Julia Ärzte zum Verlieben Band 175

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DIE PRINZESSIN UND DER KINDERARZT von ANNIE O'NEIL
Erotische Stunden am Strand haben für Dr. Lia Trelleburg und den attraktiven Kinderarzt Oliver Bainbridge süße und dramatische Folgen! Denn Lia ist in Wirklichkeit Prinzessin. Ab sofort bestimmt das strenge höfische Protokoll das unerwartete Glück in ihrem Leben …

ICH HABE MICH SO NACH DIR GESEHNT von LOUISA HEATON
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EIN ZWEITES GLÜCK MIT DR. FORREST? von JANICE LYNN
Für Natalie ist es Liebe auf den ersten Blick, als sie den Herzchirurgen Will Harroway Forrest trifft. Doch ihre Beziehung zerbricht an der Arroganz seiner Familie. Alles scheint vorbei – bis sich ihre Wege erneut kreuzen. Ihre Liebe lebt! Werden sie es diesmal schaffen, sie zu retten?


  • Erscheinungstag 10.03.2023
  • Bandnummer 175
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519113
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie O’Neil, Louisa Heaton, Janice Lynn

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 175

1. KAPITEL

„Champagner?“ Einer der Kellner war bei ihr stehen geblieben.

Lia hätte es nie zugegeben, aber eine Prinzessin zu sein, hatte seine Vorteile.

Schimmernde Gläser mit perlendem Champagner in Reichweite, wenn die Nerven flatterten, war einer davon. Hätte sie sich nur so leicht und beschwingt fühlen können wie die prickelnden Bläschen!

Etwas moralische Unterstützung würde ihr guttun, und wer war dafür besser geeignet als ihr Chef Dr. Nate Edwards? Suchend blickte sie sich um. Kein Nate. Leider. Langsam bereute sie den Aufwand, den sie mit ihrem Prinzessinnen-Outfit getrieben hatte: edles Kleid, Make-up, glitzerndes Diadem.

Nur ihr großherziger Chef und ein guter Zweck wie die St. Victoria Foundation konnten sie dazu bewegen, Fön und Schminkkassette hervorzuholen. Geschweige denn, sich ein Diadem aufzusetzen! Normalerweise hätte sie jetzt im Baumwollpyjama in ihrem urgemütlichen Cottage vor einer Serienstaffel gesessen.

Heute Abend musste die Serie warten. Die Stiftung gab ihre jährliche Spendengala, und die Aussicht, mit einer Prinzessin zu plaudern, dürfte die Geldbörsen weit öffnen. Was Lia allerdings nicht die Befangenheit nahm, die sie bei solchen Veranstaltungen befiel. Gesellschaftlicher Small Talk war nicht ihre Stärke.

Sie wollte schon zu einer Champagnerflöte greifen, als das Bild der verkniffenen weißblonden Frau mit Klemmbrett vor ihrem inneren Auge auftauchte, die sie in Karolinska zu offiziellen Anlässen begleitete. Sie sah sie praktisch vor sich, wie sie die Nase rümpfte und zischte: Sagen Sie Nein, danke. Außerdem haben Sie Lippenstift auf den Zähnen.

Das waren die Nachteile des Prinzessinnen-Daseins.

Der Prinzessin-Fauxpas-Trupp – oder PFT, wie Lia sie nannte –, war eine kleine Gruppe Helferlein, die der Palast praktisch als Babysitter mitschickte, wenn Lia einen offiziellen Termin wahrnahm. Mit Adleraugen ausgestattet, wiesen sie sie auf Dinge hin wie … Oh, ein Ketchupspritzer am Kinn, Spinat auf den Zähnen oder – die Regenbogenpresse hatte ein Freudenfest gefeiert – wenn ihr das Haar ins Gesicht wehte, sodass es aussah, als hätte sie einen Schnurrbart.

Und dies war nicht einmal ihr offizieller Termin, sondern Nates. Er hatte die Island Clinic gegründet, hier auf St. Victoria, ihrem karibischen Heim weit weg von ihrem Käfig. Ihrem Zuhause! Wenn man es denn so nennen konnte. Ein Palast war schließlich kein Kerker. Lia unterdrückte ein Kichern. Sag das dem Tower of London.

Sie nahm sich zusammen. Weder war sie Britin, noch wartete sie darauf, dass Heinrich VIII. sie aufs Schafott schickte. Und sie hatte Karolinska, wo fürstliche Traditionen sich wie mittelalterliche Eisenketten anfühlten, vor drei Jahren verlassen. Die lauen Nächte und die salzige Seeluft erinnerten sie beruhigend daran, dass sie ihr Leben geändert hatte, damit es genau das wurde: ihr Leben!

In der Karibik konnte sie freier atmen. Tropische Natur, Wärme, weiße Sandstrände, eine außergewöhnliche Klinik und – noch wichtiger – keine PFT. Hier konnte sie arbeiten, ohne von sich in der Klatschpresse zu lesen. Seit der Trennung ihrer Eltern war sie die arme kleine oder die einsame oder die verlassene Prinzessin gewesen. Wahrscheinlich kam altjüngferliche Prinzessin bald dazu, weil sie Anfang dreißig war und immer noch keinen Mann hatte!

Die hämischen Anspielungen bestimmter Medien sollte sie längst gewohnt sein, aber …

Allerdings war nicht alles schlecht. Manchmal machte es ihr sogar Spaß, sich glamourös zu kleiden. Einmal im Jahr schlüpfte sie für einen spektakulären Auftritt in ein elegantes Abendkleid. Und warum sollte sie es nicht genießen, wie der seidige Stoff ihre Beine streichelte, wenn es drei Jahre her war, dass die Hand eines Mannes sie berührt hatte?

Lia fuhr innerlich zusammen. Wo kam das auf einmal her? Sie fühlte sich ziemlich wohl mit ihrem Job und der Tatsache, dass sie ihr eigenes Leben leben konnte.

Nun ja, meistens. Der Palast fand Mittel und Wege, die Schlinge enger zu ziehen.

Dankend lehnte sie den Champagner ab. Heute Abend repräsentierte sie die Island Clinic und brauchte einen klaren Kopf. Sobald die Presse wieder abgezogen war und keine Gefahr bestand, dass dem Palast „ein Zwischenfall“ gemeldet werden konnte, würde sie sich ein Glas gönnen.

Mit Zwischenfall waren Peinlichkeiten gemeint. Mitglieder der fürstlichen Familie von Karolinska hatten das Fürstenpaar nicht in Verlegenheit zu bringen.

Was Lia gelegentlich zum Übermut reizte.

Sie zog ihr Handy aus der kunstvoll geflochtenen Palmwedel-Clutch, die ihr eine Patientin geschenkt hatte, sah sich verstohlen um und machte vor einem prächtigen Blumenarrangement ein Selfie. Dann rief sie die Nummer ihres Cousins auf, der den Grand Cru für diesen Abend gespendet hatte. Wahrscheinlich war er mit seiner Einheit auf einer Friedensmission, an irgendeinem Krisenherd dieser Welt, wo Lia auch gern gewesen wäre, um medizinische Hilfe zu leisten. Ihre Großeltern, der Fürst und die Fürstin, hatten es verhindert.

Stattdessen wahrte sie den Frieden auf andere Art, versorgte hier in der Inselklinik Patient um Patient. Sie war Neurochirurgin. Nicht nur Nate Edwards’ soziales Engagement hatte sie beeindruckt, sondern auch die hochinteressanten Fälle, die ihr nie begegnet wären, hätte sie sich dem Palast nicht widersetzt und sich um diese Stelle beworben.

Jetzt kam eine Kellnerin vorbei, balancierte nicht nur ein volles Tablett mit Champagnergläsern, sondern schwang bewundernswert lässig die Hüften zu den Klängen des Gitarristen, der sich auf der kleinen Bühne warm spielte.

Sie entdeckte Lia, wechselte sofort die Richtung und präsentierte ihr galant das Tablett. „Champagner, Hoheit?“

„Nein, danke.“ Sie zögerte und fügte lächelnd hinzu: „Noch nicht.“

Die junge Frau lachte wissend und tänzelte davon.

Lia ließ den Blick wieder durch den Raum schweifen, und da sie allein war, wiegte sie sich ein bisschen zur Musik, die Arme vor dem Bauch gekreuzt.

Ja, es war wirklich lange her, dass ein Mann sie in den Armen gehalten hatte.

Sie verzog das Gesicht. Seit wann dachte sie ständig an Sex? Es half nicht gerade dabei, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag: Gäste zu empfangen.

Auf die Geladenen wartete ein herrlicher Abend. Bezaubernde Musik, köstliche Speisen, sämtlich zubereitet von einem talentierten lokalen Cateringteam, und – dem tüchtigen Personal des Harbour Hotel sei Dank – eine festliche Atmosphäre in diesem Ballsaal. Es war eine Nacht, wie geschaffen, um eine Million Dollar für wohltätige Zwecke zu spenden oder auch … sich in einem ersten Kuss zu verlieren.

Farbenfrohe Blüten schmückten die Loggia, die das im Hazienda-Stil erbaute Gebäude umgab, und sorgten auch im Hotel für ein paradiesisches Ambiente. Die mit Schnitzereien verzierten Schiebetüren waren beiseite gezogen, sodass man einen freien Blick auf den Hafen mit seinen glitzernden Lichtern genießen konnte. Vor den Arkaden in doppelter Etagenhöhe standen riesige Palmen, in denen Lichterketten funkelten. Die Tische waren mit betörend duftenden Blumen dekoriert, die Vasen geschickt mit Bananenblättern umkleidet.

Tropischer Chic vom Feinsten. Hier wurde gefeiert, was die Insel St. Victoria an Schönheit zu bieten hatte, überstrahlt von der Gemeinschaft der Menschen, die hier lebten. Großzügige, freundliche, warmherzige Leute, die Lia nicht mehr missen mochte. Hoffentlich musste sie sich niemals verabschieden, weil – was der Himmel verhüten mochte – die Pflicht rief.

Apropos …

Rasch tippte sie eine Nachricht an ihren Cousin.

Hey, Jonas, wie findest du meinen Insel-Look? Unsere Großeltern wären entzückt! LOL. Wir stecken mitten in der Regenzeit, aber heute Abend ist es trocken und herrlich kühl. Jedenfalls für karibische Verhältnisse. Pullover brauche ich hier nicht. Schneit es zu Hause schon? Haha, Scherz … oder auch nicht. Genieß die Zeit, falls du zu Hause bist. Videocall demnächst? LG, Lia

Den Daumen über dem „Senden“-Button, warf sie noch einen Blick auf das Foto. Ihr langes hellblondes Haar war am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten, in dem wunderschöne tropische Blüten steckten, die hier das ganze Jahr über blühten. Ihr zartes Blauviolett setzte einen hübschen Akzent zu dem langen blauen Kleid, für das sie sich heute Abend entschieden hatte. Es wirkte elegant und war zugleich bequem, zwei Bedingungen, die sie an ihre offizielle Kleidung stellte, seit sie sie sich selbst aussuchte.

Nach Jahren, in denen ihr die Pressesprecherin des Palastes enttäuscht Aufnahmen zeigte, die Lia ein wenig vorteilhaftes Äußeres vorhielten, hatte sie eine Richtlinie für alle Designer ausgegeben, die ihr Kleidung schickten: stilvoll, aber mit Raum zum Atmen.

Was wenig geändert hatte.

In ein anderes Land zu ziehen, schon.

Seit sie ihre Heimat gegen St. Victoria getauscht hatte, weit weg von den Teleobjektiven der Paparazzi, kamen keine Designerkleider mehr, und – Überraschung! – sie sah auf den seltenen Fotos weniger unbehaglich aus.

Lächeln und hübsch aussehen wie eine Prinzessin, das war nicht ihre Sache.

Kranken Menschen eine Perspektive zu geben, allerdings schon.

Neugierig betrachtete sie das Foto genauer. War etwas anders geworden, seit sie an die weißen Sandstrände von St. Victoria gekommen war?

Sie blinzelte überrascht. Tatsächlich! Drei Jahre Inselleben hatten sie verändert. Sie sah glücklich aus. Richtig glücklich! Und warum nicht? Die fürstlichen Fesseln waren weitgehend gelockert. Nicht mehr diese Einsamkeit, die Sehnsucht nach einer sogenannten normalen Familie. Okay, sie fühlte sich manchmal allein, war ohne jeden Zweifel Single und, ihren unpassenden Gedanken nach zu urteilen, auch ein bisschen lüstern … Aber wenigstens versuchte ihre Großmutter nicht mehr, sie an einen, wie sie es nannte, „standesgemäßen“ Mann zu bringen!

Lia hatte eine andere Familie gefunden. In der Island Clinic. Handverlesen von Nate Edwards, dem amerikanischen Gründer der Klinik, arbeiteten hier internationale Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte mit lokalen zusammen.

Für die Kolleginnen und Kollegen war sie nicht Prinzessin Amelia Margit Sigrid Embla Trelleburg von Karolinska, an sechster Stelle der Thronfolge, sondern Dr. Lia Trelleburg.

Der Saal füllte sich langsam. Lia begrüßte die Gäste und hatte das Gefühl, dass ein endloser Strom von Namen an ihr vorbeifloss, zu denen sie sich die passenden Gesichter nie würde merken können. Überwältigend, doch immerhin für einen guten Zweck.

Während sie zu ihrem Platz ging, kämpfte sie gegen die Melancholie an, die sie bei Anlässen wie diesen befiel. Elegant gekleidete Frauen und Männer saßen an den Tischen, lachten, lächelten, redeten oder hörten einander zu. Oh, sie hätte eine Show abziehen und das Gleiche tun können, aber ihre Kindheit hatte sie nicht darauf vorbereitet, das Bad in der Menge zu genießen.

Ihre Mutter hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Ihr Vater hingegen buckelte vor dem Thron. Nach einer schockierenden Scheidung übernahm der Palast den Feinschliff von Lias Erziehung und schickte sie kurzerhand auf eine trostlose Klosterschule.

Sie lächelte und nickte, schüttelte wieder Hände und fühlte sich zunehmend isoliert, als sie ihren Tisch erreichte. Von Nate immer noch keine Spur! Lia stellte sich hinter ihren Stuhl.

Warum war sie inmitten einer Menge einsam wie sonst nirgends?

Fast hätte sie eine Grimasse geschnitten, besann sich jedoch gerade noch rechtzeitig. Natürlich gab es tausend Antworten auf diese Frage, und alle hatten damit zu tun, dass sie in dieser Familie aufgewachsen war. Eine Familie, die glücklich hätte sein können, wenn sie nur …

Sie stoppte die Gedanken.

Was passiert war, war passiert. Wenn sie weiterhin auf St. Victoria glücklich sein wollte, musste sie neu festlegen, wie sie mit Menschen umging. Dass ihre Eltern geschieden waren, ihre Mutter verbannt worden war und sie selbst eine unglückliche Kindheit gehabt hatte, bedeutete für sie ja nicht ein ebenso trauriges Erwachsenenleben. So wie sie im OP die Fähigkeiten besaß, das Leben eines Patienten zu ändern, lag es auch in ihrer Hand, das eigene zu verändern.

Ermutigt ließ sie den Blick über die Gala-Gesellschaft schweifen und nahm sich vor, all diese Menschen als potenzielle Freunde zu sehen. Einige vielleicht sogar als potenzielle … Liebhaber? Lia betrachtete ein paar Männergesichter. Was das anging, war sie besonders scheu. Die letzten Verehrer hatten sich, befeuert von der Klatschpresse, das fürstliche Leben anders vorgestellt, als es in Wirklichkeit war. Nach ernüchterndem Erwachen verschwanden sie meist schnell wieder. Überflüssig, zu sagen, dass es für eine Prinzessin ein doppelter Schlag war, wenn jemand per SMS mit ihr Schluss machte.

Ein Name oder vielmehr ein Gesicht war ihr in der Menge der eintreffenden Gäste in Erinnerung geblieben. Bevor der Mann in der Schlange bis zu ihr vorrücken konnte, hatte er einen Jungen entdeckt, der in der Klinik behandelt worden war. Er verließ seinen Platz, um den Kleinen und seine Eltern herzlich zu begrüßen. Dabei vollführten Mann und Junge einen gestenreichen Handschlag, der wie ein gegenseitiges Erkennungszeichen eingeübt schien.

Es hatte ihr gefallen, dass ihm ein Kind wichtiger war, als einer Prinzessin vorgestellt zu werden.

Aus dem Augenwinkel sah sie eine attraktive Männerhand nach der Stuhllehne neben ihr greifen. Eine starke Hand mit kraftvollen Fingern, die körperliche Arbeit gewohnt zu sein schienen. Seltsam bei einem Arzt. Jedenfalls vermutete sie, dass er Arzt war, wenn er sich an diesen Tisch setzen wollte.

„Ist dieser Platz besetzt?“

Lia blickte auf und stellte fest, dass der Mann, an den sie gerade gedacht hatte, neben ihr stand. Groß, athletisch schlank, karamellblondes Haar. Und intensive blaue Augen, die im milden Licht der Saalbeleuchtung funkelten.

Anders als viele Gäste, die ihr nicht direkt in die Augen sehen konnten – auch das gehörte zum Prinzessinnendasein dazu –, schien er nicht im Mindesten beeindruckt. Er strahlte eine Stärke aus, die auf tief verwurzelter Freundlichkeit und innerer Ruhe gründete. Machogehabe hatte dieser Mann nicht nötig.

Sie blickte auf die Tischkarte.

Oliver Bainbridge.

Selbst von sich überrascht, schenkte sie ihm ein übermütiges Lächeln. Was hatte er an sich, dass sie sich in seiner Nähe unbefangen … ja, sogar sexy fühlte? Prickelnd wie der Champagner, den alle tranken, erfasste sie eine Erregung, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte.

„Ist er, aber wir könnten die Tischkarten vertauschen, damit er Ihrer wird. Vorausgesetzt, Sie versprechen, unterhaltsamer zu sein als der echte Oliver Bainbridge. Der hört sich ein bisschen langweilig an, finden Sie nicht?“

Ein herausfordernder Blick unter hochgezogenen Brauen traf sie.

Lia schürzte die Lippen, als wollte sie sagen: Nun? Ich warte! Flirtete sie etwa? Oh ja, sie flirtete mit diesem Mann!

„Oliver hört sich nicht gerade sexy an, oder? Würde es helfen, wenn ich Ihnen verrate, dass ich mit zweitem Vornamen Casanova heiße?“

Sie lachte hell auf. „Ich glaube, das wäre noch schlimmer.“

„Also, dann …“ Galant griff er nach ihrer Hand und hob sie an die Lippen. „Wären Sie zufrieden, wenn ich der gute alte Oliver bleibe?“

Er küsste ihr die Hand, so zart und federleicht, dass Lia ganz heiß wurde und ihre … erogenen Zonen kribbelnd erwachten.

Dieser Oliver Bainbridge war gefährlich. Gefährlich und sexy. Das Problem war nur, dass Prinzessin Amelia Margit Sigrid Embla Trelleburg von Karolinska Männer nicht sexy fand. Sondern standesgemäß. Oder passend.

Aber jetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben, hatte sie Lust auf sexy.

Sie setzte eine Miene auf, die Jonas immer als die einer herrischen Kaiserin bezeichnete. „Der Name mag genügen, bis wir einen besseren finden. Da wir nun nebeneinandersitzen, was meinen Sie, können Sie mich den ganzen Abend unterhalten? Ich stelle hohe Ansprüche.“

Wer bin ich? Und was ist mit der zurückhaltenden Lia passiert?

„Ich werde mein Bestes geben.“ Seine Lippen zuckten, als wäre ihm etwas in den Sinn gekommen, eine Zweideutigkeit, die ihn amüsierte, aber besser ungesagt blieb. „Falls Sie einem bescheidenen Kinderarzt das Vergnügen gestatten?“

Lia nickte huldvoll. „Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“ Und wie!

Das also war Prinzessin Amelia von Karolinska – oder Dr. Trelleburg.

Die wenigen Personalfotos von ihr, die er bei seinen wöchentlichen Besuchen in der Island Clinic gesehen hatte, wurden ihr nicht gerecht. In natura war sie weitaus schöner. Und lustiger, als er es vermutet hätte. Wäre dies ein Blind Date gewesen, hätte er ein zweites Date gewollt und danach wahrscheinlich noch eins.

Aber dies war kein Date. Sie befanden sich auf einer Spendengala. Auch wenn ihr kleines Wortgefecht heiter und zeitweise erotisch prickelnd gewesen war, zweifelte Oliver nicht daran, dass ihr hochmütiger Humor jederzeit eisig werden konnte.

Er zog ihr den Stuhl unter dem Tisch hervor, wofür sie sich artig bedankte. Täuschte er sich, oder überzog ihre Wangen plötzlich ein rosiger Hauch?

Oliver verbannte seine zynischen Gedanken. Es war nicht ihre Schuld, dass sie in eine fürstliche Familie geboren worden war und auf Hochnäsigkeit als eine Form von Humor zurückgriff. Genauso wenig war es seine Schuld, dass er …

„Champagner?“, bot eine Servicekraft an.

Aus reiner Gewohnheit winkte er ab.

„Rufbereitschaft?“

„Da Sie nicht trinken, dachte ich, es wäre nur anständig, mich Ihnen anzuschließen.“ Außerdem hielt er es für keine gute Idee, in Gegenwart einer Frau, die ihn körperlich reizte, Alkohol zu trinken.

„Hmm …“ Sie zog einen entzückenden Schmollmund. „Ich hätte gedacht, dass ein Oliver Bainbridge, egal wo er auf der Skala der sexy Namen angesiedelt ist, mehr Rückgrat besitzt. Als ein Mann, der selbst weiß, was er zu tun hat, und sich nicht von der Aristokratie eines anderen Landes altmodische Anstandsregeln vorschreiben lässt.“

„Oh, tatsächlich?“ Oliver lachte. „Und ich dachte, ich bin einfach höflich. Verraten Sie mir …“ Intensiv blickte er ihr in die hellen klaren Augen. „… wie würde ein Oliver Bainbridge Ihrer Ansicht nach noch sein?“

Wie sie ihn betrachtete, hatte etwas Intimes. Sie hatte offenbar keine Ahnung, dass er in einer ähnlichen Welt wie sie aufgewachsen war!

„Ich glaube, dass er freundlich ist“, begann sie. „Dieser Oliver Bainbridge.“

Er nickte. Wäre Freundlichkeit eine Religion, er würde an ihrem Altar knien.

Sie tippte sich mit einem schlanken Zeigefinger ans Kinn.

„Gewissenhaft bei seiner Arbeit. Für ihn mehr Berufung als Beruf.“

Oliver lächelte. Auch das hatte sie richtig erkannt.

Als sie sein Lächeln erwiderte, war sie wieder da, die Verbindung, die er zu ihr spürte.

„Und ich könnte mir vorstellen, dass er seinen Patienten Geschichten vorliest, wenn sie traurig sind.“

Er stieß einen leisen Pfiff aus. Sie war gut. Richtig gut. „Hört sich an wie ein Wunschzettel.“

„Hmm …“ Lächelnd trank sie einen Schluck Mineralwasser.

„Bin ich an der Reihe?“, fragte er. „Soll ich sagen, was meine innere Kristallkugel über Sie verrät?“

„Nein.“ Die Abfuhr war deutlich.

Oliver lächelte. Sie waren sich wirklich sehr ähnlich. Konnten endlos lange über die Arbeit oder andere Menschen reden, aber sobald es persönlich wurde … herrschte plötzlich Schweigen. „Das ist nicht gerade fair, oder?“

Achselzuckend tat sie seinen Einwand ab. Dabei bewegten sich ihre Schultern unter dem zarten blauen Stoff, der ihre Haut golden schimmern ließ.

Unwillkürlich stellte Oliver sich vor, sanfte Küsse darauf zu drücken, den Duft dieser samtigen Haut einzuatmen. Sofort verscheuchte er seine Fantasien. Eine Prinzessin mit ihrem Ruf würde sich bestimmt nicht auf ein Techtelmechtel abseits der Menge einlassen.

Es war eine Leistung, auf dieser kleinen Insel so für sich zu bleiben, wie es Prinzessin Amelia gelungen war. Geholfen hatte ihr sicher, dass die Island Clinic für ihre hohe Diskretion bekannt war, die anscheinend nicht nur ihre Klientinnen und Klienten, sondern auch das Klinikpersonal betraf. Wie sollte es sonst möglich sein, dass sie sich in den zwei Jahren, die er hier arbeitete, kein einziges Mal über den Weg gelaufen waren? Gut, er war Kinderarzt am St. Victoria Hospital, aber dennoch …

Hatte sie etwas zu verbergen?

Wer im Glashaus sitzt …, tadelte er sich sofort. Oliver sah sie an und legte all sein Verständnis in diesen Blick. Würde sie verstehen, was er ihr sagen wollte? Dass er genau wusste, wie ein Leben, von Erwartungen beschwert, sich anfühlte? Erstickend. Einsam. Bedrückend.

Heiß und hell flammte etwas zwischen ihnen auf, als ihre Blicke sich verfingen und nicht mehr losließen.

Seelenverwandte …, war sein erster Gedanke.

Interessiert …, der zweite.

Auf einmal erschien ihm der Abend in völlig neuem Licht. Oliver hatte einige langweilige Reden erwartet, dazu die obligate verdeckte Auktion, um zusätzlich zu den horrend teuren Eintrittskarten weitere Spendengelder einzusammeln.

Nicht, dass er etwas gegen Fundraising hatte. Im Gegenteil. Aber die Aussicht auf einen kleinen Flirt machte die ganze Angelegenheit sehr viel attraktiver.

Er vertiefte den Blick in ihre Augen und genoss es, wie ihre Hüften sich unter dem Stoff bewegten, als hätte er mit den Fingerspitzen über die nackte Haut gestrichen.

Die Prinzessin sah aus wie auf dem Weg zu einem Fotoshooting für Hochzeitsreiseziele, zu denen St. Victoria mit seinen romantischen Buchten und traumhaften Stränden gehörte. Nur ein Hauch von Make-up. Leicht sonnengebräunter Teint, rosige Wangen. Ihr schimmerndes weißblondes Haar bettelte förmlich darum, dass er seine Hände hineinschob, die seidigen Strähnen durch die Finger gleiten ließ. Und ihre hellblauen Augen verrieten ihm genau das, was seine ihr signalisierten.

Ich stehe auf dich.

Da wandte sie sich ab, und fast hätte Oliver sich vorgebeugt, um ihren zarten Duft, der bei der Bewegung zu ihm herüberwehte, tief einzuatmen.

Drei Stunden später war er rettungslos betört.

Lia war erfrischend anders als die Royals, die sich üblicherweise auf solchen Events präsentierten. Witzig. Wunderschön. Charmant. Und eine leidenschaftlich engagierte Ärztin.

Über ihren Hintergrund sprach sie nicht. Wie er selbst, beherrschte sie die feine Kunst, die Last einer langen Ahnenreihe zu tragen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Allerdings hatte sie es geschafft, ihm Persönliches zu entlocken: Dass er in Großbritannien geboren und aufgewachsen war. Dass er nicht aus Familientradition Medizin studiert hatte, sondern um als Arzt die Welt ein Stückchen besser zu machen. Und dass er, wie sie auch, auf St. Victoria sehr glücklich war. Wo Regen fiel, wenn die Sonne nicht schien, wo einem überall üppige tropische Schönheit begegnete und … wie heute Abend … Hitze. Verzehrende Hitze.

Er wollte sie, wollte diese Frau wie lange keine zuvor.

Als hätte der Himmel ihn erhört, wurde die Tafel aufgehoben und die Tanzfläche eröffnet. Oliver sah, wie der Bürgermeister links von Lia sich vorbeugte, um sie um den ersten Tanz zu bitten.

In einem Anflug von Kühnheit, die er von sich nicht kannte, beschloss er, ihm zuvorzukommen. Oliver schob seinen Stuhl nach hinten, erhob sich und hielt Lia die Hand hin. Ihr Blick wich seinem aus, kehrte zurück. Anstandshalber hätte sie mit dem Bürgermeister tanzen müssen, der im gesellschaftlichen Rang höher stand als Oliver. Da er jedoch Arzt am St. Victoria Hospital war, das eng mit der Inselklinik zusammenarbeitete, konnte sie ihm den Vorzug geben.

Flöten- und Violinenklänge erfüllten den Saal, als der Dirigent des Kammerorchesters den Taktstock hob. Lia legte ihre Hand leicht in seine, und sobald ihre Handflächen sich berührten, fühlte Oliver wieder die besondere Verbindung. Momente später hielt er Lia in den Armen. Ihr Duft, seidige Haare, die seine Hand streiften … Er wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn der Rest der Welt verschwunden wäre, damit er mit ihr allein sein konnte.

Seine Fingerspitzen berührten die nackte Haut am tiefen Rückenausschnitt ihres Abendkleids. Lia erbebte.

„Kalt?“

Sie schüttelte den Kopf, ohne zu sagen, was sie hatte zittern lassen. Oliver wusste, was es war. Weil er es auch spürte.

Verlangen.

Keiner von ihnen sprach, während sie sich zur Musik bewegten. Doch am Ende war der Abstand zwischen ihnen viel, viel geringer geworden als am Anfang, nachdem Oliver einen Arm um ihre Taille geschlungen und Lia an sich gezogen hatte.

Kaum endete das Stück, trat sie einen Schritt zurück. Ihr Atem ging schneller, als man es nach einem langsamen Tanz vermuten würde. Oliver glaubte schon, dass sie sich entschuldigen und mit dem Bürgermeister tanzen würde, der erwartungsvoll an der Tanzfläche stand.

Da beugte sie sich vor und sagte, statt sich zu bedanken: „Möchten Sie am Strand spazieren gehen?“

Nichts lieber als das. Aber das hieß nicht, dass sein Wunsch auch Wirklichkeit wurde.

„Müssen Sie nicht bleiben?“

„Doch, ja“, erwiderte sie mit einem Lächeln, das für Außenstehende zu höflichem Small Talk passen mochte. Aber zwischen ihnen sprühten Funken, heiß genug, um einen Flächenbrand zu entzünden. Sie sendeten eine einzige Botschaft: Ich will dich.

„Genügt eine Stunde?“, fragte er.

Sie nickte. „Welcher Strand?“

Der am Hotel nicht. Dort tummelten sich zu viele Touristen und Einheimische, gingen in den Restaurants und Bars am Hafen ein und aus.

Oliver überlegte. „Sugar Cove?“

Erstaunt hob sie die Brauen, nickte dann aber.

Für jeden, der zusah, bedankte er sich mit einer Verbeugung für den Tanz. Für Lia allein war der Blick, mit dem er ihr versprach, dass er sie nicht enttäuschen würde. Dann ging er, damit sie andere Gäste treffen konnte.

Nach einem taktischen Rundgang durch die Menge blieb er vor einer Gruppe Kollegen stehen und holte seinen Pager aus der Tasche. In einer dramatischen Geste presste er kurz den Handballen gegen die Stirn. Er arbeitete mit Kindern. Er war es gewohnt, vor Publikum zu spielen.

„Ah, so ein Pech, Oli!“, rief ein Kollege herüber und klang ziemlich fröhlich, was wohl dem endlos fließenden Champagner zu verdanken war. „Das Krankenhaus?“

Er zuckte resigniert mit den Schultern. „Kinder … Was soll man machen?“

„Na, dann, bis morgen, Ol!“

Oliver hob grüßend die Hand und zog sein Scheckbuch und einen Stift hervor. „Ehe ich’s vergesse …“, deutete er an, dass ihm der Zweck des Abends wichtig war.

„Alles Gute!“, erscholl es vielstimmig aus der Runde, und: „Hoffentlich ist es nichts Ernstes, Dr. Bainbridge!“

Er winkte ihnen noch einmal zu und verließ die Gala.

Da er eine Stunde Zeit hatte, machte er sich tatsächlich auf den Weg ins Krankenhaus. Wo er sich am liebsten aufhielt.

Im Gegensatz zu Élodie. Oliver streckte den Kopf ins Zimmer des Mädchens, von dem er wusste, dass es überall lieber sein wollte als in diesem Krankenzimmer. Und er hatte recht. Hellwach und sichtlich ängstlich lag die Kleine in ihrem Bett. Der Anblick ging ihm nahe. Ihm waren alle seine Schützlinge wichtig, doch Élodie nahm einen besonderen Platz in seinem Herzen ein.

„Warum bist du noch wach, Liebes?“

Das Kind sah von seinem Bilderbuch auf und schenkte ihm ein verzweifeltes Lächeln. „Dr. Bainbridge! Ich werde noch peeyops!“

Oliver unterdrückte ein Lachen. Das kreolische Wort bedeutete so viel wie den Verstand verlieren, und ihm ging es kaum anders als Élodie. Seine Fingerspitzen prickelten, wenn er nur daran dachte, wie er Prinzessin Amelia in den Armen gehalten hatte …

Oliver verscheuchte die Gedanken. Er war hier, um seine kleine Patientin abzulenken – und sich gleich mit! Rasch griff er nach ein paar Märchenbüchern, die jemand vor zwei Wochen gespendet hatte, und ging zu Élodie.

„Warum kannst du nicht schlafen?“

„Weil es wehtut.“ Theatralisch klopfte sie sich auf die Brust und ließ sich zurück aufs Kissen fallen. Die dunklen Lockenhaare umgaben ihr Gesicht wie ein Strahlenkranz.

„Warum nimmst du nicht ein bisschen Sauerstoff?“

Jetzt schien sie den Tränen nahe. „Ich will einfach normal sein!“

Ihr Kummer bedrückte ihn. Für ihren Gesundheitszustand war jedoch entscheidend, dass sie akzeptierte, eben nicht „normal“ zu sein. Vor einigen Jahren hatte sie sich nach einem zerstörerischen Wirbelsturm mit Malaria angesteckt, was ihre vom Asthma geschwächten Lungen noch mehr belastete.

„Wann kann ich nach Hause?“

Eine schwierige Frage. Der Hurrikan, der sie noch kränker machte, hatte ihr auch Mutter und Vater genommen. Sie lebte bei ihrer Tante und ihrem Onkel, aber die hatten eigene Kinder im Teenageralter. Beide Geringverdiener, fehlten ihnen oft die Mittel, um Élodie die gesundheitliche Versorgung zu bieten, die sie brauchte. Oliver wusste, dass sie Krankenhausbesuche als eine Art Tagesbetreuung nutzten, weil sie sich keine leisten konnten. Die Alternative – das Kind allein zu lassen – war schlichtweg keine Option.

Bevor er antworten konnte, musterte die Kleine ihn plötzlich und strahlte schließlich über das ganze Gesicht. „Du siehst wie ein Prinz aus. Warst du auf einem Ball?“ Die schmalen Schultern hoben und senkten sich, als sie aus tiefstem Herzen seufzte. „Kann ich jemals auf einen Ball gehen?“

Ihm wurde das Herz schwer. Seit einer Woche fragte sie tagtäglich, wann sie nach Hause durfte. In ihrem Fall war das Krankenhaus der sicherste Ort. Er hatte sogar ein paar zusätzliche Tage aus eigener Tasche bezahlt, um Onkel und Tante zu entlasten – aber auch, weil er Élodie genau im Auge behalten wollte.

„Du machst das großartig, Kleines. Als du zu uns kamst, hattest du höheres Fieber.“

„Kann sein …“ Frustriert runzelte sie die Stirn.

Er fächerte die Bücher, damit sie die Titelseiten sehen konnte. „Also … Welches möchtest du?“

Ein Leuchten glitt über ihr Gesicht, und sie zeigte auf eins. „Liest du mir was von einer Prinzessin vor?“

Er unterdrückte ein stummes Stöhnen. Ausgerechnet! Warum hatte er sich die Bücher nicht vorher genauer angesehen?

„Na klar.“ Oliver zog sich einen Stuhl ans Bett. Bevor er das Buch aufschlug, warf er einen Blick auf ihre Krankenkarte, um zu sehen, wann sie zuletzt ihre Schmerzmittel bekommen hatte. Dann lächelte er und fing an zu lesen.

„Es war einmal …“

Als die Geschichte zu Ende war, schenkte Élodie ihm ein paar Dankeschön-Bonbons – saurer Apfel, ihr Lieblingsgeschmack –, und Oliver setzte seine Runde fort. Nachdem er bei zwei weiteren Kindern gewesen war, stieg er in seinen Jeep und fuhr aus Williamtown hinaus. Adrenalin rauschte durch seinen Körper, und er dachte immer noch an die Geschichte von Dornröschen.

Die Märchenprinzessin war nicht leicht zu gewinnen. Nachdem er den Dornenwald zerhackt hatte, entdeckte der Prinz ein Schloss, wo alle in einen tiefen Schlaf gefallen waren – einschließlich der schönsten Prinzessin der Welt. Um den Zauber zu brechen, brauchte der Prinz sie nur zu küssen, und sie lebten fröhlich und glücklich zusammen bis ans Ende ihrer Tage.

Oliver schnaubte. Wenn es im echten Leben so einfach wäre! Nicht, dass er schon die Hochzeitsglocken läuten hörte. Ganz im Gegenteil. Das Drama, das es geben würde, sobald seine Familie auch nur die Chance auf einen Erben des Familientitels witterte, spottete jeder Beschreibung. Nein, vorerst wollte er sich mit dem lebensspendenden Kuss begnügen!

Die Bucht lag nur fünf Minuten mit dem Auto vom Krankenhaus entfernt. Er kannte sie wie seine Westentasche, da sein Haus am Meer praktisch um die Ecke stand.

Ganz gleich, wie es ihm nach einem langen Arbeitstag im Krankenhaus ging – oder einem noch längeren in der Island Clinic –, hatte er das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, sobald er seinen Lieblingsstrand betrat. Abgeschieden und nicht ohne Weiteres zu finden, sofern man kein Einheimischer war, erreichte man ihn nur über schmale, unbeleuchtete Pfade.

Als er ankam, die Smokingfliege gelöst, seine Schuhe in der Hand, spürte er den Sand warm unter seinen nackten Füßen. Die dunklen Wellen glitzerten im silbrigen Mondlicht. Oliver konnte sich keinen romantischeren Ort vorstellen.

Er fing gerade an, sich das Hemd aufzuknöpfen, da ertönte eine Frauenstimme: „Ich dachte, das ist mein Job.“

2. KAPITEL

Bitte?

Lia hatte das Gefühl, dass eine völlig andere Frau von ihr Besitz ergriffen hatte, seit sie in ihr Abendkleid geschlüpft war. Solche Sachen sagte sie nicht. Lächelte hinterher auch nicht so verführerisch. Und sie lud Männer, die sie auf einem Wohltätigkeitsball kennenlernte, normalerweise nicht zu einem Mondscheinspaziergang an einem menschenleeren Strand ein …

Trug sie vielleicht wirklich ein magisches Kleid?

Sie blickte Oliver an. Er war immer noch im Smoking, die Fliege lose um seinen Hals. Dunkler Bartschatten bedeckte das markante Kinn. Fast hätte sie sich die Lippen geleckt. Er sah zum Anbeißen aus.

Dieser Mann war etwas Besonderes. Einer, der wusste, was er wollte. Einer, der in ihr eine Seite weckte, von der sie bisher nichts geahnt hatte. Wie sonst sollte sie sich erklären, wie sexy, wie betörend und selbstbewusst sie auf einmal auftrat?

So war sie sonst nicht. Und es gefiel ihr!

Ein paar Stunden in seiner Gesellschaft genügten, dass sie sich mutig und unverwundbar fühlte. Gefährlich. Wenn sie nicht aufpasste, verirrte sie sich auf den gleichen Weg wie ihre Eltern, die sich Hals über Kopf ineinander verliebt hatten. Es hatte kein gutes Ende genommen.

Trotzdem war es äußerst verlockend, sämtliche Bedenken in den Wind zu schlagen …

Wenigstens heute Nacht.

Oliver war nicht nur intelligent, humorvoll und mit Leib und Seele Kinderarzt, sondern auch der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war. Oder machte ihn all das zusammen so attraktiv? Nicht jede Frau mochte ihrer Meinung sein. Da war die kleine Narbe an der linken Augenbraue. Und die Sommersprossen auf seiner Nase ließen Lia an den kleinen Jungen denken, der er einmal gewesen war. Wenn er lächelte, hatten die Fältchen um seine Augen etwas Wettergegerbtes. All das hinderte Lia nicht daran, jeden einzelnen Zentimeter von ihm zu mögen.

Langsam streckte sie die Hand aus und löste den obersten Hemdknopf.

Oliver atmete hörbar aus.

Sie ließ den Zeigefinger über seinen Adamsapfel gleiten, zu der kleinen Kuhle am Hals bis zum nächsten Knopf.

Die Luft zwischen ihnen knisterte.

„Hat dein Kleid nur den einen Verschluss?“, fragte er, nachdem sie einen weiteren Knopf geöffnet hatte.

Lia blickte an sich hinunter auf den Wickelgürtel, der ihr Kleid zusammenhielt. „Sieht so aus.“

Er streckte die Hand aus, aber sie hielt sie fest, schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Nicht so hastig.“

Damit legte sie sich seine Hand auf die Hüfte.

Wer um Himmels willen war sie heute Nacht?

Eine starke Frau. Eine, die sich nahm, was sie brauchte, ohne auf die Einwilligung aus dem Palast zu warten.

Noch nie hatte sie sich derart lebendig gefühlt!

Sie bemerkte, wie Oliver zu der großen Basttasche sah, die sie immer zum Strand mitnahm.

„Handtücher“, erklärte sie, während sie weiter sein Hemd aufknöpfte, und blickte ihm in die Augen. „Und derlei mehr.“

Nach dem Ball hatte sie vom Servicepersonal eine Flasche Grand-Cru-Champagner geschenkt bekommen. Zuerst wollte sie sie aufbewahren, um sie mit ihrem Cousin zu trinken, sobald er auf Jahresurlaub nach Hause kam. Doch dann fand sie, dass heute Abend eine bessere Gelegenheit wäre. Falls sie sich hinsetzen und reden würden …

„Derlei?“ Ein amüsiertes Lächeln begleitete die Frage.

Mittelalterliche Klosterschulen in Karolinska pflegten ein Vokabular, das ans Altmodische grenzte. „Ja.“ Wieder ein tiefer Blick in seine Augen. „Derlei.“

Außer dem Sekt zwei langstielige Gläser, eine Schale süßer tropischer Früchte und eine opulente Schachtel feinster Pralinen. Im Moment wollte sie nichts davon. Sie wollte nur ihn.

„Was hältst du von einem Mitternachtsbad im Meer?“, fragte sie.

„Ich habe kein Schwimmzeug dabei“, antwortete er und klang nicht im Mindesten betrübt deswegen.

„Ich auch nicht.“

Oliver betrachtete sie. Im Mondlicht wirkten seine Züge wie von Künstlerhand gemeißelt.

Bevor sie auch nur Luft holen konnte, lag sie in seinen Armen, und er küsste sie. Zart zu Anfang. Forschend. Er schmeckte nach Salzluft, ein bisschen nach Weißwein und interessanterweise nach Bonbons. Saurer Apfel, wenn sie sich nicht täuschte. Am stärksten schmeckte er jedoch nach der Essenz, die ihn unwiderstehlich machte.

Eau de Oliver Bainbridge.

Was auch immer es war, es machte süchtig.

Ihr Atem vermischte sich mit seinem, während sie sich heftiger küssten. Seine rauen Bartstoppeln rieben über ihre Haut, prickelnde Lust erfasste Lia, und sie schnappte unwillkürlich nach Luft. Oliver schmiegte sanft beide Hände an ihr Gesicht, hielt Lia ein Stückchen von sich ab, als wollte er sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Dann küsste er sie wieder, leidenschaftlicher, inniger als vorher. Sie wünschte, er würde nie mehr aufhören.

Als sie sich schließlich voneinander lösten, ließ er eine Hand zu ihrem Hals gleiten, streichelte sie mit dem Daumen, während er mit der anderen über ihren Rücken tiefer strich, bis er das Ende des tiefen Ausschnitts erreicht hatte. Oliver presste Lia an sich, und sie spürte, wie erregt er war.

„Wollen wir schwimmen gehen?“ Er lehnte die Stirn an ihre. „Uns ein bisschen abkühlen?“

Sie wusste, wie seine Frage gemeint war. Wollte sie jetzt Sex mit ihm oder es sich noch einmal überlegen?

Lia wollte mit ihm schlafen. Ihre Haut prickelte lustvoll, und sie konnte es kaum erwarten, ihn in sich zu spüren. Andererseits wollte sie nicht, dass der magische Abend so schnell endete. Sie hatte noch nie nackt im Meer gebadet. Sie stellte sich vor, wie das tropisch warme Wasser ihren und seinen nackten Körper umspülte, wie sie sich küssten, gestreichelt von sanften Wellen …

Rasch griff sie nach seiner Hand und führte sie zu der schmalen Schleife an ihrer Hüfte. „Ich finde, wir sollten schwimmen und … derlei mehr. Falls du möchtest“, fügte sie hinzu, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass er auch einen Rückzieher machen konnte.

Den Titel einer Prinzessin im Namen zu tragen, zog entweder die falschen Verehrer an – die, die sich mit fürstlichem Glanz schmücken wollten – oder stieß Männer ab, weil ihnen das grelle Licht der Öffentlichkeit zu viel war.

Oliver strich mit den Fingern über die seidige Schleife und ließ dann, als hätte er eine Entscheidung getroffen, die Hand zu ihrem Arm gleiten.

Es war wie ein kleiner Stich ins Herz, das sich vor Sehnsucht zusammenzog. Sie wollte diesen Mann. Und vor zwei Sekunden war sie noch sicher gewesen, dass er sie auch wollte.

Aber er hatte recht. Die Ehe ihrer Eltern war der beste Beweis dafür, dass Lust und Leidenschaft zu nichts führten. Jedenfalls zu nichts Gutem.

Anscheinend hatte er ihren Stimmungswechsel gespürt. Oliver ließ die Hand sinken. „Was stellst du dir vor? Eine Nacht oder mehr?“

Lia bewunderte ihn für seine Offenheit. Seine Frage sagte ihr alles, was sie wissen musste. Was auch immer zwischen ihnen passierte, eine Nacht, ein paar Dates oder mehr, hing von ihr ab. Nicht aus mangelndem Interesse – dicht an ihn geschmiegt, fühlte sie deutlich, dass er sehr interessiert war –, sondern, weil er nicht über sie bestimmen wollte.

Die Entscheidung lag bei ihr.

„Eine denkwürdige Nacht wäre perfekt, um den Abend zu beschließen. Meinst du nicht?“

Seine Stimme klang rau, als er antwortete: „Solange du dir sicher bist.“

Lia griff nach der Schleife und zog sie mit einer einzigen fließenden Bewegung auf. Genoss es, wie der Stoff über ihre Haut glitt und in den Sand fiel, während sie zum Wasser rannte.

„Ich will eine Nacht der Freiheit!“, rief sie.

Oliver musste nur entscheiden, ob er ihr dabei Gesellschaft leistete.

Sie tauchte in die Wellen, erstaunt, wie warm sich das Wasser anfühlte, wie sinnlich seine rhythmischen Bewegungen sie umschmeichelten. Obwohl sie Badeanzug oder Bikini nie als hinderlich empfunden hatte, entfaltete nächtliches Schwimmen mit Oliver bei Mondschein eine völlig neue Erfahrung. Ihr Körper summte vor Verlangen.

Als sie ein paar Meter vom Ufer entfernt auftauchte und zurückblickte, war Oliver nirgends zu sehen.

Enttäuschung wallte in ihr auf.

Na schön. Sie hatte ihm die Wahl gelassen, und er hatte sich für den vernünftigen Weg entschieden. Macht nichts. Immerhin konnte sie an Nacktbaden im Meer ein Häkchen setzen …

Etwas kitzelte sie am Bein, und neben ihr brach Oliver in einem Wirbel aus Gischt durch die Wasseroberfläche. Zog sie in die Arme, an seinen nackten Körper. Lia spürte seine Erregung, als er sich ihre Beine um die Hüften schlang und sie küsste, als hinge sein Leben davon ab.

Sie spürte seine Berührung überall. Seine Finger in ihrem Haar. Eine Hand auf ihren unteren Rücken gepresst, um ihr noch näher zu sein. Dann glitt er mit beiden Händen über ihre Schenkel und ihren Po, als wäre sie eine Göttin, der er im Mondschein huldigte.

Lia erwiderte die Liebkosungen, wühlte in seinem Haar, strich über seine athletischen Schultern, die muskulöse Brust. Sie senkte den Kopf, um sanft in seine Brustwarzen zu beißen, hob ihn wieder, küsste Oliver wild mit salzfeuchten Lippen.

Das Wasser half ihm, ihr Gewicht zu tragen, und Oliver hob sie höher, verwöhnte mit der Zunge ihre Brüste. Lia stöhnte auf.

Der laue Abendwind spielte mit den Wassertröpfchen auf ihren Schultern. Noch nie hatte sie einen erotischeren Moment erlebt. Sie schwammen, küssten sich, berührten, erforschten sich. So intim war Lia bisher mit niemandem gewesen, und gleichzeitig fühlte sie sich unbeschwert und geborgen wie selten. Bei einem Mann, den sie wohl nicht wiedersehen würde.

„Ist dir warm genug?“, fragte er nach einem weiteren atemraubenden Kuss.

Mit der Hitze, die sie erzeugten? Oh ja!

„Mmm … Aber …“ Jetzt kam der schwierige Teil. Sex ohne Schutz wollte sie nicht. „Wenn wir weitermachen … Ich bin nicht vorbereitet.“

„Mein Häuschen ist zwei Minuten zu Fuß von hier.“ Er klang heiser vor Verlangen. „Ich habe alles da. Holen wir uns deine Handtücher?“

Er brauchte kein zweites Mal zu fragen.

In große flauschige Strandlaken gewickelt, verließen sie die Bucht und gelangten in eine kleinere. Als Lia sah, wo Oliver wohnte, lachte sie hell auf.

Zwar waren im Mondlicht nicht alle Einzelheiten zu erkennen, aber Olivers Zuhause konnte das Baumhaus der Schweizer Familie Robinson mühelos in den Schatten stellen. In den mächtigen Baum waren vier oder fünf Räume mit offenen Sitzbereichen gebaut, und darunter stand ein kleines himmelblaues Cottage mit breiter, rundum laufender Veranda. Vor Lia erhob sich eine Baumhaus-Villa.

Sie warf ihm einen kritischen Blick zu. Nicht einfach, wenn sie vor Lust bebte und nur zwei Handtücher sie trennten. „Das nennst du Häuschen?“

„Es hat einen Lattenzaun, oder?“

„Ja, aber …“ Wieder musste sie lachen. „Ich finde trotzdem nicht, dass es als Häuschen durchgeht.“

Oliver lachte bescheiden auf. „Nun … Am Anfang war es eins.“

Voller Bewunderung schüttelte Lia den Kopf. „Jetzt ist mir klar, warum du Pädiatrie statt Geriatrie gewählt hast. Du bist ein Träumer, oder?“

Sie dachte an ihre zweckmäßig eingerichtete Unterkunft auf dem Klinikgelände. Dagegen wäre Olivers Haus der Traum aller, die sich während der langen schneereichen Winter in Karolinska einen Luxusurlaub in der Karibik wünschten: leuchtend blau wie der Himmel, mit einer weiß gestrichenen Veranda, verschwenderisch blühenden Blumenampeln und nicht nur einer Außendusche, sondern gleich einem ganzen Außenbad. Dazu in luftiger Höhe auf einer der balkonähnlichen Konstruktionen zwischen den Baumästen ein mit Moskitonetzen bespanntes Tagesbett. Und im Schlafzimmer ein riesiges Himmelbett!

Seit drei Jahren lebte sie hier, ohne dass sie ihrem privaten Bereich eine persönliche Note verliehen hätte. Ganz anders Oliver, der sich ein echtes Zuhause geschaffen hatte. Ein Mann, der entschlossen war, an diesem Ort zu bleiben, sein Leben einzurichten. Sie jedoch war immer dankbar für die Gezeiten, die ihre Fußstapfen hinwegspülten, bis von ihr keine Spur mehr blieb.

Oliver lächelte. „Sagen wir, ich glaube an Möglichkeiten, ohne das Praktikable aus dem Blick zu verlieren. Als ich auf die Insel zog, habe ich das Cottage mit seinen zwei Zimmern gekauft. Nach dem Hurrikan war es kaum bewohnbar, was mich auf eine Idee brachte. Warum nicht auf- statt ausbauen? Die Baumkrone bietet Schutz vor starkem Wind, und wer wohnt nicht gern in einem Baumhaus?“

Seine Begeisterung war ansteckend. „Es ist wirklich wundervoll.“ Lia hob die Arme. „Du hast dir dein persönliches Paradies geschaffen. Ich bin beeindruckt, Peter Pan.“

Er grinste und stieß den Fuß in den Sand, als hätte ihr Lob ihn verlegen gemacht. Als er aufblickte, sah sie neu entflammte Hitze in seinen Augen, die ein verzehrendes Feuer in ihrem Körper entfachte.

„Ich schätze, das macht dich zu meiner Tinker Bell.“

Lia lachte zustimmend, doch ihr entging nicht, wie ein flüchtiger Ausdruck von Traurigkeit über sein Gesicht huschte. Kein frischer Kummer. Eher etwas, das zu einem Teil von ihm geworden war. Sie beschloss, nicht nachzufragen. Wenn seine Vergangenheit ähnlich wie ihre war, ließ man sie am besten ruhen.

„Einverstanden, wenn ich dann fliegen kann und einen Zauberstab bekomme.“

Er lächelte und führte sie zur Veranda. „Zuerst war hier wirklich nur das kleine Haus. In meiner Freizeit werkele ich gern ein bisschen.“

Beeindruckt schüttelte sie den Kopf. „In deiner Freizeit ist mehr Action als in meiner.“

„Das bezweifle ich.“ Oliver strich ihr mit dem Handrücken über die Wange und wand ihr feuchtes Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten, bevor er ihr einen Kuss auf die nackte Schulter gab. „Du bist Ärztin. Du weißt genau wie ich, dass kein Tag wie geplant verläuft. Nach der Arbeit brauchen wir einen Ausgleich, um wieder zu uns zu kommen. Ich baue. Und ich bin sicher, dass du auch etwas machst, das dir guttut.“

Sein Blick wirkte so aufrichtig, dass eine Welle an Gefühlen ihr Herz flutete. Oliver beurteilte oder verurteilte sie nicht. Er glaubte an sie.

Wie leicht es war, diesem Mann zu verfallen.

„Ich segle“, sagte sie, um das Schweigen zu brechen.

Wann immer sie im Internat einsam gewesen war oder im Palast Platzangst bekommen hatte, war sie zum Hafen gelaufen und auf ihr Segelboot gesprungen. Wie groß war ihre Erleichterung, wenn sie wieder zu sich selbst fand und innere Ruhe einkehrte, je weiter sie sich vom Ufer entfernte.

Allein zu sein, war allemal besser, als sich inmitten einer Menge zutiefst einsam zu fühlen. Heutzutage ging sie nicht segeln, um ihrem Leben zu entfliehen. Stattdessen nutzte sie es, um zwischen den intensiven, kraftraubenden Momenten Luft zu holen. Segeln erforderte physisch und mental ihre volle Aufmerksamkeit. Nach einer langen, schwierigen OP half es ihr, den Kopf wieder klar zu kriegen.

Oliver griff nach ihrer Hand und zog Lia mit sich zum Haus. Mit jedem Schritt wuchs ihr Verlangen, füllte sie aus wie vorhin im Meer. Schon auf der Veranda musste sie ihn wieder küssen.

Es war eine Veranda, wie geschaffen für Küsse im Mondlicht. In einer Ecke hing eine zweisitzige Holzschaukel, in der anderen eine bunt gewebte Hängematte. Daneben lag ein Stapel Bücher. Und dort befand sich die Tür, die in das magische Labyrinth der Baumkronen führte, wo irgendwo im Grün verborgen Olivers Schlafzimmer lag.

Als er die Tür aufstieß und Lia einen Blick in den angrenzenden Raum warf, durchzuckte sie wieder das Gefühl von Verbundenheit. Das kleine Zimmer war tadellos aufgeräumt. Nicht, dass es dadurch ungemütlich wirkte, aber es erinnerte sie an etwas.

„Auch auf dem Internat gewesen?“, fragte sie spontan.

Überrascht sah er sie an, lachte dann. „So offensichtlich?“

„Für jemanden, der sich auskennt, ja. Das einzig Unordentliche sind bei mir die Bücherstapel. Praktisch außer Kontrolle.“

Oliver zog sie an sich und küsste sie federleicht auf die Lippen. „Ich könnte mir vorstellen, dass heute Nacht nicht nur die Bücherstapel außer Kontrolle geraten.“

Heißes Verlangen durchströmte sie. Oliver hatte ja so recht!

Nur zwei Handtücher trennten ihn von ihr, und Oliver hatte Mühe, seine primitiven Instinkte zu beherrschen. Während er mit ihr die Treppe hinaufging, juckte es ihn in den Fingern, den dicken weichen Stoff von ihrem hinreißenden Körper wegzuziehen und Lia an Ort und Stelle zu lieben. Aber wenn sie nur diese eine Nacht hatten, wollte er jeden Moment auskosten. One-Night-Stands waren nicht sein Ding, doch heute Abend schien die berühmte Ausnahme die Regel zu bestimmen.

Als sie auf der nächsten Ebene ankamen, blieb Lia plötzlich stehen. Ihre hellblauen Augen leuchteten erfreut auf.

„Was ist?“

„Mir kommt es so vor, als würde ich durch deine Fantasien spazieren.“

Ein verzücktes Lächeln verzauberte ihr Gesicht, als sie langsam den großen, an den Seiten offenen Raum erkundete. Viele Kissen auf den Sofas, üppige tropische Pflanzen überall, noch mehr Bücher und eins seiner Lieblingselemente: Der starke Stamm, dessen Äste sein Baumhaus trugen, ging mitten durchs Zimmer. Solarbetriebene Lichterketten rankten sich um ihn.

Lia blickte ihn an, und ihr warmes Lächeln traf ihn direkt ins Herz. „Dein Haus erinnert mich an diese russischen Puppen.“

„Wieso?“

„Anstatt immer kleinere zu verstecken, enthüllen deine Räume mehr und mehr den wahren Oliver.“

Als er nicht antwortete, trat sie einen Schritt zurück, schien zu überlegen, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte.

Spontan wollte er ihr sagen, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, doch dann ging er nur auf sie zu und küsste sie leicht auf die Wange. Wenn es wirklich bei dieser einen Nacht bleiben sollte, war es sicher klug, emotional Distanz zu wahren.

Die ehrliche Antwort war natürlich viel komplexer, als ein schlichtes Ja es ausgedrückt hätte. Für seine Eltern hatte der „wahre“ Oliver Bainbridge einen Titel. Einen Familienstammsitz drüben in England. Einen Ruf zu wahren. Außerdem gab es andere, dunklere Flecken seiner Vergangenheit, die er lieber für immer vergessen hätte. Deshalb lernte Lia den Oliver kennen, der seit zwei Jahren auf St. Victoria lebte. Es hatte eine Weile gedauert, bis er sich an ihn gewöhnt hatte, aber unterm Strich mochte er den Kerl. Er lebte ein normales Leben, liebte seine Arbeit. Nur eins fehlte ihm …

Oliver schlug die Tür, die sich einen Spalt geöffnet hatte, wieder zu. Besser nicht daran denken. Heute Abend wollte er einfach nur Lias Nähe genießen.

Sie stiegen höher hinauf zur nächsten Ebene und erreichten sein Schlafzimmer. Lia seufzte glücklich und klatschte in die Hände. „Hier schläfst du?“

Staunend drehte sie sich um sich selbst, griff Halt suchend nach seinen Händen, als ihr vor Übermut schwindlig wurde. Jung und wunderschön sah sie aus und so entspannt, wie er sie den ganzen Abend nicht erlebt hatte.

„Ich bin so neidisch! Das ist ein Traum, Oliver!“

Er zog sie an sich, drehte sie herum und legte die Arme um ihre Taille, sodass sie den Raum zusammen betrachten konnten. Es war der höchste des Baumhauses und zugleich sein liebster.

In der Mitte, an den mächtigen Stamm gebaut, stand ein großes Himmelbett. Wie überall in den Tropen hing ein durchsichtiges Moskitonetz darüber und bauschte sich in der lauen Brise. Das sanfte Plätschern der Wellen drang zu ihnen herauf, ein leises Rauschen, das Oliver jeden Abend in den Schlaf geleitete. Aber heute Abend ging es nicht ums Schlafen. Noch nicht, jedenfalls.

„Duschen?“

„Mmm …“

Das genügte ihm als Antwort. Er führte Lia ins Bad, auf das er besonders stolz war. Teakholzbohlen statt Fliesen, im dschungelgrünen Blätterdach verborgene Wassertanks für eine heiße Dusche auf dem Balkon, wenn über ihm die Sterne funkelten – oder die an Tagen, an denen er Lust auf ein Bad mit Blick auf das türkisgrüne Meer hatte, die Badewanne füllten. Eine Wanne auf Klauenfüßen, die er mit sechs kräftigen Männern in die Baumkrone hinaufgezogen hatte.

Oliver zündete die Sturmlampen an, die er hier aufgehängt hatte, beobachtete, wie der Widerschein der Flammen in den Fensterscheiben und im mannshohen Spiegel flackerte. Dann drehte er Lia zum Spiegel, löste das Handtuch, das ihren herrlichen Körper verbarg, und küsste sie auf den Hals. „Wo waren wir stehen geblieben?“, murmelte er an ihrer samtweichen Haut.

Bald darauf prasselte warmes Wasser auf sie herunter, während sie sich einseiften, küssten und liebkosten, bis brennende Lust sie fast um den Verstand brachte.

Lia hatte sich kaum fertig abgetrocknet, da schwang Oliver sie auf seine Arme und trug sie zum Bett. Wild und schnell wandelte sich zu langsam und sinnlich, bevor hemmungslose Lust sie wieder packte. Sein Zeitempfinden war außer Kraft gesetzt. Ein Kuss schien ewig zu dauern und war doch nicht lang genug. Lias Herzschlag unter den Fingerspitzen zu spüren, ließ die Zeit stillstehen.

„Bitte“, bettelte sie schließlich, kratzte mit den Fingernägeln über seinen Rücken. „Ich will dich in mir.“

Rasch sorgte er für Verhütung und hob Lia hoch, sodass sie rittlings auf ihm saß. Langsam, quälend langsam senkte sie sich auf ihn. Glühend heißes Verlangen zerrte an seiner Selbstbeherrschung. Lia nahm ihn tiefer und tiefer in sich auf, bewegte sich auf ihm.

„Ich will dich …“, flüsterte sie an seinem Ohr, strich über seine Seiten, zart und doch unglaublich erregend.

Oliver hielt es nicht länger aus. Er packte ihren Po und drehte sie mit einer einzigen kraftvollen Bewegung auf den Rücken. Lia kam ihm entgegen, presste die Hüften an seine, stöhnte auf, als er in sie stieß, wieder und wieder. Schnell fanden sie denselben Rhythmus, hitzig, leidenschaftlich und mit einer Intensität, wie er sie noch nie erlebt hatte. Ja, er wollte sie auch. Machtvolle, alles verzehrende Gefühle erfüllten ihn.

Worte waren nicht nötig, um zu verstehen, was mit ihnen passierte. Es schien, als wäre ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet gewesen, sich an diesem Abend zu begegnen, um diese perfekte Nacht miteinander zu verbringen. Daran würde er jede andere Beziehung in Zukunft messen.

Die Wärme der Nacht und die Hitze ihrer Körper befeuerten eine Energie, die sie höher und höher hinauftrieb, bis sie, vollkommen eins, den Gipfel erreichten.

Später liebten sie sich ein zweites Mal. Langsamer diesmal, fast schläfrig, doch mit einer Vertrautheit, die zu einer langjährigen Beziehung gepasst hätte. Ungewöhnlich. Wenn er Lia in den Armen hielt, fühlte es sich vertraut an, wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Aber sie waren sich bisher nicht begegnet. Eine Frau wie Lia hätte er nicht vergessen. Und doch war es ihm, als würde er sie kennen. Sie war ihm nahegekommen wie keine seiner Freundinnen zuvor, die starke Anziehung zwischen ihnen mehr als rein körperlicher Natur.

Als der Morgen dämmerte, sah Lia auf ihre Uhr und redete von dreiviertelstündiger Fahrt zur Klinik und einem langen Tag in der Chirurgie. Ein deutlicher Hinweis, dass ihr One-Night-Stand hier endete.

Oliver drängte sie nicht zu einem Wiedersehen. Er kochte Kaffee, und sie setzten sich auf seine Veranda, beobachteten die Seevögel, die auf der Suche nach Frühstück ins Meer tauchten. Ein Schwarm silbriger Fischleiber glitt durch die Wellen. Mit Lia schweigend dazusitzen, fühlte sich unbeschwert an. Nicht ansatzweise belasteten Erwartungen die letzten Momente, die sie miteinander verbrachten. Er hätte nie geglaubt, dass eine einzige Nacht mit einer Frau ihm so viel bedeuten könnte.

Lia reichte ihm ihren Kaffeebecher und gab Oliver einen Kuss auf den Mund, wischte dann mit dem Daumen Spuren ihres Lippenstifts weg. „Tut mir leid.“

Er umfasste ihr Handgelenk und küsste die zarte Haut am Handballen. „Muss es nicht.“ Oliver drückte einen Kuss auch auf das andere Handgelenk. „Damit nichts zu kurz kommt.“

Sie lächelte, und er lächelte zurück. Beide wussten sie, dass sie zusammen etwas Wundervolles und Seltenes erlebt hatten. Eine perfekte Nacht.

„Danke“, sagte sie und schulterte ihre Tasche mit dem Champagner und der Pralinenschachtel, die sie nicht angerührt hatten. Aphrodisiaka waren nicht nötig gewesen.

„Ich danke dir.“ Oliver stand gleichzeitig mit ihr auf und sah ihr nach, bis sie am anderen Ende der Bucht verschwunden war, ohne sich noch einmal umzudrehen.

So ist das mit Prinzessinnen, dachte er, während er sich für seinen Dienst im Krankenhaus fertig machte. Du siehst sie auf einem Ball, tanzt mit ihr, eure Herzen schlagen im selben Takt, Momente, wie mit Sternenstaub verzaubert, und dann …

Er blickte wieder zum Strand … Ha! Der goldfarbene Flipflop musste ihr aus der Tasche gefallen sein. Es war kein gläserner Schuh, doch er würde Oliver immer an sie erinnern.

Wem wollte er etwas vormachen? Auch ohne würde er sie nie vergessen. Von nun an trug sein Herz den Abdruck des Lächelns von Prinzessin Amelia.

3. KAPITEL

Einen Monat später

„Er hat Glück gehabt.“ Lia zog sich die OP-Handschuhe aus, warf sie in den Abfallbehälter und rieb sich den unteren Rücken.

Ging das jetzt schon los, dass es nach langem Stehen am OP-Tisch hier zwickte und da zwackte? Mit zweiunddreißig war sie dafür doch noch zu jung! Aber ihr Körper benahm sich in letzter Zeit komisch. Wahrscheinlich Stress. Im vergangenen Monat war ihr die Arbeit fast über den Kopf gewachsen. Nur deshalb hatte sie der Sehnsucht widerstanden, ans andere Ende der Insel zu fahren, um im St. Victoria Hospital unabsichtlich-absichtlich einem gewissen Kinderarzt in die Arme zu laufen.

Erst jetzt merkte sie, dass ihr Team sie immer noch ansah. „Drücken wir die Daumen, dass er das Motorradfahren zugunsten eines sicheren Transportmittels aufgibt.“

Sie wünschte, die Urlauber hielten sich mehr an die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Insel. Kurvenreiche Straßen überzogen St. Victoria wie ein Spinnennetz, ein im wahrsten Wortsinn gefährliches Pflaster. Der Mann konnte froh sein, dass er auf der Straße zusammengebrochen war, wo ihn der Rettungshubschrauber der Klinik bergen konnte – statt am Fuß einer Klippe. Das Blutgerinnsel, das sie gerade aus seinem Gehirn entfernt hatte, hätte um Haaresbreite sein Leben für immer verändert. Nicht zum Guten.

Eine Welle der Übelkeit schwappte ihre Speiseröhre hinauf.

Ouh. Zwei Tage lang hatte sie sich praktisch nur von Hühnersuppe ernährt, um ihren empfindlichen Magen zu beruhigen. Schien nicht geklappt zu haben.

„Okay, wir können schließen.“ Sie musste hier raus. Und zwar schnell.

„Ist er aus dem Schneider? Können wir mit der Familie reden?“, fragte ihr Chef Nate Edwards.

Eine berechtigte Frage bei einem so berühmten Patienten, aber sie musste jetzt wirklich dringend eine Toilette aufsuchen.

„Lia?“, rief er ihr nach. „Was sage ich ihnen? Ist alles in Ordnung?“

Sie versuchte, munter zu klingen, während sie gleichzeitig gegen die nächste Welle Übelkeit ankämpfte. „Du weißt, was ich von solchen Prognosen halte.“

Nate überholte sie, als sie schon beinahe aus der Tür war, und hielt sie ihr auf. „Jaja. Zu verkünden, dass ein Patient aus dem Schneider ist, bringt ihn schnurstracks zurück in die Gefahrenzone.“

„Fast richtig.“ Sie versetzte ihm einen leichten Rippenstoß. Abgelenkt, weil sie es noch nie leiden konnte, wenn man sie falsch zitierte, vergaß sie für einen Augenblick ihr Unwohlsein. „Wenn man einem Patienten sagt, dass er aus dem Schneider ist, verhält er sich, als hätte er nicht gerade eine Hirn-OP hinter sich – und das kann gefährlich werden.“

Nate zog sich den Mundschutz ab, damit sie sein Lächeln sehen konnte. „Danke für deinen Einsatz.“

„Gern geschehen. Ryan hat Glück gehabt, dass er auf St. Victorica und nicht auf einer der anderen Inseln verunglückt ist.“

Nate schüttelte den Kopf und lachte leise auf. „So spricht eine wahre Neurochirurgin.“ Er wurde wieder ernst. „Seine Frau denkt wahrscheinlich eher, dass er mehr Glück gehabt hätte, wenn der Unfall gar nicht erst passiert wäre.“

Seine Bemerkung versetzte ihr unerwartet einen Stich. Bis jetzt hatte Lia keinen Gedanken daran verschwendet, ob sich jemand um sie Sorgen machen würde, wenn sie einen Unfall hätte.

Sie drückte die Hand auf den Bauch. „Ich muss flitzen. Entschuldige, Nate.“

Ihr Chef nickte und machte sich auf den Weg zu Ryan van der Hoffs Familie, um die guten Neuigkeiten zu überbringen. Lia zog es vor, sich herauszuhalten – vor allem, wenn internationale Stars im Spiel waren. Ryan hatte in einer beliebten Agentenserie mitgespielt, die so ziemlich jeder auf der Welt gesehen zu haben schien.

Obwohl die Inselklinik ihren illustren Klienten höchste Privatsphäre zusicherte, konnte man nie wissen. Dreiste Paparazzi, die sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hier einschlichen, oder die Nanny eines Patienten, die sich dafür bezahlen ließ, nach der lebensrettenden Operation heimlich Fotos vom medizinischen Team zu machen – alles schon vorgekommen.

Lia wollte nur ihren Job machen. Was mehr als schwierig war, wenn sie ständig mit dieser extremen Übelkeit kämpfte.

Übelkeit? Plötzlich fiel der Groschen!

Zwanzig Minuten später, ein Teststäbchen in der Hand, dröhnte ihr der eigene Herzschlag betäubend laut in den Ohren. Schwanger? Es gab nur einen Mann, der als Vater infrage kam …

Hoffnung, Angst, Panik und überraschend innige Freude tanzten in ihrer Brust, während sie noch immer zu begreifen versuchte, was passiert war.

Sie bekam ein Kind. Von Oliver Bainbridge.

Von einer unerwarteten Energie erfüllt, wollte Lia zu ihrem Wagen laufen, auf die andere Seite der Insel fahren, in Olivers verwunschenes Baumhaus klettern und zu ihm ins Bett, um ihm die Neuigkeiten zu verkünden.

Im nächsten Moment fiel ihr Hochgefühl in sich zusammen. Was dachte sie sich nur? Nein, sie sollte es ihm nicht erzählen. Niemandem. Zumindest nicht, bis sie einen hieb- und stichfesten Plan im Kopf hatte, um dem Palast die Kontrolle über ihr Baby zu verwehren.

Der Palast. Eisiges Schaudern lief ihr über den Rücken. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Um diese Zeit begann das Büropersonal der Fürstin mit der Arbeit.

Warum war sie nicht längst darauf gekommen? Ihre Periode war überfällig. Ihre Brüste spannten. Ihr unterer Rücken schmerzte. Und natürlich die Übelkeit.

Ein Kind. Ich bekomme ein Kind.

Jemanden, den sie ohne Bedingungen und Regulierungen lieben konnte …

Ihr Herz hämmerte, setzte dann einen Schlag aus. Die Prinzessinnen von Karolinska bekamen keine unehelichen Kinder. Sie heirateten mit Glanz und Gloria, verlebten idyllische Flitterwochen und präsentierten ein knappes Jahr später an der Seite ihres stolz lächelnden Ehemanns das erste Kind. Alles auf magazintauglichen Hochglanzfotos für die interessierte Öffentlichkeit festgehalten. Nach ein paar Tagen Pause nahmen sie ihre fürstlichen Pflichten wieder auf, eröffneten Wohltätigkeitsveranstaltungen, durchschnitten publikumswirksam rote Bänder …

Ehemann. Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte keinen Ehemann. Oliver war mehr als einverstanden gewesen, dass es bei einer Nacht blieb. Also war er nicht daran interessiert, Ehemann zu werden. Zumindest nicht ihr Ehemann.

Ich könnte ihn fragen …

Ganz schlechte Idee! Ihre Eltern hatten sich kaum kennengelernt, als sie Hals über Kopf heirateten, und sie wusste, wie das endete. Der eine bewegte sich wie ein Roboter durch den Palast und erfüllte pflichtschuldigst, was seine Eltern, das Fürstenpaar, von ihm erwarteten. Die andere, eine Bürgerliche, die sich in einen Prinzen verliebt und ihm eine Tochter geschenkt hatte, verließ den goldenen Käfig wieder. Gab sogar ihr Kind auf, als wollte sie jede Erinnerung an die schmerzliche Zeit auslöschen.

Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihren Bauch, verspürte innige Zuneigung zu dem ungeborenen Wesen, das in ihr heranwuchs. Sie wollte es beschützen und nie im Stich lassen.

Was sollte sie tun? Sie kannte Oliver kaum … Nun ja, sie kannte seine Hände mit den schlanken Fingern, die sie liebkost und verführt hatten. Sein Lächeln, sein schönes Gesicht mit den klugen Augen. Sie wusste, dass er erschauerte, wenn sie winzige Küsse auf seinen Hals tupfte. Dass er lustvoll aufstöhnte, wenn sie sich langsam auf ihn setzte, eins mit ihm wurde. Sie wusste, dass er im Schlaf lächelte und nach Strand und Ananas und unverwechselbar männlich duftete.

Früher, so schien es ihr, hatte sie Sex gehabt. Bei Oliver fühlte es sich an, als hätten sie sich geliebt.

Wie ein Stich ins Herz tauchte der Gedanke an ihre Mutter wieder auf. Das passierte, wenn man einen Adligen heiratete.

Zerstörung.

Lia zwang sich, ruhig weiterzuatmen. Mit einer Panikattacke, die vielleicht damit endete, dass sie hier auf dem Fliesenboden zusammenbrach, war ihr auch nicht geholfen. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, zupfte ein raues Papiertuch aus dem Spender und wischte die Tropfen ab. Entschlossen blickte sie sich im Spiegel an.

Es wird alles gut.

Sie sah zu ihrem Bauch und versprach dem Winzling, der sich gerade erst in ihrem Bauch eingenistet hatte, das Gleiche. Ja, sie wollte alles tun, um ihm die Kindheit zu schenken, die sie selbst nie gehabt hatte. Wollte eine Mutter sein, die sich der Macht ihrer Vorfahren nicht beugte.

Klar, die Bevölkerung liebte die Traditionen, die mit der Fürstenfamilie verbunden waren, doch sie waren weder Religion noch Gesetz. Die Royals von Karolinska waren nur Repräsentanten ihres Landes, die Sahne auf einem sehr dekorativen Demokratie-Kuchen. Sie sollten in die Zukunft sehen, statt sich mittelalterlichen Regeln zu unterwerfen.

Oh ja! Ihr Sohn oder ihre Tochter sollte kennenlernen, was ihr versagt worden war: Freiheit.

Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Das wäre geklärt. Jetzt brauchte sie nur den Palast zu informieren, dass sie schwanger war, dann Oliver anrufen und ihm mitteilen, dass er Vater wurde, sich aber keine Gedanken zu machen brauchte. Er musste sie nicht heiraten, sie hatte alles im Griff.

Lia griff zum Telefon und tippte auf die Nummer ihres Vaters. Nach zweimaligem Klingeln ging er ran.

„Lia? Gibt’s ein Problem?“

Sie zuckte zusammen. Ihr Vater glaubte anscheinend, dass sie nur anrief, wenn es schlechte Neuigkeiten gab. Ein dunkler, schmerzhafter Gedanke beschlich sie. Vielleicht erinnerte sie ihn an all die schlechten Dinge in seinem Leben. Schließlich war sie einer der Gründe, warum seine Ehe in die Brüche gegangen war.

„Papa.“ Das Wort fühlte sich fremd auf der Zunge an – genau wie die nächsten auch. „Ich bin schwanger.“

Eine Stunde Erklärungen und Diskussionen später erreichte der Anruf, an dem nun auch ihre Großeltern teilnahmen, einen kritischen Punkt.

Sie wollten, dass sie Oliver heiratete.

Lia nicht.

„Ich finde, das ist keine gute Idee“, beharrte sie.

„Wir schon“, sagte ihre Großmutter, als wäre das Thema damit erledigt.

„Und wenn ich meinen Titel abgebe?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Totenstille, bis schließlich ein knappes Statement kam. „In diese Richtung zu denken, halte ich nicht für weise, Amelia.“

Großmutter. In Momenten wie diesen übernahm sie das Ruder.

Leider hatte sie nicht unrecht. Die Folgen einer solchen Entscheidung waren brutal. Ihr Leben lang sehnte sie sich danach, Teil einer großen, glücklichen Familie zu sein. „Groß“ war erfüllt. „Glücklich“ nicht.

Wenn sie dem Fürstenhaus den Rücken kehrte, durchtrennte sie auch für immer die fragile Bindung zu ihrem Vater. Ihre Großeltern würden sich verhalten, als hätte sie nie existiert. Ihrem geliebten Cousin Jonas würde jede Kommunikation mit ihr untersagt. Zu ihrer Mutter zu gehen, war erstens unmöglich und zweitens wirklich dumm, weil sie damit nur bewies, dass Geschichte sich wiederholte.

Sie brach das Schweigen. „Ich spreche mit Oliver.“

„Das solltest du vielleicht uns überlassen“, meldete sich ihr Großvater zu Wort.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist meine … Situation. Ich rede mit ihm.“

„Und was genau willst du ihm sagen?“, fragte ihre Großmutter spitz.

„Die Wahrheit“, konterte Lia, deren Geduldsfaden spürbar dünner geworden war.

„Was ist denn die Wahrheit?“, fragte ihr Vater.

Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Sie hatte sagen wollen, dass sie Oliver von der Forderung, sie zu heiraten, erzählen würde. Und auch, dass er gern darauf eingehen könne, falls er nichts dagegen hätte, ein Leben unter ständigen Beobachtungen und Vorschriften zu führen. Sie selbst sei nicht scharf darauf und würde lieber, wenn es ihm recht wäre, auf eine andere Insel ziehen. Allein. Vielleicht nicht sofort, weil sie ihre Arbeit an der Island Clinic liebte und das Gehalt brauchte, da der Palast sämtliche Zuwendungen streichen würde. Und nein, sie brauchte keine finanzielle Unterstützung für ihr Kind.

Aber nun zeigte ihr Vater auf seine Art ein Interesse an ihr wie seit Jahren nicht. Es milderte ein bisschen die Enttäuschung darüber, dass er sie so jung aufs Internat geschickt hatte.

„Ich werde ihm sagen, dass ich schwanger bin und das Baby behalten will.“

„Das ist alles?“, erwiderte die Fürstin in einem Ton, der Lia signalisierte, dass ihre Großmutter dunkelrot anlief vor Ärger.

„Ja.“

„Und dann?“

„Ich höre mir an, was er dazu zu sagen hat, und danach sehen wir weiter.“

Lia beendete das Gespräch und stellte das Smartphone auf Flugmodus, damit es nicht in fünf Sekunden klingelte und ihre Großmutter zornig verlangte, sie sollte der Krone mehr Respekt erweisen.

Es ging um sie, um Oliver und ihr gemeinsames Kind – und um niemanden sonst. Mit ihm zusammen wollte sie entscheiden, wie sie mit der Situation umgingen. Der Palast konnte warten.

„Versprochen, Hand drauf?“ Oliver ging in die Hocke, um mit dem fünfjährigen Jungen auf Augenhöhe zu sein. Der Kleine hatte eine beachtliche Beule an der Stirn.

„Aber ich will mit meinem Freund auf die Rutsche.“

Oliver lachte. „Ich weiß. Zusammen rutschen, das macht Spaß. Aber was ist, wenn ihr aus Versehen mit den Köpfen zusammenstoßt? Du hast schon eine Beule. Da ist es besser, wenn du die nächsten zwei Wochen vorsichtig bist.“

Der Kleine warf seiner Mutter einen Muss ich wirklich?-Blick zu. Ihr Blick war genauso eindeutig. Ja, musst du. Da streckte der Junge widerstrebend die Hand aus und schüttelte Olivers.

Einen Sekundenbruchteil lang fragte sich Oliver, wie es wohl wäre, die Hand seines eigenen Kindes zu halten.

Wären die Dinge anders verlaufen …

Wären sie anders verlaufen, säße er nicht hier und würde den kleinen Wildfang behandeln.

Er drückte die schmale Hand kurz, ließ los, lächelte und besiegelte die Vereinbarung mit einem High five.

Es hatte keinen Zweck, über etwas nachzudenken, das nicht passiert war oder, möglicherweise, nie passieren würde.

Oliver hielt Mutter und Sohn die Tür auf und erinnerte die junge Frau noch einmal daran, auf Anzeichen einer Gehirnerschütterung zu achten. Ein entsprechendes Merkblatt hatte er ihr bereits mitgegeben.

Mitten im Satz nahm er aus dem Augenwinkel weißblonde Haare wahr. Seine Brust füllte sich mit einem tiefen, hoffnungsvollen Atemzug, der im nächsten Moment einfror, weil sie wieder verschwunden waren. Nein, es konnte nicht Lia gewesen sein. Oliver atmete langsam aus. Nicht in diesem Teil des Krankenhauses. Es sei denn … Suchte sie ihn?

Sie hatte sich an ihren Vorsatz gehalten. Es war bei der einen Nacht geblieben, und Oliver respektierte das. Allerdings hielt es ihn nicht davon ab, sich zu wünschen, dass sich ihre Wege wieder kreuzten. Was zwischen ihnen knisterte, war nicht allein körperlich gewesen. Es reichte tiefer. Er spürte ein starkes Band, so als würden sie sich längst kennen. Zwei Hälften, die auf einmal endlich zu einem Ganzen wurden. Was natürlich nicht nur verrückt klang, sondern auch verrückt war. Sie waren zwei Fremde, die eine außergewöhnliche Nacht miteinander verbracht hatten. Mehr nicht.

„Dr. Bainbridge?“, hörte er die Mutter sagen, und ihr Tonfall verriet, dass sie nicht zum ersten Mal versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Entschuldigung …“ Oliver konzentrierte sich. „Ja, bitte?“

„Sollte er nicht über Nacht hierbleiben?“

„Nein, wirklich nicht“, versicherte er ihr freundlich. „Natürlich sieht so eine Beule besorgniserregend aus, aber Ihr Sohn hat alle Tests bestanden. Das Einzige, was bei dem Sturz Schaden genommen hat, ist wohl sein Ego.“

Die Mutter lachte auf. „Jungs. Man kann sie nicht davon abhalten, ihre Grenzen auszutesten, oder?“

Oliver stimmte in ihr Lachen ein, obwohl ihn die Sehnsucht nach einem eigenen Kind in diesem Moment stärker packte als sonst. Lag es daran, dass er Lia getroffen hatte? Verstärkte sie den Wunsch nach Kindern, einer eigenen Familie?

Nein. Er unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Er konnte einfach nicht vergessen, dass ihm die Chance genommen worden war, bevor er überhaupt davon wusste. Sechs Jahre war es jetzt her und ein entscheidender Grund, warum er sich auf St. Victoria niedergelassen hatte. Verheilt waren die Verletzungen noch nicht.

Er blickte auf den kleinen Jungen hinunter, der ihn anstrahlte.

Momente wie diese halfen ein wenig darüber hinweg.

Nachdem er Mutter und Sohn verabschiedet hatte, kehrte er in sein Büro zurück, um seine Notizen zu vervollständigen.

„Oliver?“ Die Frau, an die er eben gedacht hatte, stand am Türrahmen. „Können wir reden? Einer deiner Kollegen meinte, es wäre für heute deine letzte Sprechstunde gewesen.“ Sie zog die Brauen zusammen. „Vielleicht irgendwo außerhalb des Krankenhauses?“

„Natürlich. Ist es …? Es geht nicht um einen Patienten, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist persönlich.“

Wie sie das letzte Wort aussprach, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Das hörte sich gar nicht gut an. Hatte jemand Fotos von ihnen gemacht, als sie bei Mondlicht im Meer schwammen? Aufnahmen, die einem Paparazzo bei einschlägigen Magazinen eine schöne Stange Geld einbrachten? Oder versuchte jemand, Lia zu erpressen?

Auch ein wichtiger Grund, warum er auf diese Insel gekommen war – um den neugierigen Augen der Presse zu entgehen. Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Er tauchte lediglich auf den obligaten Familienfotos zu Ostern und Weihnachten auf, und das auch nur, weil seine Mutter darauf bestand, um den Anschein von Royalty zu wahren.

Seine Anonymität hier bedeutete eine Freiheit, die Lia nie kennengelernt hatte. Mitgefühl erfasste ihn. Oliver schnappte sich eine leichte Jacke, zog die Bürotür zu und schloss ab. „Ich weiß, wo wir hingehen können.“

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Fast hätte er sie in die Arme genommen, um sie zu trösten. Sie wirkte so verletzlich, beinahe ängstlich … Doch falls es tatsächlich um Erpressung ging oder um kompromittierende Fotos für die Klatschpresse, sollte er Abstand halten, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

Ins St. Victoria Hospital konnte jeder reinspazieren, anders als in die exklusive Klinik, in der Lia arbeitete. Wenn sie sich also nach ihm auf die Suche machte, wo vielleicht an jeder Ecke Paparazzi lauerten, musste es wichtig sein. Sehr wichtig!

Oliver führte sie zu einem unauffälligen Hinterausgang, wo sein Wagen parkte, und fuhr mit ihr zu einem höher gelegenen Felsvorsprung oberhalb von Williamtown. Hier erstreckten sich prächtige tropische Gärten mit verborgenen Nischen und Winkeln, wo sie mit etwas Glück ungestört miteinander sprechen konnten.

Schweigend spazierten sie die Wege entlang, und er spürte die wachsende Spannung zwischen ihnen körperlich. Oliver zeigte schließlich auf eine Bank an einem sanft dahinplätschernden Bach. Er bedeutete Lia, Platz zu nehmen, bevor er sich auch setzte.

„Hoheit …“, begann er.

„Nein“, unterbrach sie ihn. „Amelia bitte … oder Lia. Oder …“ Ihre Stimme zitterte, doch dann fing sie sich wieder. „Oder die Mutter deines Kindes.“

Ihre Worte trafen ihn mit Wucht, füllten sein Herz, wo sie sich in gleißende Wärme verwandelten.

„Wirklich?“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. Sie hatten jedes Mal verhütet. Konnte es wahr sein? Dass er Vater wurde? „Du bist … schwanger?“

Sie nickte.

„Wirst du es behalten?“

Lia blickte ihn an, als wäre er verrückt, an die andere Möglichkeit auch nur zu denken. Oliver zwang sich, ruhig zu bleiben. Neben ihm saß Lia, nicht Sarah. Sie verschwieg ihm die Schwangerschaft nicht, bezog ihn mit ein. Bestimmt wollte sie das Baby behalten.

„Also … Wenn du es bekommen willst, warum wirkst du dann so ernst, so …“ Er suchte nach einem behutsamen Ausdruck, fand keinen. „Unglücklich?“

Sie senkte den Kopf, sodass er ihre Augen nicht sehen konnte, und murmelte etwas, das er nicht verstand.

Oliver berührte ihre Schulter und hob mit der freien Hand ihr Kinn an. In ihren hellblauen Augen schimmerten Tränen.

„Sie wollen, dass wir heiraten“, stieß sie hervor.

„Wer?“

Autor

Annie O'Neil
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Louisa Heaton
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Janice Lynn

Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.

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