Immer wieder Lust auf dich

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Alles ist genau wie damals: das Begehren, das die hübsche Sozialarbeiterin Mandy für ihre Jugendliebe Rafe McClain empfindet, seine verheißungsvollen Blicke aus dunklen Augen, die von dem sprechen, was er gern mit ihr machen würde. Aber es ist nicht die Lust, die sie auf der Ranch ihres Bruders Dan in Texas zusammengeführt hat, sondern die Sorge um Dan. Denn er ist spurlos verschwunden, nachdem er seinem Freund Rafe einen Brief geschickt hat, in dem er ihn um Hilfe bat. Tagsüber suchen Mandy und Rafe fieberhaft nach Dan - doch die Nächte gehören nur ihrer Liebe ...


  • Erscheinungstag 16.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716943
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Freunde lässt man nicht im Stich.

Rafe McClain hatte sich in den letzten Tagen viele Male diesen Satz ins Gedächtnis zurückgerufen, obwohl er seit Jahren nicht mehr wusste, was es hieß, Freunde zu haben. Er war ein Einzelgänger.

Doch dann hatte ihn eines Tages dieser Brief von Dan Crenshaw erreicht und ihn an vergangene Zeiten erinnert, von denen er geglaubt hatte, er hätte sie erfolgreich aus seinem Gedächtnis gestrichen.

Dans Brief war ein Hilfeschrei, den Rafe nicht überhören konnte, auch wenn es ihm ganz und gar nicht passte, worum ihn sein Freund bat. Und nun war er dabei, den Jetlag einer Reise zu überwinden, die er vor vielen Stunden begonnen hatte.

Er rieb sich über sein raues Kinn und ärgerte sich, dass er es versäumt hatte, sich beim letzten Aufenthalt in Atlanta zu rasieren. In weniger als einer Stunde würden sie auf dem Flughafen von Austin in Texas landen.

Seit zwei Tagen war Rafe unterwegs, ohne zu wissen, was ihn eigentlich bei seiner Ankunft erwarten würde. Nach zwölf Jahren Abwesenheit fuhr er nur widerwillig zurück in die Staaten. Als er damals Hals über Kopf mit seinem Abschlusszeugnis in der Tasche Texas verlassen hatte, hatte er sich geschworen, nie wieder zurückzukommen.

Dan Crenshaw war sein bester, wenn nicht sogar sein einziger Freund. Sie kannten sich seit der vierten Klasse, und ohne dass Dan es in seinem Brief geschrieben hatte, wusste Rafe, dass Dan fest damit rechnete, dass Rafe kommen würde.

Dennoch hätte er sich gewünscht, dass sich Dan ein wenig deutlicher ausgedrückt hätte. Kein Wort hatte er darüber verloren, weswegen er unbedingt Rafes Unterstützung brauchte.

Es belastete Rafe, dass ihn Dans Brief erst so spät erreicht hatte. Laut Poststempel war der Brief schon vor fünf Wochen abgeschickt worden. Deshalb hoffte er, dass seine Hilfe noch rechtzeitig kommen würde.

Gleich nachdem er den Brief erhalten hatte, hatte er vergeblich versucht, Dan telefonisch zu erreichen. So sah Rafe keine andere Möglichkeit, als zurück in die Staaten zu fliegen. Obgleich er nicht wusste, ob seine Anwesenheit auf der „C-Bar-C-Ranch“ irgendeinen Nutzen haben würde.

Wenn es nach dem alten Crenshaw gehen würde, hätte Rafe die Ranch nie wieder betreten dürfen. Aber der alte Herr war bereits seit fünf Jahren unter der Erde. Also musste sich Rafe nicht davor fürchten, gleich wieder vertrieben zu werden.

Es war ein drückend heißer Juliabend, als Rafe McClain um zehn Uhr in Austin ankam. So wie er sich fühlte, müde und erschöpft, kam er sich nicht gerade wie der ideale Retter in der Not vor.

Nachdem er seine Reisetasche in dem Mietwagen verstaut hatte, den er sich in Atlanta gemietet hatte, machte er sich auf den Weg. Die Ranch lag etwa 50 km südwestlich von Austin, in einer rauen hügeligen Gegend von Texas. Rafe staunte über die Veränderungen. Die dünn besiedelte Landschaft von früher, in der nur hier und da eine Ranch gestanden hatte, hatte sich schon fast in einen Vorort der Hauptstadt verwandelt. Unterwegs sah er das Hinweisschild zu einem Polo-Club. Rafe schüttelte amüsiert den Kopf, denn Polo war so ziemlich das Letzte, was zu diesem Land der Cowboys passte.

Als er endlich in die Einfahrt zur Ranch einbog, spürte Rafe, wie müde er war. Er hatte nur noch das Bedürfnis zu schlafen.

Das Gattertor zur Ranch war mit einem schweren Vorhängeschloss verriegelt, wie Rafe erstaunt feststellte. Auf einer großen Tafel stand: „Privatbesitz. Betreten für Unbefugte verboten.“

Schild und Schloss waren offensichtlich erst vor Kurzem angebracht worden. Früher hatte es nur ein dünnes Zahlenschloss gegeben, das sich öffnen ließ, wenn man die Geburtsdaten von Dan und seiner Schwester Mandy kannte.

Amanda Crenshaw. Seit Jahren hatte Rafe nicht mehr an sie gedacht. Sie war fünfzehn gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, ein schlaksiges Mädchen mit wilden rotbraunen Locken und einem ansteckenden Lachen. Er vermutete, dass sie noch weniger als ihr Vater erpicht darauf sein würde, ihn zu sehen. Und das zu Recht.

Dan hatte in einem seiner Briefe einmal erwähnt, dass Mandy in Dallas lebte. Es wäre sicher auch für alle Beteiligten besser, dachte Rafe, wenn ich und Mandy uns nicht über den Weg laufen würden.

Inzwischen war es Mitternacht geworden. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder schlief Rafe im Wagen und würde am nächsten Morgen zu Fuß weitergehen, oder er brachte den Weg noch jetzt hinter sich.

Eigentlich gefiel ihm keine von beiden Lösungen.

Nur gut, dass ich nicht so viel Gepäck habe, dachte Rafe erleichtert, als er über den Zaun kletterte.

Er wusste, dass es ein Risiko war, um diese Zeit ein abgeriegeltes Privat-Grundstück zu betreten. In diesem Landstrich der Vereinigten Staaten zögerte man nicht lange, bevor man schoss. Er würde also kaum Gelegenheit haben, sein Erscheinen erklären zu können.

Rafe lächelte, denn jetzt konnte er in die Tat umsetzen, was er im fernen Osteuropa im Überlebenstraining anderen beigebracht hatte.

Als er die ersten Gebäude erreicht hatte, die zur Ranch gehörten, hatte sich Rafe bereits an zwei bewaffneten Wachen vorbeigeschlichen. Das Haus wurde von Scheinwerfern beleuchtet. Es war unmöglich, es zu erreichen, ohne entdeckt zu werden. Rafe fragte sich, was der Grund für diese Sicherheitsmaßnahmen sein konnte.

Das einstöckige Gebäude aus Kalkstein hatte ein weit ausladendes Dach. Eine Veranda lief um die gesamte Rückseite des Hauses.

Er erinnerte sich, dass er als Junge davon geträumt hatte, eines Tages in einem ähnlichen Haus mit seiner eigenen Familie zu leben. Heute belustigten ihn seine kindlichen Träume, doch damals hatten sie ihm immer geholfen, wenn er traurig und niedergeschlagen gewesen war.

In der Nähe des Hauses schienen zwar keine Wachen zu stehen, aber Rafe wollte es auch nicht darauf ankommen lassen. Er versteckte seine Tasche im Gebüsch, legte sich auf den Bauch und robbte langsam auf allen vieren Richtung Haus. Als er endlich die Rückseite des Hauses erreicht hatte, war seine Stimmung auf dem Nullpunkt angekommen. Er kam sich vor wie ein Idiot. Warum hatte er nicht einfach angerufen und Dan gebeten, ihn vom Flughafen abzuholen? Dann wäre ihm diese ganze Aktion erspart geblieben.

Das laute Bellen eines vermutlich kräftigen Hundes schreckte ihn aus seinen Gedanken. Bei diesem Lärm würde bestimmt niemand mehr schlafen können. Rafe drückte sich gegen die Hauswand neben der Küchentür und wartete darauf, dass Dan erscheinen würde, um nachzusehen, warum sein Hund auf einmal anschlug.

Amanda Crenshaw stürzte aus dem Bett, als sie Ranger bellen hörte. Sie sah aus dem Schlafzimmerfenster. Das Bellen hatte bestimmt die Männer alarmiert, die vermutlich bald kommen würden, um nach ihr zu sehen. Sie warf sich schnell einen Morgenrock über und schlüpfte in ihre Schuhe. Auf Zehenspitzen ging sie durch den langen Flur.

Sie fand Ranger, der immer noch laut bellte und knurrte, vor der Küchentür. Ein Mann sprach mit tiefer Stimme beruhigend auf ihn ein. Sie erstarrte, denn sie erkannte eine Stimme, die sie vor vielen Jahren zuletzt gehört hatte. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, sie jemals wieder zu hören.

Mandy hatte das Licht eingeschaltet, und jetzt trat ein großer schlanker Mann aus dem Schatten.

„Rafe“, flüsterte sie. Dann räusperte sie sich. „Ranger, das reicht!“, sagte sie mit fester Stimme. Der Hund hörte zwar augenblicklich auf zu bellen, knurrte aber noch leise weiter. Sie öffnete die Tür und winkte Rafe mit klopfendem Herzen herein.

Ihr Blick fiel auf seine langen muskulösen Beine. Er trug verwaschene Jeans, abgetragene Stiefel und ein ausgeblichenes Jeanshemd. Der geöffnete Kragen entblößte dunkle, von der Sonne gebräunte Haut. Ein Dreitagebart bedeckte das Kinn und die markanten Wangen.

Er könnte auch mal wieder einen Haarschnitt vertragen, dachte sie, als sie seine dunkle Mähne betrachtete, die ihm ins Gesicht fiel. Und dann war da dieser Ausdruck in seinen schwarzen Augen.

Sie zitterte leicht. „Was machst du denn hier?“

Er lächelte zögernd. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin wegen Dan hier.“

„Dan?“

„Ja. Er hat mich gebeten zurückzukommen.“

Sie legte ihre Hand auf Rangers Kopf. „Genug“, beruhigte sie den knurrenden Hund. „Du hast deine Sache gut gemacht.“ Während sie sprach, ließ sie Rafe nicht aus den Augen.

Das helle Licht offenbarte ihr, dass der Mann, der vor ihr stand, äußerlich nur noch wenig gemein hatte mit dem Jungen aus ihren Erinnerungen. Tiefe Furchen kerbten sich in seine schmalen Wangen, und um seine Augen lagen dunkle Schatten. Sie fragte sich, was er in den vergangenen zwölf Jahren gemacht hatte, und vermutete, dass Rafes Leben nicht einfach gewesen war.

„Wie bist du hierher gekommen?“, fragte sie.

Er lehnte sich gegen die Tür und ließ sich von Ranger beschnuppern. Endlich schien sich der Hund zu beruhigen. „Auf dem üblichen Weg. Erst mit dem Flugzeug und dann mit dem Auto. Den Rest musste ich zu Fuß erledigen. Warum hat Dan das Tor so schwer gesichert? Hat es etwas damit zu tun, weshalb er mich hat kommen lassen?“

Mandy begriff immer noch nicht ganz, was los war.

Rafe McClain war also zurück in Texas. Er war hier wegen Dan. Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken. „Wann hast du zuletzt mit ihm gesprochen?“

„Gar nicht. Er hat mir vor einiger Zeit einen Brief geschrieben, der mich leider etwas spät erreicht hat. Er bat mich um Hilfe. Also bin ich gekommen.“

Mandy sah aus dem Fenster, um ihre Aufregung zu verbergen. „Ich verstehe aber trotzdem nicht, wie du bis zu dem Haus kommen konntest, ohne dass dich jemand gesehen hat.“

„Ich war einfach vorsichtig.“ Er gähnte.

Sie zwang sich, ihn anzusehen. „Wo bist du gewesen? Ich meine, wo warst du, als du Dans Brief bekommen hast?“

„In der Ukraine.“

Die Antwort überraschte sie. „Was hast du da gemacht?“

„Willst du ein Buch über mich schreiben?“

Bestimmte Dinge würden sich wohl nie ändern. Rafe war persönlichen Fragen schon früher immer ausgewichen.

Warum hatte Dan ihr nie erzählt, dass er immer noch Kontakt zu Rafe hatte? Sie hatten nie wieder über ihn gesprochen. Und warum ging Dan davon aus, dass Rafe ihm würde helfen können? Fragen über Fragen. Mandy schwindelte der Kopf.

Sie musste jetzt handeln. Sollte sie vielleicht den Verwalter anrufen, damit er Rafe wieder nach draußen begleitete? Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, ihn zu empfangen. Andererseits gehörte Dan, der Rafe ganz offensichtlich eingeladen hatte, die Ranch.

Rafe setzt sich rücklings auf einen der Küchenstühle und seufzte müde. Mandy hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ein bisschen grob zu ihm gewesen war. Außerdem spürte sie jetzt verärgert, wie sie allmählich rot wurde.

Sie hatte Rafe immer um seine dunkle Haut beneidet. Er hatte nie Probleme mit Sonnenbrand gehabt, im Gegensatz zu ihr selbst. Deshalb hatte sie schon vor langer Zeit entschieden, die Sonne zu meiden und sich lieber im Schatten aufzuhalten. Ihre Haut war so dünn, dass jeder sofort sehen konnte, wenn sie peinlich berührt war.

So wie jetzt.

Um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, beantwortete Rafe ihre Frage. „Ich bin Berater.“

Ein Berater. Sie konnte sich ihn nur schwer in Anzug und Krawatte vorstellen. „Wofür?“

Er lächelte. „Das willst du doch nicht wirklich wissen.“ Er sah sich um. „Die neue Einrichtung gefällt mir.“

„Mir auch. Dan hat sie vor einigen Jahren angeschafft.“

„Lebst du jetzt hier?“

„Nein. Ich wohne in Dallas. Ich habe mir freigenommen.“

Sie bemerkte, dass er auf ihre Hände sah.

„Und du bist noch nicht verheiratet?“, fragte er überrascht.

Sie wich seinem Blick aus. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Die gleiche Frage kann ich dir stellen.“

„Ich glaube, weil ich zu viel unterwegs bin. Die meisten Frauen, die ich kennengelernt habe, wollten einen häuslichen Ehemann.“

Sie konnte sich Rafe nicht als verheirateten Mann vorstellen. Dafür wirkte er viel zu unabhängig. „Ich verstehe“, murmelte sie und fragte sich, was sie jetzt mit ihm machen sollte.

„Und was ist deine Entschuldigung?“

Ihre Blicke trafen sich. „Vielleicht, weil mich noch niemand gefragt hat“, entgegnete sie kurz angebunden.

Er lächelte, und sie spürte einen Stich im Herzen. „Das glaube ich dir nicht.“ Er betrachtete sie eingehend.

„Jedenfalls niemand, den ich hätte heiraten wollen.“ Sie verschränkte die Arme über der Brust. „Dan sagt, dass ich mich immer in die Falschen verliebe.“

Beide schwiegen.

„Du hast mir noch gar nicht gesagt, wo Dan ist“, brach Rafe schließlich das Schweigen.

„Er … er ist im Moment nicht da.“

„Und wo zum Teufel ist er dann? Ich bin von weit her gekommen, um Dan zu helfen. Also, wo steckt er?“

Sie war dieser Frage ausgewichen, weil sie Angst davor hatte, die Fassung zu verlieren, wenn die Rede auf Dan kam. Sie atmete tief durch. Wie sollte sie es sagen? Sie wünschte sich so sehr, dass sie im Unrecht war. „Ich glaube, dass Dan tot ist“, antwortete sie schließlich, und dabei versagte ihr fast die Stimme.

2. KAPITEL

Rafe sah ihr prüfend ins Gesicht. Offensichtlich war sie von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugt. Dennoch wollte er nicht glauben, was er hörte.

„Tot?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann nicht sein. Ich wüsste es, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Er …“ Rafe verstummte, weil er sich auf einmal lächerlich vorkam. Schließlich wusste er nur zu gut, wie schnell alles vorbei sein konnte. „Am besten erzählst du jetzt erst einmal der Reihe nach, Mandy, und erklärst mir, was hier eigentlich los ist.“

Mandy nahm ein Glas und füllte es mit Wasser. Er hätte sie gern gefragt, ob sie ihm etwas zu trinken geben könnte, unterdrückte aber seinen Wunsch. Im Moment gab es Wichtigeres. Als sie sich ihm wieder zuwandte, bemerkte er, dass ihre schimmernden blaugrauen Augen irgendwo in die Ferne gerichtet waren. Sie schien ihn gar nicht mehr wahrzunehmen.

Während er darauf wartete, dass sie etwas sagte, überlegte er, ob diese junge Frau noch irgendetwas von dem Mädchen an sich hatte, das er einmal gekannt hatte. Sie bewegte sich noch genauso anmutig wie früher, und er stellte fest, dass er sie immer noch sehr anziehend fand.

Sie war schlank, hatte aber eine weiblichere Figur bekommen, mit der sie jedem Mann den Kopf verdrehen konnte. Er hätte gern ihre Wange berührt. Das rotbraune Haar trug sie immer noch lang. Die Locken fielen über ihre Schultern, und ihm fiel ein, dass er sie gerade aus dem Bett geholt hatte.

Als sie ihn wieder ansah, seufzte sie.

„Ich habe Dan schon seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Wir hatten beide viel zu tun. Dennoch hat er mich immer mindestens ein Mal in der Woche angerufen. Vor etwa zehn Tagen bekam ich einen Anruf von Dans Verwalter, Tom Parker. Er fragte mich, ob ich etwas von Dan gehört hätte.“

„Warum rief er dich an?“

„Er wollte herausfinden, ob Dan sich bei jemandem gemeldet hatte.“

„Du meinst, er ist einfach so verschwunden?“

„Tom erzählte mir, dass er eines Nachmittags kurz mit Dan gesprochen hatte. Er wollte mit ihm klären, ob man das Vieh nicht auf eine andere Weide bringen sollte. Dan hatte ihm gesagt, dass er am Abend eine Verabredung hätte und am nächsten Morgen zur Verfügung stehen würde. Doch am nächsten Tag war Dan nirgendwo auffindbar.“

„Weiß jemand, wen Dan treffen wollte, oder wo er die Verabredung hatte?“

„Leider nicht. Ich glaube, dass er jemanden bei der Landebahn getroffen hat. Er muss mit einem Flugzeug verschwunden sein, weil sein Wagen immer noch in der Garage steht und Tom den Jeep an der Landebahn gefunden hat.“

„Was für eine Landebahn?“

„Vor drei Jahren ließ Dan auf dem Grundstück eine Landebahn bauen. Er und sein Geschäftspartner wollten eigentlich zusammen ein Flugzeug kaufen. Doch sein Partner erzählte mir, dass daraus nichts wurde. Sie mieten sich manchmal eins und benutzen dafür die Landebahn.“

Rafe schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich bin jetzt nicht mehr in der Lage, über irgendetwas nachzudenken. Das Ganze klingt jedenfalls sehr rätselhaft. Ich muss erst einmal ein wenig Schlaf bekommen, bevor ich wieder denken kann.“

„Hoffentlich kannst du helfen. Seit Toms Anruf kann ich auch kaum noch schlafen. Ich bin sofort hierher gekommen, um herauszufinden, was passiert ist. Aber im Moment weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Abgesehen von Tom und mir scheint Dans Verschwinden niemanden zu beunruhigen, weder seinen Partner noch die Polizei. Sein Partner meinte nur, dass Dan schon wieder zurückkommen würde. Aber das glaube ich nicht. Dan verschwindet nicht einfach so, vor allem nicht, wenn er sich vorher mit Tom verabredet hat. Außerdem hätte er doch bestimmt angerufen, damit sich niemand Sorgen macht, wenn er sich zum Beispiel verspätet hätte.“

„Das glaube ich auch. Ich kenne niemanden, der so verantwortungsbewusst ist wie Dan.“

„Genau.“ Sie sah ihn an. „Du siehst sehr müde aus. Geh schlafen. Wir reden morgen weiter.“

Rafe stand auf. „Er wird schon so lange vermisst, dass es wahrscheinlich auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt.“

Mandy ging vor ihm durch den Flur. „Du kannst in Dans Zimmer schlafen.“

Bevor Rafe das Licht in der Küche ausmachte, sprach er noch einmal mit dem Hund, der ihn unverwandt ansah. „Ich bin froh, dass du hier aufpasst.“ Dann folgte er Mandy.

„Dan ist nach Moms Tod in das große Schlafzimmer umgezogen.“

„Es tut mir leid, Mandy. Sie war immer so nett zu mir. Ich werde sie nie vergessen.“

„Sie musste nicht lange leiden.“

„War es ihr Herz?“

Sie nickte. „Dad hatte es hingegen schwerer. Er kämpfte länger gegen den Krebs, als die Ärzte angenommen hatten.“

Rafe wollte weder jetzt noch später über ihren Vater reden. Er ging an ihr vorbei und in eins der wenigen Zimmer, die er nicht kannte. Mandy folgte ihm und warf einen Blick in das Bad. „Du findest hier alles, was du brauchst. Wir sehen uns dann morgen früh.“ Sie drehte sich um und ging leise hinaus.

Erst jetzt fiel Rafe ein, dass seine Tasche immer noch draußen im Gebüsch versteckt lag. Er sah sich um. An der einen Wand stand ein riesiges Bett. Die andere wurde von einem Bücherregal ausgefüllt, in dem Romane und Sachbücher standen. Er lächelte, als ihm einfiel, dass Dan früher schon eine Leseratte gewesen war.

Er musste an Mandys Worte denken. Dan konnte nicht tot sein. Rafe konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich Dan kopflos in eine lebensbedrohliche Lage stürzen würde. Andererseits wusste Rafe nur zu gut, dass man sich nicht immer vor allem schützen konnte.

Wo war er? Wenn Dan noch am Leben war, warum war er nicht zurückgekommen?

Rafe ging zu der schmalen Wand neben dem Badezimmer, an der Fotos hingen. Die meisten waren auf der Ranch aufgenommen worden.

Rafe war überrascht, als er feststellte, dass er selbst auf vielen Bildern zu sehen war. Er hatte ganz vergessen, dass er so dünn gewesen war.

Gerade wollte er sich wieder abwenden, da bemerkte er ein paar Fotos, die auf der Party aufgenommen worden waren, die die Crenshaws Dan und ihm zu Ehren veranstaltet hatten. Ihr Schulabschluss war gefeiert worden. Es war der letzte Abend, den Rafe auf der Ranch verbracht hatte.

Auf einem der Fotos war Mandy abgebildet. Sie trug ein pastellfarbenes Baumwollkleid mit einem weiten Glockenrock und sehr kurzen Ärmeln. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie an jenem Abend ausgesehen hatte. Ihre Augen hatten gestrahlt, und ihr Lächeln war einfach hinreißend gewesen. Er berührte ihr Foto und zog mit dem Finger die Linien ihrer Lippen und die Rundung ihrer Schultern nach.

Wenn er die Augen schloss, konnte er sich wieder an jenen Kuss erinnern und daran, wie er sie in den Armen gehalten hatte. Er spürte auch wieder jenes Verlangen von damals. Wie sehr hatte er sich in jener Nacht gewünscht, mit ihr zu schlafen.

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf ein Foto von Dan, das auch an jenem Tag aufgenommen worden war. Dan sah in seinem Anzug ernst und feierlich aus, bis auf den verschmitzten Blick, der so typisch für ihn war. Und dann gab es auch noch ein Foto von Rafe im Anzug, dem ersten und einzigen in seinem Leben. Rafe betrachtete den Jungen, der er einmal gewesen war. Auch er sah sehr feierlich aus, aber sein Blick hatte nichts Belustigtes. Er schien vielmehr entschlossen zu sein, etwas aus seinem Leben zu machen.

Das war ihm auch gelungen.

Rafe ging ins Bad und zog sich aus. Unter dem heißen Duschwasser entspannte er sich etwas. Er war inzwischen so müde, dass er kaum noch die Augen offenhalten konnte. Morgen früh würde er sich etwas von Dans Sachen ausleihen und sich dann seine Tasche von draußen holen. Denn alles, was er sich jetzt noch wünschte, war, in den seligen Schlummer des Vergessens zu fallen.

Nachdem sie Rafe sein Zimmer gezeigt hatte, legte sich Mandy wieder in ihr Bett. Ranger war ihr gefolgt und rollte sich jetzt mit einem Seufzer neben ihrem Bett auf dem Boden zusammen.

Dass Rafe McClain so unerwartet wieder in ihr Leben getreten war, hatte ihr einen Schreck versetzt, auf den sie gut und gerne hätte verzichten können. Andererseits musste sie zugeben, dass Rafe wohl am ehesten in der Lage sein würde, Dans Verschwinden aufzuklären. Eigentlich sollte sie erleichtert sein, dass er zurückgekommen war. Außerdem bestätigte ihr die Tatsache, dass Dan seinen Freund um Hilfe gebeten hatte, dass irgendetwas in Dans Leben in Unordnung geraten war.

Sie dachte an das Wiedersehen mit Rafe. Obgleich sie ihn zwölf Jahre nicht gesehen hatte, schlug ihr Herz bei seinem Anblick immer noch genauso wild wie früher.

Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem er zum ersten Mal auf die Ranch gekommen war. Er war damals vierzehn gewesen, genauso alt wie Dan. Und sie war elf.

Seine Jeans hatten genauso abgetragen ausgesehen wie die, die er heute anhatte. Und sein Haar war auch genauso lang und zerzaust gewesen. Äußerlich hat er sich also gar nicht so sehr verändert, dachte sie ein bisschen belustigt.

Allerdings war er damals wesentlich dünner gewesen. Und er hatte blaue Flecken im Gesicht gehabt, über die er kein Wort verloren hatte. In Gedanken machte sie eine Zeitreise zurück in ihre Kindheit.

Sie hatte an einem Samstagmorgen in ihrem Zimmer gesessen und überlegt, ob sie ihre Puppen und all das andere Kinderspielzeug für immer wegpacken sollte. Eigentlich spielte sie manchmal noch ganz gern damit, wenn Dan es nicht mitbekam und sie damit aufzog, dass sie noch ein Baby sei. Andererseits konnte sie ein bisschen mehr Platz in ihrem Zimmer gut gebrauchen. Am Montag sollte das neue Schuljahr nach den großen Ferien wieder beginnen. Deshalb hatte sie das Bedürfnis, mit Vergangenem abzuschließen, um Platz für Neues zu schaffen.

Es war nicht einfach, wenn man schon zu alt für bestimmte Spiele war und zu jung für einen Freund.

Da hörte sie die Hunde draußen bellen und sah aus dem Fenster, um nachzusehen, was der Grund dafür war. Ein langer schlaksiger Junge stand an dem Gatter der Steinmauer, die den Garten vom Rest des Grundstücks abtrennte. Er stand ganz still, während die Hunde aufgeregt um ihn herumsprangen.

Da hörte sie auch schon Dans Stimme, der aus dem Haus gestürmt kam. „Hey, Rafe! Wie geht’s?“ Dan verjagte die Hunde und öffnete das Gatter.

Mandy glaubte den Jungen wiederzuerkennen. Er war in Wimberley auf dieselbe Grundschule wie sie und Dan gegangen. In diesem Herbst würden die beiden Jungen auf die High School kommen. Es sei denn, Rafe wäre schon von der Schule gegangen. Oder vielleicht war seine Familie weggezogen, denn sie hatte sie schon lange nicht mehr gesehen.

Mandy war neugierig. Sie rannte nach unten und betrat die Veranda. Sie wunderte sich über das, was sie hörte.

„Ich bin auf der Suche nach Arbeit.“

Dan lachte. „Ist das dein Ernst? Gehst du denn gar nicht mehr zur Schule?“

„Ich will mich am Montag anmelden, aber dafür brauche ich eine Adresse von hier. Deshalb dachte ich, ich könnte bei deinem Dad auf der Ranch arbeiten, abends und an den Wochenenden, bis ich mit der Schule fertig bin.“

Dan zeigte auf eine klaffende Wunde direkt über Rafes linkem Auge. „Was ist passiert?“

„Unwichtig.“

„Dein Vater?“

„Vergiss es.“

„Lebt deine Familie noch in Texas?“

„Ja.“

„Wissen sie, wo du bist?“

„Nein.“ Rafe warf Dan einen misstrauischen Blick zu. „Wirst du es ihnen erzählen?“

„Nicht, wenn du es nicht willst. Aber werden sie nicht nach dir suchen?“

Rafe lachte bitter. „Bestimmt nicht.“ Da entdeckte er Mandy. Er sah schnell wieder weg. Dan drehte sich um.

„Hör auf, uns zu belauschen und geh rein!“, fuhr er sie an.

Wortlos ging Mandy wieder ins Haus. Sie suchte ihre Mutter und fand sie im Vorgarten, wo sie Unkraut jätete.

„Mom, da ist ein Junge, der Arbeit sucht.“

Ihre Mutter richtete sich auf und sah sie fragend an. „Warum erzählst du mir das, mein Schatz? Dein Dad kümmert sich doch um diese Dinge.“

„Rafe ist noch ein Kind.“

Ihre Mutter lächelte. „Ach ja? Wie alt ist er denn?“

„So alt wie Dan. Sie waren in derselben Klasse. Doch dann ist Rafe umgezogen oder so.“

„Rafe?“

Autor

Annette Broadrick
<p>Bis Annette Broadrick mit sechzehn Jahren eine kleine Schwester bekam, wuchs sie als Einzelkind auf. Wahrscheinlich war deshalb das Lesen immer ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Mit 18 Jahren, direkt nach ihrem Abschluss an der Highschool, heiratete sie. Zwölf Monate später wurde ihr erster Sohn geboren, und schließlich wurde sie in sieben...
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