Historical Saison Band 99

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DIE MYSTERIÖSE MISS FAICHILD von SARAH MALLORY
Miss Natalya Fairchild hat ein Geheimnis. Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind. Trotzdem fühlt sie sich unwiderstehlich zu Tristan Quintrell, Lord Dalmorren, hingezogen. Er will ihr helfen, Licht in das Dunkel ihrer Vergangenheit zu bringen. Doch was, wenn sich herausstellt, dass Natalya seiner gar nicht würdig ist? Dann hätte sie weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft …

DIE KLEINE BACKSTUBE DES GROSSEN GLÜCKS von JENNI FLETCHER
Nirgendwo fühlt Nancy MacQueen sich so zu Hause wie in der kleinen Backstube in Bath. Sie liebt ihre Arbeit dort, aber auch ein wenig James Redbourne, den gut aussehenden Besitzer eines Ladens in der Nachbarschaft. Als Nancy sich endlich ein Herz fasst und James ihre Liebe gestehen will, muss sie erfahren, dass er sich verlobt hat …


  • Erscheinungstag 06.06.2023
  • Bandnummer 99
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517966
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Mallory, Jenni Fletcher

HISTORICAL SAISON BAND 99

1. KAPITEL

Tristan, ich will heiraten!“

Tristan Quintrell, Lord Dalmorren, brauchte einen Moment, ehe er dem jungen Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches antwortete.

„Das überrascht mich“, sagte er schließlich. „Ich wusste ja, du hattest irgendein Anliegen, Freddie, doch ich dachte, ich sollte dir bloß wieder aus der Klemme helfen.“

„Aber nein!“ Der junge Mr. Erwin sah gekränkt drein. „Ich bin nicht immerzu abgebrannt, weißt du.“

„Verzeih“, erwiderte sein Gastgeber trocken, „doch im gesamten vergangenen Jahr war genau das der Grund für jeden einzelnen deiner Besuche.“

Der junge Mann errötete leicht. „Nun, ein Mann muss etwas Staub aufwirbeln, wenn er zum ersten Mal in der Hauptstadt ist, nicht wahr? Abgesehen davon warst du es doch, der mir sagte, ich solle mich lieber an dich als an Mama wenden, wenn ich Geld benötige. Aber deshalb bin ich nicht hier, Tristan. Ich bin verliebt!“

Dieser offenkundige Enthusiasmus beeindruckte Tristan nicht im Geringsten. Er wollte schon anmerken, dass Freddie sich mit seinen nicht einmal einundzwanzig Jahren noch Dutzende Male ver- und wieder entlieben würde, aber er hielt sich zurück. Der Glanz in den Augen des Burschen und sein glückseliges Lächeln legten die Vermutung nahe, dass er tatsächlich verliebt war.

Acht Jahre trennten die beiden Männer. Freddie war der Sohn von Tristans Schwester, die sechzehn Jahre älter als er und das einzig verbliebene Geschwisterkind war; die übrigen waren bereits im Säuglingsalter gestorben. Ihr verschiedener Ehemann hatte zusätzlich zu seiner Gattin vorsorglich seinen Schwager als Vormund für ihr einziges Kind einsetzen lassen. Tristan war kaum erwachsen gewesen, als sein eigener Vater starb, was zusammen mit der Verantwortung für seine verwitwete Schwester und deren Sohn schwer auf dem jungen Lord Dalmorren gelastet und ihn weit über sein Alter hinaus hatte reifen lassen. Aus eben jenem Grund spottete er nicht über Freddies Verliebtheit. Stattdessen stand er vom Schreibtisch auf, ging zu einem Beistelltisch auf der anderen Seite des Arbeitszimmers und füllte zwei Gläser mit Madeira.

„Hier.“ Er reichte Freddie eins der Gläser. „Du solltest dich setzen und mir davon erzählen.“

Der Junge ließ sich nicht zweimal bitten. Er zog einen Stuhl vom Schreibtisch her und setzte sich. „Wir trafen uns in Bath“, begann er, „im Februar. Erinnerst du dich? Ich wollte mit Gore Conyer hinfahren. Seine Familie wohnt dort. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir gefallen würde, aber dann sah ich sie.“

„Hat die Lady einen Namen?“

Freddie stellte sein Glas ab, verschränkte die Hände und sagte euphorisch: „Miss Fairchild. Aber sie erlaubt mir, sie Lya zu nennen!“

„Leah, wie Jakobs Frau in der Bibel?“

Freddie schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ihr Name ist Natalya, aber die ihr nahestehen, nutzen diese Abkürzung.“ Erneut lächelte er selig. „Lya.“

Es kostete Tristan einiges an Willenskraft, ihn nicht zu necken. „Wo lerntest du sie denn kennen?“

„Es war, als wir das Theater verließen. Gores Eltern hatten eine Loge gemietet, damit wir Macbeth sehen konnten. Ich bin kein großer Liebhaber Shakespeares, doch es wäre ungehobelt gewesen, nicht hinzugehen. Nach dem Stück warteten wir im Foyer auf Mr. und Mrs. Conyer. Sie kennen jeden in Bath und brauchten daher eine Ewigkeit, bis sie beim Ausgang waren. Aber das nur nebenbei. Ich sah mich um, während wir warteten, und da erblickte ich sie. Sie verließ gerade das Theater zusammen mit einer älteren Lady, in der unmodischsten Robe, die du dir vorstellen kannst!“

Er bemerkte Tristans verwunderten Blick und lachte. „Nein, nicht Natalya – sie sah sehr elegant aus, in cremefarbenem Musselin. Doch ihre Begleitung war in schreiendes Grün gekleidet, mit einem Kopfputz, der über und über mit Federn und Bändern besetzt war. Das war es, was zunächst meine Aufmerksamkeit erregte, und dann sah ich Miss Fairchild. Unsere Blicke trafen sich, und … da war’s geschehen. Ich wusste, ich bin verliebt …“ Er brach ab und seufzte laut. „Oh, Tristan, wenn du nur dabei gewesen wärst.“

„Ich bin froh, es nicht gewesen zu sein“, erwiderte sein Onkel und verzog das Gesicht. „Ich hätte mich äußerst unwohl gefühlt!“

Freddie winkte ab. „Ich meine, ich wünschte, du hättest sie gesehen. Dann könntest du mich verstehen. Sie ist das wunderschönste aller Geschöpfe! Ihr Gesicht, ihre Augen, ihr elfenbeinfarbener Teint … exquisit!“

„Was tatest du dann?“

„Was hätte ich tun sollen? Ich verneigte mich respektvoll, als sie vorbeiging.“

„Du enttäuschst mich. Ich dachte, du hättest auf der Stelle darum gebeten, ihr vorgestellt zu werden.“

„Wenn ich das nur hätte tun können! Guter Gott, Tris, ich habe durchaus Manieren. Tatsächlich war es sogar gut, dass ich nichts überstürzte. Mrs. Conyer sagte mir, die alte Lady sei Mrs. Ancrum, eine von Baths respektabelsten Einwohnerinnen, die strikt auf Etikette achtet. Glücklicherweise sind die Conyers mit ihr bekannt und stellten mich vor, als wir uns … äh … zufällig in der Trinkhalle begegneten.“

Um Tristans Mund zuckte ein Lächeln. „Herrje. Shakespeare, Trinkhallen – du wirst schon vor deiner Zeit alt, Neffe.“

Freddie grinste. „Ich übe bloß für den Tag, an dem ich mit dir dorthin muss, mein betagter Vormund. Doch genug gescherzt.“ Er stellte das leere Glas ab und taxierte Tristan mit seinen treuherzigen blauen Augen. „Tris, es ist mir ernst. Ich will ihr einen Antrag machen, doch ich brauche erst dein Einverständnis.“

„Und das deiner Mutter. Sie ist ebenfalls dein Vormund, vergiss das nicht.“

„Ja, ja, aber Mama wird kein Problem sein. Sie würde mir niemals mein Glück verwehren. Aber darum geht es nicht. Ich habe keinen Zugriff auf mein Erbe, ehe ich nicht fünfundzwanzig bin, also benötige ich eine Erhöhung meiner Apanage, um meinen eigenen Haushalt zu gründen.“

„Natürlich“, brummte Tristan. „Was wissen wir denn von Miss Fairchild, abgesehen davon, dass sie die schönste Frau ist, die du je sahst? In welchem Verhältnis steht sie zu Mrs. Ancrum?“

„In keinem. Natalya ist eine Waise. Sie wohnt bei ihrer Tante und ihrem Onkel am Sydney Place. Mr. und Mrs. Pridham. Sie leben zurückgezogen, doch sie sind sehr angesehen. Du musst nicht glauben, sie hätten mir Natalya untergejubelt. Ganz im Gegenteil. Sie wird gut behütet, wenn sie ausgeht, und auf Bällen gestattet man ihr niemals mehr als zwei Tänze mit demselben Herrn, und wann immer ich im Hause vorsprach, sorgte Mrs. Pridham dafür, dass wir nie alleine waren. Sie ermutigen einen nicht im Mindesten.“ Seine sonst offene und heitere Miene verfinsterte sich. „Um ehrlich zu sein, sind sie sogar ausgesprochen entmutigend! Deshalb ist mir dein Einverständnis so wichtig, ehe ich den nächsten Schritt wage.“

„Hast du es deiner Mutter schon gesagt?“

„Noch nicht. Sie war mit Großmutter in London, wie du sicher weißt. Sie sollte in den nächsten Tagen zurück auf Frimley sein. Ich bin quasi auf dem Weg dorthin, um sie zu treffen.“ Er lächelte jungenhaft. „Aber ich dachte, ich mache erst hier halt, um mit dir zu sprechen. Wenn du keine Einwände hast, wird auch Mama zufrieden sein.“

„Wie lange gedenkst du auf Frimley zu bleiben?“

„Oh, eine Woche, vielleicht zwei.“ Schüchtern fügte er hinzu: „Ich dachte, wenn ich zurück nach Bath gehe, könnte ich Natalya eine Einladung von Mama überbringen, sie auf Frimley zu besuchen.“

„Ich verstehe.“

Tristan lehnte sich zurück und nippte an seinem Wein, während er das Gehörte überdachte. Er wollte Freddies Hoffnungen nicht zerschlagen, doch seine Schwester Katherine wäre mit Sicherheit entsetzt, wenn ihr einziger Sohn eine Frau heiraten wollte, über die sie nichts weiter wussten.

„Wir sollten versuchen, etwas mehr über die Lady in Erfahrung zu bringen, ehe du meine Schwester um ihren Segen bittest.“

„Pridham ist ein Gentleman und Lya überall in Bath angesehen. Ich wüsste nicht, was sonst noch von Bedeutung wäre.“

„Du nicht, aber du kannst dir verdammt sicher sein, dass deine Mutter es weiß! Was weißt du über Miss Fairchilds Eltern oder ihr Vermögen?“

Freddie sprang auf die Füße, ein rebellisches Funkeln im Blick.

„Willst du dich gegen das Aufgebot aussprechen, Tristan? Wenn du das tust, bei Gott …“

„Oh, setz dich wieder, du Hitzkopf, ich spreche mich gegen gar nichts aus, aber deine Mutter muss überzeugt werden, ehe sie ihre Zustimmung gibt.“

„Sie wird überzeugt sein, wenn sie Natalya erst kennengelernt hat.“

„Gewiss, gewiss; doch in der Zwischenzeit könnte sie die Dinge für die junge Lady äußerst unangenehm gestalten.“

„Aye, das stimmt. Verflucht, Tristan, ich kündigte Mama meinen Besuch bereits an!“

„Und dabei kann es auch bleiben. Sie wird hocherfreut sein, dich zu sehen. Erwähne nur Miss Fairchild nicht. Jedenfalls nicht, ehe ich nicht einige Nachforschungen angestellt habe.“

„Ja?“ Freddie beäugte ihn argwöhnisch. „Wie wirst du das tun?“

„Indem ich nach Bath fahre, wie sonst?“ Tristan grinste. „In meinem gehobenen Alter könnte es mir guttun, eine … äh … Trinkkur zu machen.“

„Oh, oh, Teufel noch eins!“

Das Pianoforte ertönte in einem unharmonischen Missklang, als Natalya frustriert auf die Tasten schlug. Es spiegelte exakt ihre Laune wider, jedoch bereute sie ihren Ausbruch sogleich und sah sich schuldbewusst um, ob sie auch wirklich alleine war.

Sie seufzte. Es gab keinen Grund, ihren Frust an dem armen Instrument auszulassen. Das Stück war nicht zu schwer für sie, sie hatte bloß die ganze Woche nicht geübt. Sie hatte es satt, ihre Zeit mit ihren Studien zu verbringen, während andere junge Damen ausritten und spazieren gingen und an Picknicks teilnahmen. Gut, die wenigsten Bekannten ihres Onkels und ihrer Tante luden sie zu solcherlei Unternehmungen ein – abgesehen von den Grishams wahrten die meisten Familien in Bath eine gewisse Distanz –, doch selbst wenn sie eingeladen wurde, verweigerten ihr die Pridhams dieses Vergnügen oft genug, mit der Begründung, ihre Studien seien wichtiger. Erst in diesem Jahr war ihr überhaupt erlaubt worden, an den Bällen in den Gesellschaftsräumen teilzunehmen!

Onkel Pridham hatte ihr versichert, es werde sich alles ändern, wenn sie im Juni einundzwanzig werde, bis dahin aber müsse sie sich strikt weiter ihren Studien widmen. Dem Unterricht mit ihren Hauslehrern konnte sie sich nicht entziehen, doch statt am Klavier zu üben, konnte sie ihre Zeit mit Lesen oder Zeichnen verbringen. Ein kleiner Akt der Rebellion, auf den sie allerdings nicht sonderlich stolz war. Sie war ihrem Onkel und ihrer Tante dankbar für die Bemühungen, die sie in ihrem Interesse unternahmen, nur wünschte sie manchmal, sie wären dabei nicht ganz so eifrig.

Es klopfte an der Tür, und der Musiklehrer wurde eingelassen. Natalya lächelte ihm entschuldigend entgegen.

„Ich fürchte, Sie werden diese Woche sehr enttäuscht von mir sein, Mr. Spark …“

Später, in den Gesellschaftsräumen, suchte Natalya ihre Freundin Miss Grisham auf, einen lebhaften Rotschopf in einem zitronengelben Musselinkleid. Sie setzte sich neben sie und seufzte übertrieben.

„Ich weiß, ich bin zu spät, Jane. Bitte verzeih mir, ich hatte einen … einen Höllentag. Aggie ist wütend auf mich, weil ich mein neues Musselinkleid ruiniert habe und vergaß, es ihr zu sagen, und es gibt nichts Schlimmeres als eine Zofe mit schlechter Laune. Dann musste ich zwei Stunden in italienischer Konversation über mich ergehen lassen, und zu guter Letzt hat Mr. Sparks mir die Leviten gelesen, weil ich Mr. Händels Sarabande nicht geübt hatte.“

„Als ob dir das etwas ausmachte“, erwiderte ihre Freundin lächelnd. „Aber was sagtest du von Italienisch, Lya – hat Mr. Pridham einen neuen Lehrer für dich gefunden?“

„Ja, heute Morgen war unsere erste Stunde. Obwohl ich mich frage, weshalb mein Onkel sich noch solche Mühe gemacht hat; in einem Monat werde ich volljährig, und er weiß, dass ich vorhabe, meine Studien zu beenden.“

„Und ist dein neuer Lehrer jung und gutaussehend?“

„Nichts davon.“ Natalya erschauderte. „Er ist klein und dunkel, mit lüsternem Blick und feuchten Lippen. Ich fürchte, wenn sich die Gelegenheit böte, würde der Signor versuchen, mich zu verführen, und ich würde genötigt sein, ihn mit meiner Hutnadel zu stechen. Zum Glück besteht meine Tante darauf, dass ich niemals mit einem Vertreter des männlichen Geschlechts alleine bleibe.“ Sie gluckste vergnügt. „Ich weiß, darüber beklagte ich mich bisher, aber in diesem Fall bin ich darüber ausgesprochen dankbar.“

„Das solltest du auch, Lya“, erwiderte ihre Freundin. „Die Pridhams geben sehr gut auf dich acht.“

„Das weiß ich doch. Ich kann von Glück reden, einen so fürsorglichen Vormund zu haben, aber es ist auch erdrückend!“ Sie seufzte. „Wenn ich nur wüsste, was sie mit all dem bezwecken.“

„Sie wollen dich behüten. Deinen Ruf und deine Ehrbarkeit schützen, damit du einmal eine vorteilhafte Ehe schließen kannst!“

Natalya schüttelte den Kopf, ihr war das Lachen vergangen. „Das kann nicht der Grund sein. Weshalb hätten sie dann Lord Austwick davon abbringen sollen, mir einen Antrag zu machen? Er ist reich wie Krösus und ein Earl noch obendrein. Und wozu der ganze Unterricht? Musik, Französisch, Italienisch. Russische Geschichte, ganz zu schweigen von Geometrie und Philosophie und allem anderen, das ich lernte, als ich noch im Internat war! Keine Frau wird auf diese Weise gefördert, nur um eine Ehefrau zu werden!“

Jane hielt das lediglich für einen Scherz, und Natalya sagte nichts mehr, denn würde sie aussprechen, wie ernst es ihr damit war, wäre ihre Freundin bestimmt entsetzt. Der Nachteil an einer Erziehung wie ihrer war, dass man eine Menge Dinge lernte, die jungen Frauen für gewöhnlich vorenthalten wurden. Die Lehrerinnen im Internat hatten Natalyas unersättlichen Lesehunger liebend gerne gestillt, mit dem Ergebnis, dass sie nun eine ganze Menge über die Welt wusste, inklusive der Tatsache, dass viele angesehene Gentlemen Liaisons mit anderen als ihren Ehefrauen hatten.

Die Ehe war ein Geschäft; Mätressen dienten dem Vergnügen. Viele Männer unterhielten eine zur reinen Unterhaltung und überhäuften sie mit Luxus. In der exquisiten und teuren Bildungsanstalt, in der Natalya ihre Kindheit zugebracht hatte, waren mehrere nichteheliche Mädchen gewesen, die dennoch ganz offiziell als Kinder eines oder beider adliger Eltern anerkannt gewesen waren.

Natalya vermutete, sie selbst könnte das Ergebnis einer solchen Liaison sein, obwohl niemand so etwas je angedeutet hatte. Sie hatte nie näher darüber nachgedacht, bis sie schließlich begann, an Bällen und gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen.

„Du musst lernen, wie man sich in der Gesellschaft bewegt“, hatte Mr. Pridham ihr gesagt. „Du musst lernen, zu tanzen und Konversation zu machen und in der Gesellschaft ungezwungen aufzutreten.“

Und sie hatte es gelernt. Sie genoss die Gesellschaft und das Tanzen, doch sie begriff auch, dass sie anders war. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie von den Sittenwächtern der Bather Gesellschaft, die ältere Mrs. Ancrum und die Grishams ausgenommen, mehr toleriert als akzeptiert wurde. Aus der Fassung brachte sie das ebenso wenig wie die Tatsache, nicht viele Freunde zu haben, denn sie war viel zu beschäftigt, um sich einsam zu fühlen, doch während die meisten Chaperons ihre Schützlinge ermuntert hätten, die Aufmerksamkeit passender Herren auf sich zu ziehen, taten die Pridhams alles, um jeden potentiellen Bewerber fernzuhalten.

Ihr Gedankengang wurde unterbrochen, da Mrs. Grisham mit rauschenden Röcken zu ihnen kam.

„Aber, aber, Mädchen, was sitzt ihr da und steckt die Köpfe zusammen? So lockt man keine Tanzpartner an! Jane, Mr. Carrey hier bittet dich um den nächsten Tanz.“ Sie deutete flüchtig auf den jungen Mann an ihrer Seite, der nun leicht errötete.

„In der Tat, Miss Grisham, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen?“

„Jetzt fort mit dir, Jane! Ich werde mich setzen und Miss Fairchild Gesellschaft leisten.“ Gutmütig lachend nahm sie den Platz ihrer Tochter ein und tätschelte Natalya die Hand. „Schön, schön, meine Liebe, hier herrscht ein rechtes Gedränge heute Abend, das muss man sagen; wenn du schön gerade sitzt und lächelst, meine Liebe, wirst du nicht lange auf einen Partner warten müssen. Ich weiß nicht, weshalb Alice Pridham zulässt, dass du dich hier in einer Ecke versteckst.“

„Meine Tante ist bei ihren Freunden, Ma’am, ich schlich mich davon, um mit Jane zu plaudern.“

Mrs. Grisham schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Auf diese Art wird man nicht bemerkt.“

„Wirklich, Ma’am, ich sitze gern hier.“

„Unsinn. Ein junges Ding wie du sollte auf der Tanzfläche sein! Ach!“, rief sie zufrieden, als sie aufblickte. „Und wir müssen nicht mehr länger darauf warten, will ich meinen!“

Mr. Pridham näherte sich in Begleitung eines Fremden, der die bewundernden Blicke sämtlicher Damen auf sich zog, während er den Saal durchschritt. Sofern er das Aufsehen bemerkte, das sein Erscheinen verursachte, ließ er es sich nicht anmerken. Sein Stil war nicht auffallend, vielmehr von zurückhaltender Eleganz, von den hellbraunen Haaren, modisch kurz geschnitten, bis hin zu den Spitzen seiner Tanzschuhe. Natalya fand keinen Makel an ihm. Sein dunkles Jackett schmiegte sich faltenlos um die breiten Schultern, die weiße, geknöpfte Weste an den flachen Bauch, enge Kniehosen und seidene Strümpfe umschmeichelten seine langen, kräftigen Beine.

Bei näherer Betrachtung war sein schmales Gesicht zweifellos attraktiv, doch er lächelte nicht und zog die dunklen Brauen zusammen, als sei er der Pflicht halber hier statt zum Vergnügen. Natalya bemerkte außerdem, wie merkwürdig ihr Onkel sich verhielt, wirkte er doch ausgesprochen unsicher, während er sie vorstellte.

„Natalya, meine Liebe. Lord Dalmorren wünscht, mit dir zu tanzen.“

Dalmorren. Den Namen hatte sie bereits gehört, nur wo? Sie blickte ihm erneut ins Gesicht. Er kam ihr bekannt vor, doch es war nur ein flüchtiger Eindruck, den sie als bloße Einbildung abtat.

Der Gentleman verneigte sich. „Ich wäre geehrt, wenn Sie mir diesen Tanz schenkten, Miss Fairchild.“

Natalya fand, die Weste aus Satin und das kompliziert gebundene Halstuch deuteten auf einen Mann von Welt hin, gut situiert und genussfreudig. Doch seine Stimme war ebenso ernsthaft wie sein Betragen, und seine harten, schiefergrauen Augen verrieten nichts. Er faszinierte sie sofort.

Zustimmend lächelnd erhob sie sich und legte ihre Hand auf seinen dargebotenen Arm. Der Ärmel aus feiner Wolle war weich wie Seide, doch darunter spürte sie stählerne Muskeln. Vielleicht war er ein Sportsmann, fühlte sich im Sattel wohler als in einem Ballsaal. Das würde sein kühles Auftreten erklären. Als aber der Tanz begann, bewegte er sich mit solch geschmeidiger Anmut, dass sie ein angenehmes Kribbeln durchrann und ihr Herz freudig hüpfte. Zumeist musste sie mit linkischen jungen Männern oder älteren Bekannten der Pridhams tanzen, und es war erfreulich, einmal einen so versierten Partner zu haben. Ihre Neugier wuchs weiter.

„Sind Sie erst seit Kurzem in Bath, Mylord?“

„Ich traf vor zwei Tagen ein.“

Seine Antwort fiel knapp aus, doch ihn entschuldigte, dass die Tanzabfolge sie gerade trennte. Als sie wieder zusammentrafen, versuchte sie es erneut.

„Sind Sie ein Bekannter meines Onkels?“

„Ich traf ihn nie zuvor.“ Natalya sah ihn überrascht an, und er fuhr fort: „Der Zeremonienmeister stellte uns einander vor, da ich mit Ihnen tanzen wollte.“

Er lächelte plötzlich, und beinahe hätte sie einen Schritt ausgelassen. Schnell wandte sie den Blick von ihm ab. Dieses Lächeln raubte ihr regelrecht den Atem. Es veränderte sein ganzes Gesicht, wärmte seine Augen, lud sie ein, zurückzulächeln. Es war eine völlig neue Erfahrung, die sie gleichermaßen ängstigte wie belebte. Ganz durcheinanderbrachte. Himmel, das war es also, was aus vernünftigen Frauen albern kichernde Dummchen machte. Sie hatte die anderen Mädchen immer dafür verspottet, und jetzt war sie es, die errötete und sprachlos war, bloß weil ein Mann sie anlächelte.

„Wie … wie schmeichelhaft“ war alles, was sie herausbrachte.

Glücklicherweise trennte der Tanz sie erneut, und sie setzte, wie sie hoffte, eine Miene höflichen Vergnügens auf. Nicht nur, um ihre eigene Verwirrung dahinter zu verbergen. Tante und Onkel Pridham gefiel es nicht, wenn sie zu viel Interesse an einem Gentleman zeigte, und sie würden genauestens beobachten, welchen Verlauf die Angelegenheit mit Lord Dalmorren nahm.

Nach zwei Tänzen führte Tristan seine Partnerin von der Tanzfläche und fragte sich, was Freddie bloß in Miss Fairchild sah. Sicherlich, sie tanzte graziös, und sie war eine dunkle Schönheit, daran bestand kein Zweifel. Sie war größer als der Durchschnitt und hatte eine gute Figur. Ihr Teint war makellos, und ihr hochgestecktes Haar schimmerte wie Rabenschwingen. Bei ihren Augen hatte Freddie unrecht gehabt, wie er jetzt dachte, sie waren nicht schwarz, sondern von einem sehr dunklen Braun.

Abgesehen von all dem aber ließ sie Persönlichkeit vermissen. Sie hatte während des Tanzes nichts als alltägliche Bemerkungen geäußert. Kein Unterschied zu den Debütantinnen, die einem in der Stadt begegneten. Eine altbekannte Langeweile überkam Tristan. Unter anderen Umständen hätte er sich verneigt, wäre gegangen und hätte die Kleine vergessen, doch laut Freddie handelte es sich dabei um die Frau, die er zu heiraten gedachte, und wenn er damit bei seiner Mutter herausplatzte, würde Katherine augenblicklich Tristan als zweiten Vormund um Rat fragen. Für diesen Fall musste er zweifellos irgendetwas vorzuweisen haben.

Er nahm sich vor, nachsichtig mit der jungen Dame zu sein. Vielleicht war sie schüchtern. Sie hatte so lebhaft gewirkt, als er sie mit ihrer Freundin reden und lachen gesehen hatte, doch es war gut möglich, dass diese Begegnung sie einschüchterte und sie sich erst ein wenig an seine Anwesenheit gewöhnen musste.

„Würden Sie mir einen weiteren Tanz gestatten, Miss Fairchild, ehe der Abend endet?“

„Ach, Mylord, das ist nicht möglich. Meine Tante und mein Onkel erlauben mir nie, mit jemandem mehr als zweimal zu tanzen.“

„Ich verstehe. Sehr löblich. Dürfte ich Sie dann morgen früh aufsuchen?“

Sie schien keineswegs geschmeichelt. Kein jungfräuliches Erröten, lediglich ein leichtes Kopfneigen und eine abweisende Antwort.

„Mrs. Pridham wird gewiss erfreut sein, Sie zu sehen, doch mich werden Sie nicht daheim antreffen. Ich habe morgen früh Zeichenunterricht.“

„Dann später am Tag.“

„Widme ich mich den Studien der Astronomie.“

„Mittwoch?“

„In den Morgenstunden habe ich Tanzunterricht und am Nachmittag Botanik. Und Dienstag“, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, „studiere ich Politik, derzeit Russlands Rolle im jüngsten Krieg.“

Tristan entfuhr eine Verwünschung, ehe er sie noch unterdrücken konnte, und sie lachte gedämpft.

„Oh weh! Bitte nehmen Sie das nicht persönlich, Mylord. Ich sage die reine Wahrheit. Ich bin in der Tat sehr ausgelastet.“

„Sollten Sie versuchen wollen, mich abzuschrecken, Miss Fairchild, gelingt Ihnen das vortrefflich!“

„Ist das so? Oje. Ich sage nichts als die Wahrheit. Meine Tante und mein Onkel sind sehr erpicht darauf, dass ich meinen Geist weiterbilde. Ich spiele auch regelmäßig Schach.“ Als sie zu ihm aufblickte, deutete nichts darauf hin, dass sie schüchtern war. „Verschreckt Sie der Gedanke an eine gebildete Dame, Mylord?“

Ihre Augen blitzten schelmisch, und in ihm regte sich plötzlich Besorgnis.

Bei Gott, dieser Blick ist bezaubernd! Kein Wunder, dass Freddie sich verliebt hat.

Er wollte antworten, ihr Gespräch noch fortführen, doch Mrs. Pridham platzte dazwischen.

„Ah, Natalya. Da bist du ja, meine Liebe!“

Er sah, wie die Freude aus ihren dunklen Augen wich.

„Vergiss nicht, dass Lord Fossbridge der nächste Tanz versprochen ist.“ Sie wandte sich mit einem gezwungenen Lächeln an Tristan. „Tut mir leid, sie Ihnen entführen zu müssen, Mylord, aber Sie wissen ja, wie das ist.“

In Gedanken ging er die Männer durch, die ihm an diesem Abend vorgestellt worden waren, und wenn er nicht irrte, war Fossbridge schon recht betagt und könnte gut Natalyas Großvater sein. Gewiss kein Rivale für ihn. Oder vielmehr, für Freddie, wie er sich sogleich korrigierte. Sein Interesse galt Miss Fairchild ausschließlich um seines Neffen willen.

Er verneigte sich. „Ich verstehe sehr gut, Ma’am. Miss Fairchild erzählte mir von ihrem Interesse an Astronomie. Darf ich so frei sein und Sie beide – und Mr. Pridham, versteht sich – einladen, mich am kommenden Freitag als meine Gäste zu Mr. Walkers Vortrag zu begleiten? Er findet in den Ausstellungsräumen in der Bond Street statt. Wie Sie wissen, Ma’am, kam ich erst kürzlich nach Bath, und eine solche Veranstaltung allein zu besuchen …“

Er ließ die Worte im Raum stehen, sein Tonfall suchte ihre Sympathie. Wie erhofft war Mrs. Pridham hin- und hergerissen zwischen einer kategorischen Absage und dem Wunsch, ihm diesen Gefallen zu erweisen.

„Oh – nun, das ist aber sehr freundlich von Ihnen, Mylord. Nun. Das ist …“

Tristan unterbrach sie kurzerhand. „Ihre Zusage freut mich außerordentlich, Ma’am. Ich hole Sie dann am Freitag rechtzeitig am Sydney Place ab.“

Er lächelte, verneigte sich und ging davon, ehe sie noch widersprechen konnte. Jetzt musste ihm nur noch einfallen, wo zur Hölle er die Ankündigung des Vortrags gesehen hatte, und Eintrittskarten ergattern, die er, derart kurzfristig, vermutlich zu einem völlig überteuerten Preis einem anderen Kartenbesitzer abschwatzen musste.

Grimmig murrte er: „Ich hoffe, du weißt das zu schätzen, Freddie. Ich hoffe, sie ist es wert!“

2. KAPITEL

Am Freitagabend ging Natalya gehorsam zur Absegnung ihres Äußeren ins Schlafgemach ihrer Tante. Einen Augenblick betrachtete sie sich selbst im Spiegel, dann drehte sie sich so schnell herum, dass die Röcke ihres rosafarbenen Musselinkleides hochwirbelten.

„Nun, Tante, ist es Ihnen recht so?“

Sie warf Mrs. Pridham einen trotzigen Blick zu, während diese sie kritisch beäugte.

„Sehr hübsch, meine Liebe“, äußerte sie schließlich.

Natalya zupfte an dem Schultertuch aus Spitze.

„Muss ich das wirklich tragen? Der Ausschnitt ist doch sittsam genug.“

„Dein Onkel und ich zögen es vor, wenn du heute Abend nicht jedermanns Aufmerksamkeit auf dich lenktest.“

„Wirklich, Tante, ich verstehe nicht, weshalb Sie mir modische Kleider kaufen, wenn Sie nicht wollen, dass ich Aufmerksamkeit errege.“

„Du musst dich in den Sitten der Gesellschaft üben, meine Liebe, und dazu gehört zu wissen, wie man sich vorteilhaft kleidet.“

„Doch aus welchem Grund, Ma’am?“, drängte Natalya weiter. „Auf welche Rolle werde ich vorbereitet?“

„Nun, auf die, eine Lady zu sein, was sonst?“ Ihre Tante wich Natalyas fragendem Blick aus. „Grundgütiger, ist es schon so spät? Lord Dalmorren wird jeden Augenblick eintreffen, und ich bin noch nicht fertig. Oh, nun, dann wird Mr. Pridham ihn unterhalten müssen!“

„Ich bin fertig, ich könnte hinuntergehen.“ Natalya wusste, ihr Vorschlag würde abgelehnt werden, aber sie machte ihn dennoch.

„Ohne Chaperon? Himmel, nein.“

„Aber warum nicht? Er wird mich kaum im Salon verführen, mit den Dienstboten gleich nebenan.“

„Jetzt ist nicht die Zeit für Frivolitäten, Natalya“, kam es barsch zurück. „Eine junge Dame kann mit ihrem Ruf nie vorsichtig genug sein, besonders nicht in deiner Lage. Und jetzt genug geschwätzt. Ab in dein Zimmer, ich muss mich fertig machen.“

Natalya ging, jedoch nicht in ihr Zimmer. Sie verweilte auf dem Treppenabsatz und blickte zum Fenster hinaus auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf der sich das satte Grün Sydney Gardens erstreckte. Das alles ergab keinen Sinn. Ihre Erziehung war ebenso gut, wenn nicht besser als die vieler junger Männer; Baths beste Modesalons fertigten ihre Kleider an, ungeachtet der Kosten, und das alles sollte nicht dem Zweck dienen, einen Ehemann für sie zu finden?

Als sie mit siebzehn die Schule verlassen hatte und zu den Pridhams nach Bath gezogen war, hatte sie ihrer Zukunft begierig und gespannt entgegengeblickt. Sie hatte gefragt, ob sie eine Saison in London mitmachen dürfe, doch man hatte ihr gesagt, das sei nicht nötig. Einen Grund dafür nannte man ihr nicht, es hieß nur, in Bath gebe es genügend Unterhaltung. Unterhaltung, ja, doch zu welchem Zweck? Sie lebte nun seit vier Jahren hier, und jeder Gentleman, der auch nur das leiseste Interesse an ihr bekundete, wurde regelrecht abgeschreckt.

Ihre Gedanken zerstreuten sich, als eine vierspännige Kutsche vor dem Haus hielt und Lord Dalmorren ausstieg. Sie lächelte, in Erinnerung daran, wie er Mrs. Pridham mit seiner Einladung überrumpelt hatte. Er hatte ihr gar nicht erst die Gelegenheit gegeben, etwas zu erwidern, eine Taktik, die Natalya gefiel, doch während er ins Haus ging, schwand ihr Lächeln. Nicht, weil sie nicht zu dem Vortrag wollte, sondern weil sie daran dachte, wie sie bei ihrem Tanz auf ihn reagiert hatte. Wie sein Lächeln ihr Herz in Aufruhr gebracht hatte. Sie würde sich nur schwerlich entspannen und den Abend genießen können, wenn sie wusste, dass ihre Tante und ihr Onkel sie beobachteten und belauschten, um auch noch das kleinste Anzeichen eines Flirts zwischen ihr und Lord Dalmorren mitzubekommen.

Wie verlangt, wartete Natalya, bis die Pridhams beide in den Salon gegangen waren, ehe sie selbst dort erschien. Als sie eintrat, sprach Lord Dalmorren mit ihrem Onkel und kam gerade noch dazu, seinen Kopf zu neigen, um Natalya zu begrüßen, als Mrs. Pridham auch schon vorschlug aufzubrechen, damit die Pferde seiner Lordschaft nicht länger im kalten Wind stehen müssten.

Mit zuvorkommender Höflichkeit half Lord Dalmorren den Ladies in die Kutsche. Während der kurzen Fahrt zur Bond Street sagte er nichts, und als sie die Ausstellungsräume betraten, setzte er sich ans Ende der Reihe neben Mr. Pridham. Natalya hätte erleichtert sein sollen, dass er so wenig Interesse an ihr zeigte. Stattdessen aber fühlte sie eine leise Enttäuschung. Doch weshalb nur? Sie hatte in den Gesellschaftsräumen nicht eben dafür gesorgt, sich bei ihm beliebt zu machen. Im Gegenteil sogar hatte er vermutet, sie wolle ihn abschrecken! Sie spähte die Reihe entlang. Er war in eine Unterhaltung mit ihrem Onkel vertieft. Vielleicht hatte er wirklich nur eine Begleitung für diesen Abend gesucht, obwohl es ihr schwerfiel zu glauben, dass ein so selbstbewusster Gentleman wie seine Lordschaft sich alleine unwohl fühlen würde. Er war ein Enigma, wie ihr Griechischlehrer sagen würde.

Während der Pause wurden in einem Nebenraum Erfrischungen und Getränke serviert. Es gab keine Sitzgelegenheiten, und die Pridhams wurden in dem Gedränge schon bald in eine Unterhaltung mit einem Bekannten verstrickt, sodass Natalya, ihre Teetasse in der Hand, mit Lord Dalmorren allein zurückblieb. Der Anstand gebot ihnen, nicht zu schweigen.

„Es ist wirklich sehr voll heute Abend“, bemerkte sie und sah sich um. „Nicht ein Platz ist noch frei. Sie hatten Glück, so kurzfristig vier Karten zu bekommen, Mylord, sie scheinen sehr begehrt gewesen zu sein.“

„Ein glücklicher Zufall, nicht wahr?“

Seine schlichte Antwort täuschte sie nicht, und sie konnte nicht widerstehen, ihn zu fragen, ob er die Karten vielleicht jemandem abgekauft hatte.

„Weshalb hätte ich einen solchen Aufwand betreiben sollen?“

„Das weiß ich nicht.“ Sie dachte ernsthaft über diese Frage nach. „Sie sind wohl kaum an mir interessiert.“ Ihre Blicke trafen sich, und sie errötete leicht. „Bitte glauben Sie nicht, dass sei falsche Bescheidenheit, ich weiß, ich glänzte beim Ball am Montag nicht gerade, und ich habe weder die Vorzüge edler Herkunft noch eines bemerkenswerten Vermögens.“

„Nein, in der Tat.“

Sie lachte unsicher. „Du meine Güte, das nenne ich freimütig. Sie sind sehr ehrlich, Mylord.“

„Bitte um Verzeihung, doch ich hatte den Eindruck, Sie schätzen Ehrlichkeit. Daher sehe ich mich auch verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass ich einzig nach Bath kam, um Sie ausfindig zu machen, nachdem ein junger Verwandter Sie mir gegenüber erwähnte. Frederick Erwin.“

„Oh, Mr. Erwin!“ Jetzt wusste sie wieder, wann sie Lord Dalmorrens Namen schon einmal gehört hatte, ebenso erklärte sich, weshalb er ihr bekannt vorgekommen war. Freddies Augen waren eher blau als grau, und sein Haar war heller, doch es gab eine untrügliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Sie lächelte. „Ich hoffe, er ist wohlauf.“

„Das ist er. Er besucht gerade seine Mutter in Surrey.“

„Oh. Ich dachte, er wollte in die Hauptstadt.“

„Nein, er kam zu mir nach Dalmorren. Er ist mein Mündel. Seine Mutter und ich teilen uns die Vormundschaft und verwalten sein Erbe, welches er übrigens erst in vier Jahren antreten wird.“

Sie begann zu begreifen und war empört. „Sagen Sie mir das für den Fall, dass ich bezüglich Freddie … Pläne hege?“

Ihr entging der überraschte Blick nicht, als sie ihn beim Namen nannte. Doch weshalb sollte sie das nicht tun? Sie und Freddie waren Freunde, und es war Seiner Lordschaft Fehler, wenn er annahm, zwischen ihnen sei mehr. Wie konnte er nur derart anmaßend sein!

„Und, ist es so?“, fragte er herausfordernd, und Ärger flammte in ihr auf, doch ehe sie antworten konnte, war Mrs. Pridham an ihrer Seite, und sie musste sich damit zufriedengeben, diesem unverschämten Mann bloß einen tadelnden Blick zuzuwerfen.

„Die Leute kehren schon zu ihren Sitzen zurück, Natalya. Wollen wir?“

Es gab keinerlei Gerangel um die Sitzplätze, aber Natalya konnte hinterher nicht mehr nachvollziehen, weshalb sie plötzlich zwischen Lord Dalmorren und den Pridhams saß. Ein Blick genügte, und sie wusste, wie sehr ihnen diese Situation missfiel, doch da ihre Tante es verabscheute, Unruhe zu verbreiten, bestand sie nicht darauf, jetzt noch die Plätze zu tauschen. Trotzig hob Natalya das Kinn und blickte demonstrativ zum Rednerpult, während sie wartete, dass der Vortrag weiterging.

„Um unsere Unterhaltung fortzuführen“, sagte Lord Dalmorren leise, „ich wollte wissen, wie gut Sie meinen Neffen kennen.“

„Mr. Erwin ist ein charmanter Gentleman, wir sind Freunde.“ Sie wollte anmerken, dass sie wirklich nicht mehr als das waren, als ihre Tante ihr mit dem Fächer einen knappen Klaps auf den Arm gab.

„Still jetzt. Mr. Walker spricht.“

Natalya verfiel in Schweigen. Sie versuchte, sich auf den Redner zu konzentrieren, doch die Sitze waren nah beieinander, und sie war sich Lord Dalmorrens Gegenwart quälend bewusst. Die kleinste Bewegung, und ihre Schulter streifte seinen Ärmel. Sie konnte nicht anders, als seine muskulösen Oberschenkel zu betrachten, nur wenige Zoll von ihren entfernt. Der Mann war wie ein Magnet, der sie stetig anzog, und es kostete sie Mühe, sich nicht einfach an ihn zu lehnen. Ein verstörender Gedanke, der sie zudem ärgerte, denn sie hielt sich für eine kluge, vernünftige junge Frau. Sie neigte nicht zu Fantastereien und hatte ihre Schulfreundinnen oft genug verspottet, wenn sie sich schmachtend nach einem Mann verzehrt hatten.

Entschlossen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit zu Mr. Walker. Die einzigen Sterne, die sie interessierten, befanden sich am Nachthimmel, nicht in ihren Augen!

Trotz ihrer Bemühungen gelang es Natalya in den kommenden Tagen nicht, Lord Dalmorren zu vergessen. Sie erwischte sich dabei, sogar fast ununterbrochen an ihn zu denken. Wenn ihn jemand den Pridhams gegenüber erwähnte, spitzte sie sogleich die Ohren. Sie erfuhr, dass die Dalmorrens eine lange Familienhistorie hatten und sehr reich waren. Die Pridhams konnten also weder die Abstammung noch das Vermögen beanstanden. Weshalb waren sie dann einer näheren Bekanntschaft so abgeneigt? Und warum behandelten sie sie nahezu wie eine Gefangene?

Natalya war stets in Begleitung eines Chaperons, doch in der Woche nach Mr. Walkers Lesung begleiteten die Pridhams sie höchstpersönlich zu und von sämtlichen Unterrichtsstunden. Mr. Pridham entschied sogar, auf sämtliche Abendveranstaltungen zu verzichten. So verging mehr als eine Woche, ehe sie und Lord Dalmorren sich wiedertrafen.

Sie sah ihn während des Balls, der jeden Montag in den Gesellschaftsräumen stattfand. Er stand auf der anderen Seite des Saals, und sie dachte schon, er ignoriere sie. Schließlich hatte er seit dem Vortrag nicht ein Mal im Haus vorgesprochen und keine Versuche unternommen, sie zu treffen. Er hatte geglaubt, sie wolle Freddie heiraten, und nun, da er wusste, dass dem nicht so war, kein Interesse mehr an ihr.

Bei diesem Gedanken regte sich heftige Enttäuschung in ihr. Nicht, weil sie Gefallen an ihm fand, wie sie sich selbst sagte, sondern weil es, seit Freddie Bath verlassen hatte, nur noch wenige junge Herren zum Tanzen gab und gewiss keinen so kultivierten wie Lord Dalmorren. Das war alles. Der ganz gewöhnliche Wunsch, mit jemandem tanzen zu dürfen, der weder ein Schuljunge noch über achtzig war.

Tante Pridham zwickte ihr in den Arm. „Lord Dalmorren kommt her“, zischte sie. „Nachdem wir seine Einladung zu Mr. Walkers Vortrag angenommen hatten, konnten wir nicht ablehnen, als er um einen Tanz mit dir bat. Wer weiß, vermutlich muss er sich bloß irgendwie beschäftigen, während er in Bath weilt, doch du wirst ihn in keiner Weise zu irgendetwas ermutigen, Natalya, hast du gehört?“

Und da stand er schon vor ihnen, lächelnd und noch viel attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte.

„Ich glaube, dieser Tanz gehört uns, Miss Fairchild.“

Sie reckte das Kinn, und der kleine rebellische Funke in ihr glühte etwas heller. Weshalb sollte sie Lord Dalmorren denn nicht ermutigen? Weshalb sollte es ihr verwehrt bleiben, die Aufmerksamkeit eines Mannes zu genießen, vielleicht sogar ein wenig zu flirten, wenn es sich anbot? Was konnte es denn schaden?

Dann lächelte er, und sein Charme traf sie mit geballter Kraft. Ihre rebellische Gesinnung löste sich auf wie Nebelschwaden im Angesicht der Sonne. Seine Gegenwart machte sie derart nervös, dass sie schon fürchtete, nicht mehr tanzen zu können, ganz zu schweigen davon, mit ihm zu flirten!

Natalya legte eine Hand auf seinen Arm und ließ sich auf die Tanzfläche führen, wie schon zwei Wochen zuvor. Dieses Mal allerdings war sie sich ihres schnell schlagenden Pulses und auch seiner Gegenwart weitaus bewusster. Allein die Berührung seiner Hand ließ sie erbeben, und es lag nicht an den wachsamen Blicken von Onkel und Tante, dass sie sich auf jeden Schritt konzentrieren musste. Sie war unbeholfen und wortkarg, als fürchte sie, in Flammen aufzugehen, wenn sie sich erlaubte, diesen Tanz einfach nur zu genießen. Ihre Konversation beschränkte sich auf Alltägliches, und ihre Antworten blieben einsilbig. Als er sie am Ende des Tanzes vom Parkett geleitete, fühlte sie sich ganz elend. Sollte er sich irgendwie zu ihr hingezogen gefühlt haben, war es damit nun sicher vorbei.

Und das ist auch gut so, sagte sie sich selbst, während er sich entfernte und Verena Summerton um den nächsten Tanz bat. Tante und Onkel sagten mir, er sei nur in Bath, um sich zu amüsieren, was ich bereits wusste. Er selbst sagte mir, er sei in Bath, um herauszufinden, ob ich eine geeignete Braut für seinen Neffen bin. Nein, mein Mädchen. Du magst ihn charmant und amüsant und faszinierend finden, doch du solltest dich besser von ihm fernhalten, wenn du nicht erleben willst, wie du des Nachts in die Kissen weinst!

Das war ein nobler Vorsatz, und bis zum Ende des Abends fiel es Natalya leicht, ihn zu befolgen. Sie hatte keinen Partner für die letzten beiden Tänze, und die Pridhams winkten ihr vom anderen Ende des Saals. Sie ging eben um die Tanzfläche herum, als Lord Dalmorren ihr in den Weg trat.

„Würden Sie mir die Ehre des nächsten Tanzes erweisen, Miss Fairchild?“

Du hast noch eine Chance. Er will noch einmal mit dir tanzen!

Sie hätte ablehnen sollen, doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen, denn er lächelte sie an, und sie wollte nichts lieber, als mit ihm zu tanzen. Schweigend reichte sie ihm die Hand und ließ sich an einen noch freien Platz führen, als die Paare sich aufstellten.

Natalya heftete ihren Blick auf den obersten Knopf seiner Weste und wagte es nicht, zu den Pridhams zu schauen. Sie würden sehr verärgert sein, und sie würde auf der Heimfahrt eine Standpauke über sich ergehen lassen müssen. Doch das war später. Jetzt war sie entschlossen, es zu genießen. Sie würde ihm zeigen, dass sie kein einfältiges Gänschen war. Sie würde ihn mit ihrer Klugheit und ihrem Witz beeindrucken. Wenn sie denn den Blick von seiner Weste lösen konnte.

„Ich glaube, ich begegnete nie einer Lady, die so beschäftigt ist“, bemerkte er, während sie darauf warteten, dass die Musik einsetzte. „Jede Stunde Ihres Tages scheint belegt zu sein.“

„Meine Tante und mein Onkel legen viel Wert auf meine Bildung.“

„Und dabei scheinen sie sehr konsequent zu sein. Haben Sie niemals Zeit für sich?“

„Sie sind sehr bemüht, nur die besten Lehrer anzustellen. Selbst die Teilnahme an Veranstaltungen wie dieser gehört zu meiner Erziehung.“

„Bei Gott, wirklich?“

„Nun ja. Jede junge Lady muss tanzen können.“

„Jede junge Lady muss vernünftige Konversation betreiben können.“

Das traf sie, mehr noch, da es gerechtfertigt war. Natalya warf ihm einen wütenden Blick zu, doch der Tanz begann und zwang sie zu schweigen, während sie sich trennten und drehten und einherschritten, doch als der Tanz sie wieder zusammenführte, versicherte sie ihm augenblicklich, dass sie sehr wohl in der Lage sei, sich vernünftig zu unterhalten.

„Jeder Versuch, sich in den Ausstellungsräumen mit Ihnen zu unterhalten, wurde von ihrem Onkel und ihrer Tante vereitelt. Wie soll eine Bekanntschaft unter diesen Umständen gedeihen?“

Zu ihrem Glück trennte der Tanz sie erneut, denn Natalya spürte, wie sie in einem Anflug irrationaler Freude errötete. Konnte es sein, dass er, trotz ihrer kläglichen Bestrebungen, eine Unterhaltung zu führen, näher mit ihr bekannt sein wollte? Der Gedanke nagte noch an ihr, als sich der Tanz dem Ende neigte.

Sie erwartete schon, ihr Onkel würde sie nun von der Tanzfläche zerren, doch als das nicht geschah, stand sie, erneut sprachlos, da und wartete darauf, dass der zweite Tanz begann.

„Ich gebe zu, eine Vorlesung ist kaum der richtige Ort für müßiges Geplauder“, fuhr Lord Dalmorren fort, als sei ihr Gespräch nie unterbrochen worden. „Doch eine Diskussion sollte folgen, vielleicht sogar eine Debatte, wenn der Vortrag interessant genug war. Wird Ihnen niemals gestattet, mit jemandem zu reden?“

„Oh doch! Ich bin keine Gefangene.“

Als sie das sagte, merkte Natalya selbst, wie wenig das auf die vergangenen Wochen zutraf. Sie warf einen Blick zu den Pridhams, die sie mit unverhohlener Wut beobachteten. Sie wusste, man hielt sie sehr kurz, doch bisher hatte sie das nicht gekümmert. Ihre Freunde hatten ihr von Tändeleien erzählt, von gestohlenen Augenblicken und heimlichen Treffen, verborgen vor den kritischen Augen eines Chaperons, doch Natalya hatte selbst nie den Wunsch verspürt, sich davonzuschleichen, um jemanden zu treffen.

Bis jetzt. Der Gedanke war beunruhigend, und doch konnte sie ihn nicht ignorieren. Ihr kleiner rebellischer Funken war noch nicht ganz erloschen. Als die Musik endete und ihr Partner sie vom Parkett führte, atmete sie tief durch.

„Morgen sollte ich eine Stunde in Kunsterziehung haben“, erwähnte sie. „Aber mein Tutor ist zu seiner Familie nach Bristol gereist. Wenn das gute Wetter sich hält, werde ich mit Jane Grisham hinauf zum Beechen Cliff wandern, um den Ausblick auf die Stadt zu zeichnen.“

Himmel, was tat sie da bloß? Es war, als wäre sie zwei Personen, von denen die eine die andere entsetzt beobachtete. Selbst der Anblick der Pridhams, die sie mit bösen Blicken erwarteten, konnte sie nicht aufhalten. Schockiert hörte sie sich mit beinahe unschuldiger Lässigkeit weitersprechen.

„Janes Zofe wird uns begleiten, aber die arme Frau ist nach dem Aufstieg immer so müde, dass sie ausnahmslos einschläft.“

„Tatsächlich, Miss Fairchild?“

In seinem Ton klang ein Hauch Neckerei mit, doch aus Angst zu erröten, wagte sie nicht, zu ihm aufzusehen. Sie hatten die Pridhams fast erreicht. Natalya ließ seinen Arm los und stellte sich neben ihre Tante, die erbost mit der Fußspitze auf den Boden tappte und Lord Dalmorren einen eisigen Blick zuwarf. Von diesem kalten Empfang unbeeindruckt, wechselte er einige Worte mit Mr. Pridham, dann verneigte er sich lächelnd und zog sich zurück.

Natalya sah ihm nach und fragte sich, ob sie ihn wirklich am nächsten Morgen auf Beechen Cliff treffen wollte, und es war eben jene Frage, und nicht das Donnerwetter ihrer Tante, das ihr eine schlaflose Nacht bescherte.

3. KAPITEL

Es war erst Anfang Mai, doch es fühlte sich an wie Hochsommer. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, als Tristan sich auf den Weg nach Beechen Cliff machte. Während er hinauf zu dem berühmten Aussichtspunkt stieg, war sein Gewissen alles andere als rein. Was um alles in der Welt dachte er sich nur dabei, sich auf ein heimliches Treffen mit einer jungen Frau einzulassen, von der er nur so wenig wusste? Das war nicht das Verhalten eines Gentlemans. Er rechtfertigte es damit, es Freddie schuldig zu sein, mehr über Miss Fairchild herauszufinden, denn deren Vormünder spielten ihre Rolle mit ganzer Inbrunst.

Stirnrunzelnd dachte er über die vergangenen zwei Wochen in Bath nach. Er hätte Freddie fragen sollen, wie zum Henker es ihm gelungen war, sich so weit mit Natalya Fairchild bekannt zu machen, dass er sich in sie verlieben konnte. Hatte sie sich auch mit ihm heimlich getroffen?

Dann fiel ihm auf, dass er einzig Natalyas Wort hatte, in Begleitung von Freunden zu sein. Was, wenn sie allein war und dieses Treffen eine ausgeklügelte List, um ihn in die Ehefalle zu locken? Es wäre nicht das erste Mal, dass eine skrupellose Dame versuchte, ihn einzufangen. Einer der Gründe, weshalb er so wenig Zeit in London verbrachte, wo er als lediger Mann das Ziel sämtlicher kupplerischer Eltern war. Er kräuselte die Lippen. Sollte das Natalya Fairchilds Anliegen sein, würde sie ihren Fehler schon sehr bald erkennen, und es würde beweisen, dass sie nicht als Ehefrau für Freddie taugte.

Als er den Hügel erklommen hatte, musste er zugeben, dass der Aufstieg die Mühe wert war. Was immer heute noch geschehen würde, diesen Blick auf Bath – die Stadt zu seinen Füßen, die majestätisch daraus aufragende Abbey, den glitzernden Fluss – würde er immer in Erinnerung behalten.

Leise Stimmen und Gelächter weckten seine Aufmerksamkeit. Nicht weit entfernt saß Natalya mit einer Freundin im Gras, die Skizzenblöcke auf den Knien, ein Stück dahinter lag, lang ausgestreckt, eine dralle Zofe und schlief. Die Damen trugen Sonnenhüte, um ihren Teint zu schützen, eine von ihnen hatte sorgsam über dem Kopf der Zofe einen Sonnenschirm aufgestellt.

Es war ein unschuldiges Bild, und ein außenstehender Beobachter mochte meinen, er sei bloß ein Gentleman auf einem Spaziergang, der rein zufällig vorbeikam. Es beruhigte ihn, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Tristan brachte sein Gewissen zum Schweigen und trat näher.

„Guten Morgen, Miss Grisham, Miss Fairchild.“

„Oh, Lord Dalmorren.“ Ihre gespielte Überraschung täuschte ihn nicht und, ihrem zweifelnden Blick nach zu urteilen, auch ihre Begleitung nicht, die von ihrem Skizzenblock aufsah und ihn begrüßte.

„Sind Sie hier, um die Aussicht zu genießen, Mylord?“

„So ist es. Sie wurde mir empfohlen. Sehr nachdrücklich.“ Er lächelte Natalya an, die leicht errötete.

„Ein warmer Morgen, nicht wahr, Mylord?“, bemerkte Miss Grisham. „Vielleicht möchten Sie uns eine Weile Gesellschaft leisten. Sie möchten sich nach dem Aufstieg gewiss ausruhen.“

„Vielen Dank, sehr gerne.“ Er setzte sich zwischen ihnen ins Gras. „Aber lassen Sie sich durch mich bitte nicht ablenken. Ich bleibe einfach hier sitzen und genieße die … äh … Szene.“

Miss Grisham kicherte, Natalya aber schwieg und widmete sich ihrer Zeichnung umso intensiver.

Großer Gott, dachte er entrüstet. Habe ich das eben wirklich gesagt? Ich klang wie ein ausgemachter Schuft!

Das war für gewöhnlich ganz und gar nicht sein Stil. Er verfiel in Schweigen. Immerhin hatte er ihnen versprochen, sie nicht zu stören, richtig? Eine Weile störte sie dann auch nichts, außer das Vogelgezwitscher, das Summen der Bienen und das leise Schnarchen der Zofe, bis Miss Grisham irgendwann ihre Stifte und den Block aufnahm.

„Ich möchte die Aussicht aus einem anderen Winkel einfangen, der Busch dort drüben verdeckt zu viel.“

Sie stand auf und setzte sich in einiger Entfernung wieder hin. Tristan schalt sich einen Dummkopf. So ein offensichtlicher Trick, ihn mit Natalya alleine zu lassen! Sie musste das geplant haben. Zum Teufel, das kleine Biest war hartgesotten.

Doch als er ihr Gesicht betrachtete, revidierte er diesen Gedanken. Entweder war sie eine besonders gute Schauspielerin, oder sie fühlte sich wahrhaftig ebenso befangen wie er selbst. Sein Ärger verflog, und er zuckte innerlich die Schultern. Er hatte nach einer Möglichkeit gesucht, sie besser kennenzulernen, also sollte er sie lieber nutzen.

Er begann mit einer Bemerkung über den Astronomievortrag, und als sie darauf einging, sprach er weiter, und das Gespräch nahm langsam Fahrt auf, etwas unsicher zunächst, doch nach und nach wurde es leichter, und bald schon plauderten sie wie alte Freunde. Sie kamen von Astronomie zu Geschichte und Politik, dann zu dem kürzlich beendeten Krieg mit Bonaparte. Als sie ihn fragte, ob er zu der großen Friedensfeier nach London gehen würde, verzog er das Gesicht.

„Meine Mutter und meine Schwester waren gerade in London und schrieben mir von den ungeheuren Menschenmassen. Ich ziehe allerdings die Ruhe auf dem Land einem solchen Spektakel vor.“

Sie kicherte in sich hinein. „Ich kann mir vorstellen, dass die Anwesenheit der verbündeten Herrscher in London für einigen Aufruhr sorgen wird.“

„Die Stadt wird aus allen Nähten platzen. Werden Sie hingehen?“

„Nein. Ich dachte, mein Onkel würde gehen wollen, da er das Kriegsgeschehen mit großem Interesse verfolgte, besonders die russischen Kampfhandlungen. Er ließ sich extra Zeitungen aus London schicken. Doch er sagte, wir bleiben in Bath.“

„Und bedauern Sie das?“

Sie dachte einen Moment nach.

„Ich würde mir gerne die Prozession ansehen, die Ankunft der Anführer, von denen ich so viel gelesen habe. Es ist ein besonderer Augenblick in der Geschichte.“ Sie verstummte, ihr Blick wehmütig, dann schüttelte sie den Kopf und gab ein kleines Lachen von sich. „Nicht dass ich dort aus einem besonderen Grund sein wollte. Ich wäre nur eine unter vielen. Also, so betrachtet werde ich nicht bedauern, hier bei meinem Onkel und meiner Tante zu bleiben.“

„Sind die Pridhams Ihre einzige Familie?“

„Sie sind meine Vormünder“, sagte sie vorsichtig. „Soweit ich weiß, bin ich eine Waise.“

Ihre Wortwahl weckte seine Neugier. „Sie wissen es nicht sicher?“

„Nein. Ich weiß nichts über meine Eltern.“

Da ihr nicht ganz wohl bei seinen Fragen zu sein schien, beließ er es zunächst dabei. Still genoss er die Sonne und sah zu, wie Natalya mit geschickten, gleichmäßigen Strichen den Stift über das Papier gleiten ließ. Als sein Blick zu ihrem Profil wanderte, dachte er, dass sie selbst ein hübsches Bild abgäbe. Die kleine gerade Nase, das zierliche Kinn und die hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine Schönheit, die weit über ihre Jugend hinaus bestehen würde.

Seine Lippen zuckten.

Ich habe Freddie unterschätzt, dachte er. Der Bursche hat guten Geschmack bewiesen.

Natalya sah auf. „Amüsiert Sie etwas, Mylord?“

„Nein, nein“, stritt er schnell ab. „Ich dachte nur an etwas. Sie malen sehr gut.“

„Vielen Dank. Landschaften kann ich besser zeichnen als Menschen. Mein Lehrer verzweifelt an meinen Porträts.“

„Meine Schwester konnte nie die Perspektive bewältigen.“

„Kommen Sie aus einer großen Familie, Mylord?“

„Ich habe nur eine Schwester.“

„Und sie ist Freddies Mama?“

„Das scheint Sie zu überraschen?“

Sie errötete. „Bitte verzeihen Sie, es ist nur … sie muss um einiges älter sein, als Sie.“

„Das stimmt. Katherine ist sechzehn Jahre älter. Uns trennten fünf weitere Geschwister, doch keines überlebte das Säuglingsalter.“

„Oh, wie traurig für Ihre Eltern. Und für Sie. Das brachte Sie Ihrer Schwester gewiss näher.“

Er zuckte die Schultern. „Eigentlich nicht. Ich war fünf, als sie Erwin heiratete. Ich sah mehr von Freddie als seine Eltern. Er ist Katherines einziges Kind, und als sein Vater vor vier Jahren starb, bekamen wir beide die Vormundschaft. Erzählte er das nicht?“

„Nein.“ Sie fügte ihrem Bild einige weitere Linien hinzu, dann betrachtete sie das Ergebnis. „Wir stehen uns nicht so nahe, wie Sie glauben mögen, Mylord.“

„Nicht? Ich hatte den Eindruck, Sie beide gingen einen Bund ein.“

Darüber lachte sie. „Himmel, nein. Wie kommen Sie nur auf diese Idee?“

„Oh, bloß, weil Freddie mir gegenüber so etwas erwähnte.“

„Dann verstanden Sie ihn falsch, Mylord. Wir sind nur Freunde, mehr nicht. Wenn Ihr Neffe anders darüber denkt, tut es mir sehr leid. Ich versichere Ihnen, ich täuschte ihn nicht willentlich.“

„Ich danke für diese Klarstellung, Miss Fairchild.“ Die Erleichterung, die er daraufhin verspürte, erschütterte ihn, und er hatte das Bedürfnis, sich zu erklären. „Freddie vertraut mir sehr, verstehen Sie? Und ich hege große Zuneigung zu ihm. Ich nehme nicht nur meine Verantwortung als sein Vormund sehr ernst.“

„Ich bin froh, das zu hören. Doch, verzeihen Sie …“ Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, „… Sie erscheinen mir sehr jung, um irgendjemandes Vormund zu sein.“

Ihre Worte klangen unschuldig, doch er hatte das bestimmte Gefühl, dass sie ihn necken wollte.

Etwas steif antwortete er: „Ich bin schon seit vielen Jahren das Oberhaupt meiner Familie.“

„Dann erbten Sie diesen Titel wohl schon als Schuljunge“, bemerkte sie. „Wie alt sind Sie?“

Ihre verdammte Unverfrorenheit!

„Das geht Sie zwar nichts an“, brummte er. „Aber ich bin achtundzwanzig.“

„Und Freddie ist noch keine einundzwanzig“, erwiderte sie fröhlich. „Genauso alt wie ich. Er ist viel zu jung, um über eine Heirat nachzudenken.“

„Aber Sie sind es nicht?“

Sie starrte konzentriert auf ihren Skizzenblock.

„Glauben Sie mir, Mylord, ich verschwende keinerlei Gedanken an die Ehe.“

Die Stimmung änderte sich. Sie war ernst geworden, und es tat ihm leid. Er schlug einen leichteren Ton an.

„Ich war der Annahme, dies sei der einzige Gedanke im Kopf einer jungen Lady.“

„Nicht in meinem!“ Sie rutschte mit dem Stift aus und zog eine kleine zackige Linie aufs Papier. Bestürzt ächzte sie auf. „Oh nein, jetzt ist es ruiniert!“

„Keineswegs. Sie können einen Vogel daraus machen, Miss Fairchild.“ Er streckte die Hand aus. „Darf ich?“

Sie gab ihm Stift und Block und sah zu, wie er aus der Linie geschickt eine Schwinge zauberte und mit ein paar weiteren Linien ein Vogel daraus wurde, der hoch über den Dächern schwebte.

Sie lachte. „Er hat vielleicht eher die Größe eines Adlers als einer Taube, doch sie retteten mein Bild. Wie klug von Ihnen.“

Sie wollte ihm den Block wieder abnehmen, doch Tristan hielt ihn fest.

„Ich würde gerne etwas mehr von Ihrer Arbeit sehen.“

Sie seufzte leise, als er begann, die Seiten umzublättern.

„Sie finden es sicher recht gewöhnlich. Mein Lehrer sagt, ich solle mehr üben …“

Ihre Worte verklangen, als er eine weitere Seite umblätterte und ihm das Porträt seines Neffen entgegenblickte. Er sah sie an, die Zähne aufeinandergebissen.

„Sie und mein Neffe sind also bloß Freunde, Miss Fairchild?“

Bestürzt betrachtete Natalya das Porträt. Ihr war noch nie zuvor eine so große Ähnlichkeit zum Modell gelungen. Es war deutlich als Freddie Erwin zu erkennen, auch wenn es keineswegs perfekt war. Das Gesicht war zu schmal, die Züge zu scharf definiert, eine kräftige Kinnlinie und eine gerade Nase, der Mund empfindsam, aber entschlossen.

„Sie zeichnen den Mann, den Sie sehen wollen“, hatte ihr Zeichenlehrer jedes Mal gesagt, wenn er ihre Porträts begutachtete. „Den Mann ihrer Träume vielleicht?“

Ihr sank das Herz. Sie hatte Freddie viel erwachsener und stattlicher gezeichnet, als er in Wirklichkeit war. Ein glücklicher Zufall, von dem Freddie sehr erfreut gewesen war, doch sein Onkel war offenbar weniger begeistert. Sie versuchte sich an einer Erklärung.

„Es entstand auf einer Zeichenparty im Hause der Grishams. Freddie fragte mich, ob er für mich sitzen dürfte. Fragen Sie Jane, sie wird es bestätigen!“

Sie hasste es, so verteidigend zu klingen. So schuldbewusst. Lord Dalmorren betrachtete immer noch die Zeichnung und machte keinerlei Anstalten, ihre Freundin zu rufen, um ihre Geschichte bestätigen zu lassen.

„Es mag noch nicht ausgearbeitet sein, Madam, doch es ist eindeutig zu erkennen. Und es ist sehr schmeichelhaft und viel besser als die anderen Zeichnungen. Ich vermute, Sie hatten viel Übung an Ihrem Modell.“

„Nein! Es war reiner Zufall, dass es mir so gut gelang!“

„Soll ich das glauben? Dazu ist es aber viel zu gut.“ Er blätterte durch die restlichen Seiten. „Sie haben ein halbes Dutzend Damen, doch keinen einzigen anderen Herrn gezeichnet. Das spricht für sich.“

„Es spricht für gar nichts!“, gab sie zurück und nahm ihm den Block aus den Händen. „Schauen Sie genauer hin, dann sehen Sie, wo ich Seiten herausgerissen habe, weil die Bilder nicht zufriedenstellend genug waren, um sie zu behalten! Sie haben sich einfach entschlossen, das Schlimmste von mir zu denken.“

„Ganz im Gegenteil; als ich herkam, war ich fest entschlossen, gut von Ihnen zu denken.“

„Ich gebe nichts auf Ihre Meinung!“ Sie sprang auf und sammelte eilig ihre Sachen ein. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Lord Dalmorren, und bitte Sie nun zu gehen!“

Natalya machte auf dem Absatz kehrt und eilte zu Jane, die ganz in ihre Zeichnung versunken war. Als Natalya sich neben sie setzte, sah sie auf.

„Himmel, Lya, du siehst aus, als wolltest du jemanden umbringen! Was sagte Lord Dalmorren zu dir?“ Neugierig neigte sie sich näher. „Flirtete er mit dir?“

„Pscht!“ Natalya warf einen Blick zu der Zofe, um Zeit zu gewinnen und sich zu vergewissern, dass sie noch schlummerte.

Gerne hätte sie ihrer Entrüstung Luft gemacht, doch das wäre nicht klug. Jane war ein Jahr jünger als sie und keine gute Vertraute. Sie hatte Jane immer um ihre enge Bindung zu ihrer Mutter beneidet, doch sie wusste auch, dass ihre junge Freundin Mrs. Grisham jedes Geheimnis unverblümt anvertraute, und wenn die Pridhams von ihrer Begegnung mit Lord Dalmorren erfuhren, wer wusste schon, was sie dann taten? Sie musste ihrem Ärger also ein anderes Ventil geben.

„Für ihn sah es gewiss aus, als wäre eben das meine Absicht gewesen. Wirklich Jane, du hättest nicht gehen und mich mit ihm alleine lassen dürfen!“

„Aber ich dachte, das wäre dir recht“, entgegnete Jane verwirrt.

„Nein! Ich wollte mich nur mit ihm … unterhalten, ohne dass meine Tante und mein Onkel über jede Silbe wachen!“

„Nun, die Möglichkeit hattest du ja. Und nebenbei, so wie Lord Dalmorren davonstürmte, würde ich sagen, ihr habt euch fürchterlich gezankt.“ Sie seufzte und legte eine Hand auf Natalyas Arm. „Oh, sag schon, Lya, was ist geschehen?“

Natalya biss sich auf die Lippe. „Er war … beleidigend.“

Jane machte große Augen. „Was sagte er?“

„Es … war weniger, was er sagte“, stammelte sie. „Er … ihm gefielen meine Zeichnungen nicht.“

Das war eine wahrhaft schlechte Ausrede, und sie erwartete schon, ihre Freundin würde es hinterfragen, doch Jane nahm es anstandslos hin.

„Wie ungalant von ihm! Und ungerecht. Du bist eine der besten Künstlerinnen, die ich kenne, Lya. Zweifellos hält er sich für überlegen.“

„Nein, nein!“ Schon bereute sie, etwas gesagt zu haben. „Ich glaube, er war bloß ehrlich.“ Sie versuchte es mit einem Lachen abzutun. „Ich bin so daran gewöhnt, für meine Arbeit gelobt zu werden, dass i...

Autor

Sarah Mallory
Schon immer hat die in Bristol geborene Sarah Mallory gern Geschichten erzählt. Es begann damit, dass sie ihre Schulkameradinnen in den Pausen mit abenteuerlichen Storys unterhielt. Mit 16 ging sie von der Schule ab und arbeitete bei den unterschiedlichsten Firmen.
Sara heiratete mit 19, und nach der Geburt ihrer Tochter entschloss...
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