Julia Ärzte zum Verlieben Band 169

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WENN ES GLÜCK IST, HALT ES FEST! von CAROL MARINELLI
Hals über Kopf verliebt sich Schwester Lina in Dr. Garth Hughes. Vergessen sind ihre Erinnerungen an den schrecklichen Unfall: Eine Frau verblutete in ihren Armen, ihr Mann lag bewusstlos daneben. Bis Lina schockiert erkennt: Ihr geliebter Garth war der Mann der Sterbenden …

DUNKLE STUNDEN – SÜSSE HOFFNUNG von SUE MACKAY
„Mayday, Mayday!“ Der Helikopter stürzt ab, nur knapp entrinnen die Sanitäterin Mallory und Dr. Josue Bisset dem Tod in der Wildnis Neuseelands. Ist das der Moment, sich endlich zu ihren gegenseitigen Gefühlen zu bekennen – auf Rettung und ein gemeinsames Morgen zu hoffen?

EIN NEUER ANFANG IN AMSTERDAM? von BECKY WICKS
Engagiert kämpft Freya mit dem Kinderkardiologen Dr. Lucas Van de Berg um die Leben ihrer kleinen Patienten. Aber wenn es Nacht in Amsterdam wird, quälen sie wieder dunkle Erinnerungen an ihre Jugend. Kann Lucas‘ Zärtlichkeit ihr den Glauben an die Liebe zurückgeben?


  • Erscheinungstag 23.09.2022
  • Bandnummer 169
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511605
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Sue MacKay, Becky Wicks

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 169

CAROL MARINELLI

Wenn es Glück ist, halt es fest!

Der verwitwete Dr. Garth Hughes weiß: Er möchte wieder lieben. Und zwar die bezaubernde Schwester Lina Edwards, von der er sich vom ersten Tag an magisch angezogen fühlt. Sie erwidert seine zärtlichen Gefühle – doch er wundert sich, warum sie ihn manchmal so skeptisch von der Seite betrachtet. Und dann macht sie ohne eine Erklärung Schluss!

SUE MACKAY

Dunkle Stunden - süße Hoffnung

Sie haben gemeinsam den Helikopterabsturz überlebt! Aber werden sie auch gerettet? In den Stunden der Angst vertraut Dr. Josue Bisset der Pilotin Mallory etwas an: Als Waisenkind hat er nie gelernt, an die Macht der Liebe zu glauben. Auch Mallory offenbart ihm etwas: Ihre eine heiße Nacht hatte süße Folgen! Aber kann Josue wirklich ein guter Daddy sein?

BECKY WICKS

Ein neuer Anfang in Amsterdam?

Sie wird nur ein halbes Jahr in Amsterdam bleiben. Warum hat er sich bloß in seine schöne Kollegin Freya Grey verliebt? fragt Dr. Lucas Van de Berg sich. Denn egal, wie zauberhaft ihre gemeinsamen Stunden in der Grachtenstadt sind, wie zärtlich ihre Nächte – er darf, im Gegensatz zu Freya, diese Stadt niemals verlassen! Zu sehr wird er hier gebraucht …

PROLOG

„Morgen arbeitest du hier in der Nachtschicht!“

Von der Krankenwagen-Rampe aus schaute Lina Edwards zu den hellen Lichtern des Primary Hospital hinüber. Nachdem sie und ihr Partner Brendan gerade einen Patienten mit Blaulicht in der Notaufnahme eingeliefert hatten, saß sie wieder auf dem Fahrersitz.

„Dort ist es wenigstens warm“, antwortete sie Brendan.

Seit dem Beginn ihrer Schicht an diesem nassen, kalten Donnerstagabend waren sie ununterbrochen im Einsatz gewesen. Brendan hielt ihren Kaffeebecher, während Lina sich das nasse dunkle Haar wieder zu einem ordentlichen Pferdeschwanz band. Sie nutzten die Gelegenheit zu einer kurzen Pause nach einer anstrengenden Nacht und versuchten, sich dabei gleichzeitig zu trocknen und wieder aufzuwärmen.

Da Lina sowohl Krankenschwester als auch Sanitäterin war, übernahm sie ab und zu auch Schichten in der Notaufnahme. Einerseits um ihre Zulassung zu behalten, andererseits um in Übung zu bleiben.

„Vielleicht bist du dann ja auch hier“, erwiderte sie. Denn Brendans Frau Alison sollte ihr erstes Baby in diesem Krankenhaus bekommen. „Beziehungsweise oben auf der Entbindungsstation.“

„Drück uns die Daumen, dass es erst in drei Wochen so weit ist. Obwohl ich schwören könnte, dass Alison bereits leichte Wehen hat.“

„Das sagst du schon seit zwei Wochen.“ Lächelnd öffnete Lina die Folie eines ihrer Ei-Mayonnaise-Sandwiches.

„Oh Gott, nicht schon wieder!“, stöhnte Brendan und ließ das Fenster einen Spaltbreit herunter. „Wenn’s nicht Ei ist, dann hast du Thunfisch drauf.“

„Und was hast du?“, fragte Lina. Essen war gerade ein großes Thema, weil Brendan eine Diät machte, um etwas abzunehmen.

„Einen Salat-Wrap, einen Becher Quark und eine Orange“, antwortete er seufzend. Dabei blickte er zum x-ten Mal auf sein Handy. „Als ich am Abend zur Arbeit gegangen bin, war sie ziemlich nervös.“

„Falls irgendwas ist, ruft sie garantiert an. Aber als wir vorhin bei euch vorbeigefahren sind, war kein Licht an.“

„Stimmt.“

Ihre Rettungswache lag im Londoner Westen, aber ihre Schicht führte sie an die verschiedensten Orte. Und manchmal landeten sie auch im Primary, einem riesigen allgemeinen Krankenhaus im Norden Londons. Brendan und Alison wohnten in der Nähe, und auch Lina hatte früher hier gewohnt.

„Mal sehen, mit wem ich morgen eingeteilt werde“, überlegte Brendan. „Hoffentlich nicht mit Peter.“

„Der perfekte Peter.“ Jetzt stöhnte auch Lina, denn sehr wahrscheinlich musste sie mit ihm zusammen arbeiten, solange Brendan in Elternzeit war. Perfekter Peter oder auch pedantischer Peter beschrieb den Kollegen ziemlich gut. „Tja, wenn du ihn kriegst, denk einfach dran, dass es nur vorübergehend ist. Außerdem sammelst du Überstunden.“

„Die brauche ich auf jeden Fall.“

„Ich auch“, bestätigte Lina. „Die Nachtschicht morgen hilft mir, meine nächste Tour zu finanzieren.“

„Schon wieder?“

Lina nickte. Für sie gab es nichts Schöneres, als aus der Stadt rauszukommen. Bei ihren Wandertouren konnte sie sich nicht nur entspannen, sondern auch gut nachdenken. Das Verhältnis zu ihrer Familie war nicht ganz einfach, und ihre Mitbewohnerin war zwar nett, aber immer da. Abgesehen davon hatte Lina einen anstrengenden Beruf, der häufig schnelle Entscheidungen und ein entschlossenes Auftreten erforderte. Zu anderen Zeiten wiederum gab es einen längeren Leerlauf, so wie jetzt.

Wanderungen von irgendeinem Startpunkt aus, an den ein Bahn- oder Busticket sie führte, waren für Lina die beste Art, sich zu regenerieren. In letzter Zeit gab es jedoch noch einen anderen Grund, weshalb sie so oft unterwegs war: Sie überlegte ernsthaft, aus London wegzuziehen, und versuchte in aller Stille, ihre Möglichkeiten auszuloten. Noch hatte sie niemandem davon erzählt. Aber bald würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als die Neuigkeit zu verkünden. Dass sie häufig mit ihrer Bank und einigen Maklern telefonierte, war Brendan keineswegs entgangen. Zudem hatte sie sich auf eine Stelle in Newcastle beworben und brauchte dafür noch eine Empfehlung.

„Ich hab nachgedacht.“ Brendan blickte in seinen Salat-Wrap, als würde dadurch auf wundersame Weise etwas Käse und Schinken darin auftauchen.

„Worüber?“

„Dein Liebesleben.“

„Ich hab keins“, erklärte Lina. „Du kannst dir also das Gehirnschmalz sparen. Ich bin wirklich damit durch. Männer sind mir ein Rätsel, und ich habe nicht das Bedürfnis, es zu lösen. Gretel ist mir Gesellschaft genug.“ Gretel war ihre alte Katze – diabetisch, hilfsbedürftig und recht anspruchsvoll.

„Also bitte!“

„Das meine ich ernst“, bekräftigte sie. „Es ist schon Monate her, seit ich zuletzt ein Date hatte, und das soll auch so bleiben. Ich bin’s einfach leid …“ Sie brach ab, und als sie zu Brendan schaute, fragte sie sich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, ihn in ihre Pläne einzuweihen.

„Was bist du leid?“

„Ach, das ganze Prozedere.“ Lina entschied sich dagegen, es ihm zu sagen. Sie wusste, dass Brendan versuchen würde, sie davon abzuhalten. Daher sprach sie lieber über Männer, beziehungsweise den Mangel an anständigen Single-Männern. „Verlassen zu werden, enttäuscht zu werden, allein im Restaurant sitzen gelassen zu werden, während er das Weite sucht …“

Seit zwei Jahren arbeiteten sie zusammen. Deshalb wusste Brendan von Linas ziemlich katastrophalen Liebesabenteuern. Umgekehrt wusste sie über seine und Alisons Schwierigkeiten mit der künstlichen Befruchtung und der bevorstehenden Geburt des Babys Bescheid.

Allerdings wusste er nicht alles.

Lina war nicht sicher, ob sie vom Pech verfolgt wurde oder ob es an ihrer schlechten Menschenkenntnis lag. Aber mit ihren neunundzwanzig Jahren hatte sie noch keine längere Beziehung gehabt – von einer Verlobung oder sonst etwas Nennenswertem ganz zu schweigen. Bloß furchtbare Dates oder, was noch schlimmer war, tolle Dates, nach denen sie mit dem Mann im Bett landete und sich Hoffnungen machte. Nur dass es immer gleich endete: Der Kerl rief nicht mehr an, oder sie fand heraus, dass er sie betrog, oder die ganze Sache verlief einfach im Sande. Im schlimmsten Fall bekam sie zu hören, sie sei zu direkt, zu sehr von ihrer Arbeit besessen, nicht feminin genug …

„Ich glaube, es gibt keine guten Typen mehr“, stellte sie fest.

„Doch, natürlich. Du gehst nur in jede Begegnung mit der Erwartung rein, dass du enttäuscht wirst. Aber wir sind nicht alle so wie dein Dad, Lina.“

Obwohl Brendan sich bemühte, das Richtige zu sagen, ärgerte sie sich über seinen Kommentar, auch wenn sie es nicht zeigte.

All ihre Freunde wussten, dass ihr Vater die Familie verlassen hatte und ins Ausland gezogen war. Sie wussten jedoch nicht, was für eine empfindliche Narbe dies in Linas Herz hinterlassen hatte. Eine Narbe, die bei der geringsten Berührung schmerzte. Ihre tiefsten Gefühle hielt Lina fest verschlossen. Jeder ging davon aus, dass sie auf ihren Vater böse sein müsste, weil er sie verlassen hatte und nach Singapur gezogen war. Aber in Wahrheit vermisste sie ihn schrecklich und quälte sich bis heute mit der Frage, was sie falsch gemacht hatte. Wie konnte jemand, der sie angeblich liebte, einfach weggehen und sich so wenig Mühe geben, den Kontakt aufrechtzuerhalten?

Aber anstatt Brendan die Wahrheit zu sagen, erwiderte sie: „Ich will mir das alles nicht mehr antun.“

„Probier’s doch mal mit Online-Dating“, schlug Brendan vor. Als Lina abwehrend den Kopf schüttelte, setzte er hinzu: „So haben Alison und ich uns kennengelernt.“

„Das wusste ich gar nicht.“

„Es war das Beste, was ich je gemacht habe.“

Lina war nicht überzeugt. Brendan und Alison liebten einander sehr. Und weil es für sie beide so wunderbar funktioniert hatte, schien er zu glauben, wahre Liebe sei bloß eine Wischbewegung auf dem Smartphone entfernt.

„Ich hab’s ausprobiert“, gab Lina zu. Sie schaute durch die Windschutzscheibe. Die Wolkendecke war aufgerissen, und die blaue Stunde entfaltete sich in voller Pracht – dieser herrliche nachtblaue Himmel kurz vor Sonnenaufgang. „Mehrmals.“ Sie lachte müde bei dem Gedanken an die vielen Stunden, die ihre Mitbewohnerin Shona für Linas Profilfoto investiert hatte. Shona war Kosmetikerin und hatte das volle Programm aufgefahren: Linas heller Teint war künstlich gebräunt worden, das wellige Haar geglättet, die grünen Augen mit falschen Wimpern und Eyeliner umrahmt. Und das Foto hatte sie aus einem Winkel aufgenommen, der sie angeblich schlanker wirken ließ. „Shona hat mich für das Profilfoto total aufgedonnert.“

„Das hast du mir nie erzählt.“

„Nein, weil es nichts gebracht hat. Ich habe zwar jede Menge Nachrichten gekriegt, aber im richtigen Leben bin ich mit meiner üppigen Figur offensichtlich eine Enttäuschung.“

„Na, dann stell doch ein Bild von dir rein, so wie du …“

„Hab ich auch schon versucht.“ Seufzend dachte Lina an das authentische Foto, das sie hochgeladen hatte. Ein Bild von sich in Wanderkleidung auf dem Gipfel eines schneebedeckten Hügels, wo sie sich entspannt, zufrieden und friedlich gefühlt hatte. „Mein wahres Ich ist nicht annähernd so interessant. Jedenfalls nicht für jemanden, den ich attraktiv finden würde.“

Das war eine Tatsache.

Die Sorte Männer, die ihr gefiel, schien die Sorte Frauen zu bevorzugen, zu der sie nicht gehörte.

Lina verbrachte den größten Teil ihres Lebens bei der Arbeit und somit in Overalls und Stahlkappenstiefeln. An ihren freien Tagen gab es für sie nichts Schöneres, als mit Bus oder Bahn rauszufahren und dort auf Wander- und Erkundungstour zu gehen. Es gab also keinen Grund für Make-up, von hohen Absätzen und schicken Outfits ganz zu schweigen. Abgesehen davon kam sie sich darin blöd vor.

In ihrer Kindheit hatte sie die abgelegten Sachen ihrer Brüder getragen. Das einzige Zugeständnis für sie als Mädchen hatte darin bestanden, dass ihre Mutter ab und zu die Spitzen ihrer langen Haare mit der Schere geschnitten hatte, anstatt wie bei ihren Brüdern die Haarschneidemaschine einzusetzen. Die einzige sexy Kleidung, die Lina besaß, war ihre große Sammlung an farbenfrohen Dessous, was sie allerdings nicht mit Brendan besprechen wollte.

„Männer behaupten zwar, dass sie eigenständige Frauen mögen …“

„Das stimmt auch“, versicherte Brendan. „Obwohl du andere Leute schon ziemlich rumkommandierst.“

„Ich bin bloß durchsetzungsstark“, entgegnete Lina. Nun ja, zumindest bei der Arbeit. „Nimm dir ruhig ein Sandwich, wenn du willst.“

„Dann eben durchsetzungsstark.“ Brendan griff nach einem Sandwich. „Und sehr direkt.“

Er hatte recht. Doch er wusste nicht, wie mühsam sie sich das antrainiert hatte.

Als Kind und Teenager war sie unglaublich empfindsam gewesen. Jede Hänselei ihrer Brüder hatte sie tief getroffen. Und ihre Mutter, die Lina über alles liebte, konnte man im besten Fall als taktlos beschreiben. Der einzige Mensch, der ihre sensible Art verstanden hatte, war ihr Dad gewesen. Sie erinnerte sich an lange Spaziergänge mit ihm im Urlaub, während ihre Mutter und ihre Brüder sich lieber am Strand oder in dem gemieteten Ferienhaus aufgehalten hatten. Auf diesen gemeinsamen Spaziergängen hatte Lina ihrem Vater von Problemen in der Schule erzählt, oder von einer Freundin, die, wie sich herausgestellt hatte, keine echte Freundin gewesen war.

Es hatte ihr das Herz gebrochen, als er gegangen war, und sie hatte hohe Mauern um sich herum aufgebaut.

Bei ihrer Krankenpflegeausbildung war diese Empfindsamkeit jedoch wieder an die Oberfläche gekommen. Lina hatte oft daran gedacht, aufzuhören. Obwohl ihr gerade die Notfallmedizin besonders zusagte, hatte es im letzten Jahr ihrer Sanitätsausbildung mehrere Situationen gegeben, die ihr so sehr zu schaffen machten, dass sie beinahe abgebrochen hätte.

Sie erinnerte sich noch gut an eine katastrophale Schicht, nach der sie sich nichts mehr wünschte, als sich einen Moment lang fallen lassen zu können, um mal zu weinen. Lina war in der Hoffnung auf Zuspruch und ein paar tröstende Worte zu ihrer Mutter gefahren. Andere aufzumuntern war allerdings nicht gerade die Stärke ihrer Mum. Danach hatte Lina sich ein paar Tage freigenommen, um zu wandern und ihre Gedanken zu ordnen. Dabei war ihr klar geworden, dass sie sich unbedingt ein dickeres Fell zulegen musste, wenn sie ernsthaft weiterhin als Sanitäterin arbeiten wollte.

Damit wurde sie zu der toughen, durchsetzungsfähigen und schlagfertigen Lina von heute. Nur dass diese Lina, die jeder kannte, eigentlich nicht ihrem Wesen entsprach.

„Der Typ von meinem letzten Date meinte, ich würde zu viel von meiner Arbeit erzählen“, antwortete sie nun.

„Alison behauptet, dass ich auch bloß darüber rede.“

Lina musste lachen.

„Was ist daran so witzig?“

„Bei der Arbeit sprichst du die ganze Zeit bloß von Alison und dem Baby.“

„Schuldig im Sinne der Anklage.“ Brendan lächelte liebevoll vor sich hin.

Lina störte es kein bisschen, dass er ständig über seine großartige Alison redete. Im Gegenteil, es gab ihr den Glauben an die Männer wieder zurück.

Mit fast dreißig war sie inzwischen ziemlich resigniert. „Der davor beschwerte sich darüber, dass ich seinen Reifen gewechselt habe, als er einen Platten hatte. Er fand, ich würde ihn entmannen.“

„Haha“, machte Brendan ironisch.

„Ich habe eigentlich keine besonderen Interessen. Ich meine, ich gehe nicht ins Fitness-Studio oder so.“

„Aber du wanderst.“

„Ja, schon“, sagte Lina. „Aber ich bin so faul dabei. Erinnerst du dich an den Kerl, mit dem ich mich getroffen habe und der sich hinterher als Wettkampf-Geher herausstellte? Das Date hat mich fast umgebracht!“

Brendan lachte.

„Ich esse gerne, aber sogar das ist kompliziert. Ich bin ja keine Feinschmeckerin.“

„Du magst Kuchen und Desserts.“

„Und Sandwiches“, ergänzte Lina. „Aber nur in ganz bestimmten Kombinationen.“

„Du magst auch Antiquitätenläden“, stellte Brendan fest. „Obwohl du das aus deiner Online-Beschreibung vielleicht lieber rauslassen solltest, sonst lockst du nur die Oldies an.“

„Das tue ich jetzt schon!“ Sie seufzte.

„Benutz ab und zu mal etwas Make-up, trink Wein statt Bier …“

„Vorsicht!“, warnte sie ihn.

„Sei ein bisschen liebenswürdiger.“ Brendan machte sich lustig über sie. „Frag ihn, ob er seine Pantoffeln angewärmt haben möchte …“ Dann lächelte er und wandte sich ihr zu. „Sei einfach du selbst, Lina.“

Theoretisch klang das ja alles schön und gut, bloß kam sie damit anscheinend nicht sonderlich weit. Ihr lag eine scherzhafte Erwiderung auf der Zunge, aber da war wirklich etwas an der blauen Stunde, dieser kurzen Zeit vor dem Morgengrauen, was dazu veranlasste, ein bisschen tiefer zu forschen.

Vielleicht lag es daran, dass Brendan ihr inzwischen ein so guter Freund geworden war.

Oder vielleicht war sie auch nur müde, aber aus irgendeinem Grund gestand sie: „Ich glaube, das wäre noch schwerer …“

„Was denn?“ Fragend sah Brendan sie an.

„Wenn man ganz man selbst ist und sie einen dann verlassen“, antwortete Lina. „Da ist es besser, einen Teil von sich zurückzuhalten.“

Brendan, der ihr letztes Ei-Sandwich verspeiste, war jedoch entschieden anderer Meinung.

1. KAPITEL

„Welcher Arzt hat heute Abend Dienst?“

Während er sich in der Teeküche für die Mitarbeiter einen Becher Tee machte, bekam Oberarzt Garth Hughes die Unterhaltung im Aufenthaltsraum mit. Dort versammelte sich gerade das Team der Nachtschicht.

„Huba“, antwortete May, die Stationsschwester, mit ihrem starken irischen Akzent. „Ich habe sie gerade im Umkleideraum gesehen.“ Huba war eine junge Assistenzärztin.

„Außerdem noch Desmond bis Mitternacht und Garth die ganze Nacht“, sagte jemand anders. „Er ist aus dem Urlaub zurück.“

„Na ja, hoffentlich hat er jetzt nach seinem Urlaub bessere Laune.“ Da May ihn gerade in der Küche erblickt hatte, fügte sie mit erhobener Stimme hinzu: „Und das würde ich ihm auch ins Gesicht sagen, wenn er hier wäre.“

„Das ist mir klar, May“, gab Garth zurück. Mit einem selbstironischen Lächeln drückte er den Teebeutel aus und nahm seinen Becher mit in den Aufenthaltsraum.

Dort schaute er sich nach einem Platz um und setzte sich dann auf einen der wenigen freien Stühle.

„Und? Wie sieht’s aus?“, hakte sie nach. Doch dann vergaß sie ihn, weil sie sichtlich erfreut über den Neuankömmling war, der gerade hereinkam. „Lina!“ May strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hatte gehofft, dass wir dich kriegen.“

„Ich dachte schon, ich wäre zu spät dran“, erwiderte Lina.

Garth, der gerade seinen Tee umrührte, sah auf.

Sie sah wirklich aus wie jemand, der spät dran war.

Das lange dunkle Haar nicht zusammengebunden, hängte sie sich gerade ein Stethoskop um den Hals, klemmte sich ein Namensschild an und wirkte insgesamt etwas außer Atem. „Ich hatte versprochen, bei meiner Mum vorbeizuschauen, aber sie hörte nicht auf zu reden. Und als ich herkam, konnte ich die Klinikanzüge nicht finden.“

„Die sind jetzt woanders“, sagte Dianne. „Die Chirurgen haben sie uns ständig geklaut. Darum haben wir sie hinter den Schränken versteckt.“

„Inzwischen weiß ich das auch.“ Lina setzte sich auf den Stuhl neben Garth und beugte sich vor, um ihre Laufschuhe zuzubinden. „Aber ich habe mich wie ein Neuling gefühlt, weil ich erst danach fragen musste.“

„Du bist hier nie ein Neuling“, versicherte May. „Wie geht’s deiner Mum?“

„Sie ist unterwegs zu einem heißen Date“, erwiderte Lina. „Ich musste ihr den Ansatz färben. Sie sagt den Typen, sie wäre Mitte vierzig.“

„Wenn ich mich recht erinnere, war sie schon während deiner Ausbildung Mitte vierzig.“ May lachte, und für alle, die es nicht wussten, fügte sie hinzu: „Lina hat ihre Praktika bei uns gemacht.“

Mehr Informationen gab es nicht. Der Dienstplan war so groß und veränderlich, dass immerzu neue Gesichter auftauchten. Und obwohl Garth sie in den sechs Monaten, die er mittlerweile am Primary arbeitete, noch nie gesehen hatte, war Lina offenbar eine Art Stamm-Mitarbeiterin.

Dann wandte May sich wieder ihm zu. „Und? Wie sieht’s aus?“, wiederholte sie.

„Wie bitte?“ Garth war Unterbrechungen in einem Gespräch durchaus gewohnt, ebenso wie Mays Fähigkeit, genau dort wieder anzuknüpfen, wo sie zuvor aufgehört hatte. Doch seltsamerweise war er absolut nicht imstande, sich daran zu erinnern, wovon sie gesprochen hatten, bevor Lina in den Raum gekommen war.

Tatsächlich war Garth sich ihrer Nähe viel zu sehr bewusst. Sie nahm zu viel Raum ein.

Nun ja, eigentlich berührte sie ihn kaum. Aber nachdem sie ihre Schnürsenkel gebunden hatte, richtete sie sich wieder auf, um ihr langes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen. Durch ihre ständigen Bewegungen war sie einfach unglaublich präsent, was er mit allen Sinnen wahrnahm. Dazu gehörten auch der Duft ihrer frisch gewaschenen Haare und das ploppende Geräusch, als sie eine Getränkedose öffnete und einen Schluck daraus trank.

„Schon besser“, sagte sie dann zu sich selbst.

Es fiel Garth schwer, sich zu konzentrieren, während Lina lauter kleine Löcher in seinen sonst so undurchdringlichen Schutzschild zu bohren schien. Energisch rief er sich zur Vernunft. „Ich komme nicht mehr mit, May“, gestand er. „Was hast du gesagt?“

„Bist du in besserer Stimmung aus deinem Urlaub zurückgekommen?“

„Natürlich“, antwortete er trocken. Er wusste, dass May halb scherzte und halb ehrlich besorgt war.

Er hatte wirklich gehofft, die Pause würde ihm guttun, und für eine Weile schien es auch so. Aber auf der Rückfahrt aus Wales hatten der graue Himmel und der stetige Regen seine Stimmung genau widergespiegelt. Die Tage waren noch immer kurz, und als er nach Hause kam, war es bereits dunkel. Die Wohnung, die er gekauft hatte, um endlich einen Neuanfang zu machen, hatte sich kalt und leer angefühlt.

Oder fühlte nur er sich kalt und leer?

Es war so, als würde er einen Schritt vorwärts machen und zehn wieder zurück. Dieses Gefühl hatte er bei jeder Fahrt nach Wales.

„Wie war denn dein Urlaub?“, fragte Dianne.

„Gut“, antwortete Garth. Auch wenn der letzte Teil in Wahrheit die Hölle gewesen war.

Aber eine notwendige Hölle.

„Du hattest zwei Wochen frei, oder?“

Warum lässt sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen, dachte Garth gereizt. Andererseits wäre er der Erste, der einen Kollegen oder eine Kollegin nach deren Urlaub oder einem freien Wochenende fragen würde. Außerdem hatte er sich vorgenommen, sich mehr Mühe zu geben, damit es ein erfolgreicher Neuanfang wurde.

„Ja, zwei Wochen“, erwiderte er daher.

„Und wo bist du hingefahren?“, wollte May wissen. „Was hast du gemacht? Deine Familie besucht?“

Zu gerne hätte er eine ehrliche Antwort gegeben. Nicht weil er Mitleid wollte, sondern wegen des Schweigens, das unweigerlich darauf folgen würde. Stattdessen wich er aus. „Nein. Dafür war nicht genug Zeit. Ehrlich gesagt, war ich damit beschäftigt …“

Er senkte die Stimme und beugte sich vor, als wollte er ein Geheimnis verraten. Daraufhin beugte sich auch May eifrig vor, sichtlich erfreut darüber, dass der sonst so zurückhaltende Garth etwas Privates von sich preisgeben würde. „Habe ich dir erzählt, dass ich mich für einen Persönlichkeitsaustausch während meines Urlaubs angemeldet hatte? In der Hoffnung, ich würde danach der ganzen Mannschaft hier plötzlich alle Details meines Privatlebens anvertrauen?“

Neben ihm fing Lina an zu lachen, die seinen Sarkasmus schnell begriffen hatte.

Genau wie May. „Hat also nicht geklappt.“

„Nein, leider nicht“, gab er zurück.

„Tja.“ Sie stand auf, um rauszugehen und sich auf die bevorstehende Nachtschicht vorzubereiten, genau wie der Rest des Teams. „Dann müssen wir uns wohl mit dem begnügen, was wir haben.“

Es war alles bloß ein gutmütiges Necken, und als die anderen, einschließlich Lina, ebenfalls aufstanden, rief Garth sie zurück. „Aber ich habe euch das hier mitgebracht.“ Er stellte eine riesige, von Butter glänzende Papiertüte auf den Tisch. „Die sollte man am besten an dem Tag essen, an dem sie gebacken wurden.“

„Was ist das?“ Neugierig hob May die Tüte hoch und schaute hinein.

„Welsh Cakes.“

„Sieht nicht aus wie Kuchen.“ Skeptisch nahm May eins der keksartigen Gebäckstücke.

„Man nennt sie auch Bakestones.“ Dianne griff gleich doppelt zu. „Meine Gran hat sie oft für uns gebacken.“

„Nie davon gehört.“ May wickelte ihren Kuchen in Küchenpapier. „Den probiere ich zu meinem nächsten Kaffee.“

Einige andere bedienten sich ebenfalls, doch Garth beobachtete Lina, die sich zurückhielt, obwohl sie anerkennend den Duft einsog.

„Greifen Sie zu“, forderte er sie auf. Er vermutete, dass sie deshalb keinen Kuchen nahm, weil sie nur als Aushilfe hier arbeitete.

„Vielleicht in der Pause.“

„Dann sind sie weg“, erklärte er. „An Ihrer Stelle würde ich lieber nicht warten.“

„Na dann.“ Lina nahm einen der Kuchen und wickelte ihn auch in ein Stück Küchenpapier. „Vielen Dank.“

„Nichts zu danken.“

Während sich die Pflegekräfte überall auf der Station verteilten, hörte Garth, wie May zu Lina sagte: „Achte nicht auf ihn. Ich warne dich schon mal vor, aber bellende Hunde beißen nicht.“

Als ihre Stimmen sich entfernten, war Garth zwar nicht überrascht über Mays Beschreibung von ihm, aber es traf ihn doch. Er war eigentlich fest entschlossen gewesen, mit einer neuen Einstellung aus seinem Urlaub zurückzukehren.

Eine neue Wohnung.

Ein Neuanfang.

Jedenfalls war das der Plan gewesen. Sobald sich May nach seinem Urlaub erkundigt hatte, war er jedoch gleich an der ersten Hürde gescheitert.

Vor seinem Urlaub hatte May ihn beiseitegenommen, um mit ihm zu reden. Sie hatten zusammen in ihrem Büro gesessen, wo sie den Riesenstapel an Papierkram durchgegangen waren, der sich ständig ansammelte. Dabei hatte sie ihn gefragt, ob er zu Hause Probleme habe.

„Zu Hause?“ Garth war verblüfft gewesen. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Ich frage bloß deshalb, weil sich bei mir, als ich Schwierigkeiten mit meinem Sohn hatte, die Sache auch teilweise auf meine Arbeit ausgewirkt hat. Obwohl das natürlich nicht meine Absicht war. Aber wenn es bei dir zu Hause ein Problem gibt, dann kannst du immer mit mir darüber sprechen. Was immer du mir erzählst, bleibt unter uns, das weißt du.“

Mit einem ungläubigen Lächeln hatte er sie angesehen. Wie zum Teufel sollte es zu Hause Schwierigkeiten geben, wenn dort niemand war? Aber vielleicht wollte sie damit nur andeuten, dass er nicht gerade das sonnigste Gemüt besaß. „Nein, zu Hause gibt es keine Probleme.“

„Gut“, hatte sie erwidert. „Das war ja auch bloß eine Vermutung. Ich meine, ich weiß nicht mal, ob du eine Familie hast.“ Als sie seine zusammengezogenen Brauen bemerkte, hatte sie hinzugefügt: „Okay, ich weiß ein bisschen, weil ich bei deinem Einstellungsgespräch dabei war.“

Garth biss die Zähne zusammen. Ja, es gab eine große Lücke in seinem Lebenslauf, die er hatte erklären müssen. Aber danach hatte er jedes Gespräch darüber im Keim erstickt. „Nicht jeder stellt Fotos auf seinen Schreibtisch.“ Seine Stimme hatte einen scharfen Unterton, als er einen Blick auf ihre Bildergalerie warf. „Gibt es irgendetwas an meiner Arbeit auszusetzen?“

„Nein“, sagte May. „Du bist ein ausgezeichneter Arzt.“

„Aber?“

„Nichts aber. Garth, du bist ein großartiger Arzt, und man kann gut mit dir zusammen arbeiten. Aber mehr kann ich nicht beurteilen, weil du uns keine weiteren Anhaltspunkte gibst.“

Diese Aussage von May hatte er sich zu Herzen genommen.

Selbstverständlich hatte er nicht vor, sich ihr anzuvertrauen. Und er würde auch nie eine Stimmungskanone werden. Aber er hatte gehofft, die neue Wohnung und der vierzehntägige Urlaub würden ihm helfen, mit einer etwas offeneren Haltung zurückzukommen.

Offen und kommunikativ wie Lina.

Sie blieb hartnäckig in seinem Kopf, was ihn erstaunte. Garth war so etwas nicht gewöhnt. Die unmittelbare körperliche Anziehung, die er ihr gegenüber empfand, beunruhigte ihn.

Die Unterschiede zwischen ihnen waren mehr als offensichtlich. Er hatte sie nur etwa zwei Minuten kennengelernt und in dieser Zeit mehr über sie erfahren, als die gesamte Notaufnahme über ihn wusste. Sie hatte eine offenbar alleinstehende Mutter in der Nähe, die zu Verabredungen ging und wegen ihres Alters log. Lina schien ihr nahezustehen, sie hatte früher schon im Primary gearbeitet und hasste es, sich wie ein Neuling zu fühlen …

All das hatte Garth in einer flüchtigen Unterhaltung mitbekommen, während man ihm jede Information aus der Nase ziehen musste.

Ihm war bewusst, dass er sich viel zu distanziert verhielt.

Er betrachtete die Welsh Cakes, die er als eine Art Friedensangebot mitgebracht hatte, um zu zeigen, wie sehr er sein Team schätzte.

Aber das wussten die Leute doch, oder? Er hatte es ihnen oft genug gesagt. Er bedankte sich bei ihnen, machte nach schwierigen Fällen jedes Mal eine Nachbesprechung, und er stärkte ihnen immer den Rücken. Nur war er nicht bereit, im Aufenthaltsraum zu sitzen und ihnen zu berichten, wo er seine freien Tage verbrachte, oder die Hölle der beiden letzten Tage auch nur anzudeuten.

Garth fand es wesentlich einfacher, sein Privatleben zu Hause zu lassen. Andererseits war dies hier keine Vertretungsstelle oder ein kurzfristiger Arbeitseinsatz. Er hatte eine dauerhafte Stelle im Primary angenommen. Die erste seit …

Flüchtig schloss er die Augen.

Nach all den Jahren konnte er es noch immer kaum aussprechen oder auch nur denken.

Lina war nicht ganz sicher, über wen May sprach, als sie gemeinsam durch die Abteilung gingen.

Sie hoffte, es ging um Garth, der eine prickelnde Spannung in ihr ausgelöst hatte. Sie wollte mehr über ihn erfahren. Mays Bemerkung über bellende Hunde schien jedoch nicht recht zu dem Mann zu passen, der zwar einen etwas distanzierten, aber durchaus freundlichen Eindruck gemacht hatte.

„Wer?“, fragte sie deshalb.

„Garth, der Stationsarzt, der heute Nacht Dienst hat.“

„Ich fand ihn eigentlich ganz nett“, erwiderte Lina. „Immerhin hat er mir einen Keks geschenkt, und wie wir alle wissen, bin ich für Essen jederzeit zu haben!“

May lachte. „Bist du ihm vorher schon mal begegnet?“

„Nein.“ Lina überlegte. Als Sanitäterin wusste man vorher nie, was eine Schicht bringen würde. Manchmal kam sie zweimal am Tag ins Primary, dann wieder wochenlang gar nicht. „Ich glaube nicht.“

„Er führt sich oft auf wie der schlimmste Griesgram. Mürrisch wäre noch geschmeichelt. Es sei denn, man ist Patient, dann ist er nett. Trotzdem habe ich eine Schwäche für ihn“, gestand May.

„Was für eine Art Schwäche?“, hakte Lina scherzhaft nach.

May lachte. „Eine mütterliche Schwäche, du freches Ding. Das Problem mit Garth ist, dass er niemanden an sich heranlässt und dadurch nicht richtig Teil des Teams wird. Aber ich arbeite dran.“

Lina wusste, was sie meinte. In der Notaufnahme ging es gelegentlich ziemlich cliquenhaft zu, und obwohl Lina nur selten für eine Schicht hier arbeitete, achtete sie darauf, immer auf dem Laufenden zu bleiben. Sie plauderte ein paar Minuten, wenn sie einen Patienten einlieferte, falls die Zeit es erlaubte. Sie nahm an der Weihnachtsfeier teil und Ähnliches. Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Garth nicht dabei gewesen war. Einen so attraktiven, dunkelhaarigen Mittdreißiger hätte sie sicher bemerkt. Heute Abend war er ihr sofort aufgefallen, als sie den Aufenthaltsraum betreten hatte.

Selbst im Sitzen und halb hinter einem Tisch versteckt erregte er Aufmerksamkeit.

Mit seinem schwarzen Haar und dem unrasierten, düsteren Gesicht hatte er sie sofort nervös gemacht. Und der einzige freie Platz befand sich ausgerechnet direkt neben ihm.

Sogar Garths volle, tiefe Stimme wirkte sexy. Den kaum wahrnehmbaren Akzent hinter seiner kultivierten Aussprache hatte Lina nicht einordnen können, bis er die walisischen Kuchen erwähnte. Vielleicht stammte er aus Wales.

„Trotzdem leitet er die Abteilung sehr gut. Mehr verlange ich auch gar nicht“, fuhr May fort. „Aber genug von Garth: Es ist schön, dich heute mal wieder bei uns zu haben.“

Sobald sie den Bereich A erreichten, teilte sie den Mitarbeitern sofort ihre jeweiligen Aufgaben zu. „Die Übergabe hier brauchst du nicht mitzumachen, Lina. Kannst du bitte unsere Pflegeschülerin Tanya mitnehmen, um Bereich B offen zu halten? Elise ist schon dort, mit dem Ziel, diesen Teil bis Mitternacht zu schließen.“

Bereich B war für die ambulanten Patienten vorgesehen. Obwohl Lina lieber in der Hauptabteilung gearbeitet hätte, ging sie ohne Weiteres dorthin, wo sie eingeteilt wurde. Elise und die Pflegeschülerin waren gut organisiert, und Huba, die Assistenzärztin, beherrschte ihren Job. Allerdings neigte sie dazu, alles doppelt und dreifach zu überprüfen, wodurch sich das Tempo sehr verlangsamte.

„Ich kenne Sie, oder?“, erkundigte sich Huba, als sie am Tresen das Rezept für eine Tetanus-Injektion sowie einige Antibiotika für eine Handverletzung ausstellte, bei der Lina einen Verband anlegen sollte. Aber erst, nachdem Garth sich die Wunde angesehen hatte. „Haben Sie früher hier gearbeitet?“

„Ja, aber das ist schon eine Weile her“, antwortete Lina. „Als Krankenschwester bin ich nur noch ab und zu hier. Ich glaube, Sie kennen mich, weil wir vor zwei Monaten eine Brandverletzte eingeliefert haben, als Sie Dienst hatten. Ich bin Sanitäterin.“

„Ach ja. Jetzt erinnere ich mich wieder.“

„Es war schrecklich, oder?“, fragte Lina.

Doch Huba wechselte schnell das Thema. „Sie sind Sanitäterin und Krankenschwester? Wie kommt das?“

„Ich habe meine Krankenpflegeausbildung abgeschlossen, aber mein letztes Praktikum fand hier in der Notaufnahme statt. Da habe ich dann beschlossen, dass ich lieber Sanitäterin werden wollte, und …“ Sie brach ab, weil in diesem Moment Garth zu ihnen kam und Huba nervös zu werden schien.

„Danke, Garth. Ich wollte nur, dass du dir die Hand ansiehst, bevor der Patient nach Hause geht. Ich vermute, er sagt uns nicht die ganze Wahrheit und es handelt sich um einen menschlichen Biss.“

„Du hast ihm Antibiotika verschrieben?“ Garth las die Eintragungen. „Und ihn angewiesen, morgen zur Nachsorge in die Handchirurgie zu kommen.“

„Ja, aber es wäre mir lieb, wenn du die Funktion der Hand noch einmal überprüfen könntest. Ich fürchte, dass eine Sehne verletzt ist und er vielleicht stationär aufgenommen werden sollte.“

Mit der Karteikarte in der Hand marschierte Garth auf die entsprechende Kabine zu, hielt dann inne und sah Huba an. „Kommst du?“

„Ja, natürlich.“

Wenige Augenblicke später kehrte er zurück und gab Lina die Karteikarte. „Huba hat recht, es ist ein menschlicher Biss, auch wenn der Mann es nicht zugibt. Er soll morgen in die Handchirurgie kommen. Betonen Sie ihm gegenüber noch einmal, wie wichtig es ist, die Hand hochzulagern, und dass er unbedingt zur Nachsorge kommen muss.“

„Mach ich“, sagte Lina.

Dann schaute er sich in dem sich lichtenden Warteraum von Bereich B um. „Und vielleicht fangen Sie auch an, hier zu schließen.“

Ehe Lina antworten konnte, dass sie dies gerade vorhatte, schaltete sich Huba ein.

„May will, dass hier bis mindestens Mitternacht geöffnet bleibt.“

Lina runzelte die Stirn, denn das hatte May ganz sicher nicht gesagt. Im Gegenteil, sie wünschte vielmehr eine möglichst frühzeitige Schließung von Bereich B, damit alle Mitarbeiter im Hauptbereich eingesetzt werden konnten. Selbstverständlich hatte Lina jedoch nicht die Absicht, Huba vor ihrem Vorgesetzten zu korrigieren.

Daher nickte sie Garth zu. „Klar“, antwortete sie, obwohl er sich bereits abgewandt hatte.

Die Atmosphäre wirkte leicht angespannt, was sich bestätigte, als Huba ihren Stift ablegte und sich über die Stirn rieb. „Ich hätte ihn nicht rufen sollen.“

„Doch, wenn Sie besorgt sind, sollten Sie das auf jeden Fall tun“, widersprach Lina. „Und Sie haben recht, was menschliche Bisse betrifft. Die können sehr unangenehm werden.“ Auch wenn man zugeben musste, dass Garth sehr oft von Huba hinzugezogen wurde. „Er sollte Ihnen kein schlechtes Gewissen machen, wenn Sie ihn fragen.“

„Das tut er nicht. Er ist sogar gerne bereit, meine Fälle mit mir zu besprechen. Es ist bloß so, dass ich in letzter Zeit ständig nachfrage. Die Nacht mit diesem Wohnhausbrand …“ Plötzlich füllten sich Hubas braune Augen mit Tränen. „Ach, das spielt keine Rolle.“

Anscheinend spielte es aber eine große Rolle, denn auf einmal wurde sie sehr still. Auch wenn Lina gerne erfahren hätte, was damals geschehen war, wollte sie Huba nicht drängen. Es war offensichtlich, dass sie nicht weiter darüber reden wollte.

Es war eine schreckliche Nacht gewesen, in der drei Kinder und ihre Mutter schwer verletzt worden waren. Obwohl Lina sich nicht an Garths Anwesenheit erinnern konnte, als sie die Mutter hastig hereingerollt hatten, war er ja vielleicht doch im Dienst gewesen. Und vermutlich nicht gerade in heiterer Stimmung, wie so viele Leute in dieser Nacht.

„Falls Sie reden wollen …“ Lina legte Huba behutsam die Hand auf den Arm.

„Danke.“ Mit einem abwehrenden Kopfschütteln sagte Huba: „Ich komme schon klar.“

„Oder wollen Sie vielleicht einen Kaffee?“, bot Lina stattdessen an.

„Gerne.“ Huba lächelte.

„Kommt sofort!“

Sie machte Huba den gewünschten Kaffee, und weil noch ein paar Welsh Cakes in Garths Tüte waren, legte sie diese auf einen Teller und brachte sie auch mit. Doch in dem Moment, als sie alles vor Huba hinstellte, die dankbar lächelte, ertönte der Summer der Sprechanlage.

May fragte, ob Lina kommen könnte, da gleich ein Patient für den Reanimationsraum erwartet wurde. „Jetzt sofort!“

In Bereich A herrschte absolute Hektik. Alle Kabinen waren besetzt, und mehrere Tragen standen hintereinander aufgereiht, während die Sanitäter darauf warteten, dass die Patienten aufgenommen werden konnten. Normalerweise wäre Lina als Sanitäterin auch dort gewesen. Rasch eilte sie in den überfüllten Reanimationsraum. Mit hochrotem Kopf brüllte dort ein Zweijähriger, um den sich mehrere Mitarbeiter kümmerten. Außerdem versorgte das Notfallteam gerade eine junge Frau, doch May winkte Lina eilig in die mittlere Kabine.

„Es wird gleich ein Patient mit STEMI-Myokardinfarkt eingeliefert. Die zweite Ärztin des Kardioteams wurde ausgerufen, aber wir sind hier noch mit dieser Amitryptilin-Überdosis beschäftigt. Bis jemand kommt, seid ihr beide, Garth und du, auf euch alleine gestellt.“

Bei einem STEMI handelte es sich um einen sehr schwerwiegenden Herzinfarkt, für den Lina jedoch gut ausgebildet war.

„Weiß das Katheterlabor Bescheid?“, fragte sie, aber May hatte sich schon wieder ihrer eigenen Patientin zugewandt.

Deshalb lief Lina zur nächsten Kabine. Garth, der dort bereits Injektionen aufzog, wirkte wenig erfreut, als er sah, dass seine einzige Assistenz in der Aushilfsschwester bestand.

„Wo sind denn hier alle?“, fragte er missbilligend. „Bei dem Patienten, den wir erwarten, ist Zeit der entscheidende Faktor.“

Als ob sie das nicht wüsste! Lina schluckte eine scharfe Erwiderung herunter und erwiderte: „Die meisten sind nebenan beschäftigt.“

„Ich weiß“, gab Garth zurück. „Ich hab sie gerufen.“

„Die zweite Kardiologin wurde angepiept“, ergänzte Lina, die natürlich genau wusste, dass er eigentlich das Pflegepersonal meinte. „Ich kontrolliere jetzt erst mal, ob das Katheterlabor informiert ist.“

Da sie all ihre Krankenpflege-Einsätze im Primary absolvierte, besaß Lina glücklicherweise eine Liste mit Durchwahlnummern an ihrem Namensschild. Es dauerte also nicht lange, bis sie dafür gesorgt hatte, dass alle zuständigen Mitarbeiter in Bereitschaft waren. Dann rollte sie eine freie Infusionspumpe in die Kabine und war gerade dabei, Material zu öffnen, als die Sanitäter einen Patienten mit grauer Gesichtsfarbe hereinschoben, der kaum bei Bewusstsein war.

Annette, eine Sanitäterin, musste zweimal hinschauen, als sie Lina erblickte. Doch jetzt war keine Zeit für ein Gespräch. Deshalb machte sie lediglich die Übergabe.

„Walter James, achtundfünfzig, auf Geschäftsreise in London, keine Vorgeschichte oder irgendwelche Allergien.“ All diese Informationen wurden weitergegeben, während der Mann von der Trage auf das Reanimationsbett gehoben wurde.

„Mr. James, Sie befinden sich im Primary Hospital“, sagte Lina zu ihm. Sie schloss ihn an die Geräte an, aber er schien nicht ansprechbar zu sein. Dann machte sie ein 12-Kanal-EKG, während Garth das EKG studierte, das die Sanitäter mitgebracht hatten.

„Gibt es irgendwelche Verwandten?“, fragte Lina.

„Eine Ex-Frau in Nottingham ist alles, was wir herausbekommen konnten, bevor sein Blutdruck drastisch abfiel.“

Lina betrachtete den Mann auf dem Bett. Auch wenn sie tough war, gingen ihr manche Dinge unter die Haut. So wie jetzt.

Trotzdem verdrängte sie schnell alle Gedanken an ihren Vater und dessen Herzinfarkt zu einem höchst unglücklichen Zeitpunkt, während die Sanitäter ihre Übergabe beendeten.

„Vielen Dank“, sagte Garth zu ihnen, während er sich dem Patienten zuwandte. „Ausgezeichnete Arbeit.“

Nun ja, auch wenn er vielleicht etwas bärbeißig war, die Tatsache, dass er sich bei den Sanitätern bedankte, brachte ihm bei Lina deutliche Pluspunkte ein. Sie war es gewohnt, komplett ignoriert zu werden, sobald sie einen Patienten in kritischem Zustand ins Krankenhaus brachte. Ein Arzt, der sich die Zeit nahm, dem Rettungswagen-Team zu danken, war auf jeden Fall ein guter Arzt.

Dann verfiel er jedoch wieder in seine üblichen schroffen Anweisungen, da die Herzfrequenz des Patienten auf dreißig abfiel, und begann mit der Herzdruckmassage.

„Er muss intubiert werden“, sagte er zu Lina, als wäre sie ein Schulmädchen im Berufspraktikum. „Können Sie die Massage übernehmen, solange ich …?“

„Sicher.“ Sie war nicht im Mindesten darüber beunruhigt, dass sie nur zu zweit waren. Schließlich arbeitete sie normalerweise immer so.

Die Medikamente waren bereits aufgezogen und das Intubationsset geöffnet, sodass Lina die Massage weiterführen konnte, während Garth den Patienten mit den nötigen Medikamenten versorgte. Danach schaute er sich nach der Infusionspumpe um.

„Die ist da drüben.“ Mit dem Kinn wies Lina in die entsprechende Richtung, ohne die Herzdruckmassage zu unterbrechen.

Alles ging sehr schnell, und bald war Mr. James intubiert. Sobald die Medikamente wirkten, verbesserte sich auch die Herzleistung. Als der Anästhesist und die Kardiologin eintrafen, hatte sich sogar der Blutdruck wieder erhöht.

May steckte den Kopf durch den Vorhang. „Wie läuft es hier?“

„Alles gut“, antwortete Garth. „Wir verlegen ihn auf die Kardiologie. Wie geht es der jungen Frau?“

„Sie wird gleich auf die Intensivstation gebracht. Garth, kannst du bitte noch mal mit ihren Verwandten sprechen? Sie verstehen einfach nicht, in was für einem kritischen Zustand sie ist.“

„Natürlich.“ Er nickte.

„Was ist mit diesem Patienten? Irgendwelche Verwandten?“, fragte May.

„Nein, bisher bloß eine Ex-Frau“, erwiderte Lina, die seine Brieftasche durchsuchte. „Auf seinem Telefon ist auch nichts.“

„Wie wäre es, wenn ich hier übernehme und du versuchst, ein bisschen mehr herauszufinden?“, schlug May vor.

Als Lina die Kabine verließ, bereitete Dianne die Patientin mit der Überdosis für den Transport auf die Intensivstation vor. Lina war es gewohnt, Patientendaten herauszubekommen. Deshalb ging sie zum Stationstresen, wo sie sich alle Mühe bei ihren Nachforschungen gab. Als sie eine Weile später zurückkehrte, war sie jedoch keinen Schritt weitergekommen.

Sie traf Garth auf dem Flur. Er kam gerade aus dem Raum, in dem er mit den Angehörigen der jungen Frau mit der Überdosis gesprochen hatte.

Lina berichtete ihm von ihren erfolglosen Bemühungen. „Der einzige Kontakt, den ich finden konnte, ist seine Ex-Frau. Ich habe versucht, bei seiner Arbeitsstelle anzurufen, aber da es Mitternacht ist, hatte ich kein Glück.“

„Kein Notfallkontakt auf seinem Telefon?“

„Nein. Ich warte jetzt noch auf einen Rückruf von seinem Hotel, aber die waren nicht besonders hilfsbereit.“

„Dann sollten wir seine Ex-Frau anrufen“, sagte Garth. „Allerdings weiß ich nicht, wie erfreut sie darüber sein wird.“

„Wahrscheinlich wird sie froh sein, informiert zu werden. Aber selbst wenn nicht, kann sie Ihnen vermutlich ein paar Tipps geben.“ Lina hielt kurz inne, ehe sie hinzufügte: „Könnte sein, dass sie gemeinsame Kinder haben.“ Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen. Dieser Fall ging ihr doch etwas zu nahe, was Garth allerdings nicht wissen konnte. Ihr eigener Vater hatte vor vielen Jahren einen Herzinfarkt erlitten, wovon sie aber erst sechsunddreißig Stunden später erfahren hatten. Sie wollte nicht, dass es der Familie von Mr. James genauso erging.

„Okay, dann rufe ich sie jetzt an“, erklärte er. „Danke. Gute Arbeit.“

„Sie auch“, antwortete sie. Als sie May sah, lächelte sie ihr zu. „Ich gehe wieder zurück in Bereich B.“

„Nein, den schließe ich gerade“, entgegnete diese. „Du machst jetzt zuerst eine Pause.“

Lina presste kurz die Lippen zusammen. Die erste Pause wollte niemand haben, weil dadurch der Rest der Nacht sehr lang wurde.

May war ihre Reaktion nicht entgangen. „Wenn du die erste Pause nicht willst, dann komm und arbeite Vollzeit bei uns. Dann kannst du dir die Pausen aussuchen.“

„So verzweifelt bin ich nicht.“ Lachend ging Lina zur Teeküche, wo sie sich einen Kaffee machte und ihre Lunchbox aus dem Kühlschrank holte. Danach nahm sie alles mit in den Aufenthaltsraum, um ihre Sandwiches mit Thunfisch, Salat und Mayonnaise zu essen.

„Oh Mann.“ Les, der dafür zuständig war, die Patienten auf andere Stationen zu bringen, wedelte mit den Händen. „Bei dir gibt’s immer dasselbe, oder? Wenn du keine Eier isst, dann ist es Thunfisch.“

„Ich brauche die Proteine, um durchzuhalten“, entgegnete sie belustigt. „Willst du eins?“

„Wieso nicht, wenn ich schon hier sitze und den Geruch ertragen muss“, brummte Les und nahm sich ein Sandwich. „Ich musste heute schon zweimal zur Intensivstation raufrennen. In meinem Alter …“

„Du Armer. Rennen ist auch nicht mein Ding“, stimmte Lina mitfühlend zu.

„Lieber joggen?“

„Joggen kann ich auch nicht. Vielleicht schnelles Gehen …“

Sie lachten und stöhnten gemeinsam. Aber nicht lange, da Les bald gerufen wurde, um wieder einen Patienten auf die zuständige Station zu transportieren.

Da Lina nun allein im Aufenthaltsraum saß und zu satt war, um ihren Welsh Cake noch zu essen, beschloss sie, ihre Pause zu verkürzen und zehn Minuten früher wieder an die Arbeit zurückzukehren. Doch bevor sie Bereich A erreicht hatte, begegnete sie Brendan, der gerade eine Trage frisch bezog, nachdem er einen Patienten hergebracht hatte.

„Hey.“ Sie lächelte, und da ihre Pause noch nicht zu Ende war, blieb sie stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. „Wie läuft’s?“

„Ziemlich viel los.“ Brendan erzählte ihr von einer Messerstecherei, zu der es in diesem Teil von London gekommen war, und dann von der Patientin Amy Hill, die sie gerade eingeliefert hatten. „Sie ist verwirrt. An Weihnachten hat sie ihren Mann verloren und fragt ständig, wo er ist. Arme Frau. Ihrer Pflegerin zufolge war sie gestern noch völlig klar.“

Es gefiel Lina, dass er sich die Mühe machte, möglichst viel über seine Patienten herauszufinden.

„Und wie sieht’s bei dir aus?“ Brendan warf die Decken in den Wäschewagen. Als er aufschaute, fragte er erstaunt: „Was ist denn mit deinen Augenbrauen passiert?“

„Shona hat sie gefärbt“, sagte Lina. „Ich komme mir vor wie Groucho Marx.“

„Wer?“ Brendan machte eine verständnislose Miene, kehrte dann jedoch zu seiner ursprünglichen Frage zurück. „Wie war dein Abend bisher?“

„Super!“, sagte sie begeistert. „Wir hatten einen STEMI, aber es ist alles gut verlaufen.“ Brendan nickte anerkennend. Doch sie merkte, dass er abgelenkt wirkte. Als er sein Handy herausholte, riet sie, wo er mit seinen Gedanken gerade war. „Und wie geht es Alison?“

„Wir sind vorhin hier gewesen. Sie dachte, bei ihr hätten die Wehen eingesetzt, und wir haben den Nachmittag auf der Entbindungsstation verbracht“, antwortete er beunruhigt. „Sie wurde zwei Stunden an den Monitor angeschlossen und danach wieder nach Hause geschickt. Die Hebamme meinte, es dauert nicht mehr lange. Ich lasse sie nur ungern allein.“

„Ich weiß.“ Mitfühlend legte Lina ihm die Hand auf den Arm. „Aber ich bin sicher, wenn sich irgendetwas tut, wird Alison dir sofort Bescheid sagen.“

„Wirklich?“

„Natürlich“, erwiderte sie geduldig. „Sie würde dich sofort anrufen.“

„Du hast recht, es ist bloß …“

„Du machst dir eben Sorgen.“

„Ich bin ganz außer mir“, gestand Brendan. „Und der verdammte Peter …“ Mit einem Nicken wies er zu seinem Partner hinüber. „Er hat gesagt, ich soll aufhören, die ganze Zeit darüber zu reden. Er will nichts mehr davon hören. Ich sag’s dir, Lina, du fehlst mir heute Nacht …“

„Ich weiß.“ Peter hat ja nicht ganz unrecht, dachte sie. Aber Brendan war nun mal Brendan, und das Einzige, woran er in den Momenten zwischen seinen Patienten dachte, waren Alison und das Baby. „Ignorier ihn einfach“, sagte Lina. „Vielleicht kannst du …“

Doch unvermittelt wurde sie von Garth unterbrochen.

„Lina!“, rief er in scharfem Befehlston, als er auf sie zukam. „Wenn Sie beide Ihren gemütlichen kleinen Plausch beendet haben, darf ich Sie dann bitten, Kabine fünf vorzubereiten, damit wir die Patienten vom Flur wegkriegen?“

„Klar“, antwortete sie. „Wir waren sowieso gerade fertig.“ Da Garth jedoch schon mit langen Schritten weitergegangen war, verdrehte sie die Augen. „Freundlichkeit scheint nicht seine Stärke zu sein. Dann gehe ich jetzt mal lieber.“

„Er sollte sich besser in Acht nehmen.“ Brendan lachte. „Der arme Kerl hat offenbar keine Ahnung, mit wem er sich da anlegt!“

Lina würde es sich sicher nicht gefallen lassen, grundlos zurechtgewiesen zu werden. Durch ihre Arbeit draußen auf der Straße hatte sie längst gelernt, sich durchzusetzen, auch wenn es ihr manchmal schwerfiel. Obwohl es für sie immer noch nicht selbstverständlich war, erschien es ihr wesentlich besser, gleich zu Anfang für sich selbst einzustehen, als die Dinge einfach laufen zu lassen.

Kabine fünf sah furchtbar aus, aber bald hatte Lina sie sauber gemacht, das Material aufgefüllt und alles für den nächsten Patienten vorbereitet. Trotzdem war Lina sauer, und als Garth durch den Vorhang schaute, um sich davon zu überzeugen, dass die Kabine vorbereitet war, sagte sie: „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“

„Natürlich.“ Er kam herein.

„Ich hatte noch Pause, als Sie mich mitten auf dem Gang zurechtgewiesen haben“, erklärte sie. „Ich habe es nicht nötig, mich tadeln zu lassen, als hätte ich in der Schule den Unterricht gestört, obwohl ich …“

Sie brach ab. Nicht weil ihr die Worte fehlten, sondern weil ihr plötzlich der Atem stockte. Garths Augen waren so tiefblau wie der Himmel in der blauen Stunde, und als sie seinem Blick begegnete, fühlte sie sich wie verzaubert. Sie nahm seinen männlichen Duft wahr, wie Seife im Regen, mit einem Hauch von Zitrus, der dezent wirkte, aber dennoch haften blieb. Und auch wenn Lina der Männerwelt abgeschworen hatte, merkte sie, dass dies gar nicht so leicht war.

Eine rein physische Reaktion, sagte sie sich und fuhr fort: „Ich habe jedes Recht der Welt, mich während meiner Pause mit jemandem zu unterhalten, ohne von Ihnen dafür zusammengestaucht zu werden.“

„Das stimmt, und ich entschuldige mich dafür“, erwiderte Garth. „Da bin ich zu weit gegangen.“

Damit nahm er Lina allen Wind aus den Segeln. Mit einer Entschuldigung hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte eher eine Auseinandersetzung oder zumindest eine verärgerte Reaktion von ihm erwartet. Stattdessen hatte er sofort zugegeben, dass er im Unrecht gewesen war.

„Entschuldigung angenommen“, sagte sie daher.

„Danke.“

„Dann hole ich jetzt den Patienten.“ Als sie hinauseilte, hielt sie unwillkürlich den Atem an, und ihre Wangen waren heiß.

Garths unerwartete Reaktion brachte sie durcheinander, doch sie wusste nicht recht, wieso.

2. KAPITEL

„Mrs. Hill?“ Anhand von Namensband und Aufnahmekarte sah Lina, dass es sich um die Patientin handelte, die Brendan eingeliefert hatte. Ihre Werte waren besorgniserregend, und ihr Blutzucker war ziemlich hoch. Sie wirkte unruhig, verschwitzt und musste dringend behandelt werden. „Ich bringe Sie jetzt rein.“

Mrs. Hill, klein, resolut und über achtzig, wollte jedoch auf gar keinen Fall in der Notaufnahme bleiben.

„Ich will nach Hause“, wiederholte sie immer wieder, während Lina ihr die Kleidung auszog, um die Untersuchung durchzuführen.

„Das wird hoffentlich auch bald möglich sein“, beruhigte Lina die alte Dame. „Aber zuerst muss ein Arzt Sie anschauen.“

Huba war jedoch mit einem Patienten im OP-Raum beschäftigt, der genäht werden musste. Und wie es aussah, würde das noch eine Weile dauern.

„Sie muss wirklich dringend medizinisch versorgt werden“, erklärte Lina. Sie wusste nicht, weshalb Huba die Wunde nähte, obwohl eigentlich Dianne dafür zuständig war. „Sie hat Fieber und ist stark dehydriert.“

„Könnten Sie bitte jemand anders fragen?“ Huba hielt ihre behandschuhten Hände hoch. „Ich habe gerade erst angefangen.“

„Natürlich.“ Als Lina den Raum verließ, sah sie, wie May die Augenbrauen hochzog.

„Ist Huba immer noch da drin?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Desmond sollte eigentlich schon vor einer Stunde Feierabend machen und ist immer noch hier. Aber ich glaube, Garth ist mit seinem Patienten im Reanimationsraum gleich fertig.“

„Gut.“

Garth war tatsächlich gerade fertig geworden, hatte aber offensichtlich noch genug anderes zu tun. „Wo ist Huba?“

„Sie näht eine Verletzung.“

Er blickte den überfüllten Korridor entlang, wo mehrere Sanitäter-Teams darauf warteten, dass ihre Patienten wenigstens beurteilt wurden. Angespannt stieß er den Atem aus, nahm dann die Aufnahmekarte, lächelte aber dennoch liebenswürdig, als er sich der Patientin vorstellte. „Wie geht es Ihnen, Mrs. Hill?“

„Ist es nicht Ihr Job, mir das zu sagen?“, entgegnete sie gereizt. „Es gibt keinen Grund für mich, hier zu sein. Ich will bloß nach Hause.“

„Wo ist denn Ihr Zuhause?“, fragte Garth in beiläufigem Tonfall. Dabei überflog er zugleich den beiliegenden Arztbrief.

„Das wissen Sie ganz genau. Es steht auf dem Zettel, den Sie gerade lesen“, antwortete Mrs. Hill.

„Na schön.“ Freundlich und geduldig ging er noch weitere Details mit ihr durch und erkundigte sich nach ihren Medikamenten.

„Das steht alles in dem Brief.“

„Gut, dann werde ich Sie jetzt untersuchen, wenn Sie damit einverstanden sind.“

„Nein.“ Sie hob energisch die Stimme. „Bin ich nicht. Ich will nach Hause.“

„Wo sind Sie, Mrs. Hill?“

„Im Krankenhaus.“

Behutsam befragte er sie weiter, während die alte Dame ihm jedes Mal auswich.

„Was spielt das schon für eine Rolle!“, rief sie aus, als er wissen wollte, welches Jahr es war. „Bei den schlimmen Zuständen in der Welt.“

„Ich glaube, Sie sind verwirrt, Mrs. Hill“, sagte er. „Und Sie geben sich große Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.“

„Würden Sie das nicht auch tun?“ Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken, und ihr stiegen Tränen in die grünbraunen Augen. „Ich weiß nicht, was los ist. Da waren Männer in meinem Schlafzimmer, die mich aus meinem Bett geholt haben.“

„Das waren die Sanitäter.“ Lina drückte der alten Dame die Hand. „Ich kann mir vorstellen, was für einen großen Schrecken Ihnen das eingejagt hat. Aber die Gemeindeschwester war beunruhigt, als sie kam, um Ihnen Ihre Medikamente für die Nacht zu geben. Und ich glaube, Ihr Hausarzt hat den Krankenwagen gerufen.“

„Wie sind die reingekommen?“ Ängstlich sah Mrs. Hill sie an.

„Ihre Betreuerin hat ihnen den Code gegeben“, erklärte Lina. „Anscheinend waren Sie nicht ganz Sie selbst.“ Sie warf Garth einen Blick zu. „Mrs. Hill hat vor Kurzem ihren Ehemann verloren.“

„Das stand nicht auf der Karte“, stellte Garth fest. „Das tut mir sehr leid, Mrs. Hill. Wann ist Ihr Mann verstorben?“

„Es war mein erstes Weihnachten ohne ihn.“

Endlich machten sie Fortschritte.

Garth prüfte den Hautturgor an ihren Händen. „Sie sind sehr dehydriert.“

„Bert hat mir immer meinen Tee gebracht.“

„Es ist schwer, wenn solche Gewohnheiten sich verändern“, meinte er. „Aber wir müssen den Flüssigkeitsverlust ausgleichen, und ich muss herausfinden, was mit Ihnen los ist.“

„Er fehlt mir.“

„Das kann ich gut verstehen“, antwortete Garth. „Was würde Bert denn jetzt sagen, wenn er hier wäre?“

Die alte Dame lächelte zögernd. „Dass ich den Doktor seine Arbeit tun lassen soll.“

„Würden Sie das dann bitte auch tun?“

Nun stimmte sie der Untersuchung zu. Lina fand es schön zu beobachten, wie viel Zeit Garth sich für Mrs. Hill nahm, um ihr alles genau zu erklären. Er schien den stolzen Kampf zu verstehen, mit dem sie versuchte, die Normalität aufrechtzuerhalten.

„Ihr Blutzucker und Ihre Körpertemperatur sind etwas zu hoch.“ Nachdem er die Untersuchung abgeschlossen hatte, nahm er ihr eine Blutprobe ab, legte ihr einen intravenösen Zugang und bat Lina, eine Urinprobe zu nehmen.

„Ich hasse das“, erklärte Amy Hill, als Lina ihre Aufgabe wahrnahm.

„Das kann ich mir gut vorstellen“, erwiderte Lina und hörte sich an, wie Amy in Erinnerungen an Bert schwelgte.

Sie erzählte von all den kleinen Dingen, die ihr verstorbener Ehemann für sie getan hatte. „Er hat meinen Vormittagstee nie versäumt. Ich vergesse es meistens, aber er hat es nie vergessen.“

„Wie geht es ihr jetzt?“, erkundigte sich Garth, als Lina die Proben ins Labor schickte. Er war gerade im Begriff, seine Eintragungen zu schreiben.

„Sie wird ruhiger.“ Sie lächelte.

Er nickte, und dann entstand eine Pause, in der einen Moment lang die Zeit stillzustehen schien. Ein seltsames Gefühl, aber auch irgendwie angenehm.

„Das ist gut“, sagte er schließlich.

„Ja.“

„Ich vermute eine Harnwegsinfektion. Wahrscheinlich vernachlässigt sie sich selbst ein bisschen.“

„Ja, ich glaube, Bert hat sich um diese alltäglichen Sachen gekümmert“, meinte Lina. „Jedenfalls hat er ihr Tee gebracht und ihren Blutzucker gemessen.“

„Ich warte erst mal auf die Befunde“, erklärte er. „Aber sie muss auf die Geriatrie. Ich bin sicher, dass der Harnwegsinfekt ihren geistigen Zustand verschlimmert, aber es könnte eine Verwirrtheit zugrundeliegen, die die Schwester und der Hausarzt wegen Berts Bemühungen vorher nicht wahrgenommen haben.“

Sie nickte. „Oder sie trauert einfach.“

„Ja.“

Es war ein vollkommen normales Gespräch, nur dass es sich für Lina irgendwie besonders anfühlte. Garth öffnete den Mund, um etwas zu sagen, unterließ es jedoch, rutschte stattdessen von seinem Hocker herunter und wandte sich an May: „Ist Huba immer noch im OP-Bereich?“

„Ja.“

Als er in Richtung der OP-Räume davonging, fühlte Lina sich ein wenig durcheinander.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte May.

Abgesehen von einer plötzlichen Verliebtheit in euren brummigen Stationsarzt? „Ja, klar“, antwortete Lina.

Dieses merkwürdige Gefühl war sehr beunruhigend. Gegen vier Uhr morgens, als die Hektik in der Notaufnahme allmählich nachließ und Garth am Computer seine Patientendateien auf den aktuellen Stand brachte, nutzte May die Gelegenheit, um mit Lina zu plaudern. Dabei spürte diese geradezu, dass er ihnen zuhörte.

„Findest du es schön, wieder bei uns zu sein?“, wollte May wissen.

„Ja, auf jeden Fall“, bestätigte Lina. „Ich mache meine Schichten immer gerne hier.“

„Wir hätten im Dienstplan bestimmt noch einen Platz für dich. Falls du jemals wieder in die Krankenpflege zurückwillst, brauchst du mir bloß Bescheid zu sagen.“

„Zurück in die Krankenpflege?“ Fragend schaute Garth herüber.

Er hat also tatsächlich zugehört, dachte Lina.

„Lina hat gewechselt und ist jetzt Sanitäterin“, sagte May. „Sie hat ihre gesamte praktische Ausbildung bei uns gemacht und kommt immer noch ab und zu hierher zurück.“

„Ach, jetzt verstehe ich.“ Garth sah Lina an. Offenbar spielte er ihre Unterhaltung mit Brendan im Kopf noch einmal durch.

Ein kleines triumphierendes Lächeln umspielte Linas Mundwinkel, denn er hatte wirklich keinen Grund gehabt, sie zurechtzuweisen.

„War vorhin nicht dein Partner Brendan hier?“, erkundigte sich May. „Ich dachte, ich hätte ihn gesehen.“

„Ja. Er fährt heute Nacht mit Peter.“

„Der Ärmste.“ May lachte. „Brendans Baby müsste doch jetzt jeden Tag kommen, oder?“

„Nein, eigentlich erst in drei Wochen“, gab Lina zurück. „Obwohl Brendan davon überzeugt ist, dass es heute Nacht so weit ist. Das sagt er aber schon seit Tagen. Alison ist für die Geburt im Primary angemeldet. Ihr werdet also schnell davon erfahren.“

„Er wird sicher Zigarren ausgeben.“ Wieder lachte May. „Er freut sich ja so sehr.“

Lina ging nicht näher auf das Thema ein. Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, was für sie eher ungewöhnlich war. Aber sie brauchte dringend eine Pause zum Nachdenken. Sie fühlte sich innerlich aufgewühlt, ohne sich den Grund dafür erklären zu können.

„Du bist ziemlich still“, bemerkte May, die begonnen hatte, den Dienstplan für die Tagschicht zu erstellen.

„Findest du?“

Das war gut möglich, denn sie spürte Garths Nähe einfach überdeutlich. Obwohl es natürlich total abwegig erschien, dass sich zwischen ihnen irgendetwas entwickeln könnte, weil er vollkommen außerhalb ihrer Liga spielte. Und das war keine übertriebene Bescheidenheit ihrerseits. Garth Hughes sah umwerfend aus, und wenn Lina eins aus ihrem Abstecher ins Online-Dating gelernt hatte, dann, dass sie höchstens als durchschnittlich attraktiv galt.

May warf einen Blick über die Schulter. „Hat der STEMI-Fall vorhin dich mitgenommen?“

„Nein, dafür sind wir ja da.“ Durch ihre Notfallausbildung konnten Rettungssanitäter gut mit solchen Erkrankungen umgehen. Trotzdem musste Lina sich eingestehen, dass der Fall ihr in Wahrheit mehr zu schaffen gemacht hatte als erwartet. „Vielleicht ein bisschen“, gab sie zu. „Ich meine, Nachforschungen anzustellen, um seine Familie ausfindig zu machen, das, na ja …“ Sie brach ab.

„Es hat dich an deinen Dad erinnert?“

Lina blickte auf. Selbstverständlich wusste May von dem beinahe tödlichen Herzinfarkt, den ihr Vater damals im Ausland erlitten hatte. „Ja, es ist mir schon etwas unter die Haut gegangen.“

Garth wartete darauf, dass sie mehr erzählte, doch das tat sie nicht. Und auch May vertiefte die Sache nicht weiter. Stattdessen fragte sie: „Hast du heute wieder Nachtschicht, Garth?“

„Nein.“ Er wollte sich erneut seinen Eintragungen zuwenden, erinnerte sich dann aber daran, dass er sich ja eigentlich etwas umgänglicher zeigen wollte. „Ich werde auspacken“, ergänzte er daher.

„Auspacken?“ Überrascht von dieser freiwilligen Information, drehte May sich zu ihm um.

„Ich bin im Urlaub umgezogen.“

„Oh.“

„Es ist noch sehr kahl“, erklärte er. „Jetzt, da all die Möbel der Vorbesitzer weg sind, merke ich erst, was für einen Haufen Probleme ich mir damit womöglich aufgehalst habe.“

„Du hast also gekauft?“

„Ja.“

„Wo denn?“

„In der Nähe“, erwiderte er widerstrebend. „Allerdings nicht in Fußnähe. Sonst würdest du ja ständig vorbeikommen, damit ich irgendwas unterschreibe.“

„Ja, bestimmt“, bestätigte May. „Na, ich schätze, wenn du eine Wohnung gekauft hast, kannst du nicht so schnell wieder weglaufen.“ Lächelnd sah sie ihn an.

Sie hatte seinen Lebenslauf gesehen und wusste von den vielen unterschiedlichen Orten, an denen er in den vergangenen sechs Jahren gearbeitet hatte. In Schottland, den Midlands, im Süden und davor in Wales. Ausnahmsweise bohrte May jedoch nicht weiter nach, sondern lächelte ihm noch einmal zu, ehe sie sich wieder der Tafel mit dem Dienstplan zuwandte. „Dann wirst du uns wohl erhalten bleiben!“

„Sieht so aus.“ Gähnend stand er auf. „Ich gehe jetzt was essen, aber ruft mich, wenn ihr mich braucht. Wo ist Huba?“

„Versteckt sich im OP“, antwortete May.

„Sie versteckt sich?“, fragte Lina erstaunt, nachdem Garth gegangen war.

„Sie hat ihr Selbstvertrauen verloren. In der Nacht mit dem Wohnhausbrand hast du doch auch gearbeitet, oder?“

„Ja“, sagte Lina. „Ich habe die Mutter eingeliefert.“

„Nun ja, die arme Huba leidet unter den Nachwirkungen. Das hat sie ziemlich erschüttert. Garth tut sein Bestes, um ihr dabei zu helfen, ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Aber sie zweifelt an allem, was sie tut, oder sie versteckt sich. Was glaubst du, warum ich Bereich B geschlossen habe? Wenn es nach Huba ginge, wäre sie immer noch da unten.“

Jetzt verstand Lina allmählich, was los war. Sie hatte die Kommunikation zwischen Garth und Huba falsch interpretiert. Nicht er war ungern gekommen, sondern Huba machte sich selbst Vorwürfe, weil sie ihn so oft um Rat fragte. „Oje, die Ärmste.“

„Sie kriegt das schon wieder hin“, meinte May zuversichtlich. „Es ist gut, dass sie von Garth betreut wird. Auch wenn ich mich wegen seiner mangelnden Kommunikationsfähigkeiten beschwere, gibt es keinen Besseren, den man auf seiner Seite haben könnte.“

„Mangelnde Kommunikationsfähigkeiten?“, fragte Lina. „Er scheint doch ganz nett zu sein.“

„Heute Nacht ist er wirklich sehr gesprächig. Vielleicht hat ihm der Urlaub ja tatsächlich gutgetan.“

Während sie Material auffüllte, wagte Lina einen Vorstoß. „May, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Du willst doch Vollzeit bei uns arbeiten!“

„Nein.“ Linas Lächeln wirkte leicht angespannt. „Ich habe mich auf eine neue Stelle beworben und wollte fragen, ob ich dich als Ansprechpartnerin für eine Empfehlung angeben kann. Bisher habe ich es noch niemandem gesagt.“

May drehte sich um. „Wo ist diese Stelle?“

„In Newcastle.“

„Das ist aber weit weg.“

„Ich weiß. Deshalb habe ich es auch noch niemandem erzählt“, erwiderte Lina.

„Aber deine Familie ist hier. Deine Freunde sind in London …“

„Ja, aber ich kann mir hier keine eigene Wohnung leisten!“, entgegnete sie. „Ich hab es so satt, ständig Mitbewohner zu haben. Dad stammt aus Newcastle, und ich habe Verwandtschaft dort. Ich liebe die Stadt. Wir sind früher oft in den Ferien da gewesen.“

„Dein ganzes Leben ist doch hier, Lina“, wandte May ein.

„Dort kann ich mir ein neues Leben aufbauen.“ Da Huba an den Tresen kam, schwieg sie. „Hallo.“

„Wo ist Garth?“

„In der Pause.“ May schaute zu Lina hinüber und nickte ihr zu. „Na klar.“

Da immer noch Patienten hereinkamen, blieb keine Zeit, länger darüber zu reden. Außerdem waren die Befunde von Mrs. Hill gekommen, die einen erhöhten Kaliumwert anzeigten. Lina gab sie Huba.

„Wie geht es ihr jetzt?“, wollte diese wissen.

„Sie schläft tief und fest. Ich glaube, die Flüssigkeitszufuhr hat geholfen, denn sie scheint etwas besser orientiert zu sein.“

„Können Sie sie in den Reanimationsbereich rüberbringen?“, fragte Huba. „Mit einem so hohen Kaliumwert sollte sie überwacht werden.“

„Natürlich.“

„Und vielleicht sollte ich auch Garth aus der Pause holen“, setzte Huba hinzu.

„Lina wollte ihm gerade etwas zur Unterschrift bringen“, warf May ein. „Da kann sie ihm auch gleich die Befunde vorlegen.“

Nachdem Mrs. Hill an den Monitor angeschlossen war, ging Lina zum Aufenthaltsraum. Dort fand sie Garth dösend vor, den Kopf auf seinem Stuhl zurückgelehnt und mit leicht geöffnetem Mund. Lina, die ein plötzliches Gefühl des Wiedererkennens empfand, hielt unwillkürlich inne. Einen Moment lang war sie verwirrt und wusste nicht wieso.

Ach ja, sie sollte ihm über Amy Hill Bericht erstatten.

Aber das war es nicht. Lina hatte den eigenartigen Eindruck, ihn zu kennen. Als wäre sie ihm schon einmal begegnet.

Wahrscheinlich stimmte das auch. Er hatte sicher mal Dienst gehabt, als sie Patienten eingeliefert hatte. Nur fühlte es sich anders an – als würde mehr dahinterstecken.

Offenbar spürte Garth ihren Blick, denn er machte die Augen auf und sah sie an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, natürlich.“ Weil er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn anstarrte, errötete Lina. Doch noch immer wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie ihn irgendwoher kannte. „Ich brauche bloß Ihre Unterschrift für ein paar Sachen, und Mrs. Hills Laborbefunde kommen gerade zurück.“ Sie nannte ihm die wichtigsten Parameter.

„Gut.“

„Wir haben sie an einen Monitor angeschlossen.“

„Ich komme gleich mal rüber.“

„Okay.“

„Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Garth.

„Selbstverständlich.“

„Ich hätte nie gedacht, dass der STEMI-Fall Sie aufgewühlt hat, bis May es erwähnte. Sie waren sehr kompetent“, sagte er.

„Danke.“

„Wenn Ihr Vater …“ Er lächelte düster. „Nun ja, das tut mir sehr leid.“

„Er ist nicht tot“, erwiderte Lina.

„Da bin ich aber froh.“

„Er war geschäftlich viel unterwegs und hatte einen Herzinfarkt in einem Hotel in Singapur.“

„Ah, verstehe.“

Nicht einmal May oder Brendan kannten die ganze Geschichte, aber aus einem unerklärlichen Grund erzählte Lina sie ihm. „Dadurch fand meine Mum heraus, dass er eine Affäre hatte.“

„Puh.“

„Allerdings“, bestätigte sie.

„Wie genau hat sie denn davon erfahren?“

„Tja, sechsunddreißig Stunden lang erst mal gar nicht, weil alle davon ausgingen, dass seine Freundin seine nächste Angehörige wäre.“ Sie schaute Garth an. „Wie hat Mr. James’ Ex-Frau es aufgenommen?“

„Sie kommt her. Vielleicht ist sie sogar schon da. Sie hatten recht, die beiden haben gemeinsame Kinder.“

„Wie gut, wenn alle es wissen.“ Lina wandte sich zum Gehen.

„Es tut mir leid. Das war sicher keine schöne Art, es herauszufinden“, sagte Garth in mitfühlendem Ton.

„Nein, das war es wirklich nicht.“

„Ist Ihre Mum nach Singapur geflogen, als sie es erfuhr?“ Er war neugierig, obwohl er sich sagte, dass er sich lieber zurückhalten sollte.

„Nein, sie ist stattdessen zu einem Anwalt gegangen“, antwortete Lina. „Komisch, oder?“

„Finden Sie?“

„Ich glaube, ich wäre sofort hingeflogen, und wenn auch nur deshalb, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, weil er mich betrogen hat.“

„Das verstehe ich.“ Er lächelte beinahe, und Linas Blick blieb an seinen schön geschwungenen, vollen Lippen hängen.

„Wir können uns wohl glücklich schätzen, wenn heute Nacht nur eine Ex-Frau beteiligt ist.“ Sie kehrte in die Notaufnahme zurück, wo alle Mitarbeiter die Abteilung für die Tagschicht vorbereiteten und so weit wie möglich klar Schiff machten.

„Sicher werden sie sich wieder beschweren, dass wir die Rollwagen nicht desinfiziert haben oder sonst was“, sagte May missbilligend. „Zum Glück bin ich nächste Woche wieder in der Tagschicht.“

Linas letzte Aufgabe in dieser Nacht bestand darin, Mrs. Hill zur Geriatrie hinaufzubegleiten. Die alte Dame hatte sich davor geängstigt, aber sie wurde sehr herzlich empfangen und bekam schnell ein Bett mit einer großen warmen Decke zugeteilt.

„Bald gibt es Frühstück“, erklärte ihr der Krankenpfleger, der sie auf der Station aufnahm.

„Die Leute hier werden sich gut um Sie kümmern.“ Lina freute sich, dass Amy Hill schon wesentlich entspannter wirkte. Hier befand sich die alte Dame in guten Händen.

Als sie in die Notaufnahme zurückkam, war May gerade dabei, die Übergabe vorzubereiten.

„Wenn der Rollwagen fertig ist, kannst du gehen.“ Sie zeichnete Linas Stundenzettel ab. „Danke, Lina. Es war schön, dich mal wieder bei uns zu haben.“ Dann zog sie sie kurz beiseite. „Ruf mich an, wenn du reden willst.“

Lina war gerührt. „Danke, May.“

„Und natürlich werde ich dir eine Empfehlung geben, aber überstürze nichts. Du kannst die Sache gerne mit mir besprechen.“

Vielleicht tue ich das, dachte Lina. Dann machte sie sich am Waschbecken im Umkleideraum rasch etwas frisch. Sie warf ihren Klinikanzug in den Wäschebehälter und lächelte ein bisschen selbstironisch, als sie sich dabei in dem fleckigen Spiegel sah. Ihre tolle, bernsteinfarbene Satin-Unterwäsche würde niemand außer ihr selbst zu sehen bekommen, aber der Anblick munterte sie trotzdem jedes Mal auf. Es war ihre einzige modische Schwäche.

Dieser kleine Hauch von weiblichem Luxus vermittelte ihr ein besseres Gefühl, selbst wenn sie wie jetzt dunkle Jeans und einen weiten grauen Pullover darüber anzog und in ihre Winterstiefel schlüpfte. Dazu kamen noch ein dicker Mantel und ein langer Schal.

„Bis dann, Lina!“, rief Dianne. „War nett, mit dir zu arbeiten.“

„Gleichfalls.“ Sie lächelte. „Bis bald.“

„Hoffentlich nicht allzu bald“, meinte May scherzhaft.

Lina lachte, da May sich darauf bezog, dass sie meist als Sanitäterin mit einem Patienten hier auftauchte.

„Danke für das Sandwich“, ergänzte Les, der zwei Sauerstoffzylinder zum Austauschen schleppte. „Aber nächstes Mal bitte mit weniger Salz.“

Das hier war schon ein verrückter Haufen. Lina lächelte vor sich hin, als sie hinausging.

Garth, der gerade mit der Angehörigen eines Patienten sprach, bemerkte, dass sie die Notaufnahme verließ. Er entschuldigte sich für einen Augenblick.

„Lina!“, rief er ihr nach.

Die Wangen leicht gerötet, wandte sie sich um, und er schaute direkt in ihre klaren grünen Augen. Es war schon lange her, seit er sich für eine Frau interessiert hatte. Abgesehen davon, dass er sie sehr attraktiv fand, konnte Garth nicht recht benennen, was ihn so sehr an ihr faszinierte. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“

„Soll ich noch eine Kabine sauber machen?“, gab sie humorvoll zurück.

Er lächelte, und das geschah nicht oft, wie sie bereits festgestellt hatte.

„Es tut mir …“, begann er.

Doch Lina unterbrach ihn. „Ist schon gut.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Garth. „Ich denke, ich schulde Ihnen eine doppelte Entschuldigung.“

„Ach ja?“, fragte sie erstaunt.

„Ja. Haben Sie Lust auf ein Frühstück, sobald ich fertig bin, damit ich mich gebührend entschuldigen kann?“

Sie zog die Brauen zusammen. „Frühstück?“

„Ja, aber nicht in der Cafeteria. Es gibt ein Café neben dem Krankenhaus, wo wir uns treffen könnten.“

„Um die Ecke gibt es ein besseres.“ Sie nannte ihm den Namen. „Einer der Vorteile meines Jobs ist es, zu wissen, wo man gut frühstücken kann.“

„Dann sehen wir uns dort“, erklärte Garth. „Sobald ich hier wegkann.“

„Okay.“

„Es könnte etwas dauern. Je nachdem, wann Richard reinkommt und wie viel wir zu tun haben.“

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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