Hochzeitsnacht mit einem Lord

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Ist dieser geheimnisvolle Fremde wirklich ihr Retter in der Not? Julia ist auf der Flucht vor dem Mann, der sie ruiniert hat - und so verzweifelt, dass sie das schockierende Angebot von Lord Dereham annimmt: Da er bald sterben wird, sucht er eine Verwalterin für sein Vermögen … dafür muss sie allerdings seine Frau werden! Die Ehe erscheint Julia als der perfekte Ausweg aus ihrer Misere. Doch dann steht der fremde Lord, der nun ihr Ehemann ist, nach drei Jahren plötzlich wieder vor ihr. Und er will alles, was ihm gehört. Auch die Hochzeitsnacht, die sie nie hatten …


  • Erscheinungstag 16.05.2017
  • Bandnummer 0576
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768003
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

16. Juni 1814
Queen’s Head Inn, Oxfordshire

Geschmeidig sprang er auf, über seinen nackten Körper glitt flackerndes Kerzenlicht. Nur aus Kraft und maskuliner Arroganz schien er zu bestehen, während er ein Glas mit rubinrotem Wein füllte und es in einem Zug leerte.

In seinen Armen zu liegen, in diesem fremden Bett – es war nicht so gewesen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Nicht so zärtlich wie erhofft, schmerzhafter als erwartet. Aber sie war so naiv gewesen. Nächstes Mal würde sie die Dinge realistischer betrachten. Sie kuschelte sich wieder in die warme Mulde, die sein Körper hinterlassen hatte.

„Jonathan?“ Nun würde er zurückkommen, sie umarmen und küssen, über die gemeinsamen Pläne reden und dieses seltsame Gefühl der Unsicherheit verscheuchen.

Auf der halsbrecherischen Fahrt von Wiltshire bis zu diesem Gasthaus war er neben der Kutsche geritten, und der öffentliche Schankraum, in dem sie das Dinner eingenommen hatten, war nicht der richtige Ort für ein Gespräch über die Zukunft gewesen.

„Julia?“ Seine Stimme klang sonderbar, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. „Dort kannst du dich waschen.“ Er wies mit seinem Kinn auf den Wandschirm in der Ecke und goss noch einmal Rotwein in sein Glas. Noch immer wandte er ihr den Rücken zu.

Voller Unbehagen fragte sie sich, ob sie Jonathan Dalfield enttäuscht hatte. Vielleicht war er einfach nur müde. Sie selbst fühlte sich ziemlich erschöpft.

In eines der zerwühlten Laken gehüllt, stieg sie aus dem Bett und ging zu dem Paravent, der den Waschtisch verbarg. Der Liebesakt war eine schweißtreibende Prozedur gewesen, geradezu peinlich – ein weiterer Schock an diesem aufschlussreichen Abend. Deshalb durfte sie sich nicht mehr wie ein liebeskrankes Mädchen verhalten, sondern wie eine erwachsene Frau, die kluge Entscheidungen traf und die Kontrolle über ihr Leben übernahm.

Sie lächelte wehmütig, als sie an ihre romantischen Tagträume dachte. Jetzt befand sie sich in der Realität, zusammen mit dem Mann, der sie genug liebte, um einen Skandal zu riskieren und sie zu entführen. Der Wandschirm verdeckte nur den Rand des Fensters, und sie zog den Vorhang über die Glasscheibe, ehe sie das Laken ablegte.

„Postkutsche nach London!“

Unten auf der Straße gellte ein Horn, so dramatisch, dass Julia es nicht ignorieren konnte. Als Räder polterten, spähte sie durch den Spalt neben dem Vorhang und sah den Wagen aus dem Stallhof fahren, nach rechts biegen und Augenblicke später verschwinden. Seltsam. Warum finde ich das seltsam?

Zu müde, um verwirrende Fantasien zu ergründen, wusch sie sich, wickelte das Laken etwas kleidsamer um ihren Körper und trat hinter dem Paravent hervor. In ihrem Bauch tanzten unerwartete Schmetterlinge. Mittlerweile halb angezogen, saß Jonathan vor dem leeren Kamin und drehte den Stiel seines Weinglases hin und her. Das offene Hemd gab den Blick frei auf seine muskulöse Brust, einen Pfeil schwarzer Haare, dessen Spitze in den Breeches verschwand. Bei diesem Anblick errötete sie.

Wie kalt es ist, von der Hitze seines Körpers entfernt … Sie schenkte sich Wein ein, dann sank sie in den zweiten schäbigen Lehnstuhl gegenüber von Jonathan. Sicher dachte er an den nächsten Morgen, an die lange Fahrt nach Norden, zur schottischen Grenze, hinter der sie heiraten würden.

Fürchtete er, man könnte sie verfolgen? Doch sie bezweifelte, dass Cousin Arthur sich so viel Mühe machen würde. Cousine Jane würde kreischen, wegen des Skandals jammern – und insgeheim eher den Verlust ihrer „Dienstmagd“ als andere Konsequenzen beklagen.

Obwohl der billige Wein grässlich schmeckte, verhalf er ihr zu einer gewissen Konzentration. Anscheinend hatte ihr Gehirn in den letzten Tagen Urlaub gemacht, und so hatte sich die vernünftige Frau, die sie normalerweise war, in ein albernes verliebtes Mädchen verwandelt.

Du bist immer noch verliebt, und du hast jede Vorsicht leichtfertig außer Acht gelassen, mahnte eine innere Stimme, vermutlich ihr Gewissen. Ja, aber deshalb bin ich noch lange kein nutzloses dummes Ding, verteidigte sie sich. Nun musste sie überlegen, wie sie Jonathan helfen konnte.

Vor dem überstürzten Aufbruch hatte er ihr erklärt, warum sie nicht direkt nordwärts nach Gloucester und zur Grenzstraße fahren würden. Wenn sie Oxford in nordöstlicher Richtung ansteuerten und dann nach Norden abbogen, würden sie etwaige Verfolger verwirren, und der Straßenzustand sei dort besser. Doch die Gasthöfe in Oxford waren offenbar sündteuer, und so hatten sie diesen außerhalb der Stadt für die erste gemeinsame Nacht vorgezogen.

Von jetzt an würde sie sich um das Geld kümmern und es sorgfältig einteilen, Jonathan wenigstens die beklemmende Pflicht ersparen, Rechnungen zu sortieren und jeden Penny umzudrehen.

Nach Norden zur Grenze. Nach Gretna Green. Wie romantisch …

Nach Norden. Das war es, was sie seltsam gefunden hatte, was nicht stimmte. Plötzlich schwappte der Rotwein aus ihrem Glas und tropfte wie Blut auf das Laken. Die Postkutsche war nach rechts gebogen, in die Richtung von London, Richtung Süden …

„Jonathan …“

„Ja?“ Er blickte auf, die blauen, von langen Wimpern umrahmten Augen, die ihren Puls immer wieder beschleunigt hatten, so undurchschaubar wie eh und je.

„Warum sind wir zehn Meilen nach Süden gereist, bevor wir hier eingetroffen sind?“

Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Weil dieser Weg nach London führt.“ Er stellte sein Glas auf den kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln und stand auf. „Gehen wir ins Bett zurück.“

„Aber wir reisen nicht nach London, sondern nach Gretna Green, um zu heiraten.“ Als er nicht antwortete, biss sie sich auf die Lippe und erkannte die Wahrheit. „Dann war die Fahrt nach Schottland gar nicht geplant?“

Achselzuckend bemühte er sich nicht einmal, das abzustreiten. „Wäre ich ehrlich gewesen, hättest du mich wohl kaum begleitet, oder?“

Wieso konnte sich die ganze Welt innerhalb eines einzigen Herzschlags verändern? Vorhin hatte sie zu frösteln geglaubt. Doch das ließ sich nicht mit der Eiseskälte vergleichen, die ihre Brust in diesem Moment erfüllte. Jonathans Worte waren unmissverständlich. „Also liebst du mich nicht. Du hattest niemals vor, mich zu heiraten.“ Inzwischen funktionierte ihr Gehirn einwandfrei.

„So ist es.“ Jonathan schenkte ihr sein verführerisches, träges Lächeln. „Bedauerlicherweise hast du die Nerven deiner Verwandten zu sehr strapaziert und halsstarrig verkündet, du würdest in The Grange bleiben.“

„Weil es mein Zuhause ist!“

„Das war es“, verbesserte er sie. „Seit dem Tod deines Vaters gehört es deinem Cousin, und du bist eine finanzielle Belastung. Niemand ist dumm genug, einen tollpatschigen Blaustrumpf ohne Mitgift zu heiraten, der ständig alle Leute gängeln will. Und so …“

„Und so dachte Arthur, das schwarze Schaf der Familie, Janes Cousine dritten Grades, müsste sich einfach nur entführen lassen. Dank dieses Skandals könnte er mich für immer loswerden.“ Ja, jetzt war alles glasklar. Zu allem Überfluss habe ich auch noch mit dir geschlafen.

„Genau. Schon immer hielt ich dich für sehr intelligent, Julia. Nur diesmal warst du etwas begriffsstutzig.“

Wieso sah er so aus wie der Mann, den sie zu lieben geglaubt hatte, und sprach mit derselben Stimme?

„Arthur gab dich für einen missverstandenen gesellschaftlichen Außenseiter aus und hoffte, du würdest mein Mitgefühl erregen. Und dann beauftragte er dich, mich zu entführen. Niemals hätte ich ihm eine so niederträchtige Hinterlist zugetraut.“ Das Eis, das ihre Brust erfüllte, drohte das Blut in sämtlichen Adern zu gefrieren. „Was hast du jetzt mit mir vor?“

„Mit dir, Liebste?“ Nun drückten seine Augen aus, was ihr in blinder Liebe entgangen war – das Wesen eines Wolfes. „Du kannst mich begleiten. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Besonders gut bist du nicht im Bett, aber vielleicht eine gelehrige Schülerin.“

„Soll ich deine Geliebte werden?“ Nur über meine Leiche.

„Für ein paar Monate – falls du dich besserst. Wir reisen nach London. Dort müsstest du eine Chance finden, für deinen Lebensunterhalt zu sorgen, oder jemanden, der dich aushält. Und jetzt gehen wir wieder ins Bett. Zeig mir, ob es sich lohnen würde, dich in die Stadt mitzunehmen.“ Jonathan stand auf, umklammerte ihre Hand und zog sie aus dem Sessel.

„Nein!“ Erfolglos versuchte sie, sich loszureißen. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihr Handgelenk.

„Jetzt bist du eine Hure, also hör zu protestieren auf. Komm, mach das Beste daraus. Wer weiß, womöglich wird es dir sogar Spaß machen.“

Nein, habe ich gesagt!“ Er war ein Lügner, ein Betrüger. Aber er würde doch sicher keine Gewalt anwenden?

Auch darin schien sie sich zu täuschen.

„Du wirst tun, was ich will!“

Verbissen wehrte sie sich, sein harter Griff fügte ihr Schmerzen zu. Ihre nackten Füße rutschten über den polierten Boden, der Kaminvorleger glitt unter ihr davon, und sie verlor das Gleichgewicht.

Als sie stürzte, schoss ein brennender Schmerz durch ihren Arm, und Jonathan ließ sie los. Schluchzend vor Zorn und Angst und Pein, landete sie im Kamin. Ringsum klirrten Schürhaken, pressten sich an ihre Hände und Ellbogen.

„Steh auf, du ungeschicktes Biest!“ Jonathan packte sie an den Haaren und wollte sie emporzerren. Verzweifelt schlug sie nach ihm.

Keuchend schnappte Jonathan nach Luft und ließ sie los. Steh auf, lauf weg … Sie kroch aus dem Kamin, prallte taumelnd gegen das Bett, zog sich daran hoch, auf zitternde Beine.

Schweigen. Jonathan lag vor dem Kamin, den Kopf in einer roten Pfütze. Verwirrt starrte Julia ihre Hand an, die sich feucht anfühlte, ihre Finger krallten sich um einen Schürhaken.

Von dem Eisen tropfte Blut auf ihre Hand hinab. Blut, so viel Blut. Sie warf den Feuerhaken beiseite, und er schlitterte über den Boden, bis er gegen den Toten stieß. Gegen seine Leiche …

Oh Gott, was habe ich getan?

2. KAPITEL

Johannisnacht, 1814
King’s Acre Estate, Buckinghamshire

Sobald sie den Ruf einer Nachtigall hörte, blieb sie stehen. Wie lange war sie schon auf der Flucht? Vier Tage – fünf? Sie hatte zu zählen aufgehört … Irgendwie trugen ihre Füße sie eine geschwungene Brücke hinauf. Sie fühlte inzwischen keine Schmerzen mehr, die Blasen an den Fersen bildeten einfach nur einen Teil ihres Elends.

Auf dem höchsten Punkt der Brücke hielt sie wieder inne, auf dem Wasser glänzte die silbrige Schönheit des Mondlichts. Friedliche Stille. Keine Menschen, kein Lärm, keine Angst vor Verfolgern. Einfach nur Mondschein auf einem ruhigen See. Und die Magie des Gesangs des kleinen braunen Vogels in der milden Nachtluft.

Julia nahm ihren Hut ab und drehte sich langsam um. Wo befand sie sich jetzt? Wie weit war sie gekommen? Längst zu spät, um zu bereuen, dass sie nicht im Queen’s Head Inn gewartet hatte, um sich den Konsequenzen der Ereignisse zu stellen, zu erklären, es sei ein Unfall gewesen – Notwehr …

Wie hatte sie entrinnen können? Da war sie sich noch immer nicht sicher. Sie erinnerte sich nur, dass sie geschrien hatte und vor dem blutigen Grauen am Boden zurückgeschreckt war. Als mehrere Leute ins Zimmer gestürmt waren, hatte sie sich, fast nackt, hinter dem Wandschirm versteckt. Um den Toten gedrängt, schienen sie sie nicht zu bemerken.

Hinter dem Paravent fand sie ihre Kleider, wusch die verräterischen roten Flecken weg und zog sich an, damit sie respektabel aussah, wenn sie den Leuten gegenübertrat. Das fand sie wichtig. Keinen Augenblick lang erwog sie, vor der Tat wegzulaufen, die sie unbeabsichtigt verübt hatte.

Jonathans Gehrock hing über dem Stuhl in der Waschnische. Darauf lag seine Brieftasche. Ohne nachzudenken, verstaute sie sie in ihrem Retikül. Dann wagte sie sich hinter dem Wandschirm hervor, wollte das unvermeidliche Geständnis ablegen.

Doch im Zimmer herrschte dichtes Getümmel, immer mehr Menschen versammelten sich an der Tür und spähten herein. Niemand beachtete sie, die junge Frau, die einen schlichten grauen Umhang und einen Strohhut trug. Hatte irgendjemand sie gesehen, als sie alle hereingelaufen waren? Vielleicht hatte sie, bevor die Tür aufgeflogen war, gerade noch rechtzeitig den Paravent erreicht. Und jetzt musste sie einfach vorgeben, sie würde zu den Neugierigen gehören, einer der Hausgäste, vom Lärm angelockt – bleich und zitternd, weil sie etwas Grauenhaftes gesehen hatte.

Wie ein gejagtes Tier, das unwillkürlich die Flucht ergriff, rannte sie die Hintertreppe hinab, in den Hof, wo sie sich zwischen Säcken auf einem Bauernkarren verkroch.

Im Morgengrauen hatte sie sich unbeobachtet davongeschlichen, war durch eine ihr völlig fremde Gegend gelaufen. Jetzt kam es ihr so vor, als würde sie seit einer halben Ewigkeit fliehen, sich irgendwo verstecken oder die Gelegenheit nutzen, unbemerkt auf Lastkarren eine kleine Strecke zurückzulegen.

Könnte sie doch eine Zeit lang auf der Brücke rasten, die Ruhe und den Frieden genießen, fern von Menschen, die ihr gefährliche Fragen stellen würden … Wenigstens für ein paar Minuten wollte sie die Angst vergessen und sich erholen, Kräfte sammeln, um ihren Weg fortzusetzen …

In der Mitte der schmalen steinernen Brücke stand eine schattenhafte Gestalt, langes dunkles Haar flatterte im nächtlichen Wind. Eine Frau. Unmöglich. Das musste er sich einbilden.

William strengte alle seine Sinne an. Stille. Und dann wurde die Nachtluft erneut von drei lang anhaltenden Tönen durchdrungen, die den Gesang einer Nachtigall einleiteten – so schöne, wehmütige Klänge, dass er die Augen schloss.

Als er sie wieder öffnete, erwartete er, allein zu sein. Aber da stand die Gestalt immer noch, und jetzt drehte sie sich um. Ein bleiches ovales Gesicht … Ein Geist? Lächerlich, einen abergläubischen Schauer zu empfinden, wenn er der jenseitigen, der spirituellen Welt schon so nahe war … Ich glaube nicht an Geister. Dagegen wehre ich mich.

Die Realität fand er schon schlimm genug, auch ohne die Furcht, er würde bald selber an diesem Ort spuken – gezwungen, den Verfall von King’s Acre in Henrys achtlosen, verschwenderischen Händen mit anzusehen.

Nein, natürlich war das eine Frau aus Fleisch und Blut. Zu ihrem blassen Gesicht bildete das dunkle Haar, das ihren unbedeckten Kopf umwehte, einen starken Kontrast.

William trat aus dem Schatten am Rand des Uferwegs und machte einen Schritt in die Richtung der Brücke. Was hatte die Fremde hier zu suchen, ein unbefugter Eindringling im weitläufigen Park, der King’s Acre umgab? Sie musste fast eine Meile auf der Straße hierhergegangen sein, die zum Schlagbaum zwischen Thame und Aylesbury führte.

Von der Brise emporgehoben, schwang ihr langes graues Cape von den Schultern nach hinten, und er sah, dass sie überdurchschnittlich groß war. Sie beugte sich über die Brüstung der Brücke und starrte hinab, als würde das dunkle Wasser ein Geheimnis bergen. In allen ihren Gesten erkannte er Anzeichen ihrer Erschöpfung. Und dann versteifte er sich, als es den Anschein erweckte, dass sie auf die steinerne Balustrade klettern wollte.

„Nein!“ Er verfluchte seinen unbrauchbaren Körper, zwang seine Beine, ihn zum Ende der Brücke zu tragen, und klammerte sich an die Brüstung. „Nein – springen Sie nicht! Werfen Sie Ihr Leben nicht weg – was immer Sie auch dazu treiben mag …“ Jetzt knickten seine Beine ein. Hustend sank er auf die Knie.

Im ersten Moment hatte William geglaubt, sein Ruf hätte die Geisterfrau dermaßen erschreckt, dass sie aus dem Gleichgewicht geraten und in den See gefallen wäre. Stattdessen glitt sie von der Balustrade herab, lief zu ihm und kniete an seiner Seite nieder. „Sir, Sie sind verletzt!“

Einen Arm um seine Schultern geschlungen, hielt sie ihn fest. Kurz schloss er die Augen. Fast übermächtig war sein Bedürfnis, sich dem simplen Trost einer menschlichen Berührung hinzugeben. „Nicht verletzt – krank. Nicht ansteckend“, fügte er hinzu, als sie nach Luft rang. „Sorgen Sie … sich nicht.“

„Um mich selber mache ich mir keine Sorgen“, erwiderte sie in entschiedenem Ton, der beinahe ungeduldig klang. Sie veränderte ihre Position, sodass er an ihrer Schulter lehnte, legte eine kühle Hand auf seine Stirn, und er unterdrückte ein wohliges Seufzen. „Sie haben Fieber, Sir.“

„Ja – jede Nacht um diese Zeit.“ Mühsam brachte er seinen Atem unter Kontrolle. „Ich habe befürchtet, Sie würden ins Wasser springen.“

„Oh nein!“, protestierte sie, und er spürte, wie vehement sie den Kopf schüttelte. „So verzweifelt kann ich gar nicht sein, um so etwas zu tun. Ertrinken – welch ein qualvoller Tod! Außerdem gibt es immer neue Hoffnung. Immer.“

Ihre leise Stimme wirkte etwas heiser, als wäre sie eben erst von Tränen erstickt worden. Aber er ahnte, sie würde trotz des energischen Untertons stets angenehm und melodisch klingen.

„Nur ausruhen wollte ich mich, den Mondschein auf dem Wasser bewundern. So schön und ruhig ist es hier, und die Nachtigall singt so wundervoll.“ Tapfer versuchte sie, selbstironisch zu lachen. Doch ihre Worte hörten sich eher traurig an.

Irgendetwas bedrückte sie, er fühlte eine tiefe Müdigkeit, eine innere Anspannung, die sie schon sehr lange zu belasten schien. Wenn er nicht vorsichtig mit ihr umging, würde sie die Flucht ergreifen. Oder vielleicht nicht, denn sie wollte sich offenkundig um ihn kümmern. Und so überließ er sich vorerst ihrer Fürsorge. Ihre Probleme würde er später ergründen. „Deshalb komme ich jedes Mal hierher, wenn der Vollmond an einem wolkenlosen Himmel steht. Und die Mittsommernacht erzeugt einen besonderen Zauber. Im Mondlicht könnte man fast alles glauben.“ Dass ich gesund werde … „Vorhin hielt ich Sie für einen Geist.“

„Oh nein!“, wiederholte sie, jetzt offenbar von echtem Amüsement erfasst, das sie selber zu verblüffen schien. „Für einen Geist bin ich viel zu robust gebaut.“

Jede Faser in seinem Körper, der, wie er fand, schon vor langen Monaten jedes Interesse am anderen Geschlecht aufgegeben hatte, regte sich protestierend. So wunderbar fühlte sie sich an, wohlgerundet und weich, trotzdem stark. Das bekundete ihr Arm, der ihn an ihre Schulter drückte. Fast hätte er sich beschwert, als sie ihn losließ und aufstand.

„Großer Gott, was denke ich mir denn nur, Sir? Da vertrödle ich die Zeit, rede von Nachtigallen und Geistern, statt Hilfe für Sie zu holen! Wie komme ich am schnellsten zu Ihrem Haus?“

„Nicht nötig, ich wohne gleich da …“, begann William, dann ging ihm der Atem aus. Nach einer kurzen Pause zeigte er in die ungefähre Richtung des Landsitzes. „Da drüben. Wenn Sie mir auf die Beine helfen würden …“ Eine demütigende Bitte. Doch er konnte seinen verletzten Stolz verhehlen, nachdem er monatelang um seine Selbstständigkeit gekämpft und schließlich erkannt hatte, wie hart und schmerzhaft das war und dass es zu nichts führte. Zudem brauchte diese Frau Hilfe, und die vermochte er ihr nicht zu bieten, solange er auf den Knien lag.

„Warten Sie, ich bringe jemanden hierher.“

„Nein.“ Wenn es sein musste, verfügte er immer noch über seinen einstigen Befehlston. Sichtlich widerstrebend drehte sie sich zu ihm um, und er streckte die rechte Hand aus. „Stützen Sie mich.“

Sie wollte widersprechen, das merkte er ihr an. Dann presste sie die Lippen zusammen – er malte sich aus, sie wären voll und weich, was er im schwachen Licht nicht sehen konnte –, und umschloss seine Hand mit festem Griff.

„Vermutlich möchten Sie mir erklären“, begann sie, nachdem er sich erhoben hatte, „Sie wären alt genug, um zu wissen, was gut für Sie ist. Doch ich muss Ihnen sagen, Sir, wie töricht es ist, allein im Mondschein umherzuwandern, wenn man Fieber hat. Den Tod könnten Sie sich holen.“

„Sorgen Sie sich nicht“, entgegnete William, suchte Halt an der steinernen Brüstung und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Sie war tatsächlich hochgewachsen, diese Geisterfrau. Nur ganz leicht legte sie ihren Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht zu schauen. Jetzt sah er im Mondlicht ihre gerunzelte Stirn. Ihr Alter konnte er nicht einschätzen und Einzelheiten nur vage erkennen. Aber sie hatte tatsächlich sehr volle, schön geschwungene Lippen. Die presste sie allerdings erneut missbilligend zusammen. Duldete sie keinen Widerspruch?

„Den Tod habe ich mir fast schon einmal geholt, Ma’am.“

Was das bedeutete, schien sie sofort zu verstehen, und er wartete auf einen Protest, die Verlegenheit, in die alle Leute gerieten, sobald er ihnen die Wahrheit mitteilte.

Stattdessen sagte sie einfach nur: „Das tut mir sehr leid.“ Natürlich sah sie im Mondlicht das Wrack, das aus ihm geworden, und seine Erklärung überraschte sie nicht. Ein Wunder, dass sie angesichts eines wandelnden Skeletts nicht vor lauter Schreck in den See gefallen war … „Und ich nehme an, ich bin unbefugt auf Ihren Besitz eingedrungen, Sir. Dafür entschuldige ich mich.“

„Nicht nötig. Willkommen auf King’s Acre. Begleiten Sie mich ins Haus? Darf ich Sie zu einer Erfrischung einladen? Danach wird mein Kutscher Sie zu Ihrem Ziel bringen.“ Nun biss sie auf ihre Unterlippe und wich seinem Blick aus. Wirkte er in ihren Augen nicht so harmlos, wie er sich fühlte? „Selbstverständlich sichere ich Ihnen die Anwesenheit einer Anstandsdame zu, da eine sehr respektable Haushälterin in meinen Diensten steht.“

Mit diesem Versprechen provozierte er ein Lächeln. Zweifellos würde er sich Illusionen hingeben, wenn er glaubte, sie könnte ihn für den gefährlichsten Weiberhelden seines Regiments halten. Dieser spezielle Ruf war ihm einst vorausgeeilt. Nun, sogar der ängstlichsten Frau müsste ein kurzer Blick auf seine Gestalt genügen, und sie würde erkennen, dass ihr wohl kaum eine Vergewaltigung drohte.

„Sir, im Moment zählt das Problem einer Anstandsdame zu den geringsten meiner Sorgen.“ Er verstand nicht, warum ein bitterer Unterton in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. „Aber um diese Zeit, mitten in der Nacht, möchte ich Ihnen und Ihrem Haushalt nicht zur Last fallen.“

Inzwischen hatten sich seine Atemzüge normalisiert und, wie er erleichtert feststellte, auch die Funktionen seines Gehirns. Respektable junge Damen – und die Fremde war zweifellos eine Dame, wenn auch vielleicht nicht mehr blutjung – tauchten nicht ohne stichhaltigen Grund ohne Gepäck und Begleitung im Mondlicht auf.

„Die Uhrzeit spielt keine Rolle, Ma’am, mein Personal ist an meine nächtlichen Eskapaden gewöhnt. Wo befindet sich Ihr Gepäck? Wo ist Ihre Zofe? Sollen sich meine Leute darum kümmern?“

„Sir, ich habe weder das eine noch das andere“, gestand sie und wandte ihren Kopf ab. „Ich bin allein – und hilflos.“

Natürlich durfte sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Das wusste sie trotz der viel zu großen Versuchung, in Tränen auszubrechen, in die Arme dieses Mannes zu sinken und ihm die ganze schreckliche Geschichte zu erzählen. Womöglich war er der örtliche Friedensrichter, und wenn nicht, wäre er verpflichtet, sie der Obrigkeit zu übergeben. Aber sie war schon so lange querfeldein geflohen, hatte sich in Scheunen versteckt, da und dort ein paar Münzen für Brot, Käse und Dünnbier geopfert. Jetzt war sie erschöpft, fühlte sich verloren und verzweifelt. Ein Teil der Wahrheit musste genügen.

Und so beschloss sie, das Risiko einzugehen und zu erproben, ob sie eine gute Lügnerin war. „Ich will ehrlich sein, Sir“, versicherte sie, dankbar für den Schutz der nächtlichen Schatten. Andererseits wünschte sie, seine Augen zu sehen. „Vor ein paar Tagen bin ich von zu Hause ausgerissen.“

„Gestatten Sie mir die Frage, warum?“ Seine Stimme, seltsam jugendlich für einen Mann im fortgeschrittenen Alter, klang völlig vorurteilsfrei.

„Leider wollte mein Cousin, von dem mein Lebensunterhalt abhängig ist, mich loswerden. Deshalb verbündete er sich mit einem ruchlosen Mann. Der versprach mir die Ehe. Doch er wollte nur – meine Unschuld. Und so dachte ich, die Flucht wäre der einzige Ausweg. Dadurch bin ich genauso ruiniert, als wäre ich daheim geblieben. Das habe ich inzwischen eingesehen. Unter diesen Umständen wollen Sie mich sicher nicht mehr einladen, Sir, denn Ihre Frau …“

„Ich bin nicht verheiratet“, unterbrach er sie in ruhigem Ton. „Und ich habe nichts gegen Sie einzuwenden, Ma’am. Umso tiefer bedaure ich Ihre Notlage.“

So sollte er nicht sprechen, denn Julia wusste, dass er sich in einer viel schlimmeren Situation befand als sie und an einer schrecklichen Krankheit litt. Vorhin hatte sie ihn festgehalten, als sie ihm beim Aufstehen half, und seinen geschwächten Körper gespürt, unter dem edlen, teuren Wollstoff seines Gehrocks nur Haut und Knochen. Er war sehr groß, und in seiner Jugend musste er kräftig gebaut gewesen sein. Jetzt rang er immer wieder nach Atem, und das Fieber trieb ihm Schweiß auf die Stirn, die sie berührt hatte.

Er war ihr zu Hilfe gekommen, weil er geglaubt hatte, sie würde sich in den See stürzen. Und er beleidigte sie nicht, obwohl sie ihm, wenn auch nur teilweise, ihre fatale Geschichte gestanden hatte. Nun wollte sie ihn nach Hause bringen – das Mindeste, was sie für ihn tun konnte – auch wenn sie dadurch die unwahrscheinliche Möglichkeit riskierte, dass eine Beschreibung der gesuchten Mörderin bereits in sein Domizil gelangt war.

Zumindest für eine Nacht würde sie sicher sein, nicht wahr? Die Obrigkeit kannte ihren Namen nicht. Und Jonathans Visitenkarten befanden sich in seiner Brieftasche, die in ihrem Retikül steckte. Also hatte sich der Konstabler im Queen’s Head Inn mit einer namenlosen Leiche und einem namenlosen Flüchtling befassen müssen.

Nun war der falsche Zeitpunkt für Skrupel, wenn es um wertvollen Beistand ging, der ihr angeboten wurde. „Kommen Sie, Sir. Da Sie mir nicht erlauben, Hilfe zu holen, stützen Sie sich wenigstens auf meinen Arm. Ich bin sicher, Sie sollten nicht hier draußen sein und sich bei nächtlichen Wanderungen ermüden.“

„Jetzt reden Sie genauso wie mein Kammerdiener Jervis, wirklich bemerkenswert“, murrte er.

Beinahe fürchtete sie, sein starrsinniger Stolz würde seine Vernunft besiegen. Aber er wehrte sich nicht, als sie ihren Unterarm unter seinen schob und ihm einen kleinen Teil seines Gewichts abnahm.

„Hier in diese Richtung haben Sie gezeigt, Sir?“

Er nickte, und sie machten sich auf den Weg. Julia zwang sich, trotz ihrer wunden Füße nicht zu humpeln. Sonst hätte er ihre Hilfe zweifellos abgelehnt.

Nach ein paar Schritten stellte er sich vor. „Ich bin William Hadfield. Nur damit Sie wissen, wen Sie retten. Baron Dereham.“

Diesen Namen kannte sie nicht. Sie war ja auch über hundert Meilen von ihrem Zuhause entfernt. Ihre Familie gehörte dem Landadel an und pflegte keinen gesellschaftlichen Verkehr mit aristokratischen Kreisen. „Ich bin …“

„Ihren Namen müssen Sie mir nicht verraten, Ma’am“, unterbrach er sie und rang keuchend nach Atem.

Sofort veranlasste sie ihn zu einem langsameren Gang, dankbar für den Vorwand. Sie war übermüdet, hatte Schmerzen, und die Angst belastete sie noch stärker als ihr körperlicher Zustand. „Warum nicht, Sir? Ich bin Julia Prior – Miss“, fügte sie in bitterem Ton hinzu. Ob tot oder lebendig – niemals würde sie anders heißen. Und dann wurde ihr klar, dass sie ihren richtigen Namen verraten hatte. Wie leichtfertig, schalt sie sich. Nun war es zu spät, ihre Ehrlichkeit zu bereuen. Zum Glück trug sie keinen besonders ungewöhnlichen Namen.

„Biegen wir nach links ab, Miss Prior.“

Gehorsam führte sie den Baron zu dem breiten Weg, auf den er wies, und sah erschrocken, dass eine steile Anhöhe vor ihnen lag. Wie sollte der Baron sie bewältigen, allein auf ihre schwache Hilfe angewiesen?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, verkündete er: „Dort wartet die Kavallerie, noch weiter brauchen Sie mich nicht zu tragen, Miss Prior.“

Julia wollte entgegnen, sie habe ihn nur gestützt. Doch sie schwieg, denn sein scharfer Unterton war ihr nicht entgangen. Und inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich niemals resignierend in sein Schicksal fügen und jeden Versuch, ihn zu umsorgen oder zu ermuntern, schroff zurückweisen würde. In seiner Blütezeit musste er ziemlich arrogant und selbstherrlich gewesen sein. Sonst würde er sich nicht so vehement gegen seinen Verfall wehren.

„Mylord!“ Zwei Männer rannten den Weg herab, an dessen Ende ein Einspänner wartete.

Sobald sie sich näherten, erkannte Julia den erwähnten Kammerdiener an seinem untadeligen Anzug. Missbilligend schnalzte er mit der Zunge. Der andere, der eine Jacke aus grobem Wollstoff, lederne Breeches und Stiefel trug, war offensichtlich ein Stallknecht.

„Helfen Sie dieser Dame in den Wagen, Jervis!“, befahl Lord Dereham.

Ihr Arm wurde losgelassen, und der Kammerdiener gehorchte so zeremoniell, als wäre sie eine Duchess und das schlichte Vehikel eine Karosse. Julia vernahm einen gedämpften Wortwechsel, der abrupt verstummte, bevor der Baron ihr gegenüber Platz nahm.

Der Stallknecht ging zu dem Pferd und führte es die Anhöhe hinauf, der Kammerdiener folgte dem Einspänner zu Fuß. Nach ein paar Minuten, die in tiefem Schweigen verliefen, erreichten sie eine große Rasenfläche, die Räder knirschten auf einer gekiesten Zufahrt.

„Aber – das ist eine Burg!“ Aus ihren beklemmenden Gedanken gerissen, starrte Julia Zinnen, einen Turm und schmale Fensterschlitze an, alles in neugotischem Stil und sehr romantisch im Mondlicht.

„Nur eine kleine, seien Sie versichert“, erwiderte der Baron. „Und drinnen modern, eine Enttäuschung für verschrobene Romantiker. Der Burggraben ist trocken, der Keller voller Weinflaschen, das Fallgitter längst unbrauchbar. Und heutzutage schütten wir nur noch selten siedendes Öl auf ungebetene Gäste.“

Bei diesen letzten Worten gewann Julia fast der Eindruck, er würde das bedauern.

Der Einspänner hielt, und der Kammerdiener half ihr auszusteigen. Als sie stolperte, merkte sie, wie ermattet ihre Beine waren, beinahe zu schwach, um ihr Gewicht zu tragen.

„Holen Sie Mrs. Morley“, befahl Lord Dereham dem Stallknecht. „Sie muss das chinesische Schlafzimmer für Miss Prior herrichten. Und dann soll die Köchin ein warmes Supper in die Bibliothek schicken.“

„Nein, bitte, Sir“, wandte Julia verlegen ein, „es muss schon Mitternacht sein …“ Um diese Zeit sollte er seinem Personal wirklich nicht zumuten, sie zu verköstigen, geschweige denn ein Zimmer vorzubereiten.

„Nach Ihrer langen Wanderung lasse ich Sie keinesfalls hungrig ins Bett gehen, Miss Prior.“ Auf die Schulter des Kammerdieners gestützt, kletterte er aus dem Wagen.

Im Schatten des Gebäudes sah sie sein Gesicht nicht und vermochte seine Stimmung nur nach seinen gebieterischen Anordnungen zu beurteilen.

„Diese Nacht müssen Sie hier verbringen“, entschied er, „und morgen werden wir sehen, was zu tun ist.“

Wohl kaum, dachte sie. Trotz seiner Krankheit eine ziemlich starke Persönlichkeit, der alte Gentleman. Leider würde es seine Macht übersteigen, ihr Problem zu lösen. Und der neue Tag würde nichts verbessern … „Vielen Dank, Lord Dereham. Natürlich dürfte ich Sie nicht behelligen. Das weiß ich. Andererseits kann ich nicht bestreiten, wie willkommen Ihre Einladung ist.“

Nach ihrem schrecklichen Erlebnis mit Jonathan hatte sie nicht erwartet, sie würde je wieder einem Mann vertrauen. Aber der Baron würde wegen seines Alters und seines beklagenswerten körperlichen Zustands keine Gefahr für sie sein. Oder sie genauso wenig für ihn – vorausgesetzt, er ahnte nicht, wen er beherbergte.

„Wenn Sie sich frisch gemacht haben, sehen wir uns in der Bibliothek, Miss Prior“, sagte er, während sie dem Kammerdiener in die Halle folgten.

„Die Haupttreppe hinab und die erste Tür links, Miss Prior“, erklärte die Haushälterin, trat beiseite, und Julia wandte sich zur Tür.

„Vielen Dank, Mrs. Morley.“ Nur ungern verließ sie das warme, komfortable Schlafzimmer, um dem halbdunklen getäfelten Korridor zu folgen. Beim Anblick ihrer staubigen, von der Reise strapazierten Kleidung hatte die Frau keine Überraschung gezeigt, aber angesichts der wunden Füße mitfühlend geseufzt, heißes Wasser geholt, Leinenbandagen und eine schmerzlindernde Salbe beschafft.

In geliehener Unterwäsche und ihrem feucht ausgebürsteten Reisekleid fasste Julia neuen Mut. Sie hatte gehört, die Insassen der Gefängnisse seien eher zur Kapitulation bereit, wenn sie in schmutzigem, ungepflegtem Zustand ausharren mussten. Das konnte sie jetzt nachempfinden. Denn in den letzten Tagen waren ihre Kräfte zusammen mit ihrer Selbstachtung zusehends geschwunden.

Das Haus muss vor ein paar Jahren renoviert und teilweise neu eingerichtet worden sein, dachte sie, während sie die breite, geschwungene alte Eichentreppe hinabstieg. Alles befand sich in gutem Zustand, geschmackvoll verbanden sich die Relikte einer traditionsreichen Burg mit modernen Annehmlichkeiten. Aber Julia bemerkte eine unpersönliche Atmosphäre, als würde tüchtiges Personal für eine reibungslose Funktion des Haushalts sorgen. Es fehlte die Wärme, die ein richtiges Heim ausmachte.

Auch The Grange war ihr nach dem Tod ihres Vaters seelenlos und kalt vorgekommen, und in ihrem Kummer hatte sie nicht die nötige Kraft aufgebracht, um es zu verhindern. Erst ein paar Wochen später hatte sie die Zügel wieder in die Hand genommen, weil ihr Cousin und seine Gemahlin eintreffen würden, um ihr Erbe zu beanspruchen. Stolz und der Wunsch, ihnen keinen Anlass zur Kritik zu geben, hatten ihre Tränen getrocknet und ihre Willensstärke belebt.

Hier auf King’s Acre, wo der Hausherr sterbenskrank war, tat die Dienerschaft offensichtlich ihr Bestes, wozu sie von Loyalität und Effizienz befähigt wurde. Für eine anheimelnde Aura genügte es nicht.

Die wuchtige, getäfelte Tür schwang zu einem Raum auf, in dem alles warm wirkte – das lodernde Kaminfeuer trotz des Sommers, die purpurroten Damastvorhänge an den Fenstern, der sanfte Schimmer der polierten alten Bücherregale.

Als Julia eintrat, begann sich im Lehnstuhl neben dem Kaminfeuer der Baron mühsam zu erheben. Zu seinen Füßen saß ein Hund, der nun aufsprang. Die Zähne gefletscht, postierte er sich vor seinem Herrn.

„Platz, Bess! Das ist eine Freundin.“

„Bitte, Sir – Sie müssen nicht aufstehen!“ Hastig lief Julia über den Teppich und ging um die Hündin namens Bess herum, legte dem Baron eine Hand auf die Schulter und wollte ihn in den Sessel zurückdrücken.

Sie stand ganz dicht vor ihm, der Flammenschein und die Kerzen im Kandelaber auf dem Beistelltisch beleuchteten Lord Derehams Gesicht. Verwirrt blinzelte sie. Das war der Mann, den sie am See getroffen, den sie umarmt, den sie für älter und harmlos gehalten hatte?

„Oh!“ Von hellbraunen Raubtieraugen gebannt, platzte sie mit der erstbesten Frage heraus, die ihr in den Sinn kam. „Wie alt sind Sie, Sir?“

3. KAPITEL

Lord Dereham setzte sich, sobald Julia ihn losließ. Nachdem er Atem geschöpft hatte, klang sein Gelächter beinahe boshaft. „Siebenundzwanzig, Miss Prior.“

„Großer Gott, ich kann mich gar nicht genug entschuldigen, Sir!“ Die Wangen schamrot, wich sie abrupt zurück, stolperte über die Hündin und landete irgendwie in dem Lehnstuhl, der seinem gegenüberstand. „Tut mir so leid – keine Ahnung, warum ich mir eine so unverschämte Frage erlaubt habe, es ist nur …“

„Dachten Sie, ich wäre ein alter Mann?“ Der Baron wirkte nicht im Mindesten gekränkt.

Vielleicht fand er in seinem derzeitigen eingeschränkten Leben die Anwesenheit einer Dame – einer Frau, verbesserte sie sich –, die sich ungeschickt und plump benahm, so amüsant, dass es ihn von ihren schlechten Manieren ablenkte.

„Das ist wahr“, gab sie zu und fühlte sich unfähig, ihm ins Gesicht zu schauen. Diese Augen … Mochte er auch zu dünn und krank sein, ansonsten wirkte er unverkennbar und beunruhigend maskulin. Um ihre Zerknirschung zu überspielen und den Fehltritt wiedergutzumachen, beugte sie sich vor und streichelte die etwas ältere Hündin, die ihr praktisch auf den Füßen saß. Mit ihren braunen Augen sah Bess vorwurfsvoll zu ihr auf.

„Miss Prior?“

Nun musste sie sich zwingen, Lord Derehams Blick zu erwidern. „Ja?“

„Bei mir sind Sie sicher.“

Ihr Verstand gab ihm recht, ihr Bauchgefühl behauptete das Gegenteil. „Natürlich, das weiß ich – ganz eindeutig“, ergänzte sie rasch, um es sich selber einzureden, „und ich …“ Sie verstummte, nachdem sie ihre eigenen taktlosen Worte registriert hatte, und beobachtete, wie sich seine Miene verzog.

Früher musste er ein sehr attraktiver Mann gewesen sein. Er sah immer noch gut aus, trotz der bleichen Haut, die sich über hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn und eine breite Stirn spannte. Jetzt war es vor allem seine Willenskraft, die ihn eindrucksvoll erscheinen ließ. Sein dunkles Haar, glanzlos infolge der schlechten körperlichen Verfassung, wies keine einzige graue Strähne auf.

Doch in erster Linie waren es seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten, voller Leben und Leidenschaft und heißem Zorn über das Schicksal, das ihn so grausam schwächte. Welch eine außergewöhnliche Farbe – wie Brandy oder dunkler Bernstein.

Als sie sich verengten, spürte Julia, wie ihr Hitze in die Wangen stieg. „Was ich meine – ich weiß, dass ich hier in Sicherheit bin, weil Sie ein Gentleman sind.“

Sicher vor einer weiteren lüsternen Attacke, nicht vor dem langen Arm des Gesetzes oder dem Galgen …

Sie richtete sich auf, holte tief Luft, um ihre Fassung wiederzugewinnen, und fixierte das linke Ohr Seiner Lordschaft. So ein netter, ungefährlicher Teil der männlichen Anatomie. „Sir, Ihre Geduld mit mir ist wirklich bemerkenswert. Normalerweise bin ich nicht so – unbeholfen.“

„Nun, ich nehme an, Sie sind nicht immer erschöpft, unglücklich und verängstigt, Miss Prior. Und Sie sollten nicht mehr allzu lange an den emotionalen Folgen des Verrats leiden, den Ihre Verwandtschaft an Ihnen beging. Diese Menschen hätten Sie eigentlich schützen müssen. Wenn Sie etwas gegessen haben, werden Sie sich hoffentlich besser fühlen.“ Der Baron streckte eine dünne weiße Hand aus und zog an einem Glockenstrang.

Fast sofort öffnete sich die Tür, und zwei Lakaien erschienen, um kleine Tische mit Tabletts vor den Kamin zu stellen. Dann schenkten die beiden Wein ein, schüttelten Servietten aus, falteten sie kunstvoll und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

„Was für erstklassige Dienstboten, Sir!“, lobte Julia. Das köstliche Aroma einer Hühnerbrühe stieg ihr in die Nase. Heißhungrig ergriff sie ihren Löffel und zwang sich, manierlich zu essen, statt die Schüssel hochzuheben und die Suppe zu trinken, wie es ihr leerer Magen verlangte.

„In der Tat“, bestätigte er und rührte seine Suppe nicht an.

Zu ihrer Suppe verspeiste Julia an warmes, gebuttertes Brötchen. In vollen Zügen genoss sie die delikaten, in der Brühe pochierten Hühnerbruststreifen. Als sie aufblickte, sah sie, wie der Baron etwa ein Viertel seines Brötchens aß, bevor er den Teller beiseiteschob.

„Und eine auszeichnete Köchin“, fügte sie hinzu.

Nur ihre offenkundige Sorge beantwortete er, ihre Worte nicht. „Ich habe keinen Appetit.“

„Wie lange sind Sie schon so krank, Sir?“

„Sieben – nein, inzwischen sind es acht Monate“, erklärte er ohne Zögern und richtete seine bemerkenswerten Bernsteinaugen auf die knisternden Flammen. Vielleicht erleichterte ihn das Gespräch mit jemandem, der kein Blatt vor den Mund nahm, nicht um den heißen Brei herumredete oder vorgab, alles wäre in Ordnung. „Eines Nachts brach ein Sturm los, und meine Bess verirrte sich darin. Einer der jungen Pferdeknechte glaubte, er wäre schuld daran, und ging sie suchen. Nach einiger Zeit vermissten wir ihn. Ich fand die beiden, und da war der Junge in genauso schlechtem Zustand wie die Hündin.“

So tapfer hat er sich selbst in ein Unwetter gewagt, dachte Julia bestürzt, keinen Dienstboten zugemutet, ihr Leben für einen Jungen und ein Tier zu riskieren.

Er schnitt eine Grimasse und tat mit einer lässigen Geste ab, was eine albtraumhafte Suche gewesen sein musste. „Nach vier Jahren bei der Armee bildete ich mir ein, ich wäre immun gegen Eiseskälte und durchnässte Kleidung. Aber ich hatte mir etwas geholt, das zunächst wie eine gewöhnliche Lungenentzündung aussah. Dann begann ich, Blut zu husten. Obwohl die Infektion nachzulassen schien, war ich ziemlich erschöpft. Es wurde immer schlimmer. Jetzt kann ich kaum noch schlafen, verliere zusehends meine Kräfte und habe keinen Appetit. Jede Nacht fange ich zu fiebern an. Meine Ärzte bezeichnen meinen Zustand als Phthisis, eine unheilbare Krankheit.“

„Also eine Schwindsucht, nicht wahr?“ Ein Todesurteil. „Vermutlich glauben die Ärzte, wenn sie es auf Griechisch ausdrücken, erscheinen sie kompetenter. Oder vielleicht würde es höhere Rechnungen begründen.“

„Halten Sie nichts vom Beruf des Mediziners?“

Wie elegant seine Hände mit den schlanken Fingern wirkten … Der massive Siegelring am linken Ringfinger saß zu locker, der Stein war nach innen zur Handfläche gerutscht.

„Nicht viel“, erwiderte Julia. Für ihren Papa hatten die Doktoren zweifellos zu wenig getan, bei all ihrer vordergründigen Mühe.

„Offenbar verstehen Sie, wie erleichtert man sich fühlt, wenn man über solche Probleme sprechen kann, Miss Prior. Während einem andere Leute vorgaukeln, alles wäre wunderbar …“

Nun wandte er sich vom Kaminfeuer ab. Für einen Moment glaubte Julia, in seinem intensiven Blick würden immer noch Flammen tanzen.

Jonathans schöne blaue Augen waren stets undurchdringlich gewesen. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck gewonnen, in einen fleckigen Spiegel zu schauen. Die Augen des Barons waren die Fenster seiner Seele. Und das ist anscheinend ein sehr unerfreulicher Ort, dachte sie und unterdrückte einen Schauer.

„Würde es Ihnen helfen, Ihre Geschichte einem völlig Fremden anzuvertrauen, Miss Prior? Einem Mann, der es mit ins …“ Er unterbrach sich kurz. „Der Ihr Vertrauen respektieren würde?“

Der es mit ins Grab nehmen würde. Der Baron war kein Priester, zum Schweigen verpflichtet. Deshalb durfte sie nicht erwarten, er würde ihr Geheimnis für sich behalten. Aber wenn sie darüber sprach, könnte ihr das vielleicht helfen, das Problem irgendwie zu lösen – vorausgesetzt, in ihrer derzeitigen Situation würde sich eine Gelegenheit ergeben.

„Mein Vater war ein Gutsbesitzer“, begann sie.

Entspannt in ihren Sessel zurückgelehnt, konnte sie sich zumindest einbilden, sie würde eine Geschichte aus einem Buch erzählen. Die Hündin tapste um den Kaminvorleger herum. Seufzend streckte sie sich vor ihrem Herrn aus, den Kopf auf seinen Schuhen, als wollte sie in möglichst bequemer Lage ebenfalls zuhören.

„Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag starb meine Mutter“, fuhr Julia fort. „Ich habe keine Geschwister. Und so wurde ich Papas vertraute Gefährtin. Manchmal vergaß er sogar, dass ich ein Mädchen war. Ich lernte alles über das Landgut und die Farm, was er mir beibringen konnte, auch über den Erwerb neuen Viehs und den Verkauf unserer landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Und dann, vor vier Jahren, erlitt mein Vater einen Schlaganfall. Zunächst wurde erörtert, ob man einen Verwalter beschäftigen müsste, bis Papa entschied, ich wäre imstande, seine Arbeit zu leisten. Außerdem meinte er, ich würde das Landgut so sehr lieben, wie man es von keinem Angestellten erwarten dürfte. Nur zu gern übernahm ich die Verwaltung. Ich dachte, dabei würde es noch viele Jahre lang bleiben. Leider starb mein Vater im letzten Frühling ganz plötzlich, und mein Cousin Arthur beerbte ihn.“

Nein, sie würde nicht weinen. Dieses Stadium hatte sie überwunden. Solange der Baron kein Mitleid zeigte … Das würde sie nicht ertragen.

Autor

Louise Allen

Louise Allen lebt mit ihrem Mann  – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.

Foto: ©  Johnson Photography

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