswegs die Absicht, meine zukünftige Gemahlin mit einem anderen Mann zu teilen.“

3. KAPITEL

Gillian suchte in seinem Gesicht nach Antworten, fand jedoch keine. Er war wütend, und sein Zorn war beinahe greifbar. Die ganze Zeit über hatte er gewusst, wer sie war, selbst als sie geheuchelt und gelogen hatte. Aber woher?

„Wer seid Ihr, Mylord?“

Oremund hatte ihr von jenem Edelmann des normannischen Eroberers berichtet, der sich aufgemacht hatte, Thaxted und sie selbst in Besitz zu nehmen. Doch dieser Fremde hier vor ihr hatte erklärt, er sei nicht von vornehmer Abstammung. Sie hatte ihn fluchen hören wie einen Gemeinen, und die übrigen Männer nannten ihn bei seinem Vornamen – Brice. Sie brachten ihm nicht den Respekt entgegen, der einem königlichen Vasallen zukam, und sei er auch nur einer dieser normannischen Halunken, die derzeit über England herfielen.

„Brice Fitzwilliam, seit Kurzem Lord of Thaxted und Lehnsmann seiner Hoheit William, Herzog der Normandie und König von England“, verkündete er so laut, dass alle es hörten. „Und fortan Euer Gemahl“, fügte er hinzu und verneigte sich knapp vor ihr.

Seine Krieger antworteten mit Jubelrufen, die durch die Nacht hallten und Gillian verschreckten. Dies also war der Mann, der ihre Welt in Trümmer legen, ihren Halbbruder meucheln, ihr Land und ihr Volk unterwerfen und auch sie selbst bezwingen würde, und zwar so sicher, wie sein Herzog den Süden Englands verwüstet hatte.

Fitzwilliam? So war er vermutlich ein Bastard wie sein Herr selbst – die Vorsilbe fiz, im Normannischen für „Sohn“ meist illegitimer Herkunft, deutete darauf hin. Nur so ließ sich sein Zorn verstehen, denn was sie vorhin über Edelmänner gesagt hatte, musste ihn in seiner neu gewonnenen Ehre gekränkt haben.

„Ihr seid nicht mein Gemahl.“ Sie weigerte sich einfach zu glauben, dass sich so etwas ohne ihr Mitwirken oder ihre Zustimmung bewerkstelligen ließ.

Er lachte und überraschte sie dadurch mit einer Seite von sich, die ihr bislang verborgen geblieben war. In seinen Augen blitzte Heiterkeit auf, und von seinem Lächeln wurde ihr seltsam warm. Als er ihr in die Augen sah, stockte ihr der Atem.

„Das lässt sich leicht ändern, Madame.“ Er winkte jemandem jenseits der Lichtung. „Auf Euer Wort hin.“

Ein alter Mann, ein Priester, trat aus der Menge, gefolgt von einem jüngeren ohne Priestergewand, der mehrere Pergamentrollen trug. Beide blieben vor Gillian stehen und verneigten sich.

„Lady Gillian“, sagte der ältere respektvoll. „Ich bin Vater Henry und komme aus Taerford.“ Er wandte sich leise an den normannischen Krieger. „Mylord, Selwyn wird zunächst die Übertragung von Land und Titeln und anschließend den Ehevertrag verlesen.“

So entsetzt war Gillian über diese Wende der Ereignisse, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie der Mann neben ihr sie aus seiner eisernen Umklammerung entlassen und stattdessen ihre Hand ergriffen hatte. Und wann hatten sich ihrer beider Finger miteinander verflochten? Im Nu war aus der Gefangenen eine Braut geworden, und so recht begriff sie diese Wandlung nicht. Während der junge Selwyn die Auszeichnungen und Ländereien aufzählte, die diesem Lord übereignet wurden – der aus der Bretagne und nicht aus der Normandie stammte, wie sie nun wusste –, suchte Gillian fieberhaft nach einem Ausweg. Nach einer Möglichkeit, zurück nach Thaxted Hall zu gelangen; zurück zu ihrem Bruder; nein, besser: zurück zu dem Leben, das sie bis vor wenigen Monaten geführt hatte.

Da stand sie nun neben einem völlig Unbekannten, einem fremdländischen Ritter, der durch seinen König zu Ehren gekommen war. Der sich – sofern sie ihn ließ – alles zu eigen machen würde – sogar ihren Leib. Sie wusste, sie musste ­handeln, aber als sie sich seinem Griff entwinden wollte, raunte er ihr etwas zu, das ihr das Blut gefrieren ließ und sie augenblicklich fügsam stimmte.

„Geachtete Gattin oder geächtetes Bauernmädchen – welche Rolle wünscht Ihr in dieser Nacht einzunehmen, Gillian?“

Sie sah ihn an. In seinem Blick lag weder Häme noch ­Drohung. Aber er würde dafür sorgen, dass ihre heutige Entscheidung über ihr künftiges Leben bestimmte. Selwyn kam zum Ende des Ehevertrags, der vom König dieses Fitzwilliam abgesegnet worden war, und aller Augen richteten sich auf sie. Gillian zögerte.

Tief in ihr schrie etwas danach, tapfer zu sein und ihren Widersacher zurückzuweisen. Seinen Versuchen zu trotzen, sie gegen ihren Willen zu nehmen, und sich ebenso den Plänen ihres Bruders zu widersetzen. Sie mochte nicht glauben, dass dieser Priester tatenlos zusähe, wenn sie in diese Ehe gezwungen oder von den Umstehenden geschändet würde.

Ein anderer Teil von ihr wollte hingegen tun, was getan werden musste, wollte erdulden, was erduldet werden musste, um die Menschen von Thaxted vor diesem Eroberer zu schützen. Das edle Blut in ihren Adern, wenngleich befleckt durch die Umstände ihrer Geburt, ging dank ihrem Vater auf unzählige Generationen zurück. Dieses Wissen stärkte sie in ihrem Entschluss, nicht einfach die Hände in den Schoß zu legen und die Menschen auf Thaxted weiterhin leiden zu lassen. Wenn eine Verbindung mit diesem Krieger Frieden nach Thaxted brachte, so würde sie diese Ehe ertragen.

„Willigt Ihr in die Vermählung ein?“, fragte der Bretone erneut. Er schlug einen verführerisch sanften Ton an, der selbst Eva einmal mehr das Paradies gekostet haben dürfte, denn sie hätte sich diesem Mann unweigerlich hingegeben.

Gillian wünschte, ein einziges Mal nur um ihrer selbst willen geschätzt und nicht als Wertgegenstand betrachtet zu werden, aber sie musste den Tatsachen ins Auge blicken und sich der Verantwortung, die sie trug, stellen. Vielleicht würde sie irgendwann einmal Gelegenheit haben, etwas zu tun, nur weil ihr der Sinn danach stand, oder aus demselben Grunde etwas zu verweigern. Aber noch war diese Zeit nicht gekommen – jetzt stand ihr der Luxus einer solchen Wahl nicht zu.

Also gab sie mit widerstrebenden Gefühlen nach und willigte in diese Farce einer Ehe ein – so verschmutzt, wie sie nach der Wanderung und ihren Fluchtversuchen war, in den Umhang einer Magd gehüllt und vor einer Meute, die aus ­Hunderten fremder Finsterlinge bestand. Schlimmer noch – als ihr Bräutigam mit warmer, sinnlicher Stimme das Ehegelübde sprach und schwor, sie zu schützen und zu ehren, durchfuhr es sie wie Feuer. Sündige Bilder, die ihr vorgaukelten, wie sie bei ihm lag, tauchten vor ihrem inneren Auge auf.

Als er geendet hatte und sich vorbeugte, um ihren Bund mit einem Kuss zu besiegeln, wusste Gillian genau, wie Eva sich an jenem Tag gefühlt hatte, da Satan sie versuchte.

Als sein Mund den ihren berührte, schnappte sie überrascht nach Luft, doch Brice erstickte den Laut mit seinen Lippen. Während des Gelübdes war sie ganz in ihre Gedanken vertieft gewesen, und er wollte, dass sie endlich begriff, in was sie da eingewilligt hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich ihm im Zelt angeboten hatte, hatte ihn erzürnt. Als er sie nun jedoch küsste, schmeckte er nichts als Unschuld und Angst. Er trat näher, legte ihr einen Arm um die Schultern, zog sie an sich und bewahrte sie dadurch davor, zu Boden zu sinken.

Sie wehrte sich nicht, erwiderte den Kuss aber auch nicht, und Brice verspürte einen Anflug von Enttäuschung ­darüber, dass ihre frühere Beherztheit entschwunden war. Er wollte ihre Leidenschaft und ihr Feuer kosten, doch alles, was er wahrnahm, war ihre Furcht. Ihr Körper bebte in seinen ­Armen, und daher beließ er es bei einem nur zarten und flüchtigen Kuss und hob den Kopf.

Aus blaugrünen Augen starrte sie ihn an, und er beobachtete, wie Neugier, Angst und Erstaunen in ihrem Blick miteinander rangen. Sie berührte ihren Mund, als sei sie nie zuvor geküsst worden. Trotz ihrer Unschuld und ihrer spürbaren Ablehnung weckten der Geschmack ihrer weichen Lippen und die Aussicht darauf, sich in seinem Zelt an seine junge Gemahlin zu schmiegen, seine Begierde. Er würde seine Hände unter ihr Gewand gleiten lassen und jeden Zoll ihrer Haut berühren, ehe das Licht der Sonne einmal mehr das Lager erhellte.

Ob sie nun seinen Gesichtsausdruck richtig deutete oder nicht, ihr Körper reagierte jedenfalls, und sie erschauerte, als Brice ihr in die Augen blickte. Dabei malte er sich aus, wie sie sich nackt unter jeder seiner Liebkosungen wand. Sie würde sein Bett in dieser wie auch in allen künftigen Nächten wärmen, und er wollte ihr solche Wonnen bereiten, dass sie niemals bereuen würde, in diese Ehe eingewilligt zu haben. Er riss sich von ihrem Blick los und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Ihre weiblich gerundeten Hüften verhießen, dass sie gesunde Kinder zur Welt bringen würde. Und er gedachte, jede Menge Kinder mit Gillian zu zeugen, wenn er erst einmal ihren Bruder von dem Land verjagt hatte, das nun ihnen beiden gehörte, und das Gebiet für König William befriedet hatte. Und jedes seiner Kinder würde seinen Namen tragen. Das hatte sein eigener Vater ihm vorenthalten – und im Gegensatz zu seinem Erzeuger hatte Brice die Frau geheiratet, die ihm Kinder gebären würde. Nun, da sie ihm gehörte, war in greifbare Nähe gerückt, was er sich so sehr gewünscht und für was er sich geschunden und geplagt hatte.

Er nahm Gillians Hand, wandte sich seinen Männern zu, reckte die Faust in die Höhe, mit der er ihre Finger umschlossen hielt, und machte seinen Anspruch auf seine Frau damit vor aller Augen geltend.

„Lady Gillian of Thaxted“, rief er laut. „Meine Gemahlin!“ Die Hochrufe erklangen erst vereinzelt und griffen schließlich auf das gesamte Lager über, bis alle Anwesenden die Vermählung anerkannten und seiner Frau zujubelten. Brice nickte Stephen zu, der vortrat und sich vor Gillian verneigte. „Geleite die Dame zu meinem Zelt“, wies er ihn an. „Und bewache sie, bis ich komme.“

Er hegte keinerlei Zweifel, dass all ihre Worte und Gelübde, die sie vor dem Priester ausgesprochen hatte, in nichts zerrinnen würden, sobald ihr dämmerte, was sie getan hatte. Nur der Vollzug der Ehe würde ihr begreiflich machen, dass sie nun ihm gehörte, und allein dieser Akt konnte einer späteren Annullierung vorbeugen. Bis ihr Bund auf diese Weise besiegelt und die Gültigkeit ihrer Ehe somit von allen Seiten anerkannt war, würde er Gillian hüten wie einen Schatz. Denn genau das war sie.

Stephen trat näher, und Brice spürte, wie Gillian sich versteifte. Sein Krieger verbeugte sich abermals und reichte ihr den Arm, um sie zu begleiten, wie es einer Dame und der Gemahlin eines Lords gebührte. „Madame?“

Brice hielt den Atem an, denn er erwartete, dass sie davonstürzen würde. Stattdessen legte sie die Hand auf Stephens Arm und schritt neben ihm her zum Zelt. Brice hatte noch einiges zu erledigen, ehe er sich endlich zurückziehen konnte. Und wenn er die anstehenden Aufgaben heute hastiger erledigte als sonst, so unterdrückte doch jeder seiner Gefährten wohlweislich eine spöttische Bemerkung.

Nachdem er veranlasst hatte, dass Botschaften versandt und weitere Wachen rund ums Lager aufgestellt worden ­waren, stand er vor seinem Zelt. Er fragte sich, welche Frau – die geschätzte Gemahlin oder das geächtete Bauernmädchen – er vorfinden würde. Endlich hob er die Zeltklappe und trat ein.

Gillian hörte, wie er hineinkam, erhob sich jedoch nicht und schaute auch nicht auf. Noch immer hatte sie kein klares Bild von dem Mann, der sie in diese missliche Lage gebracht hatte. Nachdem man sie allein im Zelt gelassen hatte, war sie zunächst in eine Art Schreckstarre verfallen. Doch dann hatte sie sich besonnen und grübelte seit geraumer Zeit darüber nach, welche Möglichkeiten sie hatte. Sie war das ständige Auf und Ab in ihrem Leben leid. Obwohl sie sich eigentlich längst daran gewöhnt haben müsste, dass sie sich auf nichts und niemanden verlassen konnte …

Gescheitert war ihr Plan, Zuflucht im Kloster zu suchen, um sich der Kontrolle ihres Halbbruders zu entziehen und dieser – gerade besiegelten – Ehe zu entgehen. Ihr Vorhaben war von Anfang an leichtsinnig gewesen, schien aber aussichtsreicher als ihre ersten drei Fluchtversuche. Obgleich oder gerade weil ihr Bruder gedroht hatte, sie wieder zu strafen, sollte sie erneut fliehen, hatte sie diesen Schritt gewagt – und nicht zuletzt auch, um endlich Oremunds demütigender Bevormundung zu entkommen.

Auf seine Hilfe konnte sie daher nicht hoffen. Und zum Kloster würde sie es nun auch nicht mehr schaffen. Ihr blieb nichts … Seufzend musste Gillian sich eingestehen, dass es für sie keinen Ausweg gab.

„Madame?“ Die tiefe Stimme des Ritters riss sie aus den Gedanken und zwang sie, aufzuschauen und seinem Blick zu begegnen.

Wie hatte sie ihn je für etwas anderes halten können als den Anführer, der er war? Er führte zwar kein Banner mit seinem Feldzeichen und bediente sich mitunter einer ungehobelten, rüden Sprache. Aber selbst wenn sie den Geschichten Glauben schenkte, die Oremund über diesen Normannen – nein, Bretonen – und dessen Pläne erzählte, ließ sich das Edelmütige, das ihn umgab, nicht übersehen.

Er hatte alles Rüstzeug abgelegt und stand nicht länger als Krieger, sondern als Mann vor ihr. Dennoch flößte er ihr, nun da er ihr Gemahl war, mehr Furcht ein als zuvor.

Groß war er, so groß, dass er den Kopf einziehen musste, um nicht ans Dach zu stoßen, als er tiefer ins Zelt trat. Stattlich war er, seine breiten Schultern kündeten von jahrelangen Waffenübungen. Und er … wartete. Gillian schluckte mühsam, als ihr aufging, dass ihr musternder Blick ihm nicht entgangen war. Aber offenbar billigte er ihn. Sie senkte den Kopf, starrte auf ihre verschränkten Hände und verharrte schweigend.

„Hat man Euch frisches Wasser gebracht und alles zu Eurer Bequemlichkeit hergerichtet?“, fragte er leise. Sie hielt den Kopf weiterhin gesenkt, sah aber aus den Augenwinkeln, dass er näher kam. „Wünscht Ihr etwas zu trinken oder zu essen?“

Ihr lief die Zeit davon, denn er würde die Ehe rasch vollziehen wollen. Daher unternahm sie einen letzten Versuch, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. „Mylord“, sagte sie kaum hörbar, erhob sich und trat vor ihn. „Ich benötige nichts von Euch. Gewährt mir nur sicheres Geleit zum Kloster.“

Sie wartete auf seine Antwort, und die schier unerträgliche Spannung zwischen ihnen wuchs. Als er stumm blieb, hob sie den Kopf und schaute ihn an. Er betrachtete sie. So eindringlich und glühend war sein Blick, dass das Braun seiner Augen fast schwarz wirkte.

„Ihr verlangt das eine von zwei Zugeständnissen, die ich Euch nicht machen kann, Madame. Selbst wenn ich wollte.“

Hatte er seine Worte mit Absicht so gewählt, dass sie nicht anders konnte, als zu fragen, worum es sich bei dem zweiten Zugeständnis handelte? Wusste er um ihre ungebührliche Neugier, in der Bruder und Vater stets einen Wesensmakel gesehen hatten? Das Herz drohte ihr in der Brust zu zerspringen, als er sie bei der Hand nahm und näher zog. Sosehr sie sich auch zu beherrschen suchte – die Worte platzten einfach heraus. „Was ist das andere?“ Sie hielt den Atem an, als er ihre Hand an die Lippen hob und die Innenseite des Gelenks liebkoste.

Er ließ den Kuss einen Augenblick länger währen als ­nötig, ehe er sie wieder ansah. „Ich kann Euch den kommenden Morgen nicht als Jungfrau begrüßen lassen.“

Gillian schüttelte abwehrend den Kopf und riss sich los – oder versuchte es vielmehr, denn er hielt ihre Finger fest umklammert und ließ sie nicht gehen. „Mylord …“

„Madame“, entgegnete er.

„Ich bitte Euch …“ Ihr versagte die Stimme, als er den Ärmel ihres Gewands hochstreifte und ihm mit den Lippen folgte. Einen Kuss nach dem anderen hauchte er auf ihre entblößte Haut. Gillian war, als loderten Flammen in ihr auf. Alle Gedanken, alle Argumente, die ihr soeben noch auf der Zunge gelegen hatten, waren verflogen. Sie erbebte unter seinen Berührungen und hob die freie Hand, um sich seinem Griff zu entziehen.

„Nein, Madame“, raunte er an ihrer Haut. Er hielt nicht einmal inne, während er ihre Hand abfing und sich an die Brust drückte. Dann blickte er sie an. „Ich lasse Euch nicht gehen.“

Gillian suchte in seiner Miene nach einem Zeichen dafür, dass er vielleicht nachgeben würde, doch vergebens. Und als er sie enger an sich zog, ihren Blick auffing und sie das Verlangen in seinen Augen glitzern sah, wusste sie, dass sie sich ihm nicht würde entziehen können. Nur kurz ließ er sie los, um ihr Tuch zu lösen und von ihren Haaren zu streifen. Er warf es beiseite und umschlang sie erneut, enger als zuvor. Als er den Kopf senkte und mit seinem Mund, den ihren berührte, schwanden ihr beinahe die Sinne. Jedwedes Bemühen, ihre Gedanken auf einen – irgendeinen – Plan zu richten, war dahin, als ihr Leib in den Bann dieses Mannes geriet.

Der Kuss begann erst sanft, wurde aber rasch forschender, fordernder, lockender. Ihr stockte der Atem, als der Bretone sich weiter herunterbeugte und gänzlich die Kontrolle über ihren Mund und ihren Körper übernahm. Gillian ergab sich und spürte, wie er die Hände über ihre Schultern hinauf in ihr Haar gleiten ließ. Er strich ihr mit der Zunge über die Lippen, und sie öffnete sich ihm, ließ ihn gewähren und erschauerte ein ums andere Mal. Flüchtig schoss ihr durch den Kopf, dass sie nie zuvor so kühn, so besitzergreifend geküsst worden war.

Schließlich gab er ihr Haar frei, streichelte zärtlich ­ihren Hals und ihre Brüste und ließ seine gespreizten Finger auf ­ihrem Unterleib verweilen. Gillian löste sich von seinen ­Lippen und rang nach Luft. Ein Kuss war eine Sache, doch sie auf solch intime Weise zu berühren, war …

Unsittlich.

Verboten.

Ungeheuerlich.

Er drängte sie nicht, seine Liebkosung zu erwidern, zog die Hand jedoch auch nicht zurück, sondern ließ sie viel zu nah dort, wo ihre Schenkel sich trafen. Dieser Stelle hatte sie bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, nun jedoch verlangte sie geradezu schmerzhaft nach etwas, das sie nicht zu benennen wusste. Das Sehnen ergriff auch ihren übrigen Leib, als sie das Begehren in den Augen des Mannes lodern sah. Er wartete.

„Das ist voreilig, Mylord“, stieß sie hervor. „Wir kennen uns doch gar nicht, und dennoch wollt Ihr mich hier und jetzt nehmen?“

Er ließ die Hand, wo sie war, sodass die Hitze, die sie durchströmte, nicht nachließ. Sie musste diese Flammen ersticken, sofern sie das Kommende abwenden wollte.

„Der König hat mir Thaxted, Titel und auch Euch übereignet, Madame“, erwiderte er leise. „Trotz Eurer Bemühungen und denen Eures Bruders …“

„Halbbruders“, unterbrach sie ihn. „Er ist nur mein Halbbruder“, erklärte sie, als er die Stirn runzelte.

„Halbbruder oder nicht, das schert mich ebenso wenig wie den König.“ Er schüttelte den Kopf. „Trotz aller Bemühungen, mich von meinem Land und meiner Braut fernzuhalten, habe ich Euch aufgespürt und werde keinen weiteren Aufschub oder Fluchtversuch riskieren. Für mich ist einzig und allein von Belang, dass Ihr nun endlich mein mir rechtmäßig angetrautes Weib seid …“ Ehe sie entscheiden konnte, welchen Kurs sie einschlagen sollte, beugte er sich vor und küsste sie abermals. „Und dass unser Bund gleich auch im Fleische vollzogen wird.“

Das fachte einen letzten Funken Widerstand in ihr an; ob dieser Torheit oder Mut entsprang, vermochte sie nicht zu sagen. Erneut rückte sie von ihm ab. „Und wenn Ihr in der nächsten Schlacht fallen solltet“, wandte sie ein, „werde ich außer Eurem Namen nichts über Euch wissen. Kümmert Euch das denn gar nicht?“ Seine zuversichtliche Miene war Antwort genug.

„Ich werde die nächste Schlacht nicht verlieren, Madame. Wenn jemand fällt, dann Euer Bruder.“

Sie fuhr zusammen, denn bis jetzt hatte sie sich nicht ernsthaft vor Augen gehalten, was bevorstand. Oh ja, sie hatte gewusst, dass es zu einem Kampf um die Herrschaft über Thaxted kommen würde. Ebenso wusste sie, dass einige dabei verwundet oder sterben würden. Und so manchem wünschte sie das eine oder andere, mochte der Herrgott ihr vergeben. Aber es würde auch Menschen treffen, die unverschuldet in dieses Spiel zwischen Königen und Edelleuten geraten waren. Den Preis mussten stets die Unschuldigen zahlen.

„Vergebt mir meine Worte, Gillian.“ Er fasste sie an den Schultern. „Krieg ist für keinen der Beteiligten einfach. Verzeiht mir bitte, dass ich Euch mit Andeutungen über Eures Bruders Tod gequält habe.“

Wieder hatte er sie bestürzt, wie er merkte, denn sie riss die schönen blaugrünen Augen auf und öffnete den Mund. Er war wahrlich nicht unerfahren, wenn es darum ging, eine Frau zu verführen. Allerdings schien ihn all sein Geschick ­verlassen zu haben, ausgerechnet jetzt, da er es besonders ­dringend gebraucht hätte. Er musste sie in dieser Nacht nehmen. Er musste die Ehe vollziehen und sie zu seiner rechtmäßigen Frau machen, sodass sie unter dem Schutz seiner Freunde und dem des Königs stehen würde. Denn wer wusste schon, was die kommenden Gefechte brachten. Erneut versuchte Brice, sie in sein Bett zu locken.

„Uns bleiben noch unzählige Tage, einander besser kennenzulernen, Gillian“, raunte er. „Lasst uns heute den ersten Schritt tun.“ Er schob ihre die langen Locken von den Schultern, sodass sie auf ihren Rücken hinabfielen.

Sie erbebte unter seinen Zärtlichkeiten. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, ihr Leib war bereit für ihn. Brice beugte sich vor und küsste sie, ohne weitere Fragen oder Einwände abzuwarten. Zunächst nahm Gillian es reglos hin, aber als er begann, sanft mit der Zunge ihren Mund zu erforschen und die ihre zu necken, schloss sie die Augen und ergab sich den Verlockungen einmal mehr. Brice fachte ihre Glut mit seinen Küssen an, bis er sie schwer atmen hörte. Diese gehauchten Seufzer waren es, durch die er fast die Gewalt über sich verlor.

Auch wenn er sich vorgenommen hatte, in ihrer ersten Nacht einen kühlen Kopf zu bewahren, konnte Brice nicht verhindern, dass sein Körper auf Gillians unschuldige Erregung reagierte. Jeder ihrer Seufzer ließ mehr Blut durch seine Lenden pulsieren, bis er so erregt war, dass er meinte, förmlich zu bersten.

Er legte ihr einen Arm um die Schultern, hob sie auf und küsste sie leidenschaftlich, während er sie zu seinem Lager trug. Dort kniete er nieder, um Gillian darauf zu betten. Die Decken waren sauber, aber er wusste, dass sie nicht annähernd die Bequemlichkeit boten, die eine Dame gewohnt war. Flüchtig schoss ihm durch den Kopf, dass er dabei war, seine Gemahlin auf einer Pritsche in einem Zelt inmitten eines Kriegslagers zu nehmen.

Sie verdiente etwas Besseres, als behandelt zu werden wie eine Dirne. Eine Dame wie sie sollte umworben werden und von sich aus bereit sein, ihre Jungfräulichkeit zu schenken. Eine Gemahlin von edlem Geblüt – seine Gemahlin – sollte ehrerbietig behandelt und zärtlich verführt werden – diskret und in einer komfortablen Umgebung.

Brice gestand sich nur diesen Moment des Bedauerns ob der Umstände und Gegebenheiten zu, ehe er sich neben ­Gillian aufs Lager legte. Er hielt sie immer noch umschlungen, löste seine Lippen endlich von ihrem Mund und küsste die weiche Haut an ihrem Kinn und ihr linkes Ohr. Erfreut nahm er wahr, dass sie in seiner Umarmung erbebte. Mit einem Finger zeichnete er die Konturen ihrer Lippen nach, strich über Kinn und Hals hinab zu den Rundungen ihrer Brüste und hielt an der Schnürung ihres Kleids inne. Als er daran zu nesteln begann, holte Gillian scharf Luft und packte seine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten.

„Jemand könnte hereinkommen“, flüsterte sie.

Er wusste, dass niemand es wagen würde, ihn zu stören, und versuchte ihr die Angst zu nehmen. „Sofern dieses Zelt nicht plötzlich in Flammen aufgeht, wird niemand hereinkommen.“

Wieder neigte er sich über sie, küsste ihren Hals und löste zugleich die Bänder an ihrem Ausschnitt. Er ließ seine Finger unter den Stoff gleiten und den Rundungen ihrer üppigen Brüste folgen. Als er die Spitzen berührte, wölbte Gillian sich seiner Hand entgegen. Sanft strich er über die beiden Knospen, und sie stöhnte auf. Er spürte seine Männlichkeit schwellen und darauf drängen, den Akt zu vollziehen. Aber er wollte das Ganze langsam angehen und es seiner jungen Gemahlin so angenehm wie möglich machen.

Er blickte auf ihr Gesicht hinab. Da lag sie, die Augen fest geschlossen. Nur ihr Mund verriet, dass sein Bestreben, sie nicht zu verschrecken, sondern im Gegenteil, ihr Vergnügen zu bereiten, erfolgreich war. Er sah, wie sie sich auf die ­Unterlippe biss und anschließend mit der Zunge darüber fuhr. Jede Bewegung, jeder Laut von ihr ließ ihn erschauern. Am liebsten hätte er ihr das Gewand vom Leibe gerissen und wäre tief und hart in sie gedrungen, doch wollte er sich diesmal mit einem zarteren Vorgehen zufriedengeben.

Aufmerksam beobachtete er ihr Gesicht, während er eine Hand nach unten gleiten ließ und mit dem Handrücken ihre Brüste, ihren Bauch und schließlich ihre Schenkel berührte. Sie wand sich in seinem Arm, als ihr unschuldiger Leib unter den Liebkosungen erwachte, auch wenn sie sich vermutlich nicht gewahr war, was mit ihr geschah. Brice strich ihr über die Beine und erfühlte die Stelle, nach der er sich so sehr sehnte. Gillian rang nach Luft und wollte sich aufrichten.

„Nicht, mein Engel“, flüsterte er und drückte sie sanft, aber bestimmt nieder, sodass sie sich nicht rühren konnte. „Lasst mich Euch die Wonnen zeigen, die Mann und Frau einander bereiten können …“ Behutsam streichelte er sie und ließ sie dabei nicht aus den Augen. „Die Gemahl und Gemahlin einander bereiten können.“ Er hielt inne in seiner Bewegung und schob Gillian das Kleid hoch. Ihre Haut fühlte sich samtig an unter seinen Fingern, und ihre Schenkel, nun endlich seinem Blick vollständig preisgegeben, waren wohlgeformt und lang. Fast schon war das Gewand aus dem Wege, als Gillian sein Handgelenk umfasste.

„Man kann uns hören, Mylord. Man wird jeden Laut von uns hören …“

Dies war einer der Gründe dafür, dass Brice nie eine Jungfrau zu sich aufs Lager holte – sie waren zu befangen, um ihre Lust in vollen Zügen genießen zu können. Ohnehin war ein Bastard wie er kaum gut genug für eine unberührte Maid, und er hätte nie eine bekommen, vor allem keine von so edler Herkunft wie seine Gemahlin.

„Ich versichere Euch, die Männer haben Weisung, unsere Zweisamkeit zu achten, Madame. Sie werden über alles hinwegsehen, was nach außen dringen sollte. Sorgt Euch also nicht.“

Wieder strich Brice über die nackte Haut ihrer Schenkel und ließ seine Hand zu ihrem vom Rocksaum verborgenen Schoß wandern, als Gillian abermals zusammenzuckte. Dieses Mal gelang es ihr, sich seinem Arm zu entwinden.

„Habt Ihr das gehört?“, wisperte sie. „Da ist jemand direkt vor dem Zelt.“ Ihr Blick hetzte von einer Seite zur anderen und schließlich zum Eingang.

Brice lauschte, hörte jedoch nichts. Wenn es sie aber beruhigte, entschied er, würde er rasch sicherstellen, dass seine Befehle befolgt wurden. Er bezweifelte, dass sich auch nur einer seiner Männer in die Nähe des Zelts gewagt hatte, doch er nickte Gillian zu und erhob sich. Dabei zog er sich die Hosen so zurecht, dass sie seine Erregung bedeckten. Er trat an den Zelteingang und schaute hinaus.

Die Wachen standen auf ihren Posten, ein gutes Stück entfernt. Brice konnte in unmittelbarer Nähe keine Bewegungen oder Geräusche ausmachen. Er drehte sich um und wollte seiner Gemahlin Bericht erstatten und sie so weit beschwichtigen, dass sie sich ihm nun hingeben würde.

Die Waffe, die aus der Dunkelheit des Zelts auf ihn niedersauste, sah er erst, kurz bevor sie ihn traf. Und da war es zu spät.

4. KAPITEL

Als er zusammenbrach, packte ihn Gillian an der Tunika, damit er ins Zelt fiel. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, warf das kurze Schwert mitsamt Scheide in eine Ecke und suchte nach ihrem Umhang. Bereit, einmal mehr zu entkommen, stieg sie über den bewusst­losen Ritter hinweg. Da wurde ihr bewusst, dass er sich nicht mehr gerührt hatte, nachdem er bäuchlings auf dem Boden gelandet war.

Hatte sie ihn etwa getötet? Das war nicht ihre Absicht gewesen. Um ihn aufzuhalten, hatte sie den Schwertknauf allerdings, so fest sie konnte, auf seinen Kopf niederfahren lassen. Sie hockte sich neben ihn, hob ihn an der Schulter an und hielt ihm eine Hand vor Mund und Nase. Sie spürte die Wärme seines Atems auf der Haut und seufzte erleichtert auf. Einen Mord hatte sie nun wirklich nicht begehen wollen.

Sie ließ ihn liegen, wie er gefallen war, denn sie hatte keine Zeit zu verlieren. Zudem besaß sie nicht die Kraft, ihn zu bewegen oder zu fesseln. Gillian bückte sich noch einmal und zog ihm den Dolch aus dem Futteral, das in den Schnüren seiner Beinlinge am rechten Unterschenkel steckte. Sie hatte gesehen, wie er die Waffe dort verstaut hatte. Der Dolch würde ihr auf der Flucht zumindest etwas Sicherheit geben. Sie spähte aus dem Zelt und sah, dass die Krieger ein wenig abseits standen, so wie der Bretone gesagt hatte.

Gut. Wenn auch seine übrigen Worte der Wahrheit entsprachen und sich die Männer tatsächlich nicht um das scherten, was im Zelt ihres Anführers vor sich ging, würde sie sich davonstehlen und das nur eine Meile entfernte Kloster erreichen können. Auf Händen und Knien kroch sie vorsichtig vom Zelt fort. Als sie den Waldrand erreichte, stand sie auf und rannte hinunter ins Tal. Am Fluss änderte sie die Richtung und hielt sich nah am Ufer, denn der Wasserlauf würde sie bis an die Klostermauern führen.

Nicht ein einziges Mal schaute Gillian sich um. Sie hielt nicht an und wurde auch nicht langsamer, während sie ihrem Ziel entgegenhastete. Als sie aus dem letzten Hain trat, der zwischen ihr und ihrer Zuflucht lag, blieb sie abrupt stehen. Ihr stockte der Atem, und sie traute ihren Augen nicht: Eine Reihe von Reitern, einige hielten Fackeln in den Händen, versperrte ihr den Weg zu den schützenden Mauern des Konvents.

Tränen der Verzweiflung brannten ihr in den Augen, als sie erkannte, dass sie diesen Männern niemals entkommen würde. Sie fiel auf die Knie und rang erschöpft nach Luft, wobei sie versuchte, ihren hämmernden Herzschlag zu beruhigen und die aufsteigende Angst zu bekämpfen. Dass die Krieger sie hier erwarteten, bedeutete, ihr Anführer wusste, wohin sie zu fliehen gedachte. Natürlich, er hatte es ja die ganze Zeit über gewusst!

Die Männer warteten geduldig und schweigend, als seien sie es gewohnt, mitten in der Nacht der Gemahlin ihres Herrn nachzujagen. Als Gillian wieder zu Atem gekommen war, richtete sie sich auf, zupfte Umhang und Tuch zurecht und machte sich bereit, zurück zum Lager geschleift oder eskortiert zu werden – zurück zu ihrem Gemahl … Sie begann zu zittern. Gewiss würde er Rache üben wie Oremund, wann immer sie dessen Pläne durchkreuzt hatte – mit Zorn und Strafe. Der Bretone allerdings verfügte über ganz andere Waffen als ihr Bruder, um sie zu züchtigen. Sie hatte sich ihm widersetzt und ihre Hand gegen ihn erhoben, und nun graute ihr umso mehr vor dieser Nacht.

Hinter ihr brach etwas durchs Unterholz, und die Reiter schauten in einer Weise auf, die Gillian eine Gänsehaut bereitete. Sie umklammerte den Dolch und fuhr herum zu den Bäumen. Nicht die Größe des Streitrosses war es, die sie schreckte, und auch nicht die Länge des Schwerts, das auf sie gerichtet war. Nein, es war die steinerne Miene, mit welcher der Bretone sie musterte. Blanke Wut sprach daraus.

Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sein Kettenhemd überzustreifen oder auch nur seinen Helm aufzusetzen. Blut rann ihm an Haaransatz und Hals hinab, von der Wunde an seinem Kopf, die sie ihm zugefügt hatte. Sie schluckte und schickte eine stumme Bitte um Vergebung all ihrer Sünden hinauf zum Allmächtigen, denn sie zweifelte nicht daran, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Es kostete sie allen Mut und alle Kraft, nicht zurückzuweichen, als der Krieger vom Pferd sprang und gemessenen Schritts auf sie zukam. Ihre Handflächen wurden feucht, und sie wischte sich die freie Hand am Umhang ab, während sie ihrem Schicksal entgegensah.

Wenige Armlängen vor ihr blieb er stehen, und erst jetzt schien er zu bemerken, dass er sie noch immer mit dem Schwert bedrohte. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, schob er die tödliche Klinge zurück in die Scheide. Als er einen weiteren Schritt auf sie zu tat, fuhr Gillian leicht zusammen.

„Gebt mir den Dolch“, knurrte er und streckte die Hand aus.

Sie hatte fast vergessen, dass sie ein Messer hielt, sosehr ängstigte sie der Groll in seinen Augen. Einen Moment lang erwog sie, die Waffe auf ihn zu schleudern. Doch was würde ihr das einbringen, abgesehen von einem schnellen Ende und der ewigen Verdammnis ihrer Seele? Selbst jetzt, da sie ihm direkt ins zornige Antlitz starrte, wusste sie, dass sein Tod ihr nicht helfen würde … und nicht einmal in ihrer schwächsten Stunde hätte sie ihm diesen gewünscht.

Gillian stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte, drehte den Dolch um und reichte ihn dem Bretonen mit dem Heft zuerst. So flüchtig, dass es ihr beinahe entgangen wäre, huschte Erleichterung über seine markanten Züge und ließ sie einen Moment lang weich erscheinen. Dann kehrte die Wut zurück. Er steckte den Dolch wieder in das Futteral, aus dem sie ihn gestohlen hatte.

Geborgt hatte.

Einer der Krieger hinter ihr rief etwas, und sie versuchte die Worte zu verstehen, aber sie wurden zu rasch ausge­stoßen. Der Bretone antwortete in seiner Sprache, und ob er nun absichtlich undeutlich sprach oder die Angst ihren Geist vernebelte, jedenfalls verstand sie auch ihn nicht. Der Wortwechsel dauerte eine Weile, bis der Mann vor ihr sie wieder ansah und den Kopf schüttelte.

Gillian kramte fieberhaft nach einer passenden Erklärung. Nach Worten, die rechtfertigten oder wenigstens milderten, was sie getan hatte. Aber Hand aufs Herz, dachte sie, welche Ausrede gibt es schon dafür, jemanden niederzuschlagen? Sie wusste schließlich genauso gut wie er, was sie getan hatte. Nun galt es, die Strafe zu empfangen, für die er sich entschieden hatte. Immerhin wollte er sie lebend, und Gillian wappnete sich. Sie hatte die Schläge und Peitschenhiebe ihres Halbbruders überstanden, und daher war sie zuversichtlich, dass sie würde ertragen können, was immer dieser Kerl sich für sie ausgedacht hatte.

Aber er nickte den Männern hinter ihr nur zu, saß wieder auf, gab den Befehl, sie zum Lager zu schaffen, und ritt davon. Wie vom Donner gerührt, stand Gillian da und starrte ihm nach – bis eine Pferdenase ihr von hinten gegen die Schulter stieß und sie ins Stolpern brachte.

„Vorwärts, Madame“, wies der Krieger auf dem Ross sie an.

Zunächst begriff sie nicht. Sie blickte sich um und sah, dass die Männer nach wie vor im Sattel saßen. Einige waren näher geritten, andere warteten bei der Klostermauer.

„Vorwärts“, wiederholte der Reiter und nickte in Richtung Fluss. „Nehmt den Weg, den Ihr gekommen seid.“

Es war nicht so, dass sie die Worte nicht verstand, sie konnte schlicht den Befehl nicht fassen. Sie sollte zum Lager zurückgehen? Allein? Wo war der Anführer dieser Truppe hin?

„Lord Brice sagte, Ihr sollt zum Lager zurückkehren und auf dem Weg Eure sündigen Taten bereuen“, erklärte Stephen. Die anderen lachten; offenbar wussten sie mehr über Gillians Sünden, als ihr lieb war. „Er wartet auf Euch.“

Ihr zog sich der Magen zusammen, als ihr klar wurde, dass der Gang nicht etwa die Bestrafung, sondern nur der Auftakt zu dem war, was er mit ihr vorhatte – was immer das war. Und sie sollte aus eigener Kraft zurückkehren, nachdem sie fast eine Meile gerannt war, um sich dem zu stellen. Bestürzt schüttelte sie den Kopf, bis der Berittene erneut das Wort ergriff.

„Wohlan, Madame, geht. Er hat mir befohlen, Euch an mein Pferd zu binden und zurückzuschleifen, solltet Ihr nicht willens sein.“ Er senkte die Stimme, und Gillian meinte, eine Spur Mitleid herauszuhören. „So lang ist der Weg ja nicht, und ich bin sicher, Ihr möchtet lieber aufrecht im Lager eintreffen statt wie eine Sklavin gefesselt.“

Er will meine Würde wahren, stellte Gillian überrascht fest. Dennoch, sie war umzingelt und in die Enge getrieben – fürs Erste jedenfalls. Sie entschied, klein beizugeben, nickte Stephen zu und setzte sich in Bewegung. Auf dem Rückweg würde sie Zeit haben, einen neuen Plan zu ersinnen.

Kalte Luft drang durch ihren Umhang, während sie dem Pfad zurück zum Fluss folgte und sich an dessen Ufer hielt. Vier Männer begleiteten sie, zwei vor und zwei hinter ihr. Sie ritten langsam, waren aber immer doch noch so schnell, dass sie bereits nach kurzer Zeit außer Atem war. Kein Wunder, dachte Gillian, dass ich so müde bin. Seit zwei Tagen war sie nun bereits unterwegs zum Kloster. Und wegen der hastigen Flucht aus dem Lager schmerzten ihr die Beine nun umso mehr. Bleierne Erschöpfung überkam sie.

Sie wickelte sich enger in ihren Umhang, zog sich die ­Kapuze über den Kopf und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nach einer Weile – länger, als sie in Erinnerung hatte – erreichten sie die Biegung, die vom Fluss fort zur Straße führte, und kurz ­darauf erblickte sie das Lager. Mehr als einmal wurde sie von einem Pferdemaul vorwärtsgeschoben. Mehr als einmal hob sie die Hand, um den Reitern zu signalisieren, dass sie ausruhen musste. Und mehr als einmal wünschte sie, ihnen und ihrem Herrn irgendwie entkommen zu können.

Aber sie konnte nichts tun, als weiterzugehen und nachzudenken.

Und sich den Kopf zu zermartern.

Oh, nicht etwa wegen ihrer Sünden, wie der bretonische Lord sie angewiesen hatte, sondern über das, was ihr in dieser Nacht noch bevorstand. Und auch über den morgigen Tag, an dem dieser Mann, ihr Gemahl, seine Männer gegen ihren Halbbruder und dessen Verbündete führen würde. Als die Lagerfeuer in Sicht kamen, trat diese letzte Sorge in den Hintergrund – oder wurde vielmehr überschattet von der bangen Frage, was ihr nun bevorstand. Ihre Begleiter führten sie zurück zum Zelt, das von Wachposten umringt war, und riefen nach ihrem Anführer. Auf dessen Wort hin gab Stephen ihr ein Zeichen vorzutreten.

Gillian atmete tief durch, schritt auf das Zelt zu und hob die Plane vor dem Eingang.

Während Brice wartete, grübelte er darüber nach, was er im Hinblick auf Lady Gillian of Thaxted alles falsch gemacht hatte. Sobald sein Ärger verraucht war, fiel ihm auf, wie sehr sein Missgeschick der Hochzeitsnachtposse seines Freundes Giles, inzwischen Lord of Taerford, ähnelte. Das schmeckte ihm gar nicht, denn es gemahnte ihn daran, wie er sich damit gebrüstet hatte, dass er derlei Querelen mit seiner Braut nicht durchmachen werde.

Nun dröhnte ihm der Schädel, weil er mit seinem eigenen Schwert niedergeschlagen worden war, und vor dem Zelt würde gleich seine flüchtige Gemahlin auftauchen. Brice hoffte inständig, dass Giles und Lady Fayth nicht allzu bald von dem Debakel Wind bekämen. Zu wünschen blieb auch, dass er sich nach diesem katastrophalen Anfang wieder aufrappeln und künftig mehr Geschick in der Ehe wie auch bei der Eroberung seines Anwesens beweisen würde. Er nahm einen Schluck Bier und fasste sich an die taubeneigroße Beule am Kopf, um zu prüfen, ob sie noch blutete. Da das nicht der Fall war, trank er darauf erneut. Er hoffte, dass das Bier seinen Groll ebenso lindern würde wie den Schmerz.

Von draußen hörte er Stephen rufen. Brice wies ihn an, seine Gemahlin eintreten zu lassen, und wartete. Er hatte sich vorhin am Fluss davongemacht, da ihn Zorn über ihren Angriff und ihren Ungehorsam fast überwältigt hätte. Auch wenn er kurz davor gestanden hatte, war er kein Mensch, der seine Wut an anderen ausließ, und hatte nicht vor, jetzt ein solcher zu werden.

Jetzt trat Gillian ins Zelt und ließ die Klappe hinter sich zufallen. Brice betrachtete sie, während sie sich ihm langsam näherte. Er saß in einer Ecke auf einem Schemel und wartete, dass sie ihn bemerkte. Als sie es tat, ließ ihr Verhalten nichts Gutes ahnen: Ihr entfuhr ein erstickter Schrei, und sie wich zum Eingang zurück. Er folgte ihrem Blick und sah, dass zu seinen Füßen der blutige Lappen lag, mit dem er die Platzwunde an seinem Kopf gereinigt hatte.

„Ich … ich …“, stammelte sie.

„Erspart mir Euer falsches Mitgefühl, Madame“, sagte er warnend, schob die Lumpen mit dem Fuß beiseite, ging auf Gillian zu und blieb vor ihr stehen. „Ihr wolltet fliehen, und ich war Euch im Weg. Also habt Ihr mich unschädlich gemacht.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und genoss einen Moment lang Gillians Unbehagen. Dabei achtete er genau darauf, wie sie sich auf seine anklagenden Worte hin verhielt, denn das würde ihm helfen, sie besser zu verstehen.

Gillian seufzte vernehmlich und strich sich das aufgelöste Haar aus dem Gesicht. Ihr unordentliches Äußeres tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil – am liebsten hätte Brice seine Gemahlin fest in die Arme geschlossen und die Besorgnis fortgeküsst, von der ihre gefurchte Stirn zeugte.

„Ihr habt recht, Mylord“, gab sie leise zu. „Ich hatte nur die Flucht im Sinn, und Ihr wart mir im Wege.“

„Aber weshalb?“, fragte er und überraschte sich damit selbst. Er wollte tatsächlich wissen, warum sie vor ihm geflohen war. „Seid Ihr vor mir davongerannt? Oder vor der Ehe?“ Sie wirkte, als suche sie nach einer Möglichkeit, die Antwort schuldig zu bleiben, und daher drängte er weiter. „Ihr habt vor Priester und Zeugen das Ehegelübde abgelegt. Ihr habt Euch durch Euer Wort an mich gebunden. Wovor also, Madame, seid Ihr geflohen?“

„Vor Euch. Vor der Ehe. Vor einfach allem“, flüsterte sie kaum vernehmbar. Sie hatte sich abgewandt, um ihn nicht ansehen zu müssen. Während sie sprach, starrte sie auf ihre Hände hinab, mit denen sie nervös den Stoff ihres Umhangs knetete.

Ihr musste doch klar gewesen sein, dass er sie um nichts auf der Welt ins Kloster hätte ziehen lassen. Weshalb aber hatte sie sich nicht wieder in die Obhut ihres Bruders begeben?

„Warum das Kloster?“ Er tat einen Schritt auf sie zu, blieb jedoch sofort stehen, als sie zurückwich. Wahrscheinlich fürchtete sie seinen Zorn.

„Weil ich dort willkommen bin. Die Mutter Oberin hat mir mitgeteilt, man werde mich gern in die Gemeinschaft aufnehmen.“

„Und Euer Bruder hätte Euch bei Eurer Rückkehr nicht willkommen geheißen?“ Die erschrockene Miene ob seiner Worte sagte ihm mehr, als er zu erfahren gehofft hatte. Gillian wurde blass, Schmerz und Angst flackerten in ihrem Blick. Brice streckte die Hand nach ihr aus, doch sie schreckte nur noch weiter zurück. Während er überlegte, was zu tun sei, bemerkte er, dass sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Genau das hatte er beabsichtigt – der Fußmarsch zum Lager zurück sollte sie ermüden und ihr einen weiteren Fluchtversuch in dieser Nacht so gut wie unmöglich machen. Wenngleich die Entkräftung sie zu überwältigen drohte, merkte er, dass Gillian sich bemühte, Stärke zu zeigen. Erst jetzt begriff er, wie stolz und willensstark sie war.

Sie war eine eindrucksvolle Gegnerin und würde eine überaus geschätzte Herrin von Thaxted sein. Und ihm eine würdige Gemahlin – sofern er ihr Vertrauen gewinnen und sie dazu bringen konnte, ihm zur Seite zu stehen. Das würde er nicht erreichen, indem er sich ihr hier und jetzt im Zelt aufzwang. Die Ehe nicht zu vollziehen, stand allerdings außer Frage, denn sollte es ihr wider Erwarten gelingen, sich doch noch zum Kloster durchzuschlagen, würde daraus eine komplizierte Situation erwachsen, die zu entwirren Monate oder gar Jahre dauern konnte. Und er war vollkommen ­davon überzeugt, dass sie es wieder versuchen würde. Dennoch schüttelte er diesen Gedanken ab und ergab sich dem vorerst Unabänderlichen.

„Ruht Euch aus, Madame.“ Er wies auf das Lager.

Autor

Terri Brisbin
Das geschriebene Wort begleitet Terri Brisbin schon ihr ganzes Leben lang. So verfasste sie zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, bis sie 1994 anfing Romane zu schreiben. Seit 1998 hat sie mehr als 18 historische und übersinnliche Romane veröffentlicht. Wenn sie nicht gerade ihr Leben als Liebesromanautorin in New Jersey genießt, verbringt...
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