Historical Jubiläum Band 4

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DIE SCHÖNE DIEBIN von BRONWYN SCOTT
Was mache ich hier bloß? Anstatt die dreiste Einbrecherin dingfest zu machen, erwidert der Earl of Stockport ihren erregenden Kuss. Dann verschwindet die hübsche Diebin in der Nacht – und raubt sein Herz! Wann nur wird er die geheimnisvolle Schönheit wiedersehen?

ALLERLIEBSTE ANTONIA von FRANCESCA SHAW
Erst bezichtigt er Antonia Dane, eine Wilddiebin zu sein – dann zieht Lord Marcus Allington sie in seine Arme! Für einen Moment stockt Antonia der Atem, bevor sie diesem ebenso arroganten wie attraktiven Mann eine Ohrfeige gibt. Doch insgeheim muss sie sich eingestehen, dass der Lord zärtliche Gefühle in ihr weckt …

MITGIFTJÄGER WIDER WILLEN von NICOLA CORNICK
Heiraten? Ein Graus! Die hübsche Cassie zeigt sich von ihrer frechsten Seite, um die Mitgiftjäger abzuschrecken. Aber was sie auch ausheckt, einen Mann scheint sie nicht zu vergraulen, sondern zu bezaubern: Peter, Viscount Townend, wirbt beharrlich um sie …


  • Erscheinungstag 02.02.2021
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500029
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bronwyn Scott, Francesca Shaw, Nicola Cornick

HISTORICAL JUBILÄUM BAND 4

1. KAPITEL

England, Stockport-on-the-Medlock nahe Manchester,

Anfang Dezember

In der Dunkelheit spürte er, dass etwas verändert war. Ja, jemand hatte sein Zimmer durcheinandergebracht. Brandon Wycroft, fünfter Earl of Stockport, fluchte lautlos. The Cat hatte sich ins Haus geschlichen!

Die Ironie des Geschehens war unübersehbar. Während er sich in seiner Bibliothek mit fünf einflussreichen Männern aus der Umgebung getroffen hatte, um mit ihnen zu beraten, wie man dem Treiben des Einbrechers, der The Cat, „die Katze“, genannt wurde, ein Ende bereiten konnte, war ebendieser Dieb in sein Heim eingedrungen. Während er und seine Gäste damit beschäftigt gewesen waren, Pläne zu schmieden, gute Zigarren zu rauchen und teuren Brandy zu trinken, hatte der Einbrecher es gewagt, ausgerechnet jenen Raum aufzusuchen, den er als sein privates Heiligtum betrachtete: das Schlafzimmer.

Wenn er nicht so gute Ohren gehabt und wenn das Schlafzimmer nicht direkt über der Bibliothek gelegen hätte, dann wäre der Einbruch wohl noch eine Zeit lang unentdeckt geblieben. So jedoch hatte er sich auf ein verdächtiges Geräusch hin nach oben begeben.

Ein Vorhang bewegte sich und zog seine Aufmerksamkeit auf das geöffnete Fenster, durch das kalte Winterluft ins Zimmer drang. Dann bemerkte er, dass da noch etwas war. Versteckte sich dort etwa der Eindringling?

Brandon kniff die Augen zusammen. Seine Muskeln spannten sich. Bei Jupiter, die Katze war noch da!

Er selbst stand an der Tür, weit entfernt vom Fenster. Aber er wusste, dass sein Instinkt ihn nicht trog: The Cat hielt sich in seinem Schlafzimmer auf.

Seine Entrüstung über das Geschehen wuchs und weckte den Wunsch nach Rache. Er würde dem Treiben dieses Diebes einen Riegel vorschieben! Nachdem der Einbrecher mehr als einen Monat lang die wohlhabenden Bewohner von Stockport-on-the-Medlock ausgeraubt hatte, würde seine Karriere ein abruptes Ende finden! In Zukunft würde er den Männern nicht mehr schaden können, die den Bau einer Textilfabrik in dem kleinen Ort unterstützten.

Ich werde die Katze jetzt fangen und meinen Erfolg den elf Gentlemen mitteilen, die unten in der Bibliothek auf mich warten. Diese Leute, so fand er, waren sowieso mehr daran interessiert, auf den Landsitz eines Mitglieds des englischen Hochadels eingeladen zu werden, als selbst etwas zur Beendigung der Einbruchserie beizutragen. Sobald diese Angelegenheit erledigt war, konnte er nach London zurückkehren und seine parlamentarische Arbeit wieder aufnehmen.

Er war im Begriff, sich auf den hinter dem Vorhang verborgenen Dieb zu stürzen, als dieser plötzlich aus seinem Versteck trat. Statt – wie er erwartet hatte – einen Fluchtversuch zu unternehmen, stellte die schattenhafte Gestalt sich so, dass sie vom Mondschein beleuchtet wurde. Deutlich konnte Brandon die Konturen der Katze erkennen. Es handelte sich um eine Frau.

Eine Frau?

Der waghalsige Einbrecher, der sich zwischen ihn und seine Pläne für Stockport-on-the-Medlock gestellt hatte, war eine Frau? Unfassbar, aber wahr! Im Mondlicht stand eine skandalös angezogene, offenbar recht attraktive weibliche Person.

Irritiert musterte er sie. Sie trug ein schwarzes Männerhemd, unter dem sich ihre wohlgerundeten Brüste deutlich abzeichneten. Dazu eine Hose, die so eng saß, dass die schmale Taille, die weiblichen Hüften, die schlanken Oberschenkel und die erstaunlich langen Beine gut zu sehen waren.

Eine verführerische Erscheinung! Doch sie konnte – und durfte – nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frau eine Verbrecherin war. Die Katze war in seine Privatgemächer eingedrungen, hatte sich erwischen lassen und war nun ganz und gar seiner Gnade ausgeliefert.

Er kreuzte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen den Türrahmen und gab sich den Anschein gepflegter Langeweile. Dabei achtete er allerdings darauf, so zu stehen, dass er den Fluchtweg in den Flur versperrte. The Cat konnte ihm nicht entkommen, denn der einzige andere Weg nach draußen führte durchs Fenster. Das aber befand sich zwei Stockwerke hoch über dem Boden.

Diese Tatsache warf die Frage auf, wie es der Einbrecherin gelungen war, unbemerkt bis in diesen Raum vorzudringen.

„Ich fürchte“, bemerkte Brandon, „ich kann Sie nicht zur Tür hinauslassen. Aber vielleicht ziehen Sie sowieso den Weg durchs Fenster vor.“ Seine Stimme enthielt eine Spur von Sarkasmus. Niemand würde einen Sturz aus dreißig Fuß Höhe riskieren. Damit blieb nur die Tür als Ausgang. Und die war jetzt unpassierbar.

Erneut fragte er sich, wie die Katze es angestellt hatte, in sein Schlafgemach zu gelangen. Er hatte immer angenommen, der Raum sei praktisch unerreichbar. Aus diesem Grund hatte er ihn als Schlafzimmer gewählt. Er schätzte seine Privatsphäre und schützte sie nach bestem Können.

Die Frau zuckte die Achseln. Anscheinend berührte die Entwicklung der Dinge sie nicht besonders. „Das Fenster hat mir als Eingang gute Dienste geleistet“, stellte sie fest. „Warum sollte es mir also nicht auch als Ausgang genügen?“

Brandon lachte. Die Katze log, so viel stand fest. „Sie sind durchs Fenster hereingekommen? Verzeihen Sie, wenn ich das anzweifele. Abgesehen davon, dass es sich hoch über dem Boden befindet, habe ich Männer eingestellt, die das Grundstück bewachen. Sie könnten, wenn nötig, eine ganze Armee abwehren.“

„Eben, Mylord. Ihre Leute sind darauf vorbereitet, eine Armee von Ihrem Besitz fernzuhalten, nicht aber eine einzelne Person. Ich konnte die Wachen leicht umgehen.“

Es machte ihn zornig, wie herablassend sie über seine gut ausgebildeten und gut bezahlten Männer sprach. „Sind Sie nicht etwas zu selbstsicher?“, meinte er spöttisch. „Ich werde Sie gefangen nehmen, und schon bald wird man Sie für die Verbrechen verurteilen, die Sie begangen haben. Man wird Sie ins Gefängnis werfen. Später werden Sie vielleicht deportiert, vielleicht sogar gehängt.“

Zu seiner eigenen Überraschung gefiel ihm die Vorstellung gar nicht, dass diese überraschend attraktive Frau mit der üblichen Härte der Justiz bestraft werden sollte. Sie wirkte so lebendig, strahlte eine Energie, ja Wildheit aus, die eine Existenz hinter Gittern unerträglich erscheinen ließ. Ihre Anwesenheit genügte, um auch in ihm einen Lebenshunger zu wecken, wie er ihn seit Langem nicht mehr verspürt hatte.

Dann begriff er, was vorging: Sie flirtete mit ihm. Sie forderte ihn heraus, sie zu jagen, sie zu fangen.

Jetzt lachte sie leise. Und als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme so entspannt, als würde sie sich bei einer Dinnerparty über die Menüfolge unterhalten. „Ja, so weit ist es in England gekommen, dass es als Verbrechen gilt, die Hungrigen zu speisen. Nun, nach meinem Gerechtigkeitsgefühl gibt es eine Menge scheinbar gesetzestreuer Menschen, die eine Deportation oder auch eine Hinrichtung mehr verdienen als ich.“

Ein dünnes Lächeln spielte um Brandons Lippen. Was sollte das? Wollte sie ein Streitgespräch mit ihm beginnen? Ahnte sie nicht, dass er ihr mehr als gewachsen war? Es gab zwei Bereiche, in denen er mehr Erfolge verzeichnen konnte als die meisten anderen: Frauen und Diskussionen. „Denken Sie an jemanden Bestimmten?“, fragte er. „Wen sähen Sie gern vor dem Richter?“ Er setzte einen Fuß nach vorn.

Sechs Schritte trennten ihn jetzt noch von ihr.

„Adlige wie Sie zum Beispiel.“ Sie spuckte die Worte geradezu heraus.

Fünf Schritte.

Die junge Frau – ja, jung war sie zweifellos – hatte sich mit der letzten Bemerkung auf gefährliches Terrain begeben. Wie konnte sie es wagen, ihn, den Earl of Stockport, im gleichen Atemzug mit anderen Mitgliedern der Aristokratie zu nennen und als Verbrecher zu beschimpfen? Er hatte, seit er erwachsen war, viel Mühe darauf verwendet, sich von jenen abzugrenzen, die an alten Privilegien festhielten und sich dem Fortschritt in den Weg stellten. Er verachtete die meisten Mitglieder seiner Gesellschaftsschicht, da sie sich Beschäftigungen widmeten, die er als überflüssig betrachtete. Sie jagten, besuchten Bälle, klatschten und tratschten, missachteten ihre Mitmenschen und verbrachten ihre Zeit in Spielhöllen und Hurenhäusern. Er hingegen engagierte sich für politische Neuerungen und kämpfte darum, den kleinen Ort Stockport-on-the-Medlock und seine Bewohner vor dem wirtschaftlichen Niedergang zu bewahren. Die Menschen hier brauchten die geplante Fabrik, um zu überleben.

„Was weiß eine Einbrecherin schon über einen Gentleman wie mich?“, fragte er in herausforderndem Ton.

„Ich weiß, dass Sie Ihre Mitmenschen im Namen des Fortschritts in den Hungertod treiben.“

Aha, die Katze gehörte also zu jener Gruppe von Fanatikern, die gegen die Industrialisierung kämpften, weil sie nicht einsehen wollten, wie wichtig diese für den Fortschritt war.

„Die Zukunft wird nicht ohne moderne Unternehmen auskommen. Die Fabriken, gegen die Sie sich wehren, sind schon jetzt unverzichtbar für uns und unser Vaterland. Deshalb setze ich mich für den Bau der Tuchfabrik in Stockport-on-the-Medlock ein.“

Diese Bemerkung bewies, wie weit er sich von den Ansichten der meisten anderen Adligen in England entfernt hatte. Fast alle betrachteten nur den als echten Gentleman, der keiner Erwerbsarbeit nachging, sondern seine Tage dem Müßiggang widmete. Es galt als Schande, sich im Handel zu betätigen oder gar Interesse an den neuen Industrieanlagen zu zeigen. In Brandons Augen bewies ein solches Verhalten allerdings nur, dass diese angebliche Elite nicht begriffen hatte, wie dicht der Untergang des alten von der Landwirtschaft geprägten Lebens bevorstand.

Noch vier Schritte.

„Die Tuchfabrik, die Sie und Ihre Freunde planen, wird Existenzen vernichten. Die Familien hier brauchen das Geld, das die Frauen daheim als Weberinnen verdienen. Ihre Tätigkeit aber wird überflüssig gemacht, sobald die neue Fabrik fertig ist. Was Sie vorhaben, wird dazu führen, dass viele Männer und Frauen ihre Arbeit verlieren. Diese Menschen werden einfach durch Maschinen ersetzt. Dabei gibt es schon jetzt Tausende, die keine Arbeit finden und nicht wissen, wie sie ihre Familie ernähren sollen. Sie können nicht genug Lebensmittel kaufen, und ihre Wohnungen sind kalt, weil es an Feuerholz fehlt.“

Sie holte tief Luft, und ihre Augen blitzten kampflustig auf, als sie fortfuhr: „Sie aber, Mylord, machen es sich in Ihrem großen, gut geheizten Haus gemütlich und bewirten Männer, die genau wie Sie im Überfluss leben. Gemeinsam mit ihnen schmieden Sie Pläne, deren Verwirklichung das Dasein der Armen noch elender machen wird. Das nenne ich ein Verbrechen!“

Brandon schüttelte den Kopf und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die feurige Rede der jungen Frau ihn beeindruckt hatte. Nicht etwa, weil er ihre Ansichten teilte, sondern einfach, weil er Menschen bewunderte, die sich mit ganzer Kraft für ihre Überzeugung einsetzten. Trotzdem war es natürlich eine Unverschämtheit, dass dieser Wildfang sich anmaßte, über ihn zu urteilen.

„Merkwürdig“, sagte er, „ich hatte den Eindruck, dass nicht wir, sondern Sie gegen das Gesetz verstoßen, indem Sie uns bestehlen.“

Noch drei Schritte.

„Ich nehme nie viel. Tatsächlich ist es so wenig, dass Sie und Ihresgleichen den Verlust kaum spüren.“ Um ihre Worte zu beweisen, hielt sie ein einzelnes Schmuckstück hoch, einen schmalen Goldring, in dem ein Amethyst glitzerte.

Brandon musste ein Stöhnen unterdrücken. In seinem Schlafzimmer gab es eine Menge Dinge von großem Wert. Auf jedes davon hätte er eher verzichten mögen als auf den Ring. „Das Schmuckstück hat eine besondere Bedeutung für mich“, erklärte er, bemüht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Geben Sie es zurück!“ Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.

Zwei Schritte noch.

Er streckte die Hand aus, so sicher war er sich, dass niemand es wagen würde, sich einem Befehl aus seinem Munde zu widersetzen. Insbesondere Frauen beeilten sich im Allgemeinen, seinen Wünschen nachzukommen.

Nicht so diese! Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich kann den Ring leider nicht hergeben. Er wird zwei Familien eine Zeit lang satt machen.“

„Mindestens zwei“, stimmte Brandon zu, ehe er in drohendem Ton fortfuhr: „Ich habe gesagt, Sie sollen ihn zurückgeben, Sie kleine Diebin. Jetzt! Wir wollen doch beide nicht, dass ich Ihnen wehtue.“

Noch ein Schritt, und er stand so dicht vor ihr, dass er sie beinahe berührte. Eine schwarze Halbmaske verbarg den oberen Teil ihres Gesichts. Ihre grünen Augen glitzerten tatsächlich wie die einer Katze. Ein dunkles Tuch, nach Piratenart gebunden, bedeckte ihr Haar.

Es hätte ihn keine Anstrengung gekostet, sie jetzt zu ergreifen. Seltsamerweise schien sie keine Furcht zu verspüren. Mit einer anmutigen Bewegung hob sie den Arm und löste den Knoten, der das Tuch zusammenhielt. Sie zog es herunter und schüttelte ihre Mähne, bis sie ihr in wilden Locken über die Schultern bis zur Taille fiel. Noch eine kleine, aufreizende Bewegung …

Bei Jupiter, sie ist eine richtige Verführerin! Wie weiblich sie aussieht, wie hinreißend!

„Also gut“, sagte sie. „Sie sollen Ihren Ring zurückbekommen. Allerdings erwarte ich dafür eine angemessene Entschädigung.“

Sie musterte ihn so eingehend, dass Brandon sich plötzlich äußerst unwohl fühlte. Im Allgemeinen war er es, der solch kritische Blicke einsetzte, um andere in Verlegenheit zu bringen. Natürlich kam es ab und zu vor, dass eine Dame ihn begutachtete. Schließlich gehörte er zu den begehrtesten Junggesellen von ganz England. Er war wohlhabend, trug einen Titel, sah gut aus und hatte die dreißig überschritten, ohne bisher in den Hafen der Ehe eingelaufen zu sein. Das machte Mütter und Töchter neugierig. Doch keine hätte es gewagt, ihr Interesse so offen zu zeigen wie die Katze.

„Gar nicht so übel“, stellte die fest.

Gar nicht so übel? Er wollte seinen Ohren nicht trauen! In seinem ganzen Leben hatte ihn nie jemand „gar nicht so übel“ gefunden. Er wusste, dass die Damen über sein gutes Aussehen tuschelten, und er hielt seinen Körper in Form, indem er bei Gentleman Jackson trainierte!

Er beschloss, sich mit Spott zur Wehr zu setzen. „Vielleicht möchten Sie auch meine Zähne begutachten?“

„Ein guter Vorschlag!“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Eine provozierende Geste!

Fassungslos sah er, wie sie auf ihn zutrat. Dann spürte er auch schon ihren Mund auf dem seinen. Obwohl er fest entschlossen gewesen war, sich nicht auf das Spiel der Katze einzulassen, öffnete er die Lippen einen Spaltbreit. Schon hatte ihre Zunge den Weg zwischen seinen Zähnen hindurch gefunden, und er spürte, wie die kühne junge Frau sich an ihn presste. Ein erotischer Schauer überlief ihn. Sein Körper schien plötzlich ein Eigenleben zu führen, das mit dem, was seine Vernunft verlangte, nichts mehr gemein hatte. Er stöhnte auf.

Der kleine zufriedene Seufzer der Katze verriet ihm, dass seine Erregung ihr nicht verborgen geblieben war. Sie grub die Finger in sein Haar, als wolle sie verhindern, dass er den Kopf abwandte, ehe sie bereit war, den Kuss zu beenden. Himmel, in diesem Moment wünschte er nur, die Zeit würde stehen bleiben! Nie hatte er einen so berauschenden Kuss bekommen. Ja, diese Frau hatte seinen Mund nicht nur erobert, um ihre Macht zu beweisen, sondern vor allem, weil sie ihn begehrte. Es war ein heißer, ein leidenschaftlicher Kuss.

Brandon schloss die Augen und gab sich der Magie hin, die von den Lippen der Katze ausging. Sie erforschte jeden Winkel seines Mundes. Sie neckte ihn, quälte ihn, erfüllte ihn mit Seligkeit.

Unterdessen hatte sie geschickt ein paar Knöpfe seines Leinenhemdes geöffnet, und er spürte, wie sie die Hand unter den Stoff schob, um seinen Oberkörper – und dann seine Brustwarzen zu streicheln.

O Gott, so etwas hatte er noch nicht erlebt! Wenn sie nicht aufhört, bin ich verloren! Dabei wusste er nicht einmal, ob er sich wünschte, sie möge aufhören oder sie möge ewig weitermachen.

Sie machte weiter.

Ihre Hand wanderte Stück um Stück nach unten.

Ah, es war wunderbar … Natürlich wollte er nicht, dass sie aufhörte! Aber er durfte ihr die Kontrolle nicht vollständig überlassen. Während sein Verlangen wuchs, erwiderte er ihren Kuss mit unerwarteter Leidenschaft und ließ die Hände liebkosend über ihre Hüften gleiten.

Sie saugte noch einmal erregend an seiner Unterlippe und löste sich dann von ihm.

Verflucht!

Er konnte sich nicht erinnern, jemals von einem Kuss so erregt gewesen zu sein. Er wollte etwas sagen, um den Beweis zu erbringen, dass er Herr der Lage war. Aber die Stimme gehorchte ihm nicht.

„Was ist los?“, neckte die schöne Diebin ihn. Sie zwinkerte ihm zu. „Hat die Katze Ihnen etwa die Zunge gestohlen?“

Plötzlich wandte sie sich um, lief durchs Zimmer, kletterte auf die Fensterbank, und ehe er auch nur begriff, was sie vorhatte, sprang sie mit einem Satz hinaus.

Er unterdrückte einen Schreckensschrei und rannte zum Fenster. Hatte sie sich in den Tod gestürzt? Nein, kein lebloser Körper lag auf dem Rasen. In der Eiche allerdings, die einen ihrer dicken Äste zum Haus hin ausstreckte, raschelte es. Ein geflüstertes „Bis bald!“ Dann war es still. Die Katze war fort.

Brandon stand wie erstarrt. Was hatte er getan? Sein Verhalten war ihm selbst unerklärlich. Er hätte die dreiste Einbrecherin dingfest machen und der Obrigkeit übergeben können. Stattdessen hatte er sich erst von ihr küssen und sie dann entkommen lassen.

Immerhin hatte sie den Ring nicht mitgenommen. Er legte ihn in das mit Samt ausgeschlagene Kästchen zurück und bemühte sich, seine wirren Gedanken zu ordnen.

Er würde seinen Kammerdiener damit beauftragen müssen, das Zimmer zu durchsuchen. Vielleicht fehlte ja doch etwas. Außerdem musste er seine Erscheinung in Ordnung bringen. Der kunstvolle Knoten seines Krawattentuchs hatte sich gelöst, sein Hemd war zerknittert, und auch seine Frisur hatte gelitten. Er stieß einen Fluch aus und griff nach der Klingelschnur.

Nora beugte sich nach vorn, um wieder zu Atem zu kommen. In größter Eile war sie von der Eiche auf den Boden geklettert und hatte sich, alle Wachposten umgehend, aus dem Park des Earls geschlichen. Dann war sie ein Stück weit gerannt, so schnell sie nur konnte. Jetzt endlich befand sie sich in Sicherheit.

Jetzt endlich hatte sie Zeit, über das nachzudenken, was geschehen war.

Sie hatte den Earl of Stockport geküsst, jenen Mann, den manche Bewohner der Gegend als „Cock of the North“, als Nordenglands Hahn im Korb, bezeichneten, weil er bei den Damen so begehrt war. Nun, er sah wirklich gut aus. Er wusste sich elegant zu kleiden, er verfügte über Charme und Intelligenz. Er konnte küssen. Und er war sich seiner Anziehungskraft bewusst.

Nora brach in lautes Lachen aus, als ihr einfiel, wie fassungslos er dreingeschaut hatte, als sie ihn als „gar nicht übel“ bezeichnete. Gleich darauf hatte er ihr mit seiner Bemerkung über die Zähne die Möglichkeit gegeben, etwas zu tun, womit er überhaupt nicht rechnete. Sie hatte ihn geküsst. Nun, es war eine ihrer Stärken, kaum jemals das zu machen, was andere von ihr erwarteten. Deshalb war sie in ihrem „Geschäft“ so erfolgreich.

Diesmal aber hatte sie beinahe einen Fehler gemacht. Sie hätte wissen müssen, dass der Earl seinen Spitznamen nicht ohne Grund trug. Sein männlicher Duft, seine kundigen zärtlichen Hände, sein leidenschaftlicher Kuss hätten sie fast ihr Ziel vergessen lassen. Und das durfte niemals geschehen.

Tatsächlich hatten Hattie und Alfred sie vor dem Abenteuer gewarnt, in das sie sich an diesem Abend gestürzt hatte. Dabei allerdings hatten sie nicht an Stockports erotische Ausstrahlung gedacht. Sie hatten lediglich das Risiko gefürchtet, das Nora einging, indem sie in das Haus des Earls eindrang, wenn er daheim war und Gäste bewirtete.

Doch gerade dieses Risiko hatte sie gereizt.

Sie und ihre Freunde hatten das Anwesen beobachtet, bis sie alles Wichtige in Erfahrung gebracht hatten. Nora hatte beschlossen, in einen Raum einzudringen, der als schwer zugänglich galt. Denn das würde ein Beweis für das Geschick des Einbrechers sein und allen klarmachen, dass nichts und niemand The Cat aufhalten konnte.

Selbstverständlich stahl sie nicht aus Eigennutz. Ihr ging es einerseits darum, den Bau der neuen Textilfabrik zu verhindern. Andererseits wollte sie mit jedem Diebstahl bei den Reichen an deren soziales Gewissen appellieren und sie daran erinnern, wie viele Menschen durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen in Not geraten waren. Sie selbst sah sich als modernen Robin Hood, denn ihre Beute nutzte sie, um die Armen zu unterstützen.

Zunächst schien alles nach Plan zu gehen. Problemlos hatte sie Stockports elegant eingerichtetes Schlafzimmer erreicht. Von all den Wertgegenständen, die sie dort vorfand, hatte ihr der Ring am besten gefallen, weil er klein, leicht zu transportieren und kostbar war. Allerdings musste sie sichergehen, dass der Earl den Verlust auch bemerkte. Also hatte sie begonnen, das Zimmer durcheinanderzubringen. Dabei war sie gegen einen Stuhl gestoßen. Das Geräusch musste Stockport nach oben gelockt haben.

Sein Erscheinen hatte ihr Herz schneller schlagen lassen. Angst hatte sie jedoch nicht verspürt. Sie war aufgeregt gewesen, ja. Und sie hatte improvisieren müssen. Glücklicherweise war sie gut darin.

Ah, es war ein gutes Gefühl gewesen, solche Macht über ihn, einen attraktiven, einflussreichen Mann, zu haben!

Dennoch war es ein Fehler gewesen, den Ring gegen einen Kuss zu tauschen. Nun musste sie, um Lebensmittel für die Bedürftigen kaufen zu können, noch einen zweiten Einbruch wagen. Sie würde also zum dritten Mal in Squire Bradleys Haus eindringen, um etwas von dem Tafelsilber zu stehlen.

2. KAPITEL

Zwei Stunden später betrat Nora das Haus mit dem Namen Old Grange, das sie vor einiger Zeit gemietet hatte. Leise stieg sie die Stufen zum ersten Stock hinauf. Unter der Tür zu ihrem Zimmer war ein schmaler Lichtstreifen zu erkennen. Hattie hatte also auf ihre Rückkehr gewartet.

„Du hast Erfolg gehabt?“, fragte sie und griff nach dem Beutel, den Nora ihr hinhielt. „Soll ich alles am üblichen Platz verstecken?“

„Ja und ja.“

„Warst du mit unseren Informationen zufrieden? Hast du Alfreds Rat befolgt und den Ast der Eiche genutzt, um in Stockports Haus einzudringen?“

„Eure Vorarbeit hat mir wie immer sehr geholfen.“ Sie machte eine kurze Pause. Eigentlich hatte sie nicht beabsichtigt, ihren Verbündeten von der Begegnung mit dem Earl zu erzählen. Aber noch weniger wollte sie, dass Alfred und Hattie durch jemand anderen davon erfuhren. „Ich habe Stockport getroffen.“

„Du liebe Güte! Kein Wunder, dass du so lange fort warst.“

„Hm. Um nicht mit leeren Händen heimzukommen, musste ich Squire Bradley noch einen Besuch abstatten.“

„Das war riskant. Wir haben den Squire schon zu oft bestohlen.“

Nora zuckte die Schultern. „Wir brauchen Geld, um die Körbe für Weihnachten zu füllen. Du weißt selbst, wie viele Menschen auf unsere Unterstützung angewiesen sind.“

„Wenn du aber erwischt wirst, dann kannst du niemandem mehr helfen.“

„Man wird mich nicht erwischen!“ Sie lächelte ihrer Freundin zu. „Lass uns zu Bett gehen, Hattie. Du musst ebenso müde sein wie ich.“

„Erwartet Eleanor Habersham morgen Gäste?“

„Natürlich. Wie immer hat sie für Mittwoch zum Tee geladen.“

„Ja sicher, das weiß ich. Was ich fragen wollte, ist: Rechnest du mit einem Besuch des Earls?“

„Nein. Welches Interesse könnte er an Miss Habersham haben?“

„Ich weiß nicht … Es ist nur so ein Gefühl …“

Hattie verließ den Raum, und Nora zog sich rasch aus. Die Kleidung der Katze versteckte sie in einer winzigen Kammer, vor deren Tür der Kleiderschrank stand, in dem die etwas exzentrische Miss Eleanor Habersham, als die Nora sich in der Öffentlichkeit ausgab, ihre Habe aufbewahrte. Dann schlüpfte sie ins Bett.

Doch obwohl sie müde war, wollte der Schlaf nicht kommen. Immer wieder durchlebte sie in ihrer Erinnerung die Minuten, die sie in Stockports Gesellschaft verbracht hatte. Und der Gedanke an den heißen Kuss ließ sie lustvoll erschauern.

Brandon Wycliffe, Earl of Stockport, betrat das Frühstückszimmer von Stockport Hall. Es roch einladend nach Eiern mit Speck. Er setzte sich und griff nach der Times, die neben seinem Teller lag. Die Lektüre der Zeitung würde ihn von den Geschehnissen der letzten Nacht ablenken.

Er hatte unruhig geschlafen. Mit unerwarteter Intensität hatte sein Körper sich nach der Befriedigung jenes Verlangens gesehnt, das die schöne Einbrecherin in ihm geweckt hatte. Gleichzeitig hatte sein Verstand ihm immer wieder gesagt, wie dumm er sich benommen hatte.

Bei Jupiter, noch nie hatte ein Kuss ihn so aus dem Gleichgewicht gebracht! Es war geradezu peinlich, wie bereitwillig er sich auf das Spiel der Diebin eingelassen hatte. Statt sie zu ergreifen oder wenigstens ihre Identität festzustellen, hatte er sich von ihr küssen lassen. Nun, immerhin war das kleine erotische Abenteuer alles andere als gewöhnlich gewesen!

Mit einem Seufzer griff Brandon nach der Zeitung und schlug die Wirtschaftsseite auf. Doch er kam nicht zum Lesen. Dann plötzlich stand Cedrickson, sein Butler, an der Tür und meldete, dass Squire Bradley in der Eingangshalle wartete. Der Besucher lasse anfragen, ob Seine Lordschaft daheim sei.

Wo sonst hätte ein Gentleman um diese Zeit sein sollen? Es war gerade kurz nach neun! In London hätte niemand gewagt, so früh zu stören. Doch auf dem Lande herrschten andere Sitten. Trotzdem empfand er es als eine Unverschämtheit, dass der Mann so früh hier auftauchte. Aber wenn ich nicht in den Ruf kommen will, ein Snob zu sein, muss ich Bradley wohl empfangen, sagte er sich.

„Er macht einen sehr aufgeregten Eindruck“, informierte Cedrickson ihn.

„Hat er erwähnt, warum er hier ist?“

„Ja, es geht um diesen Einbrecher.“

Brandon legte die Times beiseite. „Lassen Sie ein zusätzliches Gedeck auflegen und führen Sie den Squire herein.“

Gleich darauf stürmte Bradley aufgebracht ins Frühstückszimmer. Sein normalerweise rosiges Gesicht war hochrot, seine Gesten ausladender als gewöhnlich. Immerhin hatte er den Anstand, sich für sein frühes Erscheinen zu entschuldigen. Essen wolle er nichts, erklärte er, doch gegen eine Tasse Tee sei nichts einzuwenden.

„Wir haben ein Problem“, sprudelte er dann heraus. „Meine Gattin ist außer sich. Während wir hier Pläne zur Ergreifung des Einbrechers geschmiedet haben, hat The Cat mein Haus schon wieder heimgesucht. Zum dritten Mal! Dabei lasse ich mein Grundstück schon seit vielen Nächten bewachen. Die Dreistigkeit dieser Kreatur ist wirklich unglaublich!“

Verständnisvoll nickte Brandon. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welch ein Theater die Gattin des Squires bei der Entdeckung des Diebstahls veranstaltet hatte. Mrs. Bradley gehörte zu jenen Damen, die sich ständig mit schriller Stimme über irgendetwas beschwerten. „Was wurde gestohlen?“, erkundigte er sich. „Und warum sind Sie so sicher, dass es The Cat war?“

„Ein silberner Kerzenständer und das Haushaltsgeld. Beides war in einem Schrank eingeschlossen. Den Schlüssel bewahrt meine Gattin persönlich auf. Das Schloss wurde aufgebrochen, und im Schrank haben wir die Visitenkarte gefunden, die The Cat immer zurücklässt.“

„Ach?“ Brandon hob die Augenbrauen. „Davon habe ich noch nichts gehört. Die Katze lässt ihre Karte am Ort des Verbrechens zurück?“

Der Squire schob eine Hand in die Rocktasche und holte etwas hervor. „Hier ist sie!“ Er reichte dem Earl eine Visitenkarte, deren Farbe an frische Sahne erinnerte und auf der in schwarzen Buchstaben nur vier Wörter standen: The Cat von Manchester.

Brandon musste ein Lächeln unterdrücken. Der Zusammenhang zwischen dem Decknamen des Einbrechers und der Aufmachung der Visitenkarte war unübersehbar. Die Katze kam, um von der Sahne zu naschen …

„Haben alle Opfer eine solche Karte gefunden?“

„Soweit ich weiß, ja.“

„Dann hätte diese Tatsache bei unserem Gespräch gestern erwähnt werden müssen.“

„Ich glaube …“, Bradley räusperte sich, „… die meisten haben sich geschämt, es zuzugeben. Die erste Karte zu finden, ist schlimm genug. Aber wir haben inzwischen drei! Ich frage mich, warum es immer mich trifft!“

Weil Sie ein leichtes Opfer sind. Brandon mochte den Squire nicht besonders und musste sich eingestehen, dass er sogar eine gewisse Schadenfreude empfand. „Sie beschäftigen noch denselben Wachmann wie zu Beginn der Einbruchserie? Ich könnte mir vorstellen, dass ein anderer The Cat eher davon abhalten würde, Ihnen regelmäßige Besuche abzustatten.“

„Ich wünschte, wir würden den Dieb endlich fangen. Dann brauchte ich gar keinen Wachmann mehr. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie der Einzige sind, in dessen Haus der Einbrecher noch nicht eingedrungen ist?“ Noch während er sprach, wurde Bradley bewusst, dass er eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. „Verzeihen Sie, Mylord“, sagte er rasch.

Brandon beschloss, die ungehörigen Worte einfach zu übergehen. Ebenso wie den nächtlichen Besuch in seinem Schlafzimmer. Also meinte er nur: „Gute Wachleute können viel zur Verbrechensbekämpfung beitragen.“

Er fand es aufschlussreich, dass die Katze nach ihrem Verschwinden aus Stockport Hall noch in ein anderes Haus eingebrochen war. Wie sein Kammerdiener ihm versichert hatte, fehlte trotz der auffälligen Unordnung im Herrenschlafzimmer nichts von Wert. Weder die mit Diamanten besetzte Krawattennadel noch die Taschenuhr oder die goldenen Manschettenknöpfe waren verschwunden.

Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Die Katze hatte behauptet, sie stehle nur, um den Armen zu helfen. Wenn das stimmte, waren all die wertvollen Dinge, die sie den Reichen fortnahm, ihr nur dann von Nutzen, wenn sie sie zu Geld machen konnte. Daher erschien es sinnvoll herauszufinden, wer die geraubten Güter ankaufte.

Bradleys aufgeregte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich bin es leid, mein Hab und Gut zu bewachen. Ich will, dass der Übeltäter gefasst und gehängt wird. Das ist der Hauptgrund meines Besuchs. Ich möchte, dass Sie mich bei meinen Nachforschungen unterstützen, Mylord. Wir müssen The Cat schnappen. Lange genug haben wir dem Treiben dieses Schurken tatenlos zugeschaut.“

„Wie ich bei unserem Gespräch gestern wohl ausreichend betont habe, möchte auch ich, dass der Dieb erwischt wird. Leider habe ich keine Ahnung, wo wir unsere Suche beginnen sollen. Niemand weiß, wie der Einbrecher aussieht.“ Niemand, außer mir … Allerdings hatte er versäumt, der Katze diese Halbmaske vom Gesicht zu reißen.

„Nun, es gibt durchaus ein paar Anhaltspunkte. Erstens: The Cat lebt in unserer Nachbarschaft und kennt sich hier aus. Wie sonst hätte er in so kurzer Zeit alle wohlhabenden Bewohner von Stockport-on-the-Medlock bestehlen können, die den Fabrikbau unterstützen?“

Brandon nickte zustimmend.

„Zweitens: Da die Einbrüche erst vor ein paar Wochen begonnen haben, können wir annehmen, dass der Übeltäter noch nicht lange hier wohnt.“

„Dann stellt sich die Frage, wer vor ein paar Wochen nach Stockport-on-the-Medlock gezogen ist.“

„Ja …“ Der Squire runzelte die Stirn. „Seit wir mit dem Bau der Fabrik begonnen haben, sind eine Menge neuer Gesichter hier aufgetaucht. Arbeiter, Aufseher, Baumeister, Investoren und andere.“

„Wenn es so viele sind, dass wir nicht über alle Informationen einholen können, dann müssen wir uns über das Motiv des Einbrechers Gedanken machen.“ Brandon wünschte, dieses Gespräch wäre endlich vorüber. Jede Erwähnung der Katze hatte zur Folge, dass sich bei ihm unterhalb der Gürtellinie etwas regte. Das war faszinierend und erschreckend zugleich. Er räusperte sich. „Das heißt, wir müssen herausfinden, warum der Dieb sich nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen interessiert. Vielleicht, weil er etwas gegen die Fabrik hat und glaubt, dass sie Menschen arbeitslos macht?“

„Was für ein Unsinn“, widersprach Bradley.

Nicht überrascht fand Brandon sich in seiner Meinung bestätigt, dass der Squire nicht besonders weitsichtig war. Er nickte in Erinnerung an den etwa zehn Jahre zurückliegenden Arbeiteraufstand, der unter dem Namen Peterloo in die Geschichtsbücher eingegangen war. Die beginnende Industrialisierung war nicht ohne Folgen geblieben. Vieles hatte sich verändert. Manches würde weitere Veränderungen nach sich ziehen. Darauf musste auch die Politik reagieren. Eine Lösung für die anstehenden Probleme zu finden, sah er als eine seiner wichtigsten Aufgaben an.

„Kennen Sie jemanden, der neu in der Gegend ist und etwas gegen die geplante Fabrik haben könnte?“, wandte er sich noch einmal an Bradley.

Dieser schüttelte den Kopf. „Ich kenne ja nur diejenigen, die sich aktiv für den Bau einsetzen. Die Investoren, die Architekten … Sie alle sind noch nicht lange in Stockport-on-the-Medlock. Aber The Cat ist bestimmt keiner von ihnen.“

„Wohl kaum …“ Zumal es sich nicht um einen Mann, sondern um eine Frau handelt! „Wir sollten auch an die Bewohner der Vororte von Manchester denken. Die Stadt ist kaum vier Meilen von hier entfernt. Es wäre ein Leichtes, die nächtlichen Einbrüche von dort aus zu unternehmen.“

Der Squire sah plötzlich unbehaglich drein. Etwas musste ihm eingefallen sein.

„Wir dürfen niemanden aus unseren Überlegungen ausschließen“, ermutigte Brandon ihn.

„Aber … Die beiden, die mir gerade eingefallen sind, haben bestimmt nichts mit den Diebstählen zu tun. Also, da ist einmal der neue Pastor. Doch den haben Sie selbst ja empfohlen, und zweifellos haben Sie vorher Erkundigungen über ihn eingezogen.“

Brandon nickte.

„Und dann“, erneut zögerte Bradley, „ist noch eine unverheiratete Dame hierher gezogen, Miss Eleanor Habersham. Ehrlich gesagt, ich schäme mich, weil ich ihren Namen in diesem Zusammenhang überhaupt erwähne. Meine Gattin und ihre Freundinnen treffen sich regelmäßig mit Miss Habersham zum Tee. Wie ich gehört habe, gibt es bei ihr das leckerste Gebäck weit und breit. Ich selbst habe sie noch nicht kennengelernt. Es heißt, dass sie Männern gegenüber ein wenig ängstlich ist.“

„Eine zurückhaltende alte Dame also?“

„Schüchtern und weltfremd, möchte ich sagen. Allerdings nicht so alt, wie Sie vielleicht annehmen.“

„Sie selbst wird wohl vollkommen harmlos sein. Aber was ist mit ihrem Personal? Wäre es denkbar, dass jemand, der für sie arbeitet, heimlich einer zweiten Beschäftigung nachgeht?“

Entsetzt riss der Squire die Augen auf. „Um Himmels willen! Die arme Frau! Ich hoffe doch sehr, dass Sie sich irren, Mylord. Auf jeden Fall sollten wir etwas unternehmen, um die Ärmste, wenn nötig, zu schützen.“

„Auf jeden Fall“, stimmte Brandon zufrieden mit dem Erfolg seiner Taktik zu. Er wusste schließlich, dass The Cat kein Mann, sondern eine Frau war. Es konnte also von großem Nutzen sein, sich diese Miss Habersham einmal anzuschauen. Und mithilfe des Squires und seiner Gattin würde er sich problemlos Zutritt zum Haushalt der Dame verschaffen können.

„Was wollen wir tun?“, erkundigte Bradley sich.

„Ich würde Miss Habersham gern einen Besuch abstatten, um mir ein Bild von ihrer Situation zu machen. Es ist zu ihrem eigenen Besten, nicht wahr? Was halten Sie davon, wenn wir sie gemeinsam aufsuchen? Wann lädt sie das nächste Mal zum Tee?“

„Heute.“

„Heute? Nun, ich war immer der Meinung, dass man nichts aufschieben soll, was man gleich erledigen kann. Gut, wir treffen uns zum Tee bei Miss Habersham. Wo wohnt die Gute denn?“

„In Old Grange“, erklärte der Squire, dem das alles ein wenig zu schnell ging, der es jedoch nicht wagte, dem Earl zu widersprechen. Er erhob sich. „Ich darf mich dann verabschieden, Mylord. Auf Wiedersehen.“

Brandon sah sogleich, dass der Besitz sich in einem schlechten Zustand befand. Der Garten war verwildert, und auch das Haus machte einen vernachlässigten Eindruck. Vermutlich verfügte Miss Habersham nicht über die nötigen Mittel, Old Grange instand zu setzen.

Er betätigte den Klopfer, woraufhin ein Bediensteter ihm die Tür öffnete und ihn sichtlich verwirrt musterte. An männliche Gäste war man hier offenbar nicht gewöhnt. Aber natürlich konnte man einen Earl nicht einfach fortschicken. Also wurde Brandon zum Salon geführt.

Von drinnen waren weibliche Stimmen zu hören. Doch sie verstummten schlagartig, als er über die Schwelle trat. Die um den Teetisch versammelten Damen erstarrten. Jemand setzte mit lautem Klirren die Teetasse ab.

Brandon straffte die Schultern und verbeugte sich. Er hatte seinen Hut nicht abgenommen und auch die Handschuhe angelassen, damit kein Zweifel daran aufkommen konnte, dass er nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch machen wollte. „Guten Tag, meine Damen“, begann er. „Ich möchte nicht lange stören. Squire Bradley hat mir versichert, hier könne ich alle wirklich wichtigen Bewohnerinnen von Stockport-on-the-Medlock treffen. Diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen.“

Während er sprach, ließ er den Blick über die Anwesenden wandern, um herauszufinden, wer die Gastgeberin sein mochte. Jetzt erhob sich eine der Damen und trat auf ihn zu, um ihn willkommen zu heißen. Sie war gekleidet, wie man das von einer Frau erwartete, die ihre besten Jahre hinter sich hatte und nicht mehr auf eine Ehe hoffen durfte. Das braune Kleid war einfach geschnitten und saß nicht einmal besonders gut. Doch als erfahrener Frauenkenner vermutete Brandon, dass der darunter verborgene Körper keineswegs der einer vertrockneten alten Jungfer war.

Auch etwas anderes war seltsam: Miss Habersham trug eine große Brille mit dicken Gläsern. Aber sie machte durchaus nicht den Eindruck, kurzsichtig zu sein. Versteckte sie sich womöglich hinter einer Brille aus Fensterglas?

„Mylord!“ Sie senkte den Kopf, auf dem eine altmodische Haube saß, die nur wenig von dem graubraunen Haar frei gab. „Ihr unerwarteter Besuch ist mir eine große Ehre. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Eleanor Habersham.“

Sie hatte eine unangenehme Stimme. Doch das schien ihre Freundinnen nicht zu stören. Brandon allerdings konnte diese nasalen Töne schon während der kurzen Begrüßung kaum ertragen.

„Die Ehre …“, gab er wohlerzogen zurück, „… ist ganz auf meiner Seite.“ Dann setzte er sein charmantestes Lächeln auf, so als wäre die nicht mehr ganz taufrische Dame ein bezauberndes junges Ding. Zweifellos würde sie sich geschmeichelt fühlen.

Zu seiner Überraschung jedoch sagte sie nur: „Was führt Sie zu mir, Mylord?“

„Der Wunsch, meine neue Nachbarin kennenzulernen.“ Er lächelte noch immer. Dann schaute er in die Runde. „Außerdem hatte ich gehofft, die Damen könnten mir ein paar Informationen über The Cat liefern. Ich bin sicher, dass im Ort nichts vorgeht, was Sie nicht früher oder später erfahren.“

Plötzlich redeten alle durcheinander. Im ersten Moment konnte Brandon kein Wort verstehen. Dann erhob sich Alice Bradleys schrille Stimme über die der anderen. „Ich weiß wirklich nicht, was aus England geworden ist! Unglaublich, dass eine ehrbare Frau nicht mehr ruhig schlafen kann, weil sie fürchten muss, in ihrem eigenen Heim überfallen zu werden. Wir sind nun schon das dritte Mal beraubt worden! Und vielen anderen ist es nicht besser ergangen!“

Alle nickten, und Mrs. Bradley wandte sich Miss Habersham zu. „Ich glaube, meine Liebe, Sie und Lord Stockport sind die Einzigen, die noch keinen Besuch von The Cat hatten.“

Neues Gemurmel ertönte. Und noch einmal hob Alice die Stimme. „Ich bin sicher, Sie besitzen weit kostbarere Dinge als wir, Mylord. Ist es da nicht erstaunlich, dass der Dieb bisher nicht bei Ihnen aufgetaucht ist?“

„Ich bedaure zutiefst, dass Sie Opfer dieses dreisten Einbrechers geworden sind“, gab er gelassen zurück. „Erst heute Vormittag hatte ich ein langes Gespräch mit Ihrem Gatten darüber. Genau wie er bin ich fest entschlossen, den Übeltäter zu fangen, auch wenn ich bisher von seinen Raubzügen verschont geblieben bin.“

Ihm war aufgefallen, dass Miss Habersham bei der Erwähnung ihres Namens kurz hochgeschaut hatte. Einen Moment lang blitzten kluge grüne Augen hinter den dicken Brillengläsern auf. Doch schon senkte sie wieder den Kopf.

Selbst für Brandon, der sich für einen Frauenkenner hielt, stellte sie ein Rätsel dar. Einerseits benahm sie sich wie eine typische alte Jungfer. Andererseits war ihre Haut makellos und ihre Figur hinreißend weiblich. Ihre Augen zeugten von einer raschen Auffassungsgabe und einer wachen Intelligenz. Waren ihre Schüchternheit und die Nervosität, mit der sie auf den männlichen Gast reagiert hatte, nur vorgetäuscht? Und wenn ja, warum spielte Eleanor Habersham diese Rolle?

Darüber musste er in Ruhe nachdenken. Es war sowieso an der Zeit, sich zu verabschieden. Länger als fünfzehn Minuten sollte ein erster Höflichkeitsbesuch nicht dauern.

„Hätten Sie die Güte, mich zur Tür zu begleiten, Madam?“ Noch einmal bedachte er die ältere (oder auch nicht so alte) Dame mit jenem Lächeln, das schon so oft Frauenherzen zum Schmelzen gebracht hatte. „Ich würde gern kurz über Ihre Sicherheit mit Ihnen sprechen.“

Sie traten in den Flur hinaus.

„Ich mache mir Sorgen um Sie, Miss Habersham. Wer beschützt Sie, wenn der Einbrecher auch bei Ihnen auftauchen sollte? Möchten Sie, dass ich Ihnen einen meiner eigenen Wachleute schicke?“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen – aber auch absolut unnötig.“

„Sie sollten die Gefahr nicht unterschätzen!“

„Es besteht keine Gefahr.“ Ihre nasale Stimme klang völlig ruhig. „Ich besitze nichts, was einen Dieb interessieren könnte, kein wertvolles Silberbesteck, keinen Schmuck, kein wertvolles Porzellan. Meine Mittel sind leider beschränkt.“

„Das weiß The Cat möglicherweise nicht. Ich fürchte, Sie müssen durchaus mit einem Besuch des Einbrechers rechnen. Und dann sollten Sie vorbereitet sein.“

Sie hatten die Haustür erreicht. Obwohl Miss Habersham sich höflich und ehrerbietig ihm gegenüber benahm, spürte Brandon deutlich, dass sie froh war, ihn loszuwerden.

„Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich um eine einfache Frau wie mich Sorgen machen“, sagte sie. „Sollte ich irgendwann das Gefühl haben, Hilfe zu brauchen, werde ich Ihnen Bescheid geben. Auf Wiedersehen, Mylord.“

Ein wenig verdutzt über diesen Abschied fand Brandon sich auf der Straße wieder. Das war wirklich ein seltsamer Besuch gewesen! Entgegen seinem Versprechen war der Squire gar nicht aufgetaucht. Und Miss Habersham war eindeutig nicht, was sie zu sein vorgab.

Ein Rätsel, das es zu lösen galt!

3. KAPITEL

Nora ließ sich auf einen Stuhl fallen. Endlich allein! Sie hatte schon gedacht, ihre Gäste würden sich nie verabschieden. Im Allgemeinen blieben die Damen, die zum Tee kamen, für knapp zwei Stunden. Doch diesmal hatte keine daran gedacht, aufzubrechen. Immer wieder war der Besuch des Earls in allen Einzelheiten besprochen worden.

Grässlich, diese Klatschbasen!

Nora entfernte die Haarnadeln, die die graubraune Perücke an ihrem Platz hielten, und warf diese auf den Tisch. Aufseufzend schüttelte sie den Kopf, bis ihr eigenes Haar ihr in weichen Wellen über die Schultern fiel. Wer hätte gedacht, dass es unter der Verkleidung so heiß und unangenehm werden würde?

Sie trat zu ihrem Frisiertisch, öffnete eine Schublade und legte die Brille hinein. Auch deren Gewicht war ihr zum Schluss überaus lästig gewesen. Sie rieb sich die Nasenwurzel. Manchmal war sie es wirklich leid, die Rolle der Eleanor Habersham zu spielen!

Zu Beginn hatte die Teegesellschaft ihr noch gut gefallen. Alice Bradley hatte sich laut und ausführlich über die Unternehmungen des Einbrechers beschwert. Die Frau des Squire liebte es zu klagen. Es war nicht zuletzt ihr zu verdanken, dass The Cat so rasch eine Berühmtheit geworden war.

Und das war wichtig, um die gesteckten Ziele zu erreichen: Einerseits brauchte sie die wertvollen Kleinigkeiten, die sie stahl, um von dem Verkaufserlös Lebensmittel für die Ärmsten zu besorgen. Andererseits wollte sie alle, die den Bau der neuen Textilfabrik unterstützten, verunsichern. Wenn man diese Geschäftsleute nur oft genug beraubte, würden sie Stockport-on-the-Medlock irgendwann verlassen. Sie würden das Interesse an der Fabrik verlieren. Wenn niemand mehr in die neuen Maschinen investierte, würden viele Frauen weiterhin daheim an ihren Webstühlen sitzen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Es würde weniger Kinderarbeit geben, weniger Unfälle und weniger Hunger als in den Hochburgen der Industrialisierung.

Die um den Teetisch versammelten Damen hatten an anderes gedacht. Sie hatten Alice Bradley bedauert und sich dabei Hatties leckere Kekse schmecken lassen.

Dann war der Earl erschienen – einfach hinreißend attraktiv in seiner eleganten Kleidung.

In der vergangenen Nacht hatte Nora gespürt, wie kraftvoll und männlich sein Körper war. Aber sie hatte nicht einmal geahnt, wie perfekt er gebaut war. Auch seine angenehmen Gesichtszüge hatte sie im Dunkeln nicht gesehen. Im hellen Licht des Tages jedoch war es ihr schwergefallen, den Blick von seiner geraden Nase, den klugen eisblauen Augen und dem Kinn abzuwenden, das Willensstärke ausdrückte. Ihren Gästen war es offensichtlich nicht anders ergangen, sie hatten alle den attraktiven schwarzhaarigen Besucher bewundert und ihm gebannt zugehört.

Zunächst hatte Nora noch gehofft, er würde erwähnen, dass auch er Besuch von der Katze erhalten hatte. Das hätte sie ihrem Ziel ein wenig näher gebracht. Doch Stockport hatte mit keinem Wort erwähnt, dass bei ihm eingebrochen worden war. Schlimmer noch, er hatte nicht widersprochen, als Alice Bradley meinte, er sei als einziger wohlhabender Bewohner von Stockport-on-the-Medlock noch nicht bestohlen worden.

Wie ärgerlich! fand Nora. Schließlich war sie in Stockport Hall eingedrungen, um zu beweisen, dass niemand vor The Cat sicher sein konnte. Ganz gleich, wie gut die Bewachung, ganz gleich, wie hoch das Ansehen des Betroffenen war – die Katze ließ sich nicht aufhalten.

Verflixt, jeder andere hätte über den dreisten Einbrecher geschimpft! Nicht aber der Earl … Er ist eben nicht wie die anderen!

Tief in Gedanken versunken, begann Nora, ihr Haar zu bürsten. In der vergangenen Nacht hatte sie geglaubt, es sei eine gute Idee, Stockport zu küssen. Mit ihrem schockierenden Verhalten hatte sie den arroganten Gentleman aus dem Gleichgewicht bringen wollen. Das war ihr gelungen. Doch leider hatte auch ihr eigenes inneres Gleichgewicht unter diesem Kuss gelitten.

Außerdem hatte sie den Earl dadurch in eine Situation gebracht, über die er verständlicherweise am liebsten Stillschweigen bewahren würde. Es war absurd, anzunehmen, er würde erzählen, wie er die Katze in seinem Schlafzimmer vorgefunden hatte und sich, statt sie gefangen zu nehmen, von ihr hatte küssen lassen. Er war ein Mann, der gern das Ruder in der Hand hielt. Er war selbstbewusst und befehlsgewohnt. Er war charmant und – das legte zumindest sein Benehmen gegenüber den zum Tee versammelten Damen nahe – daran gewöhnt, dass die Frauen ihm zu Füßen lagen. Natürlich würde er nicht zugeben, dass er von einer Frau, einer Diebin noch dazu, überrumpelt worden war.

Der Kuss war ein Fehler gewesen. Nora bedauerte jetzt, nicht doch den Ring genommen zu haben. Aber noch war es nicht zu spät. Das Schmuckstück schien eine besondere Bedeutung für Lord Stockport zu haben. Das galt es auszunutzen. Ein Plan reifte in ihrem Kopf: Sie würde sich den Ring holen und dem Earl anbieten, ihn für eine entsprechende Summe zurückzukaufen.

Ja, gleich in dieser Nacht würde sie ans Werk gehen!

Stockport Hall lag im Dunkeln, als Nora sich dem Haus gegen Mitternacht näherte. Hinter einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Das musste – so hatte jedenfalls Alfred gesagt – die Bibliothek sein. Er hatte auch berichtet, dass der Earl, der allein lebte, die Abende oft dort verbrachte, bei einem Glas Portwein und in ein Buch vertieft.

Nora erreichte die Eiche und kletterte mühelos hinauf. Schon befand sie sich auf gleicher Höhe mit dem Schlafzimmerfenster. Ein Stück über ihr befand sich ein kräftiger Ast. Den wollte sie erreichen. Sie schlang ein dunkles Seil um den Stamm, legte sich dann bäuchlings auf den Ast und lauschte in die Nacht. Noch war nichts zu hören von den Wachleuten, die auf Stockports Grundstück patrouillierten. Gut, sie konnte also ans Werk gehen.

Durch das Seil gesichert, erreichte sie wenig später die schmale Fensterbank, und während sie sich mit einer Hand an den Ast klammerte, stieß sie mit der anderen das Fenster auf. Dem Himmel sei Dank, der Earl hatte den Griff, mit dem man das Fenster fest schließen konnte, noch nicht reparieren lassen! Zweifellos war er gar nicht auf die Idee gekommen, die Katze könne es noch einmal wagen, in sein Haus einzudringen.

Geschafft! Sie stand im Schlafzimmer. Sobald ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute sie sich aufmerksam um. Das Durcheinander, das sie bei ihrem ersten Besuch angerichtet hatte, war beseitigt worden. Mit etwas Glück hatte man auch den Ring an seinen Platz zurückgelegt.

Ja, das war das Kästchen. Sie hob den Deckel und lächelte. Kaum merklich glitzerte der Amethyst im schwachen Mondlicht.

Nora nahm den Ring und spürte zu ihrem Erstaunen, dass ihr Gewissen sich regte. Einen Moment lang schloss sie die Lider und malte sich aus, wie viel Gutes sie tun konnte, wenn sie erst das Geld für das Schmuckstück in Händen hielt. Sie würde den kleinen Timmy Black, der Jüngste in einer Schar von sieben Kindern, bis zum Frühjahr mit Porridge versorgen. Sie würde der Witwe Malone und ihren Kindern warme Decken bringen. Sie würde vielen Familien eine kleine Weihnachtsüberraschung bereiten.

Entschlossen ließ sie den Ring in der Tasche ihrer Hose verschwinden. Stockport würde ihn ja nicht für immer verlieren. Schon bald sollte er Gelegenheit erhalten, ihn zurückzukaufen.

Bei diesem Gedanken besserte Noras Laune sich deutlich. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, wie das geplante Gespräch mit dem Earl verlaufen würde. Sie war fest entschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen.

Leise öffnete sie die Tür zum Flur. Nichts war zu sehen oder zu hören. Es würde leicht sein, unbemerkt bis zur Bibliothek zu gelangen. Während sie die Treppe hinunterschlich, flammte erneut Zorn in ihr auf. Stockport nannte ein riesiges Haus sein Eigen. Doch die meiste Zeit des Jahres bewohnte er es nicht einmal. Gleichzeitig gab es nur wenige Meilen entfernt Hunderte von Familien, denen nur ein einziges unbeheiztes Zimmerchen zur Verfügung stand. Und schlimmer noch: Jahr für Jahr wurden infolge von Industrialisierung und Landflucht mehr Menschen obdachlos.

Vor der einen Spaltbreit geöffneten Tür zur Bibliothek blieb Nora stehen und lugte ins Zimmer.

Stockport saß an einem großen Mahagonischreibtisch und schrieb einen Brief. Das Licht mehrerer Kerzen tanzte auf seinem dunklen Haar. Himmel, er sah wirklich gut aus! Schade, dass er ein arroganter, unmoralischer Schuft war, den das Schicksal anderer, weniger begüterter Menschen nicht kümmerte …

In diesem Moment hob er den Kopf. Hinter den Brillengläsern blitzten seine blauen Augen kurz auf.

Er trug eine Brille und schrieb Briefe? Das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte. Dabei hatte sie viel über ihn nachgedacht. Sie hatte sich vorgestellt, wie er in London auf Bällen tanzte, flirtete, ausgezeichnet speiste und sich amüsierte. Oder aber, wie er lange Ausritte unternahm und seinen Körper bei Gentleman Jackson trainierte. Jetzt allerdings fiel ihr ein, dass sie gehört hatte, er sei ein Mann, der seine Verantwortung als Landbesitzer sehr ernst nahm.

Der Earl hatte sich dem Brief noch nicht wieder zugewandt. Er schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Hatte er ihre Anwesenheit gespürt? Angestrengt starrte er zur Tür hin, konnte aber in dem unbeleuchteten Flur nichts erkennen. Jetzt nahm er die Brille ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Ist da jemand?“ In seiner Stimme schwang ein stählerner Unterton.

Unwillkürlich trat Nora einen Schritt zurück – nur um sich gleich darauf selbst zu schelten. The Cat war nicht hier, um sich zu verstecken!

Sie vergewisserte sich, dass ihre Halbmaske richtig saß, stieß die Tür auf und trat in die Bibliothek. „Guten Abend, Stockport. Wir haben noch etwas zu erledigen.“

„Sie! Wie sind Sie hereingekommen?“

Seine Überraschung und sein Ärger darüber, dass sie die Wachposten erneut überlistet hatte, waren ihr eine große Genugtuung. Er mochte es nicht, wenn jemand anderes die Kontrolle übernahm.

Sie lächelte ihn an, setzte sich in einen der schweren geschnitzten Stühle, schwang ein Bein über die Lehne und wippte mit dem Fuß.

Unwillkürlich starrte Brandon auf das lange wohlgeformte Bein.

„Ich habe denselben Weg gewählt wie in der letzten Nacht“, sagte Nora. „Das Fenster ist noch nicht repariert. Ich hoffe nur …“, sie neigte den Kopf wie eine im Flirten geübte Frau, „… dass Sie es nicht allen jungen Schönheiten so leicht machen, in Ihr Schlafzimmer einzudringen.“

„Ein kluger Dieb schlägt nicht zweimal nacheinander am selben Ort zu.“

„Ich bin kein kluger Dieb, sondern eine geniale Diebin, die stets das Unerwartete tut.“

Stockport erhob sich, und einen Moment lang verspürte Nora ein ihr bisher unbekanntes Gefühl der Unsicherheit. Was hatte er vor? Würde er nach seinen Bediensteten läuten? Dann – so viel war klar – würde sie sich in echten Schwierigkeiten befinden.

Doch er goss sich lediglich ein Glas Cognac ein. „Sie meinen also, ich müsste von Ihrer kriminellen Energie beeindruckt sein?“

„Ich weiß, dass Sie beeindruckt sind.“

„Ach?“ Er hob die Brauen. „Wie kommen Sie darauf?“

„Es ist unübersehbar. Wenn Sie mich für eine normale Verbrecherin hielten, hätten Sie schon um Hilfe gerufen und versucht, mich festzunehmen. Übrigens benehmen Sie sich nicht wie der perfekte Gastgeber, als den man Sie im Allgemeinen hinstellt. Wollen Sie mir nicht auch ein Glas Cognac anbieten? Und gießen Sie nicht zu sparsam ein.“ Wie beabsichtigt, hatte sie ihn schockiert.

Doch er fasste sich rasch und brachte ihr ein Glas, gefüllt mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Dann nahm er wieder am Schreibtisch Platz. „Sie sprachen eben davon, dass wir noch etwas zu erledigen hätten? Dann wollen wir uns beeilen, diese mysteriöse Angelegenheit zu regeln. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, und Sie haben gewiss noch etwas vor. Vermutlich müssen Sie noch bei Squire Bradley vorbei, um etwas Silber zu stehlen.“

Sie ging nicht darauf ein, sondern fragte: „Warum haben Sie niemandem gegenüber erwähnt, dass Sie in der letzten Nacht Besuch von The Cat hatten?“

Brandon lächelte maliziös. „Die Antwort ist einfach: Ich habe geschwiegen, weil Sie unbedingt wollten, dass ich darüber rede. Für mich gab es keinen Grund, den Wunsch einer Verbrecherin zu erfüllen, der es an Moral fehlt.“

Nora setzte beide Füße fest auf den Boden und erklärte ärgerlich: „Mir fehlt es keineswegs an Moral!“

„Sie eignen sich Dinge an, die Ihnen nicht gehören!“

„Nur, um Menschen zu helfen, die nichts besitzen.“

„Sie erwarten doch nicht, dass ich glaube, Sie würden nichts für sich selbst behalten!“

„Wenn es mir darum ginge, mir ein schönes Leben zu machen, würde ich mehr stehlen als ab und zu einen silbernen Kerzenständer oder etwas Haushaltsgeld. Sie könnten übrigens bei Miss Habersham Informationen über das Waisenhaus in Manchester einholen, das ich unterstütze. Vermutlich kennt die Dame auch den Namen einiger Familien, die, um zu überleben, auf meine Hilfe angewiesen sind.“

„Was hat die alte Jungfer mit Ihnen zu tun?“

„Nichts. Sie und ihre Freundinnen gehören allerdings zu einer Gruppe, die beschlossen haben, mildtätige Werke zu tun. Was bedeutet, dass sie einmal im Monat – ich glaube, es ist jeweils am dritten Mittwoch – nach Manchester fahren, um in bestimmten Stadtvierteln Lebensmittel an die Armen zu verteilen. Eben diese Bedürftigen werden Ihnen gern bestätigen, wie dringend sie auf das angewiesen sind, was sie von The Cat bekommen.“

Brandon runzelte die Stirn. „Mir scheint, dass jene Damen einen Weg gefunden haben, Gutes zu tun, ohne zuvor Verbrechen zu begehen.“

„Wenn man den Hungertod fürchten muss, hilft es nicht wirklich, einmal im Monat etwas zu essen zu erhalten. Diese sogenannten mildtätigen Werke dienen lediglich dazu, das Gewissen der Reichen zu beruhigen.“ Nora warf Stockport einen flammenden Blick zu und erhob sich, um an den Schreibtisch zu treten. „Ich habe mich gefragt, woran Sie so spät in der Nacht noch arbeiten.“ Unvermutet streckte sie die Hand nach dem unvollendeten Brief aus, der dort lag. Sie hielt ihn in den Fingern, ehe Brandon sie daran hindern konnte.

„Ah, Sie korrespondieren mit einem Freund über Ihre politische Arbeit? Wie ich sehe, geht es um den Reform Act. Sie setzen sich doch nicht etwa für eine Änderung des Wahlrechts ein? Das würde letztendlich dazu führen, dass Ihre Klasse an Einfluss verliert. Natürlich würde das House of Lords dem sowieso nicht zustimmen.“

„Sie beschäftigen sich mit Politik?“ Brandon war ehrlich erstaunt. Seiner Meinung nach hatte, abgesehen von den Mitgliedern des Ober- und Unterhauses, bisher kaum jemand der geplanten Gesetzesänderung größere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Haben Sie schon vergessen, dass ich mich für soziale Gerechtigkeit einsetze? Dazu gehört, dass die Reichen für die Armen sorgen. Dazu gehört aber auch, dass nicht nur einige wenige über die Geschicke unseres Landes bestimmen dürfen. Eine Änderung des Wahlrechts ist daher dringend notwendig.“

„Sie wird kommen, wenn Premierminister Grey sich weiterhin dafür einsetzt.“

„Das glaube ich kaum. Selbst Grey kann das Oberhaus nicht zwingen, anders abzustimmen als bisher. Die Lords haben den Gesetzesentwurf bereits zweimal abgelehnt, nicht wahr?“

„Es ist nur eine Frage der Zeit.“

„Sind Sie wirklich davon überzeugt?“ Sie beugte sich über den Schreibtisch, und plötzlich war ihr Mund nicht weit entfernt von Stockports. Der öffnete leicht die Lippen.

Himmel, denkt dieser arrogante Mann etwa, ich würde ihn noch einmal küssen?

Sie richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. „Ich muss Sie enttäuschen, Mylord. Kein Kuss heute – obwohl Sie so aussehen, als könnten Sie dringend einen brauchen.“

Er rührte sich nicht. Hatten ihre provozierenden Worte ihm die Sprache verschlagen?

Langsam zog Nora sich zurück in Richtung der Terrassentür. Sie drückte die Klinke hinunter. Nicht abgeschlossen, gut! „Vielen Dank für den Cognac.“

„Früher oder später wird man Sie erwischen“, rief Brandon ihr nach. „Und dann wird man Sie hängen.“

„Das bezweifele ich sehr.“ Sie holte den Ring aus der Hosentasche und hielt ihn kurz hoch. „An Ihrer Stelle würde ich das Fenster gleich morgen reparieren lassen. Aber vielleicht hoffen Sie ja auf einen weiteren Besuch von mir?“ Sie deutete eine Verbeugun...

Autor

Nicola Cornick

Die britische Schriftstellerin Nicola Cornick schreibt überwiegend Liebesromane, die in der Zeit des britschen Regency spielen. Sie ist aktives Mitglied der britischen “Romantic Novelists’ Association”, zudem erhielt sie zahlreiche Preise unter anderem den RITA-Award. Ihr erstes Buch wurde 1998 von Mills & Boon veröffentlicht. Sie zählt zu den Bestseller-Autoren der...

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Francesca Shaw
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Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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