Im Rausch dieser Nacht

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Greg bleibt fast das Herz stehen - seine Exfrau hatte einen Unfall! Aufgeregt stürmt der sonst so gelassene Polizist in die Klinik. Während der nächsten Wochen pflegt er Sherri gesund und merkt, wie seine Sehnsucht nach ihr mit jedem Tag stärker wird. Schließlich kann Greg nicht anders, sanft zieht er Sherri an sich und verführt sie zärtlich. Es tut so gut, sie zu umarmen, sie zu küssen und mit ihr den Rausch dieser Nacht zu erleben. Wenn er Sherri doch nur den Glauben an eine gemeinsame Zukunft zurückgeben könnte! Aber dafür müsste er sich der Vergangenheit stellen …


  • Erscheinungstag 23.11.2008
  • Bandnummer 1539
  • ISBN / Artikelnummer 9783863499341
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hätte sie an diesem Morgen den Blick in eine Kristallkugel werfen und sehen können, was ihr bevorstand, wäre Sherri Masterson sicherlich im Bett geblieben. Da ihr der Blick in die Zukunft jedoch verwehrt blieb, stellte sie ahnungslos ihren Wecker ab, stieg aus den Federn und begann ihren Tag wie an jedem anderen Morgen. Während sie unter der Dusche stand, lief die Kaffeemaschine. Und nachdem Sherri sich angezogen hatte, setzte sie sich in die Küche und trank ihren Morgenkaffee.

Wie üblich aß sie einen Toast zum Frühstück und blätterte dabei die Morgenzeitung durch, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie liebte ihren Job als Texterin. Sie war in einem Unternehmen angestellt, das Software für Endverbraucher entwickelte, und ihre Aufgabe war es, die Anzeigentexte, Gebrauchsanweisungen und Handbücher der neuen Produkte in eine für den Laien verständliche Sprache zu übertragen. Bereits seit drei Jahren arbeitete sie für die Firma New Ideas Inc. in Austin, Texas.

Es war Freitag. Draußen herrschte das schönste Maiwetter. Jeder im Büro war mit seinen Gedanken schon im Wochenende, und auf den Korridoren und in den Büros sprach man darüber, was man sich für die kostbare freie Zeit vorgenommen hatte. Für Sherri waren die Wochenenden kein Thema. Sie sahen bei ihr fast immer gleich aus: Einkäufe erledigen, ein paar Sachen zur Reinigung bringen, Wäsche waschen, aufräumen. Am Samstagabend machte sie es sich meistens mit ihrer Katze Lucifer auf dem Sofa bequem und sah sich einen Film an, den es im Fernsehen gab oder den sie sich aus der Videothek geholt hatte.

Sherri war mit ihrem Leben vollauf zufrieden. An Verabredungen hatte sie kein Interesse. Anfangs hatte es mit ihrer Mitbewohnerin Joan, einer Lehrerin, Diskussionen gegeben, weil Joan sich einfach nicht vorstellen mochte, wie man so seine Freizeit verbringen konnte. Es war sicher gut gemeint gewesen, als sie versucht hatte, Sherri mit einem ihrer Kollegen oder dem Freund eines Freundes zu verkuppeln. Aber Sherri stand der Sinn ganz und gar nicht nach einer Affäre. Was war davon schon zu erwarten? Wieder ein gebrochenes Herz, wieder der Katzenjammer, dann die qualvolle Zeit danach, bis die Narben halbwegs verheilt waren.

Das hatte sie alles hinter sich. Zur Genüge. Es schien Sherris Los zu sein, gerade die Menschen zu verlieren, die sie am meisten liebte, und sie hatte ihre Konsequenzen daraus gezogen. Ganz egal, was einem die Romantiker vorgaukelten, war es besser, für sich zu bleiben und niemanden zu nah an sich herankommen zu lassen. Dann konnte man auch nicht so brutal verletzt werden, wie sie es schon mehrmals erlebt hatte.

Im Alter von nicht einmal vierzehn Jahren hatte sie den ersten schweren Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Drei Wochen vor ihrem Geburtstag erreichte sie die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Ihre Mom und ihr Dad waren nach Griechenland gereist und hatten sie solange bei ihrer Tante Melanie einquartiert. Es war der erste Urlaub, den die beiden ohne ihre Tochter unternommen hatten. Tante Melanie hatte ihre Eltern noch damit aufgezogen, dass die beiden wohl die Flitterwochen nachholen wollten.

Jeden Tag hatte Sherri mit ihrer Mom telefoniert, und als die Urlaubszeit sich dem Ende neigte, hatte Sherri sich wie eine Schneekönigin darauf gefreut, ihre Eltern wieder in die Arme schließen zu dürfen. Sie war so gespannt auf die Fotos gewesen und darauf, was die Eltern ihr mitbringen würden.

Als Tante Melanie dem Mädchen von dem Unglück berichtete, konnte Sherri es nicht glauben. Noch am Tag zuvor hatte sie mit ihrer Mutter gesprochen. Es musste sich um einen Irrtum handeln, eine Lüge. Dann sah Sherri die Fernsehnachrichten, die Bilder in der Zeitung, und nach und nach wurde ihr klar, dass es die bittere Wahrheit war.

An den Trauergottesdienst hatte Sherri nur bruchstückhafte Erinnerungen. Sie wusste noch, wie die beste Freundin ihrer Mutter den Arm um sie gelegt und ununterbrochen geweint hatte, während sie, selbst fassungslos und unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen, dastand. Sie hatte das Bild noch vor sich, wie Tante Melanie die gerahmten Fotos ihrer Eltern auf die Kommode stellte. Der Chef ihres Dads hatte die Tante und sie wissen lassen, dass sie sich finanziell keine Sorgen zu machen brauchten. Sherris Vater hatte eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen. Aber was für ein Trost war das?

Die Reaktion brach erst später aus Sherri hervor, nicht als Trauer oder Verzweiflung, sondern als namenlose Wut auf alles und jeden: auf die Schule, die sie daran gehindert hatte, mit ihren Eltern nach Griechenland zu fliegen, auf die Fluggesellschaft und die Piloten, die das Flugzeug hatten abstürzen lassen, Wut sogar auf ihre Eltern, die sie allein zurückgelassen hatten, und schließlich auch auf sich selbst, dass sie nicht bei ihnen gewesen war.

Sherri musste miterleben, wie ihr Elternhaus ausgeräumt und verkauft wurde. Als sie gefragt wurde, hatte sie gesagt, dass sie nichts von all dem behalten wollte. Aber ihre Tante wusste es glücklicherweise besser und hatte etliche Erinnerungsstücke gerettet, die Sherri später wie einen Schatz hütete.

Irgendwann hatte Sherri es geschafft, ihren Schmerz zu verarbeiten. Aber der Preis dafür war hoch. Sie wurde immer introvertierter, ließ kaum noch jemanden an sich heran, und es war ihr kaum möglich, zu jemandem Vertrauen zu fassen oder jemandes Hilfe zu akzeptieren. Zu groß war die Angst vor einem weiteren Verlust, von dem sie nicht gewusst hätte, wie sie ihn verkraften sollte.

So hatte sie gelernt, zu überleben, klaglos zu meistern, was auf sie zukam, und auf sich allein gestellt zu leben. Nur ein einziges Mal war sie von diesem Kurs abgewichen: Als sie schon erwachsen war, hatte sie es zugelassen, dass ihr jemand nahekam. Es hatte in einer bitteren Enttäuschung geendet.

In der Folge war Sherri darauf bedacht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und hatte den Ehrgeiz entwickelt, darin die Beste zu sein. Das genügte ihr. Sie brauchte keine Beziehung. Jetzt war sie vertieft in die Reinschrift für eine umfangreiche technische Bedienungsanleitung, die schon nächste Woche in den Druck gehen sollte. Mitten in dieser Arbeit erreichte sie die Nachricht, dass Brad Horton, ihr Chef, ein Meeting für zehn Uhr anberaumt hatte. Die Nachricht rief nicht nur bei ihr Erstaunen hervor. Normalerweise fanden die Meetings montags statt. Sherri passte die Unterbrechung nicht. Viel lieber hätte sie ihre Arbeit noch am selben Tag zu Ende gebracht. Vielleicht dauert es ja dieses Mal nicht so lange, tröstete sie sich.

Als sie den Konferenzraum betrat, wunderte sich Sherri abermals. Nur fünfzehn ihrer Kolleginnen und Kollegen waren da und nicht, wie sonst üblich, die versammelte Belegschaft. Was sollte das werden? Gab es Belobigungen auszusprechen, vielleicht sogar Prämien? Sherri sah sich um. Es waren Mitarbeiter aus ihrer, aber auch aus anderen Abteilungen anwesend. Die anderen schienen genauso ratlos zu sein wie sie.

Die vereinzelten leisen Gespräche verstummten. Brad Horton hatte den Raum betreten.

Er ging zum oberen Ende des Tisches und blieb, die Hände auf dem Rücken verschränkt, stehen. „Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind“, begann er. „Wie einigen von Ihnen vielleicht bekannt ist, befindet sich unser Unternehmen augenblicklich in einer schwierigen Lage. Die angestrebten Quartalsziele sind nicht erreicht worden. Die Geschäftsleitung hat sich eingehend mit dieser Situation auseinandergesetzt und ist zu Entscheidungen gekommen, die ihr nicht leichtgefallen sind. Aber wir müssen den Gegebenheiten ins Auge sehen, und leider gibt es keine andere Möglichkeit, als uns von einigen Mitarbeitern zu trennen.“

Horton machte eine Pause. Es herrschte Totenstille im Raum. Sherri hatte das Gefühl, als wäre ihr das Herz stehen geblieben. Wer würde entlassen werden? Alle, die hier waren? Sie auch? Vorsichtig blickte sie nach links und rechts und sah überall dieselben verstörten Gesichter.

„Ich möchte dabei betonen“, fuhr Brad Horton fort, „dass die Auswahl, die wir treffen mussten, nichts mit Ihrer Arbeitsleistung zu tun hat. Jeder Einzelne von Ihnen ist ein wertvoller Mitarbeiter, dessen Einsatz wir sehr schätzen. Dennoch verstehen Sie sicherlich, dass wir eine Wahl treffen mussten, da uns die wirtschaftliche Lage dazu zwingt, die Personalkosten deutlich zu senken.“

Es war entsetzlich. Und es war beschämend. Ganz gleich, was Horton da vorne faselte, wie man es auch umschrieb, so bedeutete es nur eines: Sie alle hier waren gefeuert. Sherri versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Aber es fiel ihr nicht leicht. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie vor die Tür gesetzt wurde. Verstehen konnte sie es nicht. Für ihre Arbeit hatte sie immer nur Lob und Anerkennung bekommen.

Ihr brach der kalte Schweiß aus. Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie Joan das beibringen? Der Grund, warum sie mit ihr zusammengezogen war, war der gewesen, dass keine von beiden sich die Wohnung allein hätte leisten können.

„Um Ihnen den Übergang leichter zu machen …“ Sherri musste sich zwingen, weiter zuzuhören. „… bekommen Sie jetzt noch zwei Wochengehälter ausgezahlt und die Urlaubstage vergolten, die Sie noch nicht in Anspruch genommen haben. Und ich betone noch einmal: Wir zweifeln nicht an Ihren Fähigkeiten. Diese Entscheidung hat einzig und allein wirtschaftliche Gründe“, schloss Horton seinen Vortrag und blickte sich in der Runde um. „Noch irgendwelche Fragen?“

Niemand rührte sich. Schließlich hob Sherri die Hand. „Was ist mit den Aufträgen, die wir augenblicklich bearbeiten? Ich meine, ich habe das Handbuch, an dem ich gerade dran bin, fast fertig, und es müsste nächste Woche in den Druck.“

„Das ist gut gemeint, Sherri, aber lassen Sie es, wie es ist. Das bekommen wir auch so fertig. Sonst noch Fragen?“

Wieder herrschte Schweigen.

„Gut.“ Brad Horton griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Stapel Umschläge hervor. „Ich rufe jetzt einzeln Ihre Namen auf, und Sie kommen dann bitte nach vorn zu mir und holen sich Ihren Umschlag ab. Wenn Sie ihn erhalten haben, gehen Sie bitte an ihren Arbeitsplatz zurück. Dort wird jemand sein, der Ihnen beim Einpacken Ihrer persönlichen Sachen behilflich ist.“

Behilflich – das war der Gipfel der Demütigungen. Vor den Augen aller Kollegen musste man seinen Schreibtisch ausräumen und hatte dabei noch jemanden im Nacken, der aufpasste, dass man ja keine Büroklammer mitnahm, die der Firma gehörte.

Als ihr Name aufgerufen wurde, kratzte Sherri ihr letztes bisschen Selbstachtung zusammen und ging erhobenen Hauptes und ohne eine Miene zu verziehen nach vorn, um ihren Scheck entgegenzunehmen. Damit kehrte sie dann zurück an ihren Arbeitsplatz.

Als sie dort ankam, hatten alle anderen die Köpfe gesenkt und taten sehr beschäftigt. Sherri konnte es ihren Kollegen nicht einmal übel nehmen. Sie war sich nicht sicher, ob sie es an ihrer Stelle anders gemacht hätte. Wie in Trance suchte sie nach einem Karton und begann, ihre Sachen aus den Schubladen und Fächern zusammenzusuchen: Nachschlagewerke für technische Begriffe, Glückwunschkarten, Kaffeebecher und all den Krimskrams, der sich im Laufe von drei Jahren angesammelt hatte.

Die Kollegin, die ihr zugeteilt war, um ihr behilflich zu sein, verfolgte jede von Sherris Bewegungen und eskortierte sie schließlich noch bis an die Eingangstür. Noch immer halb benommen, eilte Sherri zu ihrem Wagen auf dem Firmenparkplatz. Sie stellte den Karton auf den Rücksitz und setzte sich bei geschlossenen Türen und Seitenscheiben hinter das Steuer, obwohl im Inneren eine Gluthitze herrschte, nachdem der Wagen zwei Stunden in der Sonne gestanden hatte. Es war die einzige Zuflucht, die sie im Moment hatte. Bewegungslos saß sie da und starrte durch die Windschutzscheibe vor sich ins Leere. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Was habe ich bloß falsch gemacht? Ich war fast immer pünktlich. Ich habe nie krankgefeiert – im Gegensatz zu manchen anderen. Vielleicht hätte ich doch zu dem Meeting gehen sollen, zu dem ich letzten Monat wegen des Drucktermins nicht gegangen bin.

Andere, noch drängendere Fragen kamen hinzu: Wie soll ich künftig meinen Teil der Miete für die Wohnung tragen? Und die anderen Kosten? Wovon soll ich künftig die Rechnungen bezahlen? Je länger Sherri nachdachte, desto stärker ergriff sie die Panik. Zwar hatte sie sich ein bisschen Geld auf die hohe Kante gelegt, aber natürlich nicht so viel, dass sie längere Zeit ohne eigenes Einkommen über die Runden kommen würde.

Was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, hatte ausgereicht, um ihr College zu bezahlen und sich das kleine Auto leisten zu können, das sie jetzt fuhr. Sie konnte von Glück reden, dass sie weder für den Wagen noch für ihr Studium einen Kredit abstottern musste. Aber trotzdem brauchte sie umgehend einen neuen Job. Aber woher nehmen? Es bedeutete, dass die Ochsentour der Bewerbungen und Vorstellungsgespräche erneut begann. Ihr schauderte bei dem bloßen Gedanken daran.

Entschlossen gab sie sich einen Ruck, ließ den Motor an und stellte die Klimaanlage ein. Schließlich konnte sie nicht den ganzen Tag hier auf dem Parkplatz in ihrem Wagen sitzen. Wenn sie jetzt nach Hause fuhr, war sie zumindest bis zum Nachmittag allein in der Wohnung und konnte sich, bis Joan kam, die Decke über den Kopf ziehen. Noch lieber wäre es Sherri gewesen, Joan hätte ihre Europareise, die sie nächsten Monat mit einigen ihrer Lehrerkollegen plante, schon angetreten. Vielleicht hätte sie, Sherri, dann in der Zwischenzeit schon einiges regeln können.

Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, klappte die Sonnenblende hinunter und warf einen Blick in den Kosmetikspiegel. Ihr hübsches Gesicht mit den ausdrucksvollen grünen Augen, eingerahmt von dem brünetten Haar, sah blass aus. „Du wirst es schaffen“, sprach Sherri ihrem Konterfei halblaut Mut zu.

Sie fuhr vom Parkplatz und ordnete sich in den Verkehr auf der Hauptstraße ein. Wenigstens war ihr der Wagen geblieben. Wenn sie jetzt auf Arbeitssuche gehen musste, war sie dringend darauf angewiesen. Sie würde sorgsam damit umgehen müssen, damit keine teuren Reparaturen anfielen. Aber das tat sie eigentlich immer, denn sie liebte dieses kleine Auto, das sie sich als Neuwagen gekauft und bar bezahlt hatte. Noch einmal warf sie einen Blick in den Rückspiegel und sah das Gebäude der Firma entschwinden, für die sie die letzten drei Jahre lang gearbeitet hatte. Bevor sie auf den Highway einbog, sah sie auf die Uhr im Armaturenbrett. Noch nicht einmal Mittag. Sherri konnte sich kaum noch vorstellen, dass sie vor ein paar Stunden seelenruhig und nichts ahnend in ihrer Küche gesessen und Zeitung gelesen hatte.

Auf dem Highway herrschte um diese Zeit nur mäßig Betrieb, und zu Sherris Erleichterung ging es zügig voran. Trotzdem hatte sie den Kopf so voll von Fragen und Sorgen, dass sie alle Anstrengung aufbieten musste, um sich auf den Verkehr zu konzentrieren.

Nach einer knappen Viertelstunde, in der sie im vorgeschriebenen Tempo von siebzig Meilen gut vorangekommen war, sah Sherri plötzlich Bremslichter vor sich aufleuchten und nahm den Fuß vom Gas. Sie näherte sich dem Ende eines Staus. Offenbar hatte es vor ihr einen Unfall gegeben. Sherri bremste ab. Dabei warf sie einen Blick in den Rückspiegel und erstarrte vor Schreck. Riesengroß war dort der Kühlergrill eines Sattelschleppers aufgetaucht und nahm bereits das gesamte Rückfenster ein. Die nächsten Sekunden erlebte Sherri wie in Zeitlupe. Unerbittlich näherte sich das Ungetüm. Dann hörte sie die quietschenden Bremsen, als der Fahrer vergeblich versuchte, seinen Vierzigtonner zum Stehen zu kriegen. Eine eigenartige Ruhe überkam sie, während sie auf den Aufprall wartete. War das das Ende? Das Letzte, woran sie sich dann erinnerte, waren ein ohrenbetäubender Knall und das Aufkreischen von zusammengeschobenem Blech.

Als Sherri wieder zu sich kam, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. Es war ein Gefühl, als ob sie auf einer Wolke dahindriftete. Wie aus weiter Entfernung hörte sie undeutlich und verworren Stimmen, die aufgeregt durcheinanderriefen: „Hier ist jemand eingeklemmt.“ – „Lebt sie noch?“ – „Wir müssen sie da rausholen. Sofort!“ – „Ich komme nicht heran!“

Sherri wunderte sich, was das Chaos zu bedeuten hatte und von wem diese Menschen redeten. Konnten sie sie nicht in Frieden lassen? Konnten sie nicht sehen, dass sie jetzt ihre Ruhe haben wollte? Sie spürte eine Hand an ihrem Hals.

„Ich kann einen Puls fühlen“, sagte eine fremde Stimme. „Also, jetzt schleunigst heraus mit ihr.“

Sie merkte, dass sie fast komplett unter das Steuerrad und das Armaturenbrett gerutscht sein musste. Wie war sie da hingekommen? Sie wurde von mehreren Händen gepackt und verlor dann endgültig das Bewusstsein.

2. KAPITEL

Greg Hogan befand sich schon auf dem Rückweg zur Polizeistation, als ihm sein Funkgerät meldete, dass er auf schnellstem Weg zum Standort zurückzukehren hatte. Er musste ohnehin an seinen Schreibtisch, um in der Computer-Kartei ein paar Verdächtige zu überprüfen.

Trotzdem liebte Greg solche Rückrufe nicht. Sie bedeuteten selten etwas Gutes. In seiner Dienststelle hielt er sich so wenig wie möglich auf. Seine Arbeit als Ermittler der Mordkommission brachte es mit sich, dass er viel unterwegs war. Und das war auch gut so. Denn wenn er für seinen vorgesetzten Captain erreichbar war, gab es ständig Diskussionen. Greg löste seine Fälle lieber im Alleingang, was immer wieder zu Auseinandersetzungen über Begriffe wie Kooperation und Teamgeist führte. Letztendlich vermochte der Captain nichts gegen Gregs Arbeitsmethoden einzuwenden, ganz einfach, weil der Erfolg Greg recht gab. So ertrug Greg die sich regelmäßig wiederholenden Scharmützel mit stoischer Gelassenheit und betrachtete sie von der positiven Seite. Solange der Captain auf ihm herumhackte, ließ er wenigstens die anderen im Dezernat in Ruhe.

Greg fuhr auf seinen reservierten Parkplatz vor dem Polizeigebäude. Der Stellplatz war eine der Vergünstigungen, die ihm seine Beförderung zum Lieutenant vor ein paar Monaten eingebracht hatte. Sobald er in seiner Abteilung angekommen war, merkte er aber, dass irgendetwas nicht stimmte. Etliche seiner Kollegen standen herum und machten betretene Gesichter.

Greg schaute in die Runde und fragte: „Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?“

Pete Carter, Sergeant und Dienstältester in der Abteilung, kam auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für dich, Greg.“

„Was für Neuigkeiten? Ist einem von unseren Leuten etwas passiert? Wem?“

Pete schüttelte den Kopf. „Es geht um Sherri.“

„Sherri? Was ist mit ihr?“

„Sie war heute Vormittag in eine Massenkarambolage auf dem Highway verwickelt und musste mit dem Hubschrauber ins Unfallkrankenhaus gebracht werden. Soweit ich gehört habe, ist ihr Zustand kritisch.“

Greg wurden die Knie weich. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl. „Ich dachte, da ihr beiden verheiratet wart, solltest du es wissen“, fuhr Pete voller Mitgefühl fort. Wie benommen fuhr Greg sich mit der Hand durchs Haar. Dann sah er Pete an und fragte: „Sicher, dass sie es ist?“

„Leider ja. Ein Lastwagenfahrer hat das Ende eines Staus auf dem Highway verpennt und ist mit Volldampf hineingerauscht. Unglücklicherweise war Sherris Wagen der letzte, und so hat es sie am schlimmsten erwischt.“

Für einen Moment schloss Greg die Augen. Sherri in Lebensgefahr? Das durfte nicht wahr sein. „Welches Krankenhaus ist es?“, fragte er dann.

Pete nannte ihm den Namen.

„Danke, dass du gleich Bescheid gesagt hast.“ Damit stand Greg auf und ging hinaus.

Den Weg zur Klinik legte Greg wie in Trance zurück. Unweit der Notaufnahme stellte er den Wagen auf einem Parkplatz ab. Im Krankenhaus empfing ihn hektische Betriebsamkeit. Ärzte und Schwestern eilten zwischen Patienten hin und her, die in Betten, auf Tragen und in Rollstühlen durch den Raum geschoben wurden. Greg sah Kopfverbände, Menschen, die intubiert und an piepsende Monitore angeschlossen waren, andere, die ambulant versorgt wurden. Obwohl er einiges gewohnt war, kam ihm die Szenerie vor wie im Krieg.

Greg verschaffte sich einen Überblick, konnte Sherri jedoch nicht unter den Patienten entdecken. Er versuchte, eine der Schwestern anzusprechen und sie nach Sherri zu fragen, wurde aber kurz angebunden abgefertigt: „Sir, Sie sehen doch, was hier los ist …“ Er begriff, dass er hier keine Auskunft bekommen würde. Also machte er sich auf den Weg, ging einen Korridor hinunter und passierte mehrere Türen, ohne sich um die Schilder zu kümmern, die ihm den Zutritt untersagten.

Nachdem er eine Weile herumgeirrt war, wurde er von einem Mann in weißem Kittel aufgehalten. „Sir, ich muss Sie bitten, zurück in den Warteraum zu gehen.“

Das Namensschild sagte Greg, dass ein Dr. Luke Davis vor ihm stand. „Dr. Davis“, sagte Greg und war um Selbstbeherrschung bemüht, „ich suche nach einem der Unfallopfer der Massenkarambolage auf dem Highway heute Vormittag. Mrs. Sherri Masterson Hogan. Sie muss mit dem Rettungshubschrauber hier eingeliefert worden sein, wurde mir gesagt.“

Der Doktor hörte ihm immerhin zu. „Sind Sie ein Angehöriger?“

„Ihr Ehemann.“

„Warten Sie einen Moment. Ich will mich erkundigen.“

Der Arzt eilte davon, und Greg ging ungeduldig auf und ab, wobei er immer wieder Betten und Rollstühlen ausweichen musste, die ihm entgegenkamen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Doktor zurück war. „Sie wird noch operiert“, erklärte er.

„Und wie geht es ihr?“

„Das müssen Sie den Unfallchirurgen fragen.“

„Wo finde ich den?“

„Gehen Sie nach oben. Ins Wartezimmer der Intensivstation. Der Kollege wird zu Ihnen kommen, sobald er fertig ist.“

Mit Mühe unterdrückte Greg seine Ungeduld. „Ich muss sie so schnell wie möglich sehen.“

„Besprechen Sie das mit dem Chirurgen.“

Greg wandte sich zum Gehen.

„Viel Glück“, rief der Arzt ihm hinterher.

Greg ging den Weg zurück, den er gekommen war, bis er einen Aufzug fand, in dem er ein Stockwerk höher fuhr. Heilfroh, der Hektik in der Notaufnahme entkommen zu sein, trat er in einen stillen, verlassenen Flur, der, wie ein Schild ihm anzeigte, zur Intensivstation führte. Hinter einer weiteren Tür mit dem deutlichen Hinweis „Kein Zutritt für Besucher“ entdeckte er das Schwesternzimmer. Die Tür stand offen, und Greg trat ein.

„Sie dürfen sich nicht hier auf der Station aufhalten, Sir“, wurde er sogleich von einer der Schwestern empfangen.

„Ich warte auf Sherri Masterson Hogan, die jeden Augenblick aus dem Operationssaal kommen muss“, erklärte Greg.

Die Schwester sah in ihre Unterlagen. „Ich habe hier nur eine Sherri Masterson“, sagte die Krankenschwester nach einigem Blättern. „Sind Sie ein Angehöriger?“

„Ihr Ehemann.“ Greg blieb bei seiner Notlüge. Merkwürdig, dass Sherri ihren Mädchennamen wieder angenommen hat, dachte er. Aber vielleicht war es doch gar nicht so merkwürdig.

„Wo Sie schon einmal hier sind“, fuhr die Schwester fort, „können Sie uns doch sicher ein paar Auskünfte geben. Uns fehlen noch einige Angaben.“

„Sicher“, entgegnete er schicksalergeben.

Sie ging die ganze Liste der Personalien mit ihm durch.

Sherris Geburtstag, Geburtsort, sogar ihre Krankenversicherung hatte Greg mühelos parat. Als es jedoch zur Wohnadresse kam, stockte er und nannte dann rasch seine eigene. Nachdem die Befragung beendet war, ging er brav ins Wartezimmer der Station. Die Schwester versprach ihm, den Chirurgen zu ihm zu schicken, sobald die Operation beendet war.

Kaum etwas hasste Greg mehr, als tatenlos herumsitzen und warten zu müssen. Dennoch war er entschlossen, nicht von der Stelle zu weichen, bevor er nicht genau wusste, wie es um Sherri stand. Er kam sich dabei ein wenig merkwürdig vor. Immerhin hatte er anderthalb Jahre lang nichts von Sherri gehört. Achtzehn Monate und sechs Tage waren es, um ganz genau zu sein. Sherri hatte ihn ausdrücklich darum gebeten, sie weder anzurufen noch sonst Kontakt zu ihr aufzunehmen, nachdem sie sich getrennt hatten, und Greg hatte dieser Bitte entsprochen. Dann kam die Scheidung. Er war überzeugt gewesen, dass das Kapitel Ehe für ihn abgeschlossen war. Aber wenn er über die Trennung wirklich hinweg war, woher kam dann jetzt diese Panik?

Selbstverständlich war es eine Ausnahmesituation. Sherri schwebte in Lebensgefahr. Der Gedanke daran, dass seine Exfrau mit sechsundzwanzig Jahren sterben sollte, war entsetzlich. Schließlich hatte er sie geliebt. Und heute?

Greg dachte zurück. Während der letzten sechs Monate ihrer dreijährigen Ehe hatten sie sich immer mehr voneinander entfernt. Sherri hatte sich komplett in sich selbst zurückgezogen, und wenn er sie gefragt hatte, warum sie das tat, antwortete sie, er wäre ihr trotz ihrer Ehe fremd geblieben. Nie würde er sich öffnen, sie nie an dem teilhaben lassen, was er dachte oder fühlte. Nach der ganzen Zeit wüsste sie noch immer so gut wie nichts über ihn.

Zugegeben, ganz unrecht hatte sie damit nicht. Aber er gehörte nun einmal nicht zu denen, die gern über sich selbst sprachen – und schon gar nicht über Gefühle. Es fiel ihm einfach schwerer als anderen, sich mitzuteilen.

In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte Sherri ihn immer wieder nach seiner Kindheit, seiner Familie, warum er Cop geworden wäre und nach lauter anderen Dingen gefragt. Greg war sich bewusst, dass er nicht sehr auskunftsfreudig gewesen war. Für ihn waren das Geschichten, die vergangen und abgehakt waren. Anfangs hatte er sich bemüht, Sherri das zu erklären. Aber sie hatte ihn nicht verstanden. Später hatte er es dann aufgegeben.

So kam es, wie es kommen musste. Als er eines Tages nach Hause kam, fand er die Wohnung verlassen vor. Jede Spur von ihr war getilgt. Es war geradezu gespenstisch, so als hätte sie nie bei ihm gewohnt. Die einzig sichtbaren Zeichen, die sie von sich hinterlassen hatte, waren ihre Wohnungsschlüssel, die zusammen mit einer kurzen Notiz und der Visitenkarte ihres Rechtsanwalts auf dem Küchentresen lagen. Sie wolle die Scheidung, stand auf dem Zettel. Wenn er Fragen hätte, sollte er sich an den Anwalt wenden.

Und ob er Fragen hatte. Zum Beispiel wie es angehen konnte, dass sie ihm die ganze Zeit vorwarf, er würde nichts von sich erzählen, und dann selbst ohne Vorwarnung verschwand, sich sogar schon einen Anwalt gesucht hatte, ohne sich die Mühe zu machen, ihm etwas zu erklären.

Er war damals stinksauer auf sie gewesen, hatte aber darauf verzichtet, sich auf eine weitere Auseinandersetzung einzulassen. Es war zwecklos. Offensichtlich war Sherri fest entschlossen, diesen Weg zu gehen.

Ja, er hatte sie geliebt, und er hatte sich auch alle erdenkliche Mühe gegeben, ihr das zu zeigen. Aber es war wohl nicht genug. Bis zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens war er ein absoluter Einzelgänger gewesen. Er wollte ihr ein guter Ehemann sein, aber er wusste nicht so recht, was sie von ihrem Partner erwartete. Vielleicht hatte er zu viele Überstunden gemacht. Aber davor hatte er sie gewarnt. Die freien Stunden wollte er am liebsten nur mit ihr im Bett verbringen. Möglicherweise war ihr auch das zu wenig für eine Ehe gewesen.

Vielleicht hatte er sie zu sehr zu dieser Heirat gedrängt. Aber er hatte Angst gehabt, sie zu verlieren, wenn er zu lange mit seinem Antrag wartete. Verloren hatte er sie dann trotzdem. Da war es auch kein großer Trost, dass gerade in seinem Beruf der Anteil geschiedener Ehen und gescheiterter Beziehungen weit über dem Durchschnitt lag.

Autor

Annette Broadrick
<p>Bis Annette Broadrick mit sechzehn Jahren eine kleine Schwester bekam, wuchs sie als Einzelkind auf. Wahrscheinlich war deshalb das Lesen immer ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Mit 18 Jahren, direkt nach ihrem Abschluss an der Highschool, heiratete sie. Zwölf Monate später wurde ihr erster Sohn geboren, und schließlich wurde sie in sieben...
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