Julia Ärzte zum Verlieben Band 145

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VIER TAGE UND EINE POLARNACHT von AMALIE BERLIN

"Dein Ring steht für eine Lüge." Bis zu der entlegenen Forschungsstation in der Antarktis ist Dr. Lia Monterrosa gereist, um ihrem Ex den Verlobungsring zurückzugeben. Aber wie verhängnisvoll: West ist immer noch der Einzige, den sie jemals geliebt hat - jemals lieben wird!

WEIHNACHTSGALA MIT DEM PLAYBOY-DOC von CHARLOTTE HAWKES

Er ist gefährlich heiß! Anouk versucht, jeden Einsatz mit dem Neurochirurgen Solomon Gunn zu vermeiden. Einen Playboy-Doc braucht sie bestimmt nicht in ihrem Leben. Noch ahnt Anouk nicht, dass sie und Sol etwas gemeinsam haben. Wie sie kümmert auch er sich um die Ärmsten der Armen …

HÖR NUR AUF DEIN HERZ, STEPHANIE! von SUE MACKAY

Spontan erklärt sich Rettungssanitäterin Stephanie bereit, zu Dr. Michael Laing zu ziehen. Sie wollte ihm aus dem Weg gehen - jetzt wohnt sie nach einem Unfall bei ihm! Ihr Verstand warnt sie, dabei hat ihr Herz schon längst entschieden: Es will eine zweite Chance mit Michael!


  • Erscheinungstag 13.11.2020
  • Bandnummer 19
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715625
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amalie Berlin, Charlotte Hawkes, Sue MacKay

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 145

AMALIE BERLIN

Vier Tage und eine Polarnacht

In zehn Tagen wird er die Forschungsstation in der Antarktis verlassen. So lange hat Dr. West MacIntyre Zeit, seiner frisch eingetroffenen Ex-Verlobten Lia zu erklären, warum sie einen besseren Mann verdient hat. Aber statt mit ihr zu reden, zieht er die junge Ärztin schon in der ersten Polarnacht in seine Arme. Er hat sich so verzweifelt nach ihr gesehnt …

CHARLOTTE HAWKES

Sexy Weihnachtsgala mit dem Playboy-Doc

Anouk Hart, die schöne Ärztin in der Notaufnahme, scheint immun gegen seinen Charme zu sein. Egal, wie heiß der Neurochirurg Solomon Gunn versucht, mit ihr zu flirten: Sie bleibt kühl. Bis sie zusammen eine kleine Patientin retten! Plötzlich sieht er Interesse in Anouks Blick. Er lädt sie zu einer Weihnachtsgala ein – und wartet gespannt auf ihre Antwort …

SUE MACKAY

Hör nur auf dein Herz, Stephanie!

Dr. Michael Laing wusste genau, was er Steph antat, als er die Beziehung beendete. Aber eine gemeinsame Zukunft kam für ihn einfach nicht in Frage! Dass seine Gefühle für die aparte Rettungssanitäterin immer noch viel zu stark sind, muss er erkennen, als sie sich zwei Jahre später wiedersehen. Warum nur, wo er doch nicht mal an die Liebe glaubt?

1. KAPITEL

Dr. Lia Monterrosa hatte zwar nicht den Abenteuergeist ihrer portugiesischen Vorfahren geerbt, dafür redete sie gern und viel. Nach der langen, anstrengenden Reise schien keiner ihrer Begleiter so munter zu sein wie sie. Sie waren alle dick angezogen und schleppten ihr Gepäck durch die blitzsauberen Korridore der neuen Forschungsstation in der Antarktis, in der sie gerade eingetroffen waren und den langen Winter verbringen würden.

In den Gesprächen hatten die Männer und Frauen ihr unterschiedliche Gründe für ihren Aufenthalt hier genannt – viele waren einfach neugierig auf diese einmalige Erfahrung, andere glaubten, sich hier, in acht Monaten völliger Abgeschiedenheit, zusammen mit fünfzig Fremden, am besten auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Dies war für Lia der Vorteil ihrer Reise – von Menschen umgeben zu sein, die sie nicht kannten und deshalb auch keine Erwartungen an sie hatten. Sie musste weder besonders stark noch besonders angepasst sein.

Sie war gekommen, um hier ihren ehemaligen Verlobten zu finden. Ihn zu fragen, was in den vier Tagen passiert war, in denen sie nach Hause nach Portugal gereist und er zu dem Ergebnis gekommen war, dass er sie nicht mehr liebte und auch nicht mehr heiraten wollte. Warum er so kaltherzig gewesen war, spurlos zu verschwinden, während sie Angaben bei der Kriminalpolizei machte, um ihren als vermisst gemeldeten Vater zu finden.

Er hatte keine Nachricht hinterlassen. Er hatte einfach nur nicht mehr auf ihre Anrufe reagiert, und als sie sich freigenommen hatte und drei Tage vor der Hochzeit nach London gereist war, hatte sie festgestellt, dass seine Wohnung leer war und er seinen Job sowie seinen Mobilfunkvertrag gekündigt hatte. Ihr waren nur noch der wunderschöne Ring geblieben, den sie zusammen entworfen hatten, und eine große innere Leere.

Heute allerdings würde sie ihn nach zu vielen qualvollen Monaten wiedersehen. Wenn das Schicksal ihr wohlgesonnen war, würde er ihr Antworten geben. Und sie könnte endlich damit abschließen, was ihr damals versagt geblieben war.

Wie aufs Stichwort krampfte sich ihr Magen zusammen. Den Grund für das Ende zu erfahren würde ihr helfen, auch wenn ihr damit wieder einmal bewusst wurde, dass sie offenbar nicht gut genug war.

„Dr. Monterrosa, Sie sind in Gebäude C“, sagte nun die Frau, die sie alle einwies, und deutete auf eine Tür mit einem halbrunden Fenster. Nachdem alle stehen geblieben waren, fügte sie hinzu: „Da Sie am Ende des Sommers eingetroffen sind, verteilen wir Sie auf die freien Zimmer.“

Und wenn die anderen in etwas mehr als einer Woche abreisten, würde sie, Lia, die Einzige in diesem Gebäude sein. Nachdem Jordan und Zeke die Forschungsstation verlassen hätten. Nachdem West …

Lia wollte nach der Nummer fragen, doch die Frau kam ihr zuvor. „Die letzte Tür links, am Ende des Flurs.“

Lia schulterte ihre Reisetasche und betrat durch eine Tür einen weiteren, viel dunkleren Flur mit beigefarbenen Wänden und gleichfarbiger Auslegeware.

Dr. Weston MacIntyre würde damit rechnen, dass sie ihm angriffslustig begegnete, und das hatte einen gewissen Reiz, weil sie damit ihre Gefühle überspielen konnte.

Ihre beste Freundin und Beinahe-Trauzeugin Jordan, mit der sie zusammen Medizin studiert hatte, hatte sie an dem Tag angerufen, als West in der Fletcher Station aufgetaucht war. Nach der geplatzten Hochzeit hatte Lia Trost bei Jordan gefunden, denn sie hatte nicht einmal gewusst, ob West überhaupt noch lebte. Sie hatte Monate Zeit gehabt, um sich auf diese Begegnung vorzubereiten, sich jedes Wort zurechtgelegt, doch nun ließ die Vorstellung, auch nur etwas davon zu sagen, sie nur den Kopf schütteln. Niemand, der um die halbe Welt reiste, um einen anderen Menschen zu finden, konnte behaupten, er hätte denjenigen nicht vermisst. Hätte sich keine Sorgen gemacht.

Als Lia um eine Ecke ging, sah sie einen großen, breitschultrigen Mann mit einer schwarzen Strickmütze und einem ebensolchen Bart, einen Schlüssel in der Hand, vor den letzten beiden Türen stehen. Und er blickte in ihre Richtung.

Erneut krampfte sich ihr Magen zusammen, und hätte sie sich nicht an ihrem Rollkoffer festgehalten, hätten ihre Beine ihr vermutlich den Dienst versagt.

Es war West.

Ihr Verlobter, der immer wie aus dem Ei gepellt gewesen war. Ihr Ex-Verlobter. Doch nun wirkte er ziemlich abgerissen.

Plötzlich musste Lia an all die Male denken, die sie auf ihn zugegangen war. Bei ihrer ersten Begegnung in dem Krankenhaus in London, als man die Assistenzarztstelle für den frischgebackenen Chirurgen intern besetzen wollte. Während sie sich dem Schwesternzimmer näherte, in dem er saß, hatte sein Blick unverhohlenes Interesse verraten, bis er ihren Namen gehört hatte. Sie hatte sich auch zu ihm hingezogen gefühlt, es aber verdrängt, bis sie ihn nach drei Tagen gefragt hatte, ob er mit ihr ausgehen wollte.

Die Londoner Lia war furchtlos, zumindest nach außen hin. Denn das erwarteten alle von ihr.

Nun hob sie das Kinn, während sie die anderen Erinnerungen zu verdrängen versuchte. An die gemeinsame Suche nach der perfekten Kirche für ihre Hochzeit. An seine Blicke, in denen das Versprechen auf eine gemeinsame Zukunft gelegen hatte.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um anschließend umso schneller zu pochen. Und dann wurde ihr übel.

West betrachtete sie nur starr. Sein Blick war intensiv, verriet jedoch keine Liebe.

War dies der Moment? Dem Brennen in ihren Augen nach zu urteilen, ja. Passierte es, noch bevor sie ihr Gepäck abgestellt hatte?

Sie war noch nicht bereit.

Sie musste irgendetwas sagen. Schließlich hatte sie die lange Reise genau deshalb auf sich genommen. Um sich endlich von der Last zu befreien, die der Ring an ihrer linken Hand symbolisierte. Die widersprüchlichsten Emotionen tobten in ihr. Erleichterung. Bedauern. Das Gefühl, verraten worden zu sein.

Hätte sie auf dem Schiff überhaupt etwas Schlaf gefunden, hätte sie nachdenken können. Dann hätte sie jetzt den Blick abwenden können und kein Rauschen in den Ohren gehabt.

Die Lia, die er kannte, hätte ihn angeschrien. Ihn vielleicht geohrfeigt. Ihm Antworten abgenötigt. Irgendetwas. Doch die Frau, die sie jetzt war, konnte es nicht.

Während West sich offensichtlich von dem Schock erholte, gab sie es auf, nach den richtigen Worten zu suchen, und wartete darauf, dass er irgendwie reagierte.

Aber West sagte ebenfalls nichts. Er presste lediglich die Lippen zusammen, der einzige Hinweis darauf, dass sie mehr für ihn war als eine Fremde. Als hätte er das Recht, wütend auf sie zu sein. Schließlich hatte sie ihn nicht vor dem Altar stehen lassen.

Als Lia ihm schließlich etwas sagen wollte, ging er an ihr vorbei und stürmte den Flur entlang. Wieder einmal wollte er vor ihr fliehen. Sie war um die halbe Welt gereist, um ihn zu finden, doch in diesem Augenblick brachte sie nicht mehr die Energie auf, ihm zu folgen. Deshalb schloss sie kurz die Augen und atmete tief durch.

Sie war so dumm. Es gab andere Forschungsstationen in der Antarktis, für die sie sich hätte bewerben können. Ein ganzes Universum, in dem niemand sie kannte und sie sich ohne jeden äußeren Druck auf ihr neues Leben hätte vorbereiten können.

Lia neigte den Kopf und schloss erneut die Lider, um all das zu verdrängen, was sie offenbar nie wieder mit West erleben würde. Eigentlich hätte seine Reaktion sie nicht überraschen dürfen. Natürlich wollte er nicht mit ihr sprechen. Sie stand für seine Vergangenheit, und er hatte es immer vermieden, über die Vergangenheit zu reden. Er hatte nur von der Zukunft gesprochen. Und sie war nicht mehr Teil seiner Zukunft. Besser gesagt, nur noch Teil seiner nahen Zukunft, bis er in zehn Tagen fliehen konnte.

Er würde mit ihr sprechen. Sie würde sich überlegen, was genau sie ihm sagen wollte, nicht nur, was ihr gebrochenes Herz herausschreien wollte. Sie würden zusammenarbeiten und sich jeden Tag sehen. Sobald sie genug Schlaf bekommen hatte, würde sie ihm sagen, was sie zu sagen hatte.

Das war das einzig Gute daran, dass sie wieder die alte Lia war. Zu Hause in Portugal war sie die brave, gehorsame Lia gewesen, und auch daran hatte sie sich gewöhnen müssen. Die alte Lia hatte eine eigene Meinung, die sie auch kundtat. Und wenn sie hier wieder abreiste, würde sie vielleicht wissen, wer sie wirklich war, fern von den Menschen, die ganz bestimmte Erwartungen an sie hatten.

In der Nähe ihrer besten Freundin zu sein, würde ihr dabei helfen, sich wieder in die alte Lia zu verwandeln.

„Lia?“

Sie hatte niemanden kommen hören, doch beim Klang von Jordans Stimme öffnete sie die Augen wieder.

„Was hat er gesagt?“, fragte Jordan, bevor sie sie umarmte.

„Nichts“, murmelte Lia, während sie die Arme um sie schlang. „Er hat nichts gesagt.“

Mit finsterer Miene lehnte Jordan sich zurück. „Und was hast du zu ihm gesagt? Dass er der größte Idiot auf Erden ist?“

Lia schüttelte den Kopf. „Ich habe gar nichts gesagt. Ich hatte noch nicht damit gerechnet, ihn zu sehen.“

„Ich wollte es dir erzählen. Ich habe dafür gesorgt, damit er sich nicht zu weit entfernen kann, falls er hier überhaupt noch etwas Schlaf bekommen will.“

„Das ist sein Zimmer?“

Jordan nickte, blickte dann jedoch zögernd zur Tür. „Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Vielleicht hätte ich dir gar nicht erzählen sollen, dass er hier ist.“

„Unsinn. Ich möchte hier sein. Es ist kalt, aber daran werde ich mich schon gewöhnen. Ich muss mir nur überlegen, was ich sagen soll, bevor …“

„Du hast noch Zeit.“

Zehn Tage. „Ich wollte nur mein Gepäck abstellen und dann zur Krankenstation gehen.“

„Und er hat einfach hier gestanden?“ Nachdem Jordan ihr die Schlüssel und das Gepäck abgenommen hatte, öffnete sie die Tür zu dem winzigen Zimmer.

„Ja. Und er sah so aus, als würde er am liebsten sofort packen und das erste Schiff nehmen.“

Lia ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dieser hatte ein Eckfenster und war mit einem Doppelbett, einem kleinen Tisch sowie einem Einbauschrank möbliert. Zwischen Tür und Fenster war nur ein schmaler Gang. Gemütlich. Ja, so würde sie es nennen. Ein kleiner Raum, der leichter zu beheizen wäre. Da, sie war optimistisch.

„So sieht er mich jeden Tag an.“ Jordan stellte das Gepäck neben das Bett, bevor sie ihr bedeutete, ihr wieder hinauszufolgen. „Na ja, nicht direkt, aber wir reden später darüber, was für ein Mistkerl er ist. Ich soll dich zu deiner ärztlichen Untersuchung bringen.“

Auf dem Weg zur Krankenstation erzählte Jordan ihr von ihrer Arbeit dort. Und von Zeke. Sie hatte ihn hier kennengelernt und sich in ihn verliebt.

„Eigentlich wollte ich heute Abend mit dir zusammen essen“, fügte Jordan hinzu. „Aber du siehst so müde aus, dass du wahrscheinlich nur noch schlafen willst.“

„Kann ich das spontan entscheiden?“

„Klar. Nachdem ich dich mit Zeke bekannt gemacht habe.“

West taten alle Muskeln weh, als er die Krankenstation erreichte. Wie er hierhergekommen war, konnte er nicht sagen.

Was, zum Teufel, machte Lia hier? Eigentlich hätte er die Fletcher Station schon verlassen müssen, als er feststellte, dass Jordan Flynn hier arbeitete. Natürlich hatte sie Lia sofort von ihrer Begegnung erzählt. Hätte er auch nur geahnt, dass sie herkommen würde, wäre er nicht geblieben. Wenn es um Lia Monterrosa ging, war er schwach. Und er konnte ihr nur ein besseres Leben ermöglichen, indem er abreiste, sonst würde er es genauso ruinieren wie Charlies. Nur weil er gegangen war, hatten sie beide überleben können. Einen derartigen Verlust wollte er nie wieder durchmachen.

Ohne ihn konnte sie weitermachen und einen besseren Mann finden als ihn, der nicht einmal ihren Namen hören konnte, ohne sich an den Tag vor Monaten zu erinnern, als er seinen verstorbenen Bruder hatte identifizieren müssen. Nicht, dass er dafür überhaupt ihren Namen hören oder an sie denken musste. Man konnte es kaum eine Erinnerung nennen, denn es war so präsent, dass es ihm seitdem wie ein langer, nicht enden wollender Tag erschien.

Er hatte angenommen, dass sie ihn beide verflucht hatten, nachdem Jordan es ihr erzählt hatte.

Lia war nicht auf dem Weg zu seinem Zimmer gewesen. Sie hatte Gepäck dabeigehabt und den roten Overall getragen, den alle Mitarbeiter hier bekamen. Sie war in das leere Zimmer neben seinem gezogen.

West rieb sich die Stirn, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Er hatte gerade die Bücher in sein Zimmer gebracht, die er vor einem Monat bestellt und in der Poststelle abgeholt hatte. Es war früher Nachmittag. Also musste er die Eingangsuntersuchungen bei den sechs Neuankömmlingen durchführen – vier Wissenschaftler, ein Programmierer und die Ärztin, die den Winter hier verbringen würde.

Lia, die Sonnenanbeterin, hatte sich für die sechs Monate dauernde arktische Nacht verpflichtet?

Egal, er würde hier nur noch zehn Tage aushalten müssen, ohne sie um Verzeihung zu bitten. Doch selbst bei dieser Vorstellung verspürte er ein heißes Prickeln und atmete unwillkürlich schneller. Er musste sich zusammenreißen, bevor jemand hereinkam.

Schnell zog er seine Jacke aus und hängte sie auf. Verdammt, früher oder später würde Lia ihm sagen, was sie zu sagen hatte! Er brauchte nur einen Moment zum Nachdenken.

Konzentrier dich.

West ging zu dem Schrank an der Wand, in dem die Patientenakten aufbewahrt wurden. Die Hände darauf gestützt, schloss er die Augen und atmete tief durch.

Er hatte sich nie ausgemalt, wie es wäre, sie wiederzusehen, und nun zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Zu gehen bedeutete einen Neuanfang. Immer. Und sobald er das erste Hindernis überwunden hatte, ließ der Schmerz des Verlusts nach. Mal schneller, mal langsamer.

Er dachte an ihre Miene. Lia hatte traurig, ja, untröstlich gewirkt. Aber nicht wütend. Irgendetwas stimmte nicht.

„West“, riss die Stimme des leitenden Arztes Dr. Tony Bradshaw ihn aus seinen Gedanken. „Die Neuankömmlinge …“

„Ich weiß, du hast uns vor ein paar Tagen darüber informiert.“

Der Mann wurde vergesslich. Und immer dünner, aber dazu sagte West nichts. Er hatte ihn bereits zweimal darauf hingewiesen, dass er in der Antarktis mehr Nährstoffe zu sich nehmen musste.

„Gut“, meinte Tony langsam, als würde er sich wirklich nicht mehr daran erinnern, und reichte ihm die Akten, die er mitgebracht hatte. „Jordan kommt gleich und hilft dir. Sie trommelt gerade einige zusammen.“

Zum Beispiel Lia.

Als sie vor seiner Tür stand und ihn ansah, hatte sie Erinnerungen heraufbeschworen. Daran, wie sie geduftet hatte, wenn sie aus der Dusche kam. Oder wenn sie morgens beim Aufwachen nach ihm gerochen hatte.

Wieder wurde ihm heiß, und gleichzeitig lief West ein eisiger Schauer über den Rücken.

„Ich habe eine Besprechung. Du und Jordan führt die Untersuchungen durch“, rief Tony von der Tür her.

„Okay.“

Du musst erst mal die nächsten Stunden überstehen.

Dann konnte Lia nach Hause zurückkehren, und man würde einen anderen Arzt einstellen, der den Winter über hierblieb, und er müsste nicht die nächsten Monate damit verbringen, an sie zu denken und sich zu fragen, ob die Frau, die die Sonne liebte, mit der endlosen Dunkelheit in der Antarktis klarkommen würde. Er brauchte einen Neuanfang. Wieder einmal.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tony, der offenbar noch nicht gegangen war, hinter ihm.

„Ich schlafe nicht so gut“, erwiderte West ausweichend.

„Nimmst du denn die Tabletten?“

„Ja.“ Falls sie über seine Gesundheit redeten, würde er Tony auch auf seine ansprechen. Dieser sollte im Winter irgendein Projekt für die NASA leiten und würde mit seinem Gewichtsverlust bald Probleme bekommen. „Versuchst du immer noch, mehr Kalorien zu dir zu nehmen?“ Das war ein größeres Problem als seine Schlafstörungen.

Tony ignorierte seine Frage. „Lass Jordan deine Schilddrüsenwerte kontrollieren, wenn ihr mit den Neuankömmlingen fertig seid.“

„Das haben wir doch erst letzte Woche getan“, erinnerte ihn West. „Lass du das auch machen. Vergesslichkeit ist ein Symptom für den T3-Wert.“

„Ja, ja.“

Das bedeutete Nein.

„Und dann bin ich aus der Koje gefallen“, ließ Jordan sich von der Tür her vernehmen, woraufhin Tony den Raum verließ. Als Lia antwortete, musste West sich zwingen, sie nicht anzusehen, bis sein Herzschlag sich normalisiert hatte.

Zum Glück wurde Lia nie laut, egal, wie aufgebracht sie war. Falls sie auf eine Aussprache bestand, würde er mit ihr in eine Kabine gehen und die Tür hinter ihnen schließen, sodass niemand es mitbekam. Solange er nicht laut wurde. Anders als in den Wohntrakts waren die Wände auf der Krankenstation nicht dünn.

Auf keinen Fall durfte er Lia anfassen. Das hätte all seine Bemühungen zunichtegemacht. Noch nie hatte er sich in ihrer Nähe beherrschen können. Und trotz der drohenden Konfrontation wollte er sie immer noch ansehen. Immer noch berühren.

West nahm den Aktenstapel vom Tisch. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Jordan und Lia ihn betrachteten. Darauf warteten, dass er etwas sagte. Schnell ging er die Akten durch und reichte Jordan drei, unter anderem auch Lias.

„Tony möchte, dass alle Untersuchungen so schnell wie möglich durchgeführt werden.“

Nachdem Jordan einen Blick mit Lia gewechselt hatte, nahm sie die Akten entgegen.

„Falls du vorhast, mich für den Rest deines Aufenthalts hier zu ignorieren, vergiss es“, sagte Lia leise, aber nachdrücklich.

Er holte tief Luft, erwiderte aber nichts, sondern sah sie an und betrachtete sie zum ersten Mal richtig, wobei er die Unterschiede zu der Lia in London registrierte.

Sie wirkte müde. Sie war sonnengebräunt. Sie trug eine pinkfarbene Mütze. Sie hasste Pink. Früher hatte sie einen Kurzhaarschnitt getragen, doch nun blitzten braune Locken unter der Mütze hervor, die ihre zarten weiblichen Züge betonten.

„Willkommen in meinem Leben“, konterte sie, sanft wie immer, aber mit einem harten Unterton, dem er noch nie hatte widerstehen können. Dieser verriet eine innere Stärke, die er immer bewundert hatte. Die er sich bei ihr als Mutter seiner Kinder vorgestellt hatte. Der Art von Mutter, die er nie gehabt hatte und die vielleicht auch gar nicht existierte. Eine Mutter, die alles tun würde, um ihre Kinder zu beschützen.

Aber das war ein anderes Leben gewesen. Eine andere Zukunft, die er nicht hatte aufbauen können.

„Du willst den Job hier wirklich machen?“, fragte er.

Lia antwortete nicht und wandte sich schließlich an Jordan. „Kannst du mich als Erste untersuchen? Ich bin ja bisher die Einzige hier, und ich kann mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.“

Dass sie ihn ausschloss, war ihm nur recht.

Da er den Showdown zumindest vorübergehend abgewehrt hatte, ging er zum Schrank und legte die Akten darauf. So konnte er sich wenigstens von ihr und dem dumpfen Schmerz in seinem Nacken ablenken.

2. KAPITEL

Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, blieb er auch dabei. In den Stunden zwischen Lias Ankunft und seinem Dienstschluss war West zu dem Ergebnis gekommen, dass er das Problem mit Lia bei den Hörnern packen musste.

Die Umstände verstärkten seinen Ärger noch, denn der dritte Patient, der erscheinen sollte, war nicht aufgetaucht. Und fünf Minuten vor Feierabend musste er noch einen Bruch richten, womit er eine weitere Stunde beschäftigt war.

Als West vor ihrer Zimmertür eintraf, war seine Panik teilweise Wut gewichen. Das war ihm allerdings recht, weil Wut dabei half, die Erinnerungen in Schach zu halten. Er wollte sich nicht danach sehnen, zu ihr zu gehen, mit ihr zu reden, sie lächeln zu sehen. Sie zu küssen.

Er konnte also nur damit umgehen, indem er dafür sorgte, dass Lia ihn nicht wollte. Indem er ihr zu verstehen gab, dass es vorbei war. Und das musste er so schnell wie möglich durchziehen.

Nachdem West tief durchgeatmet hatte, klopfte er. Wenn Lia ihn nicht wollte, musste er in den nächsten zehn Tagen nicht ständig gegen die Versuchung ankämpfen. Es war nicht der beste Plan, aber der einzige, den er hatte.

West lauschte. Da alles stillblieb, klopfte er noch einmal.

Schließlich hörte er das Bett quietschen, dann wurde die Tür geöffnet, und er sah sich einer verschlafenen Lia gegenüber. Er hatte vier frustrierende Stunden hinter sich, doch bei ihrem Anblick überkamen ihn die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte und an ihre Liebe. Damals hatte sie ihn nach dem Aufwachen immer angelächelt. In jenen Momenten war sie nicht die starke, kompetente Ärztin gewesen, sondern einfach nur Lia. Als ihre Verwirrung sich legte, trat nun allerdings ein harter Ausdruck in ihre Augen.

Gut. Er tat sein Bestes, um ihre Erschöpfung zu ignorieren.

Mit einem Nicken deutete er ins Zimmer. „Ich mache es schnell.“

„Morgen.“

In dem schummrigen Licht sah er jetzt, dass sie von Kopf bis Fuß Pink trug. Eine Art Hausanzug mit Kapuze. Sein Ärger verflog bereits.

Warum trug sie hier überall Pink? Sie hasste diese Farbe. Zu gern hätte er sie danach gefragt. Aber damit hätte er Interesse bekundet, was er auf keinen Fall wollte. Ebenso wenig wie sie zu berühren, obwohl er sich kaum beherrschen konnte.

„Jetzt oder nie, Lia.“ West ballte die Hände zu Fäusten, um Lia nicht an sich zu ziehen. Allein sie zu betrachten tat weh.

„Der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen?“, fragte sie leise.

Die Worte, die Teil des ehelichen Treuegelübdes waren, trafen ihn wie ein Schlag. Trotz aller guten Vorsätze konnte West seine Reaktion nicht verbergen, doch er presste die Lippen zusammen und nickte erneut, woraufhin sie zur Seite trat.

Genau aus dem Grund ergriff er nach Katastrophen immer die Flucht. Er ertrug es nicht, hier zu stehen und ihren Schmerz zu spüren. Als wäre dieses Zimmer ein Ort zwischen zwei Universen – dem, in dem er alles bekommen hatte, was er sich je gewünscht hatte, und diesem, in dem er Lia ein letztes Geschenk machen konnte, indem er ging.

West schloss die Tür und lehnte sich dagegen, während Lia auf die andere Seite des Raumes ging. In seiner Fantasie hatte er sie angeschrien, ihr grausame Dinge an den Kopf geworfen und gelogen, damit sie ihn hasste. Aber nun, da sie ihm gegenüberstand und er ihren Schmerz so deutlich spürte, konnte er es nicht.

West zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. „Ich weiß nicht, was du willst, aber du vergeudest deine Zeit“, sagte er leise und mitfühlender als beabsichtigt. „Es ist vorbei. Sag, was du sagen willst, und das war’s dann.“ Er hörte selbst, dass sein schottischer Akzent viel deutlicher hervortrat.

„Ich bin nicht gekommen, um etwas zu sagen. Ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass du lebst und es dir gut geht“, erwiderte Lia mit bebender Stimme.

„Das hast du jetzt ja.“

„Stimmt, du lebst. Und ich muss begreifen, warum der Mann, der mich angeblich geliebt hat, der einzige …“ Sie verstummte und schloss die Augen, während sie nervös mit den Fingern spielte und sichtlich um Fassung rang. „Warum du einfach gegangen bist, und das drei Tage vor unserer Hochzeit. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was ich falsch gemacht habe.“

Sie nahm also die Schuld auf sich. Wenn er ihr die ganze verdammte Geschichte erzählte, würde sie vermutlich sagen, sein Bruder hätte sich das Leben genommen, weil sie zu viel Zeit mit West verbracht hatte, oder es wäre ihre Schuld, weil West keinen Abhängigen in seiner neuen Familie wollte und er Charlie ein Ultimatum gestellt hatte. Hätte er Charlie zugehört, dann hätte er merken müssen, dass dieser nicht bereit gewesen war, seiner Familie zuliebe einen Entzug zu machen …

West rieb sich die Stirn, weil sein Kopf zu pochen begonnen hatte. Denk nicht an Charlie. Er würde es Lia nicht erzählen. Doch wenn er wollte, dass sie ihm glaubte und die Schuld nicht auf sich nahm, musste er ihr irgendeinen Vorwand für sein Verschwinden nennen.

„Du hast nichts falsch gemacht.“ Das Sprechen fiel ihm schwer. „Etwas ist passiert, und ich musste gehen.“

„Was ist passiert?“

„Darüber möchte ich nicht reden, und das weißt du.“

Sie zuckte die Schultern. Unter anderen Umständen hätte er über ihren Anblick in dem lächerlichen Hausanzug gelächelt – aber er hatte schon lange nicht mehr gelächelt.

„Du wolltest ja noch nie über die Vergangenheit reden. Aber ich muss es verstehen.“

„Ja, klar. Allerdings musst du nicht alles wissen. Du bist jetzt nicht mehr Teil meines Lebens, Lia.“

„Wenn du gehen musstest, wäre ich mit dir gegangen.“

„Nein“, entgegnete West schnell. „Als ich dir einen Heiratsantrag gemacht habe, dachte ich, ich würde dich lieben. Aber anscheinend war das nicht der Fall.“

Sie wurde blass. „Du hast …“ Unvermittelt verstummte sie.

Eigentlich musste er sich bei ihr entschuldigen, weil er sie nur wenige Tage vor der Hochzeit verlassen hatte. Doch dann lief er Gefahr, schwach zu werden. Er durfte jetzt auf keinen Fall Schwäche zeigen. Er würde sich bei ihr entschuldigen – aber erst, wenn sie sich mit der Situation abgefunden hatte.

„Gibt es noch etwas, worüber du reden möchtest?“, fragte er schroff.

Der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen. Die Worte hingen im Raum, sie mussten gar nicht laut ausgesprochen werden.

„Ich glaube, ich habe nichts mehr zu sagen.“ Sie streckte den linken Arm aus. „Nur …“

West folgte ihrem Blick zu ihrer Hand, an der sie immer noch den funkelnden Diamantring trug. Er hatte ihn ihr vor einem knappen Jahr angesteckt. Erneut lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Warum trug sie den Ring immer noch?

„Ich bin gekommen, um dir den hier zurückzugeben …“ Ihr versagte die Stimme. „Diesen schönen Ring, den wir zusammen entworfen haben und der für eine Lüge steht …“

Nachdem West ihr das Schlimmste gesagt hatte, was er hätte sagen können, konnte Lia nur noch daran denken, ihm den Ring zurückzugeben. Sie beugte die Hand, sah, wie diese zitterte, während sie verzweifelt um Worte rang. Ihr Herz raste, und sie hörte ihre eigenen Atemzüge, doch es schien ihr, als müsste sie sich nur darauf konzentrieren, aufrecht zu stehen und zu atmen.

Starr betrachtete West den Ring, schwieg allerdings.

Schließlich zwang sie sich, den exquisiten dreifarbigen Ring abzunehmen. Nach Wests Verschwinden hatte er sie getröstet. Als sie entdeckte, dass seine Wohnung leer war, hatte sie sich an dem Versprechen festgehalten.

„Ich kann ihn nicht mehr tragen, genauso wie das Gewicht deiner gebrochenen Versprechen“, erklärte sie mit bebender Stimme.

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, ihr brannten die Augen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Oh nein, sie musste weinen, und das war die ultimative Demütigung …

Lia streckte die Hand aus. West wollte etwas sagen, überlegte es sich allerdings offenbar anders, als ihr die Tränen über die Wangen liefen. Schnell wandte sie den Blick ab, um seinen entsetzten Gesichtsausdruck nicht sehen zu müssen.

„Lia?“

Sie versuchte, sich zusammenzureißen, indem sie sich krampfhaft die chemische Zusammensetzung von Tränenflüssigkeit ins Gedächtnis rief. Aber es nützte nichts.

„Lia?“ West klang jetzt durcheinander. Als dürfte sie keinen Schmerz empfinden. Als wäre sie kein Mensch, der schon vorher einen Verlust erlitten hatte, der innerhalb weniger Monate zum dritten Mal seelische Qualen litt. West hatte sie nie nahe genug an sich herangelassen, um sie zu lieben, er hatte sie lediglich glauben machen, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, der es tun würde.

Und sie weinte sonst nie.

Wieder sagte er ihren Namen, doch sie konnte nur den Kopf schütteln, den Blick weiterhin abgewandt. Warum stand er immer noch hier? Besaß er überhaupt keinen Anstand?

Der Ring. Er lag immer noch in ihrer Handfläche. Demonstrativ streckte sie West die Hand entgegen und sah ihn dabei wieder an. Aber als sie ihn auffordern wollte zu gehen, bekam sie einen Schluckauf. Entsetzt schlug sie sich die freie Hand vor den Mund.

„Lia?“ Er machte einen Schritt auf sie zu, sodass ihre Fingerspitzen seine Brust berührten.

Erst nach einem Augenblick nahm sie wahr, dass er ihr über den Arm strich. Glaubte er etwa, er könnte so grausam sein und sie damit trösten? Ihr vielleicht sagen, sie solle kein Drama daraus machen?

Nein. Lia ließ die freie Hand sinken und schlug seine weg. Sie hatte den weiten Weg hierher auf sich genommen, und nun wollte sie nur noch auf Abstand gehen. Und den Ring loswerden. Sie steckte ihn kurzentschlossen in Wests Hosentasche gesteckt und schob West weg.

„Lia, beruhige dich. Atme tief durch.“

„Hör auf, meinen Namen zu sagen“, stieß sie hervor.

„Okay, aber du musst …“

„Raus!“

Abwehrend hob er die Hände, während er rückwärts zur Tür ging. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, schloss und verriegelte sie sie.

Dann legte sie sich wieder ins Bett und vergrub das Gesicht im Kissen, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Es war vorbei. Sie hatte herausfinden wollen, was sie West bedeutet hatte, und nun wusste sie es. Im Grunde hatte sie es immer gewusst. Sie hatte es sich nur nicht eingestehen wollen.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen betrat West als Erster die Krankenstation und schaltete das Licht ein, bevor er in den Lagerraum ging. Nach seiner Ankunft auf der Fletcher Station hatte er viele schlaflose Nächte gehabt, doch das war kein Wunder, denn es wurde nachts nicht dunkel.

In dieser Nacht allerdings war ihm das Bild von Lia nicht aus dem Kopf gegangen. Sie hatte geweint und war ganz anders gewesen als die knallharte Frau, die er gekannt hatte. Er war unfähig gewesen, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, denn er hatte nur wahrgenommen, dass sie zitterte und weinte. Und ihm war klar gewesen, dass es lange dauern würde, bis ihre Wunden verheilten.

Schlimmer noch, er wurde das Gefühl nicht los, dass er sie genauso zugrunde gerichtet hatte wie Charlie. Wieder ein Beweis dafür, dass er nicht für das Seelenheil anderer verantwortlich sein durfte.

Der einzige Vorteil einer schlaflosen Nacht war, dass er zeitig frühstücken und sich zurückziehen konnte, bevor Lia ihren Dienst antrat. Wenn er Glück hatte, konnte er sich damit beschäftigen, den Lagerbestand zu überprüfen, und den Kontakt zu anderen damit auf ein Minimum beschränken.

Sein Instinkt sagte ihm, dass er Lia Zeit geben sollte. Sicher würde Jordan wie schon vorher für sie da sein. Er sagte ihm allerdings auch, dass er auf sie aufpassen sollte. Denn er wusste nicht genau, wie schlimm es werden konnte. Hoffentlich nicht so schlimm wie mit seinem Bruder, aber Lia war schließlich nicht drogenabhängig. Vielleicht sollte er Jordan bitten, ein Auge auf sie zu haben …

West öffnete die Bestandsliste und druckte sie anschließend aus, um sich die Arbeit zu erleichtern. Überhaupt würde er sich diesen Tag so leicht wie nur möglich machen. Nach der Bestandsaufnahme wollte er sich der monotonen Aufgabe widmen, alle Geräte zu überprüfen.

In neun Tagen würde er abreisen.

„Und, haben wir Spaß?“, fragte Jordan, nachdem sie eine Nadel weggeworfen hatte, mit der Lia einem Koch den Finger genäht hatte, ihrem zweiten Patienten an diesem Tag.

An ihrem ersten Arbeitstag hielt Lia sich an ihrer Seite, um sich zurechtzufinden. „Klar, mit einem tiefen Schnitt kommt die Party richtig in Gang.“

„Oder mit einem Asthmaanfall.“

„Dabei fängt die Party gerade erst an“, erwiderte Lia, während sie ihren Eintrag im Computer beendete.

Sie hatte damit gerechnet, dass es schwierig sein würde, die alte Lia wiederzufinden, doch schon nach wenigen Minuten mit Jordan fand sie zu ihrer alten Rolle zurück.

Nicht, dass es ihr allzu schwergefallen wäre. Schließlich kannte Jordan sie schon aus dem Medizinstudium und hätte es am ehesten akzeptiert, wenn sie sich verändert hätte. Momentan fühlte Lia sich allerdings nicht imstande herauszufinden, wer sie wirklich war. Noch immer stand sie ganz unter dem Eindruck der offiziellen Trennung am vergangenen Abend. Ihrem Zusammenbruch. Dem Gefühl, in Wests Nähe zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass sie nicht mit ihm reden konnte, dass er sie nie wieder anlächeln oder mit ihr vor dem Fernseher kuscheln würde.

Falls es ihr leichterfiel, wenn sie die alte, unbeschwerte Lia war, würde sie vorerst dabei bleiben. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie Jordan nicht die Wahrheit über ihre Situation sagen konnte. Sie musste stark sein, egal, wie schlecht es ihr ging.

„Aber ich schätze, das ist jetzt mein Leben.“

„Solange du hier bist, meinst du?“ Ihr Tonfall bewies, dass Jordan ihre Traurigkeit bemerkt hatte. „Es ist manchmal ganz schön aufregend. Die Arbeit draußen kann gefährlich sein – nicht, dass du im Winter dort eingesetzt wirst. Hast du ein ungutes Gefühl?“

„Weil ich den Winter hier verbringe?“ Lia blickte in den Warteraum, um sich zu vergewissern, dass kein neuer Patient eingetroffen war. „Nicht wirklich. Mir war bewusst, dass es ein Abenteuer sein wird, und da ich nicht mehr als Neurochirurgin arbeite, werde ich das Beste daraus machen, auch wenn es in meinem Zimmer wahnsinnig kalt ist.“

„Auf das Thema Abenteuer komme ich noch zurück, aber … war es in deinem Zimmer wirklich so kalt?“, hakte Jordan nach. „Eigentlich ist es hier drinnen genauso warm wie zu Hause.“

Ja, in ihrem Zimmer war es kälter gewesen als hier auf der Krankenstation. „Vielleicht war ich einfach nur übermüdet“, räumte Lia ein. „Aber als ich in London gearbeitet habe, habe ich immer ein bisschen gefroren, und das war vor meinem Aufenthalt in Portugal. Vielleicht bin ich durch das milde Klima dort verweichlicht.“

Jordan schnaufte ungläubig. „Vielleicht kannst du eine Teilzeitstelle in Porto antreten, damit du deine Zeit nicht in einem Dorf vergeudest.“

Lia nickte. „Ja, vielleicht.“

Doch selbst wenn die offiziellen Stellen sich nicht sicher waren, ob ihr Vater zurückkehren und das Weingut übernehmen würde, machte sie sich nichts vor. Sobald ihr Vater das Interesse an etwas verloren hatte, war’s das. An ihrer Mutter. An seiner zweiten und dritten Ehefrau. An ihr – nicht, dass er je Interesse an ihr bekundet hatte, im Gegenteil. Er war enttäuscht gewesen, weil er keinen Sohn bekommen hatte, und hatte ihr immer wieder versichert, dass sie nichts erben würde. Umso irritierter war sie gewesen, als die Anwälte ihr nach seinem Verschwinden mitgeteilt hatten, dass er ihr die Leitung des Monterrosa-Weinguts übertragen hatte.

Dann wurde sie allerdings informiert, dass ihr Ehemann das Weingut erben würde, sobald sie heiratete. Zu dem Zeitpunkt hatte sie geglaubt, es wäre West. Da sie sich jedoch so in ihm getäuscht hatte, würde sie vielleicht nie heiraten.

„Aber in Anbetracht der Tatsache, dass das Dorf Monterrosa heißt, fühle ich mich in erster Linie für die Bewohner verantwortlich, zumal sie dem Gut und uns gegenüber immer loyal waren.“

„Wer hat gestern Nigel Gates behandelt?“, fragte im nächsten Moment jemand im Vorraum.

„Ist das Tony?“, fragte Lia Jordan leise.

Jordan nickte, bevor sie ihr zuflüsterte: „West hat ihn behandelt.“

Als sie den Vorraum betraten, kam West gerade aus dem Raum, in dem der Druckbehälter und die Bestrahlungsgeräte standen.

„Ich sollte ihn behandeln, aber er ist nicht aufgetaucht. Es steht in der Akte“, sagte West. Nachdem er sie flüchtig angeblickt hatte, wandte er sich wieder an den medizinischen Leiter. „Ich habe noch eine Stunde nach Dienstschluss einen gebrochenen Arm behandelt, und Nigel ist nicht erschienen. Davor habe ich zweimal im RT angerufen, aber keine Antwort.“

„RT?“, flüsterte Lia Jordan zu.

„Riesenteleskop“, erwiderte Jordan. „Es gibt hier viele alberne Abkürzungen.“

Lia nickte und beschloss dann, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Sie konnte sich wie eine Erwachsene benehmen. Sie musste lernen, noch einige Tage mit West auf der Krankenstation zusammenzuarbeiten, denn sie konnte ihm nicht die ganze Zeit aus dem Weg gehen.

„Nigel will das große Teleskop vor der Polarnacht unbedingt noch kalibrieren. Ich schätze, es ist ziemlich zeit- und arbeitsaufwendig“, informierte sie die anderen, weil Nigel ihr das erzählt hatte. „Man kann ihn wohl nur unter Zwang von dort wegbekommen.“

„Warum sagst du das?“, fragte West leise.

„Wir sind zwei Tage zusammen gereist und haben uns ein bisschen kennengelernt.“ Nigel, ein leidenschaftlicher Astrophysiker, hatte allerdings mehr oder weniger Monologe gehalten. „Er ist besessen von dem Ding.“

Lia merkte selbst, dass es klang, als wären Nigel und sie sich nähergekommen. West sollte ruhig den Eindruck gewinnen, dass sie sich durchaus noch für andere Männer interessierte. Allerdings würde er wissen, dass es in diesem Fall nicht zutraf, sobald er Nigel begegnete.

„Arbeitet er an einer Studie?“, erkundigte sich Tony von der Tür zu seinem Büro her.

Lia schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Er hat mir alles bis ins kleinste Detail erzählt, aber es war vielmehr, als würde er laut denken. Mir ist vor allem klar geworden, was ihn antreibt. Er meinte, er würde nie wieder unbeschränkten Zugang zu einem so großen Teleskop bekommen, und will irgendeine Theorie beweisen. Sobald Polarnacht ist, wird man ihn wohl noch weniger dort wegbekommen.“

West wandte sich ab. „Ich rufe noch mal an, und wenn er nicht rangeht, nehme ich einen Koffer mit und gehe hin.“

Da das Gespräch für ihn damit offenbar beendet war, drehte sie sich zu Jordan um und versuchte, so zu tun, als würde sie den besorgten Ausdruck in deren Augen nicht bemerken.

West setzte sich ans Funkgerät und versuchte vergeblich, Nigel zu erreichen. Man hörte nur ein lautes Knistern.

„Kann er das im ganzen Gebäude hören?“, hakte sie nach.

„Im Grunde ist es eine große Kuppel mit einem Vorraum. Wenn er beim Teleskop ist, sollte er das Funkgerät hören.“

Obwohl sie eigentlich Abstand halten wollte, ging sie zu ihm. „Lass mich mal versuchen. Vielleicht antwortet er mir ja.“ Und tatsächlich meldete Nigel sich nach einer Weile.

„Bin gerade beschäftigt, Lia.“ Dann murmelte er noch etwas Unverständliches.

„Ich muss unbedingt die Eingangsuntersuchungen bei Ihnen durchführen und Ihre Blutgruppe bestimmen, nur für den Fall, dass es in diesem Winter einen Notfall gibt und wir niemanden evakuieren können. Vielleicht schaffen Sie es nachher.“

„Ich schaffe es nicht, bin unter Zeitdruck.“

„Wenn ich Ihnen nachher das Abendessen bringen lasse, müssen Sie nicht in die Kantine gehen, und ich führe die Untersuchungen vor Ort durch.“

Er schwieg kurz, bevor er antwortete. „Na gut. Aber beeilen Sie sich.“

Nachdem sie das Mikrofon ausgeschaltet hatte, wandte Lia sich an Jordan. „Kommst du mit?“

Diese nickte, doch West nahm ihr das Mikrofon aus der Hand. „Er ist mein Patient. Ich gehe. Du brauchst später nur das Abendessen hinschicken zu lassen.“

„Falls er sich als Problemfall entpuppt“, warf Tony ein, „sollte Lia ihn lieber übernehmen. Dann weiß sie gleich, wo sie ihn später findet.“

West stieß einen unwirschen Laut aus und blickte sie dann einen Moment lang starr an. Schließlich nickte er. „Lia kann mitkommen, wenn sie will.“

Das wollte sie auf keinen Fall, doch er sollte auch nicht weiterhin ihre Entscheidungen beeinflussen und sie damit kleinmachen.

Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass Tony Bradshaw die Spannung zwischen ihnen offenbar bemerkte. Nachdem er ihnen noch einige Anweisungen gegeben hatte, kehrte er in sein Büro zurück.

„Zieh deine Stiefel und deinen Overall an“, sagte West, bevor er eine Tasche nahm und in den Lagerraum zurückkehrte, in dem er den ganzen Tag verbracht hatte. „Wir treffen uns hier in einer Viertelstunde.“

Na toll.

Lia blickte zu Jordan, die jetzt zu ihr kam. „Wenn du nicht mit ihm hingehen willst, machen wir beide es morgen. Damit du weißt, wo es ist.“

Zu Hause hätte die Frage sie alarmiert, doch hier bestätigte sie, dass sie nicht ganz so stark wirkte wie sonst, auch wenn Jordan und sie sich überhaupt nicht fremd geworden waren.

„Schon gut. Ich habe ja das Abenteuer gesucht, stimmt’s?“

„Ja. Aber ich weiß nicht, ob es ein Abenteuer ist, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, oder ob du dann nur … unnötig leidest“, meinte Jordan leise.

Prompt kamen ihr erneut die Tränen. Lia schüttelte den Kopf und deutete zur Tür. „Ich muss meine Sachen holen. Es ist kein Problem. Ich werde nicht zulassen, dass ich seinetwegen Angst vor irgendeinem Teil dieses Abenteuers habe. Ich bin hier, um zu feiern. Also keine Sorge.“

Im Stillen sagte sie sich die Worte immer wieder. Keine Sorge. Keine Sorge, denn West kann nichts Schlimmeres mehr sagen, als er schon gesagt hat. Und allein die Tatsache, dass er sich den ganzen Tag im Lagerraum verkroch, zeigte, dass er genauso wenig Zeit in ihrer Gegenwart verbringen wollte wie sie in seiner.

„Ich werde mir sowieso Sorgen machen“, meinte Jordan leise. „Sag mir Bescheid, wenn du wieder da bist, dann können wir zusammen zu Abend essen. Zeke und ich treffen dich dann in der Kantine.“

„Okay. Keine Sorge“, wiederholte Lia. „Wir arbeiten nur zusammen. Wir haben gestern Abend alles gesagt, was gesagt werden musste.“

„Wirklich?“ Jordan wirkte nun richtig alarmiert.

Plötzlich wollte Lia ihr nichts mehr vormachen, zumal ihre Augen immer noch ein wenig gerötet waren. „Ich glaube, ich kann noch nicht darüber reden“, sagte sie schließlich.

Jordan betrachtete sie stirnrunzelnd und drückte ihre Hand. „Dann tu es, wenn du dazu bereit bist.“

Lia schluckte, um die aufsteigenden Gefühle zu unterdrücken, und blickte zur Tür. „Wenn ich mich verspäte, wartet nicht auf mich.“

Sie wusste ja bereits aus Erfahrung, wie leicht es West fiel, sie zurückzulassen.

4. KAPITEL

West stand an der Tür zu seinem Zimmer, zwei etwas ramponierte Blumentöpfe mit Untersetzern in der Hand, die er Lia geben wollte. Sie wusste nicht, dass er kam, und würde es wahrscheinlich auch nicht wollen, doch er musste etwas unternehmen.

Egal, wie er auch argumentierte, er wusste, dass er sie sitzen gelassen hatte. Und er wusste, wie schlimm sich das anfühlte. Wie weh es tat und wie es an die Oberfläche kam, wenn man es am allerwenigsten wollte. Im Laufe der Jahre hatte er es aus allen Blickwinkeln betrachtet, angefangen damit, wie seine Mutter ihn immer mehr vernachlässigt hatte, bis hin zu Charlies Drogensucht. Wie oft hatte er Freunde fallen lassen oder in Beziehungen Schluss gemacht, um vor Charlies Problemen wegzulaufen.

Bis er Lia begegnet war. Bis er Lia begegnet und nicht mehr bereit gewesen war, irgendwo neu anzufangen, wo sie nicht war. Und in seiner Angst davor, sie zu verlieren, hatte er ihr seine größte Schwäche verschwiegen – seinen drogensüchtigen Bruder. Sie wusste, dass er einen kleinen Bruder hatte, aber er hatte ihr nur die positiven Dinge erzählt. Und damit sie nicht auf die Idee kam, Charlie kennenlernen zu wollen, hatte er diesen als eine Art Vagabund beschrieben, der durch die USA reiste und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.

Das war die erste von vielen unverzeihlichen Sünden gewesen, die ihn hierhergebracht hatten.

Hätte er Lia damals die Wahrheit gesagt, hätte er vielleicht nie das Bedürfnis verspürt, Charlie vor die Wahl zu stellen. Oder er wäre nicht so kompromisslos gewesen und hätte seinem Bruder zugehört. Erst später war ihm klar geworden, dass Charlies Worte Ich wünsche dir noch ein schönes Leben Abschiedsworte gewesen waren.

Nun musste er sich um Lia kümmern. Dafür sorgen, dass sie nicht so auf seine Entscheidungen reagierte wie Charlie. Er war immer noch für sie verantwortlich, und falls ihr etwas passierte …

Nicht, dass er sie für selbstmordgefährdet hielt, aber früher hatte er geglaubt, sie wäre knallhart und stärker als alle anderen Menschen, denen er je begegnet war. Doch am letzten Abend hatte sie sich in den Schlaf geweint, und er hatte jedes Schniefen durch die dünnen Wände gehört. Er hatte den Beweis dafür den ganzen Tag lang in ihren geröteten Augen gesehen, und das machte ihm richtig zu schaffen.

West ging zu ihrer Tür und klopfte. Anders als am vergangenen Abend öffnete Lia sofort. Als sie ruhig seinen Blick erwiderte, ließ das Brennen in seiner Brust ein wenig nach. Sie trug wieder den pinkfarbenen Einteiler, hatte allerdings noch nicht geschlafen.

Nachdem sie flüchtig die Töpfe betrachtet hatte, sah sie ihn wieder an. „Blumentöpfe?“

„Das ist eine provisorische Heizung.“ Mit einem Finger klopfte West gegen einen Topf. Wenn die Aussicht auf Wärme sie nicht veranlasste, ihn hereinzulassen, hatte er auch nichts mehr zu sagen. Früher hatte er Lia immer etwas zu sagen gehabt. Hatte sie einfach nur mit albernen Dingen zum Lachen gebracht oder mit ihr diskutiert. Hatte sie aufgezogen. Herausgefordert. Doch nun konnte er sich mit jedem Wort verraten.

„Und wie funktioniert das?“

„Ich zeige es dir.“

Nachdem sie die Töpfe weiterhin einen Moment lang betrachtet hatte, die Hand immer noch auf der Klinke, ließ sie die Tür los und ging weiter ins Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und trat zu dem Tisch neben dem Bett, um ihn freizuräumen, während sie wieder unter die Wolldecken auf dem Bett kroch.

Zum Glück fiel es ihm nicht schwer, ihr zu erklären, wie die Tontöpfe als Heizung fungierten. Er stellte vier Teelichter auf die Untersetzer und zündete sie an. Dann trat er einen Schritt zurück. „Ich schätze, ich muss dich nicht mehr vor den Gefahren durch offenes Feuer warnen.“

„Nicht wirklich“, erwiderte sie leise. „Vor wirklich gefährlichen Dingen werde ich nie gewarnt. Oder ich bin nicht in der Lage, die Zeichen zu deuten.“

Das war er auch nicht. Das hatte Charlie bewiesen. Aber das brauchte sie nicht zu erfahren. „Zeichen?“

„Willst du das wirklich wissen?“ Sie setzte sich aufrecht hin und schob die Wolldecken dabei etwas hinunter.

Er war sich plötzlich nicht mehr sicher. „Sag es mir“, erwiderte er trotzdem.

Lia nickte entschlossen. „Wann ist dir klar geworden, dass du mich nicht liebst? Denn ich habe mich monatelang gefragt, was passiert ist. Das Letzte, was du an jenem Tag am Flughafen zu mir gesagt hast, war Ich liebe dich. Ist mir irgendetwas entgangen? Wusstest du es da schon?“

Verdammt! Dies war schon eher die Lia, die er kannte. Und er hatte keine Antwort darauf.

„Erst danach“, erwiderte West. „Wahrscheinlich war es gut so, dass ich dich nicht nach Portugal begleiten sollte.“

„Was soll das heißen?“

„Du wolltest nicht, dass ich mitkomme.“

Nun kniff sie die Augen zusammen. „Warum hätte ich dich nach Portugal einladen sollen, wenn du keine Ahnung hattest, was dich erwartet? Denn es ist ein einziges Chaos.“

„Inwiefern?“, hakte er nach. „Was ist jetzt auf Monterrosa los? Vermeidest du es dorthinzugehen?“

„Anders als du renne ich nicht vor Schmerz weg, sondern anscheinend darauf zu.“ Sie deutete zur Tür. „Ich glaube, wir sind fertig. Du hast mich nicht geliebt. Es ist dir klar geworden, sobald ich aus deinem Blickfeld verschwunden war, weil irgendetwas Mysteriöses passiert ist. Ich schätze, sie war rothaarig.“

„Lia.“

„Ich glaube, mehr muss ich nicht hören.“

West rührte sich nicht von der Stelle. Allmählich schöpfte er Hoffnung, dass sie darüber hinwegkommen und er sie nicht auch zugrunde richten würde. „Wirst du endlich wütend?“

„Warum sollte ich?“

Er schüttelte den Kopf. „Weil ich es hasse, dich mit roten Augen zu sehen.“

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, indem ich menschliche Züge zeige.“

„Die Lia Monterrosa, die ich kenne, würde nicht zulassen …“

„Vielleicht ist genau das das Problem“, fiel Lia ihm ins Wort. „Du kennst mich nicht. Und ich bin es leid, hinter den Männern herzurennen, die mich hätten lieben sollen, es aber nicht getan haben. Du hast es mir überlassen, die Hochzeit abzublasen, nachdem ich erfahren hatte, dass du nicht zurückkommst, und ich habe wirklich bis zur letzten Minute gewartet. Neun Tage nachdem mein Vater das halbe Anwesen niedergebrannt hatte und spurlos verschwunden war, sodass ich die Verantwortung für die vielen Menschen übernehmen musste, die auf dem Weingut ihren Lebensunterhalt verdienen. Dann musste ich meine Hochzeit absagen, weil mein Verlobter auch verschwunden war. Es war wirklich eine tolle Woche.“

Damals hatte er nicht über das Timing nachgedacht, doch nun war der Zeitpunkt offenbar günstig, um sie zu fragen. „Und, hast du es wiederaufgebaut?“

„Spielt das denn eine Rolle?“ Sie streckte sich wieder auf dem Bett aus und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. „Danke für die Heizung. Du bist trotzdem ein babaca.“

Auch das waren Abschiedsworte. Und selbst wenn er das letzte nicht verstand, konnte er sich denken, was es bedeutete. Idiot. Irgendetwas in der Art. Es war Ausdruck ihrer Wut – zum Glück. Denn das bedeutete, dass sie kämpfen wollte. Das war besser, als wenn sie sich im Bett zusammenrollte und sich in ihr Schicksal fügte.

Trotzdem musste er ihr bis zu seiner Abreise so weit wie möglich aus dem Weg gehen. Und deshalb würde er morgen an der Tagesexpedition der Kollegen teilnehmen.

„Was soll das werden?“

Der vertraute schottische Akzent ließ Lia, die sich gerade selbst Blut abnehmen wollte, mitten in der Bewegung innehalten. West stand auf der Schwelle und trug immer noch den roten Thermooverall sowie einen Seesack über der Schulter. Offenbar war er gerade erst von der verlängerten Expedition zurückgekommen.

Es war drei Tage her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Drei Tage seit ihrem Gespräch. Und natürlich musste er derjenige sein, der sie dabei antraf, wie sie sich heimlich Blut abnahm.

„Ich versuche gerade, mir selbst Blut abzunehmen, aber es klappt nicht.“

Nachdem er den Seesack vor der Tür abgestellt hatte, kam er langsam in den kleinen Untersuchungsraum. „Vielleicht weil du Rechtshänderin bist und es mit der Linken probierst.“

„Meine Venen sind nicht besonders gut, und die beste ist in der rechten Armbeuge.“ Erneut versuchte Lia es mit der Flügelkanüle und biss dabei die Zähne zusammen.

West ging zum Waschbecken, wusch sich die Hände und kam anschließend zu ihr. „Hör auf“, wies er sie an, bevor er ihr die Kanüle abnahm. „Du hattest doch gerade erst deine Eingangsuntersuchung.“ Mit der freien Hand tastete er die Vene oberhalb der Stelle ab.

„Ich weiß.“

„Du hättest das Tony oder jemand anders machen lassen können.“

„Das weiß ich auch.“

Nun zog er die Kanüle heraus, aber es kam kein Blut. Vorsichtig drückte er auf die Vene, doch diese war nicht hart, was bedeutet hätte, dass sie sie durchstochen hätte. Nichts.

„Du hast sie nicht mal getroffen.“

„Normalerweise schaffe ich das auch mit links, aber sie rollt immer.“

Nachdem er die Stelle großflächig desinfiziert hatte, drückte er wieder, wobei er mit der anderen Hand ihren Ellbogen umfasste, damit sie sich nicht bewegte. Es war das erste Mal, dass sie direkten Körperkontakt hatten, und obwohl er nur mit dem Finger die Vene massierte, beschleunigte sich ihr Herzschlag, und ihr Magen krampfte sich zusammen – vor Aufregung und Übelkeit. Das erinnerte Lia daran, wie sie nach allem, was vorgefallen war, empfinden sollte. Vor allem da sie nun wusste, dass West ihre Liebe nicht erwidert hatte.

Und dass er es aus irgendeinem Grund nicht mehr hatte versuchen wollen, nachdem ihm klar geworden war, dass er sie nicht liebte. Er hatte nicht abwarten wollen, ob er noch mehr Gefühle für sie entwickelte. Das war noch etwas, das sie nicht verstand.

„Ich brauche keine Massage“, flüsterte sie, wobei sie demonstrativ auf ihre Armbeuge blickte. Es funktionierte, denn er ließ ihren Arm los und trat stirnrunzelnd einen Schritt zurück. Dann fuhr er sich mit der Handfläche über den Overall, als hätte er sich beschmutzt.

„Also, warum hast du nicht Tony gefragt?“, erkundigte er sich, als hätte er sie nicht gerade beleidigt. „Normalerweise bist du doch der Typ, der sich an die Regeln hält.“

Starr blickte Lia auf seinen Schneeanzug. „Ich bin kein Typ.“

Es fiel ihr sehr schwer, ihre Gefühle in Schach zu halten. Während seiner Abwesenheit hatte niemand, der sie kannte, Erwartungen an sie gestellt, denn Jordan und Zeke waren ebenfalls unterwegs, und sie hatte nur auf das Gefühl des Verlusts und des Schmerzes reagieren können, auf nichts anderes. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich über die E-Mails mit ihren Beratern ärgern oder mehr Geduld haben musste, denn diese stellten ihre Entscheidungen wiederholt infrage.

Bei West war sie sich allerdings sicher. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien. Mit den Fäusten auf ihn eingetrommelt, damit er sich genauso schlecht fühlte wie sie. Diese Genugtuung wollte sie ihm jedoch nicht verschaffen.

„Ich habe nicht gefragt, weil ich keine Hilfe wollte. Außerdem bin ich erst nach meiner letzten Behandlung zu dem Ergebnis gekommen, dass ich es tun muss.“

Forschend betrachtete er sie. „Haben wir jetzt Wintersprechstunde?“ Mit einem Nicken deutete er auf den dunklen Warteraum.

„Die meisten Leute haben schon Feierabend gemacht, und viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind draußen auf dem Eis.“

„Und du wolltest nicht bis morgen warten“, ergänzte er.

„Ich wollte nicht die ganze Nacht daran denken.“

West nickte. „Soll ich es machen?“

„Wenn du es erträgst, mich zu berühren.“

Unvermittelt umfasste er ihr Kinn und beugte sich vor. Ihr Herz krampfte sich zusammen und schlug dann schneller, als er sie auf die Schläfe küsste und anschließend einen Moment so verharrte. „Tu das nicht. So war es nicht.“

Ihr Herz raste noch mehr, ihre Schläfe prickelte. Und zu ihrem Leidwesen brannten ihr wieder die Augen. Eine einfache Berührung hatte sie an das erinnert, was sie verloren hatte.

Als West sich von ihr löste und zurückwich, war seine Miene sanfter. Seine Lippen zuckten, bevor er sich demonstrativ den Mund am Ärmel und die Hand an ihrer Hose abwischte. Lia lachte auf und schlug seine Hand weg.

„Sag mir, wozu das ist.“ Er deutete auf die Vakuumröhre, obwohl er anhand der Farbe und Kennung genau wusste, welche Untersuchung sie durchführen wollte.

„Ich hatte einen Patienten mit Symptomen des Polar-T3-Syndroms und wollte deshalb auch meine Schilddrüsenwerte überprüfen.“

West stieß einen zustimmenden Laut aus, bevor er es versuchte und tatsächlich Erfolg hatte. Eine Minute später war es vorbei, und Lia drückte den Tupfer auf die Einstichstelle, während er ins Labor ging, um die Blutwerte zu überprüfen.

„Jetzt kann ich weitermachen.“ Sie folgte ihm in den Raum.

„Du behandelst dich nicht selbst.“

„Das ist keine Behandlung, sondern nur ein Test“, wandte sie ein. „Und wenn alle anderen weg sind, werde ich es selbst machen.“

„Und wenn deine Werte schon gesunken sind?“

Lia seufzte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass kein Blut mehr kam, ließ sie den Arm sinken. „Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir und bist bestimmt müde.“

„Ich kann das machen.“

„Verdammt, West, ich will deine Hilfe nicht! Ich hätte es auch allein geschafft. Und das Blut kann ich genauso analysieren.“

„Bemüh dich nicht“, stieß West hervor. „Überleg dir lieber gute Gründe dafür, warum du schon sechs Tage nach deiner Ankunft wieder deine Schilddrüsenwerte überprüfst.“

Ich kenne die Gründe. Das genügt.“

Nachdem er die Probe in das Analysegerät getan und dieses eingeschaltet hatte, wandte er sich wieder zu ihr um. „Schläfst du schlecht?“

„Nein“, erwiderte sie schnell, zuckte dann jedoch die Schultern. „Manchmal schon.“

„Hast du Stimmungsschwankungen?“

Mit der Frage traf er ins Schwarze. Im einen Moment war sie froh gewesen, dass er weg war, im nächsten hatte sie sich Sorgen gemacht, dass ihm etwas zustoßen könnte. Um Jordan hingegen, die erst einen Tag vor ihrer Abreise zurückkehren würde, hatte sie sich keine Sorgen gemacht.

„Ich deute dein Schweigen als ein Ja.“

„Ja“, sagte Lia, damit er endlich aufhörte, sie anzusehen, als könnte sie nicht auf sich selbst aufpassen. Schließlich tat sie das mehr oder weniger, seit sie mit sechzehn die luxuriöse Privatschule in Portugal verlassen hatte und auf ein exklusives Mädcheninternat in den USA gegangen war. Ganz zu schweigen von ihrem Medizinstudium, währenddessen sie und Jordan enge Freundinnen geworden waren, und ihrem Umzug nach London, wo sie im selben Krankenhaus angefangen hatten und Lia West kennengelernt hatte. „Nach alldem hier sind Stimmungsschwankungen wohl ganz normal, meinst du nicht?“

„Ja“, bestätigte er leise.

„Trotzdem möchte ich so schnell wie möglich herausfinden, ob es körperlich oder seelisch ist. Und für den Fall, dass ich nur paranoid bin, möchte ich es Tony nicht sagen. Da er hier der einzige andere Arzt sein wird, soll er nicht denken, ich wäre labil oder hypochondrisch veranlagt, oder meine Fähigkeiten anzweifeln.“

„Warum sollte er deine Fähigkeiten anzweifeln?“ West öffnete den Reißverschluss seines Schneeanzugs und zog diesen bis zur Taille hinunter. Darunter trug er mehrere Lagen Thermounterwäsche.

„Warum sollte er es nicht tun? Schließlich passiert mir das momentan ständig, sowohl privat als auch beruflich. Meine Vorarbeiter auf dem Weingut haben null Respekt vor mir als Chefin. Mein Vater hat mir immer erzählt, dass ich nichts erben würde, aber anscheinend seine Meinung geändert, bevor er spurlos verschwunden ist.“

„Er ist immer noch unauffindbar?“

Lia nickte, bevor sie ihren Ärmel hinunterzog. Sie musste das Thema wechseln. „Hast du da draußen überhaupt ein Auge zugetan?“

West nickte. Noch immer stand er vor dem Analysegerät.

„Und hat die Kälte dir zugesetzt?“

„Dort befindet sich eine Nothütte mit zwei Räumen. Sie hat einen Ofen und ist mit allem Nötigen ausgestattet. Aber es gibt keine Betten, denn sie ist nicht für Übernachtungen gedacht. Wäre das Unwetter nicht aufgezogen, wären wir auch wie geplant am ersten Tag zurückgekehrt. Wir mussten also auf dem Boden schlafen, aber zum Glück gab es für den Notfall Schlafsäcke.“

Und er hatte unter den Bedingungen dort sogar schlafen können? Erstaunlich, denn in der Nacht nach ihrem tollen Gespräch hatte er offenbar nicht geschlafen. Da Lia kaum ein Auge zugetan hatte, hatte sie mitbekommen, wie er in seinem winzigen Zimmer auf und ab gegangen war – der einzige Beweis dafür, dass es ihn immer noch aufwühlte, sie zu sehen. Oder er war aus einem anderen Grund aufgewühlt. Vielleicht hatte es mit dem Grund für seine Flucht in die Antarktis zu tun.

Am nächsten Morgen hatte sie eine kleine Tüte mit Teelichtern und einen Zettel mit der Notiz Für die Blumentopfheizung, während ich weg bin an ihrer Tür gefunden. Und war erleichtert gewesen, dass er sich vorerst verabschiedet hatte. Sie wollte die nächsten Tage nicht damit verbringen, mit ihm zu streiten oder ihm zu sagen, was er alles falsch gemacht hatte. Er wusste, wie grausam sein plötzliches Verschwinden gewesen war. Nichts, was sie sagen konnte, würde es für ihn so real machen, wie es für sie war. Eigentlich hätte sie ihn nicht mehr lieben dürfen, doch sie konnte ihre Gefühle nicht einfach abstellen.

„Danke fürs Blutabnehmen“, sagte Lia. „Könntest du mir das Ergebnis unter der Tür durchschieben?“

„Ich komme und sage es dir“, erwiderte West, und als sie nickte und sich abwenden wollte, fügte er hinzu: „Ich zweifle weder an deinen Fähigkeiten noch an deinem Wert. Und das mit deinem Vater tut mir leid.“

„Danke“, sagte sie, bevor sie aus der Krankenstation eilte. Sie musste jetzt etwas essen. Und dann schlafen. Vielleicht würde sie an diesem Abend eine der beiden Flaschen öffnen, die sie aus dem Weinkeller zu Hause mitgenommen hatte.

5. KAPITEL

Heute hatte er den ganzen Tag nur daran denken können, dass er Lia Monterrosa am letzten Abend zum Lächeln gebracht hatte. Die Sekunden, als ein warmer Ausdruck in ihre braunen Augen getreten war und sein Herz erwärmt hatte, hatten ihn ständig begleitet.

Das Tablett mit seinem Abendessen in Händen, stellte West fest, dass es nur noch zwei freie Plätze gab – einen bei Lia, die sich gerade über ihr Handy beugte, und einen bei Gates, der so viel Charme besaß wie ein totes Nagetier. Also setzte er sich zu ihr, denn die Stimme der Vernunft wurde von Tag zu Tag leiser. Auch während seiner dreitägigen Abwesenheit hatte er ständig an Lia gedacht.

„Stört es dich?“ Er stellte sein Tablett auf die Seite ihr gegenüber.

Mürrisch sah Lia ihn an, schüttelte jedoch den Kopf. „Sie sagten, er kommt alle zwölf Stunden vorbei, aber jetzt ist es schon zehn nach sieben, und immer noch kein Signal.“

Eine der Schwierigkeiten in der Antarktis war, dass man nur Empfang über Satellit hatte. Deshalb bekamen sie lediglich zweimal am Tag E-Mails und konnten auch nur zweimal am Tag welche verschicken.

„Wartest du auf eine Mail?“

„Auf mehrere. Von meinem Manager. Meinen Beratern. Dem Privatdetektiv. Meinem Vater …“ Bei den letzten Worten verzog sie leicht das Gesicht.

„Er antwortet auf Mails?“

„Nein. Ich schicke ihm nur ständig welche.“ Lia legte ihr Handy weg, um ihre Gabel in die Hand zu nehmen. „Ich habe einen Privatdetektiv engagiert, der ihn finden soll.“

„Und hat er irgendwelche Neuigkeiten?“

Die Gabel im Mund, hielt sie inne und sah ihn aus großen Augen starr an.

„Du musst nicht darüber reden. Ich habe nur Konversation gemacht.“ West zuckte die Schultern, betrachtete ihre vollen Lippen, blickte auf den Tisch, während ihm ganz andere Gedanken kamen. Schöne Gedanken. Verboten schöne Gedanken.

„Du wolltest doch nie über derartige Dinge reden.“

Das stimmte. Vor allem, wenn sie zu sehr ins Private gegangen war und Fragen gestellt hatte, die er nicht beantworten wollte. „Hast du besser geschlafen, nachdem du erfahren hast, dass deine Schilddrüsenwerte in Ordnung sind?“

Lia betrachtete ihn eine Weile forschend, bevor sie vorsichtig erwiderte: „Ich habe besser geschlafen, als es der Fall gewesen wäre, wenn ich mir Gedanken darüber gemacht hätte. Aber ich hätte noch besser geschlafen, wenn im Zimmer nebenan nicht jemand auf und ab gelaufen wäre.“

West runzelte die Stirn bei der Vorstellung, dass sie sich gegenseitig wach gehalten hatten, und noch mehr bei der Erinnerung daran, wie sie sich früher müde gemacht hatten. „Ich bin nicht auf und ab gelaufen.“

„Doch. Und dann bist du ungefähr eine halbe Stunde auf dem Flur auf und ab getigert.“ Sie imitierte ein Fauchen.

West musste lächeln. Es knisterte noch immer zwischen ihnen. „Und du hast einfach dagelegen und gelauscht?“

Nun wurde sie ernst. „Ich habe dagelegen und mir Sorgen gemacht. Vielleicht solltest du deine Schilddrüsenwerte überprüfen lassen.“

Der Moment war verstrichen. „Ich habe es gerade erst machen lassen. Diesen Winter solltest du deine regelmäßig von Tony kontrollieren lassen.“

„Das werde ich tun. Ich meine, eine meiner Großmütter oder einer meiner Großväter hatte Schilddrüsenprobleme. Aber vielleicht erinnere ich mich auch falsch. Meine Eltern haben ja nicht viel mit mir über … du weißt schon geredet.“

„Was meinst du?“, hakte West nach.

„Über andere Dinge als über ihre Erwartungen an mich und meine Ausbildung. Dann ist meine Mutter gestorben, und es ging hauptsächlich darum, dass ich eine Enttäuschung bin, weil ich keinen Penis habe.“

Er wollte eine witzige Bemerkung machen, schluckte sie jedoch zusammen mit dem steinharten Fleisch hinunter. Über ihre Eltern wusste er kaum etwas, weil er immer gewollt hatte, dass sie beide nach vorn blickten. Er hatte ihr auch nichts von seiner Mutter mit ihrem wasserstoffblonden Haar und ihren viel zu roten Lippen oder von Charlies und seiner letzten Begegnung mit ihr erzählt. Lia war auf andere Art und Weise von ihren Eltern vernachlässigt worden, doch es war immer noch etwas, das sie beide miteinander hätte verbinden können.

Im nächsten Moment signalisierte ihr Telefon den Eingang zahlreicher Nachrichten. Lia konzentrierte sich darauf, diese zu lesen und zu beantworten, und vergaß dabei zu essen.

„Du musst mehr Kalorien zu dir nehmen, damit du in dem langen Winter davon zehren kannst“, ermahnte West sie.

„Ich esse, wenn ich fertig bin“, erwiderte sie, doch er wusste, dass das Gespräch für sie beendet war.

„Hey, Leute!“, rief kurz darauf ein Mann von der Flügeltür her, woraufhin alle verstummten und aufhörten zu essen und sich zu ihm umwandten. „Das erste Polarlicht ist am Horizont zu sehen. Bewegt eure Hintern, wenn ihr das Schauspiel verfolgen wollt.“

Das Polarlicht! Das war das Abenteuer, auf das Lia gehofft hatte. Oder zumindest eine Erfahrung, die sie in Portugal nicht machen konnte. Und der Gedanke an zu Hause erinnerte Lia daran, dass sie Gefahr lief zu vergessen, wie West und sie jetzt zueinander standen. Zu vergessen, dass sie nie wieder miteinander herumalbern konnten. Zu vergessen, dass es seinen Worten zufolge auch nie so gewesen war.

Dass sie Gefahr lief, in den Bann alter Sehnsüchte zu geraten, der Hoffnung, dass sich zwischen ihnen doch etwas ändern könnte. Immer wenn sie sich anlächelten, drohte Lia schwach zu werden.

Offenbar spürte West auch die Mauer, die sie um sich errichtet hatte. Nun stand er auf und nahm sein Tablett. „Du solltest dir das Polarlicht ansehen, aber danach weiteressen.“

Er ließ nicht locker, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass ihr der Appetit völlig vergangen war.

Als sie nicht antwortete, nahm er sein Tablett und ging, wobei er etwas Unverständliches murmelte. Das war wieder eine neue Seite an ihm – oder ein weiterer Riss in der Fassade des Mannes, den sie gekannt hatte. Und sie würde das nicht als Fortschritt betrachten, auch wenn sie es vor Monaten getan hätte, als das ihr wichtigstes Ziel gewesen war – ihm näherzukommen, ohne ihn zu drängen.

Sie konnte kurz nach draußen gehen, um den Himmel zu betrachten, und dann schnell die wichtigsten Mails beantworten, bevor der Empfang wieder unterbrochen wurde. Von ihrem Vater war immer noch keine Nachricht dabei. Und zu hoffen, dass er nach all dieser Zeit antworten würde, war wahrscheinlich ein weiterer Beweis für ihre Dummheit. Sie hatte ihm wöchentlich geschrieben und ihn gebeten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, ihm versichert, dass alles gut laufen würde, und ihn nicht unter Druck gesetzt, doch er meldete sich nicht. Und das überraschte sie nicht wirklich.

Während sie die Mail schrieb, verließen fast alle die Kantine. Die Leute, die den Sommer hier verbracht hatten, würden vielleicht keine zweite Chance mehr bekommen, das berühmte Polarlicht, auch die Aurora Australis genannt, zu sehen. Inzwischen herrschte hier Zwielicht, wobei der Himmel in der Ferne immer dunkler wurde – ganz anders als in ihrer Heimat in Portugal am Fluss Douro.

Nachdem Lia die Mail abgeschickt hatte, zog sie ihre dünne Jacke an, die sie immer drinnen trug, brachte ihr Tablett zurück und eilte nach draußen. Falls ihr zu kalt wurde, konnte sie anschließend in die Sauna gehen, die sie erst am Vortag entdeckt hatte.

Draußen suchte sie sich einen Platz, von dem aus sie einen guten Blick auf den Horizont hatte.

„Du hast es noch nicht verpasst“, ließ West sich plötzlich neben ihr vernehmen.

„Hast du schon etwas gesehen?“

„Ich war nicht mit meinem Handy beschäftigt“, meinte er mit einem amüsierten Unterton.

Lia zog ihre Mütze über die Ohren und schob die Hände in die Taschen. „Woher weißt du, dass es nicht vorbei ist?“

Sie spürte nur, wie er sich wieder abwandte, denn sie war fest entschlossen, ihn nicht anzublicken. „Ich bleibe nicht lange, denn es ist mir zu kalt hier draußen.“

„Wenn das Polarlicht zu sehen ist, dauert es meistens eine Weile an, denn es kommt in Wellen.“

„Hast du es denn schon mal gesehen?“

„Nicht hier. In Schottland. Vor Jahren.“

Sie wusste zwar, dass er gebürtiger Schotte war, aber nicht, dass er schon mal so hoch im Norden von Schottland gewesen war, um das Polarlicht zu sehen. „Hast du da Urlaub gemacht oder da gewohnt?“

„Ich habe da gewohnt.“

„Und wo genau?“, hakte Lia nach, weil sie nicht anders konnte.

„Hm?“ West warf ihr einen Seitenblick zu, und sie sah ihn ebenfalls an. „Überwiegend in Inverness. Und eine Zeit lang auch in Kinlochleven.“

„Wo ist das?“

„Im Norden.“ Er blickte wieder zum Himmel und berührte sie dann am Arm. „Willst du weiter über unwichtige Dinge reden oder das Polarlicht sehen?“

Wie aufs Stichwort ging ein Raunen durch die Menge, woraufhin Lia zum dunklen Horizont blickte. Dieser leuchtete nun in einem seltsamen, überirdischen … und enttäuschenden Grün.

Als Vorbereitung auf ihre Reise hatte sie sich Videos und Dokumentarfilme angesehen, Fotos betrachtet und Blogs gelesen. „Ist das alles?“, fragte sie, während die Kälte nun an ihr hochkroch.

„Vielleicht wiederholt es sich.“ West runzelte die Stirn, als sie die Hände aus den Taschen nahm, aneinanderrieb und sie dann wieder in die Taschen schob. „Aber du hast noch jede Menge Zeit, um sie wieder zu sehen. Falls du über den Winter hierbleibst.“

„Ich bleibe“, bekräftigte sie. Der Kerl hörte einfach nicht auf zu bohren. Und da hier nichts Spektakuläres geschah und sie Wichtigeres zu tun hatte, fügte sie hinzu: „Ich gehe wieder rein.“

„Warte noch einen Moment“, sagte West so sanft, dass es beinah verlockend klang.

In zwei Tagen ging es los, und der Shuttlebus würde die ersten Leute zur Küste fahren, wo die Schiffe warteten, die sie wieder in die Zivilisation bringen würden. Zwei Tage, dann würde sie West nicht mehr sehen. Vielleicht nie wieder.

Und dieser Gedanke war es, der sie innehalten und wieder zum Himmel sehen ließ. Da die Leute ihr die Sicht versperrten, trat Lia näher an ihn heran, um den Horizont erkennen zu können.

Das Licht verlief jetzt wellenartig oder pulsierte. Aber es war immer noch nicht so faszinierend, wie sie es sich erhofft hatte. Aber gerade als sich Enttäuschung in ihr breitmachen wollte, wurde das Grün heller und breitete sich in immer größeren Wellen zum Himmel aus, zuerst langsam, dann immer schneller.

Wie gebannt verfolgte Lia die tanzenden Lichter, während sie nur die Kälte und schließlich eine warme Hand spürte. Weil sie seine genommen hatte.

Inzwischen waren alle ehrfürchtig verstummt. Der allgegenwärtige Wind schien ebenfalls abgeflaut zu sein und zu flüstern. Lia nahm ihre unregelmäßigen Atemzüge und ihren schnellen Herzschlag wahr. Lauschte der Musik einer menschenleeren, majestätischen Landschaft.

Und dann wurde ihr bewusst, dass West sicher nicht ihre Hand halten wollte. Er würde nie etwas für sie empfinden. Deshalb brachte sie die Kraft auf, ihn loszulassen. Als sie im nächsten Moment seinen Blick auf sich spürte, ballte sie die Hände zu Fäusten, um nicht wieder etwas Selbstzerstörerisches zu tun.

Ihr Herz raste. Sie schloss die Augen. Geh rein und tu das, was man von dir erwartet. Beantworte Mails. Arbeite. Schlaf.

Doch während sie noch dastand, merkte sie, wie West wieder ihre Hand nahm. Daran zog, bis sie mit dem Rücken zu ihm vor ihm stand, und die andere ergriff.

„West?“

„Du frierst“, sagte er leise über ihre Schulter, während er weiter ihre Hände hielt und es gleichzeitig schaffte, nicht die Arme um sie zu legen.

Ja, sie fror. Und eigentlich hätte sie sich wünschen müssen, auch innerlich mehr zu frieren und ihr Herz gegen ihn zu verhärten. Weniger gefühlsbetont zu sein. Auf ihren Verstand zu hören, denn es war dumm, sich von ihm die Hände wärmen zu lassen, weil es ihr auch das Herz wärmte.

Die grünen Wellen ebbten langsam ab, und selbst wenn die nächste Runde noch spektakulärer wäre, würde sie trotzdem wieder hineingehen. Es brachte sie zu sehr durcheinander, hier mit West zu stehen, denn ihre Wunden waren im Grunde nie verheilt.

Also verabschiedete Lia sich von ihm, entzog ihm ihre Hände, um auf Abstand zu gehen, und eilte nach drinnen.

Die nächsten beiden Tage würden lang werden.

6. KAPITEL

Obwohl Tony Bradshaw die Sprechstunden erst vor wenigen Tagen an die Winterzeit angepasst hatte, hatte er nun eine zweite Schicht angeordnet, nachdem sie einen Tag lang nur Verletzungen behandelt hatten, weil die Techniker die Station winterfest machten und dabei ständig kleine Unfälle hatten. Und da er sich nicht gut fühlte, hatte er Lia gebeten, die zweite Schicht ebenfalls zu übernehmen.

Sie hatte sich auch aus dem Grund einverstanden erklärt, weil sie sich so von der E-Mail ablenken konnte, die sie am letzten Abend bekommen hatte. Darin stand, dass ihr Vater in einem Krankenhaus in Barcelona aufgetaucht wäre. Sie hatte sie zuerst nicht gesehen und die Antwort darauf erst abschicken können, als ihr Handy wieder ein Signal hatte.

Nachdem sie ihren Patienten in den Gebrauch des Inhalationsgeräts eingewiesen hatte, beschloss sie, schnell in die Kantine zu gehen, um sich Abendessen zu holen.

Dort fanden allerdings gerade zwei Abschiedspartys statt, eine in der Kantine und eine in der Cafeteria. Die Vorstellung, dass West auch da sein würde, ließ sie kurz zögern. Da es allerdings noch etwa zwanzig Minuten dauern würde, bis die Antworten auf ihre Mails eintrafen, würde sie sich etwas ablenken können.

Plötzlich gingen ihr alle möglichen Szenarien durch den Kopf, warum ihr Vater in einem Krankenhaus aufgetaucht war. Ein Unfall. Eine Krankheit. Dinge, die schlimm genug waren, dass jeder normale Mensch Trost bei seiner Familie gesucht hätte … Dann fühlte sie sich schuldig, weil sie fast hoffte, der Grund wäre ernst genug, damit ihr Vater Kontakt zu ihnen aufnehmen würde.

Lia wollte ihrem Patienten gerade mitteilen, dass sie kurz in die Kantine gehen würde, als sie vom Eingang her die alarmierte Stimme eines Mannes hörte. Schnell eilte sie dorthin.

Zwei Männer trugen eine Frau, die eine große Schnittwunde an der Wade hatte, und versuchten gleichzeitig, die Blutung mit einer Kompresse zu stillen.

Autor

Sue MacKay
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Amalie Berlin
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Charlotte Hawkes
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