Julia Collection Band 172

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Das Königreich Agon steht kurz vor einer neuen Ära. Die Prinzen Helios, Talos und Theseus sollen ihr Land in die Zukunft führen. Dabei können sie eigentlich keinerlei amouröse Ablenkung gebrauchten. Doch das Herz lässt sich nicht aufhalten, wenn man der Richtigen begegnet …

MINI-SERIE VON MICHELLE SMART

ENTFÜHRT IN DEN PALAST DES PRINZEN
Prinz Talos erpresst die betörende Violinistin Amalie und entführt sie auf eine Insel im Mittelmeer. Natürlich nur, weil sie sich weigert, den Frieden für sein Land zu sichern und bei der Jubiläumsgala für den schwer kranken König zu spielen! Nicht, weil er sie heiß begehrt …

MEIN GEHEIMNISVOLLER VERFÜHRER
Joanne reist in den Palast von Agon, um die Biografie des Königs fertigzustellen. Ein Job wie jeder andere – bis sie ihren Auftraggeber Prinz Theseus trifft. Schockiert erkennt sie in ihm den geheimnisvollen Fremden, mit dem sie einst eine Nacht der Leidenschaft verbrachte …

DIE GEHEIME GELIEBTE DES THRONFOLGERS
Amy verliebt sich Hals über Kopf in Prinz Helios. Voller Glück genießt sie leidenschaftliche Stunden in seinen Armen. Doch ihr Traum vom Happy End zerplatzt jäh, als sie schockiert erfährt, dass Helios bald heiraten wird – allerdings eine andere!


  • Erscheinungstag 27.05.2022
  • Bandnummer 172
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511827
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Smart

JULIA COLLECTION BAND 172

1. KAPITEL

Talos Kalliakis senkte den Kopf und rieb sich den schmerzenden Nacken. Die Worte des Arztes hatten ihn bis ins Mark getroffen.

Dann blickte Talos über die Schulter zu seinen beiden Brüdern, deren Gesichter vor Sorge ganz verzerrt waren.

Astraeus Kalliakis – König von Agon und ihr Großvater – lag im Sterben.

Helios, Ältester der drei Brüder und damit Thronfolger, verschränkte die Arme, holte tief Luft und brach das Schweigen. „Wir müssen die Jubiläumsveranstaltung unbedingt vorverlegen.“

Ganz Agon brannte darauf, Astraeus’ fünfzigstes Jahr auf dem Thron angemessen zu feiern. Allerdings hatte man als Datum für den großen Tag das Ende des Sommers ins Auge gefasst. Bis dahin dauerte es aber noch sechs Monate.

Und nun teilte ihnen der behandelnde Onkologe ihres Großvaters mit, dass Astraeus vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.

Talos räusperte sich, ehe er sprach. Seine Stimme klang trotzdem entsetzlich heiser. „Ich schlage vor, wir konzentrieren uns auf die Gala und verzichten auf den Rest der Feierlichkeiten – die sind allesamt überflüssig. Lasst uns die Gala zur Kernveranstaltung erklären und dort sein Lebenswerk ehren!“

„Einverstanden“, erwiderte Theseus, sein mittlerer Bruder, und nickte. „Wir könnten einen Termin im April festlegen, das wären dann noch drei Monate. Das bringt zwar jede Menge Zeitdruck mit sich, aber das bekommen wir schon hin – mit vereinten Kräften.“

Denn wenn nicht, bestand die Gefahr, dass ihr Großvater seine eigene Gala nicht mehr miterlebte. Zwei Monate intensive Chemotherapie sollten ihm etwas Zeit schenken und das Wachstum der Tumore in seinen Organen hemmen. Doch sie würde ihn nicht heilen, dafür war es leider zu spät.

Zwei Monate später

Talos Kalliakis eilte durch den Backstage-Bereich des Opernhauses, in dem das Pariser Nationalorchester gastierte. Er bemerkte die verblasste Tapete, die sich an den Ecken bereits löste, den abgewetzten Teppich und die Feuchtigkeitsflecken an der Decke.

Kein Wunder, dass dieses Gebäude kurz vor dem Abriss stand. Von allen Theaterhäusern, die er während der vergangenen zwei Monate besucht hatte, war dieses bei Weitem das heruntergekommenste.

Aber er war nicht wegen der Ausstattung hier, sondern weil ihm allmählich die Zeit davonlief. Eine spontane Eingebung hatte ihn hierhergetrieben, nachdem ihn die Violinisten der meisten anderen europäischen Orchester maßlos enttäuscht hatten.

Was anfangs wie eine leichte Aufgabe ausgesehen hatte, erwies sich inzwischen als Sisyphusarbeit. Dabei wollte er doch nur einen ganz besonderen Musiker finden, der den Bogen einer Violine auf ebenso elegante und emotionale Art und Weise schwang, wie es seine Großmutter zu ihren Lebzeiten getan hatte. Er war sicher, dass er es sofort heraushören würde, sobald er am Ziel war.

Und der ausgewählte Violinist würde anschließend die Ehre haben, auf der königlichen Gala die letzte Komposition von Talos’ verstorbener Großmutter zum Besten zu geben – begleitet von ihrem oder seinem Orchester.

Im Augenblick reihten sich schätzungsweise ein Dutzend Violinisten des Pariser Nationalorchesters auf der Bühne auf, um für Talos vorzuspielen. Und er wollte nur, dass die Probe schnell vorüber war. Deswegen beeilte er sich, den Flur des Theaters zu durchqueren, um ins Auditorium zu gelangen.

Der schwache Teil seines Charakters versuchte ihm einzureden, einfach irgendeinen Musiker zu engagieren. Immerhin waren sie alle Vollprofis mit musikalischer Ausbildung und einem sicheren Sinn für Töne. Allerdings berührten sie nicht sein Herz, und er war zum ersten Mal in seinem Leben wild entschlossen, eine emotionale Entscheidung zu treffen, anstatt sich ausschließlich von seinem Verstand leiten zu lassen.

Für den Ehrentag seines geliebten Großvaters kam nur das Beste vom Besten infrage. Und auch das Ansehen der ehemaligen Königin verdiente denselben Respekt.

Heute waren der Theaterdirektor, ein Dolmetscher und ein Assistent an Talos’ Seite, während er darauf brannte, dass die Violinisten endlich vorspielten. Die übrigen Musiker saßen ebenfalls im Auditorium.

Ihm ging ununterbrochen im Kopf herum, was er in den vergangenen zwei Monaten alles hatte schleifen lassen. Als hoch qualifizierter Anwalt war er gleichzeitig Chef der Rechtsabteilung seines Familienunternehmens – das er mit seinen beiden Brüdern führte – und musste als solcher sämtliche Käufe, Verkäufe und Fusionen überwachen.

Theseus, der mittlere Kalliakis-Bruder, hatte ein Internet-Start-up entdeckt, in das sie eventuell investieren wollten. Falls die bisherigen Berechnungen stimmten, würde sich ihr Investment innerhalb weniger Wochen vervierfachen. Talos selbst zweifelte allerdings an der Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit ihrer potenziellen Geschäftspartner …

Er hatte fast das Ende des Flurs erreicht, dicht gefolgt von seiner kleinen Entourage, als er plötzlich ein leises Geräusch hinter der Tür zu seiner Linken hörte.

Er blieb stehen und hob die Hand, was die Anwesenden sofort verstummen ließ, und legte ein Ohr an die Tür. Da war es wieder. Das einzige Klassikstück, das er beim Namen kannte.

Ein schwerer Klumpen formte sich in seiner Kehle und wurde mit jedem einzelnen Herzschlag größer und größer.

Einerseits wollte er das Lied klarer hören, andererseits wollte er auf keinen Fall den Musiker stören. Daher drückte er ganz langsam die Klinke hinunter und schob lautlos die Tür auf. Ein Spalt genügte, um die Töne lauter und deutlicher klingen zu lassen.

Seine Brust füllte sich mit Schmerz, und bittersüße Erinnerungen benebelten seinen Verstand.

Er war erst sieben Jahre alt gewesen, als seine Eltern starben. In den darauffolgenden Nächten – bevor seine beiden älteren Brüder aus dem Internat nach Hause kamen – war er untröstlich gewesen.

Königin Rhea Kalliakis, seine geliebte Großmutter, hatte ihn damals auf die einzige Weise beruhigt, die ihr in dieser schrecklichen Situation einfiel. Sie war in sein Kinderzimmer gekommen, hatte sich bei ihm auf die Bettkante gesetzt und ihm Méditation aus Thaïs von Jules Massenets vorgespielt.

An dieses Stück hatte er seit mindestens fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gedacht. Das Tempo war anders als das seiner Großmutter, langsamer, doch der Effekt blieb derselbe. Schmerzhaft und tröstend zugleich, wie Balsam für die geschundene Seele … und für Talos fühlte es sich an, als würde er von innen heraus geheilt werden.

Dieser virtuose Musiker hatte es – das gewisse Etwas!

„Dies ist der Richtige“, beschloss er und sah dabei den ersten Konzertmeister des Orchesters an.

Der Dolmetscher übersetzte den Satz auf Französisch.

Ohne zu zögern, stieß der Dirigent die Tür ganz auf, und da stand … eine junge Frau. Die Geige hatte sie noch unter ihr Kinn geklemmt, doch der Bogen hing lose in ihrer rechten Hand. Und sie blickte den unerwarteten Besuchern entgegen wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Mit weit aufgerissenen Augen …

Es waren diese Augen.

Sie hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Diese intensive Art, wie er sie angestarrt hatte. Als würde er sie mit seinem Blick durchbohren.

Amalie zitterte immer noch deswegen.

Nervös trat sie aus dem Hintereingang des Theaters hinaus auf den verschneiten, matschigen Parkplatz. Ihren Geigenkasten hielt sie dabei fest umklammert, vor allem deswegen, weil sie den Tragegurt noch nicht hatte reparieren lassen.

Gerade zog sie sich ihre graue Strickmütze tiefer in die Stirn, als eine große schwarze Limousine neben ihr anhielt. Ein dunkler Hüne stieg aus, den sie erst auf den zweiten Blick als Talos Kalliakis erkannte.

Mit seinen aufmerksamen braunen Augen musterte er sie … schon zum zweiten Mal innerhalb der letzten Stunde. Und er löste damit bei ihr ein nervöses Kribbeln aus, genau wie beim ersten Mal!

Als die Tür zum Übungsraum aufgestoßen wurde und sie in lauter fremde Gesichter blickte, war ihr ganz anders geworden. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden versunken. Denn sie hatte sich extra nicht für das Vorspielen gemeldet, sondern in aller Abgeschiedenheit darauf gewartet, ob es noch erforderlich war, das gesamte Orchester spielen zu lassen.

Und sie hatte sich versteckt, weil ihre Anwesenheit im Theater zwar Pflicht war, sie der neugierigen Menschenmenge aber unbedingt ausweichen wollte.

Dieser unfassbar attraktive Grieche hatte sie stumm angestarrt, bis sie es kaum noch aushielt, und war dann einfach verschwunden.

Ihr war seine eindrucksvolle Größe gleich aufgefallen. Sie selbst war auch nicht gerade klein, doch er überragte sie noch um mindestens einen Kopf. Und er war extrem muskulös, das konnte nicht einmal sein wollener Wintermantel verbergen.

Ihr Mund wurde trocken.

Sein pechschwarzes Haar trug Talos Kalliakis etwas zu lang, es reichte fast bis auf seine Schultern und lockte sich. Und der dichte Bartschatten betonte sein kantiges Kinn.

Obwohl er bis hinunter zu seinen teuren Lederschuhen maßgeschneiderte Kleidung trug, umgab ihn eine animalische Aura, so als könnte er sich mühelos wie Tarzan im Dschungel von Ast zu Ast schwingen.

Und er sah gefährlich aus. Richtig gefährlich. An seiner rechten Augenbraue zeichnete sich eine Narbe ab, die gut zu seinem entschlossenen Gesichtsausdruck passte.

Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr und streckte ihr seine kräftige Hand entgegen, ohne dabei zu lächeln. „Amalie Cartwright, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen“, sagte er in akzentfreiem Englisch.

Erschrocken fragte sie sich, was er wohl von ihr wollte?

Dann klemmte sie sich hastig ihren Geigenkasten unter den Arm und schüttelte seine Hand, die sich wunderbar warm und stark anfühlte, selbst durch ihren Wollhandschuh hindurch.

„Monsieur Kalliakis“, murmelte sie und überlegte verwirrt, in welcher Sprache sie sich unterhalten sollten: Englisch oder Französisch? Denn Griechisch beherrschte sie nicht …

„Ich müsste dringend mit Ihnen sprechen“, fuhr er fort. „Bitte steigen Sie ein!“

Seine tiefe, etwas heisere Stimme ging ihr unter die Haut. Er wollte, dass sie in sein Auto stieg? Amalies Verwirrung wurde größer, je länger sie darüber nachdachte, wer hier eigentlich vor ihr stand.

Immerhin war er ein königlicher Prinz. Bedurfte es da nicht einiger formeller Umgangsformen? Musste sie vor ihm knicksen? Schließlich war er vorhin verschwunden, ehe sie einander offiziell vorgestellt worden waren.

Schüchtern wich sie einen Schritt zurück und räusperte sich. „Entschuldigen Sie, Monsieur, aber ich glaube nicht, dass zwischen uns Gesprächsbedarf herrscht.“

„Ich versichere Ihnen das Gegenteil. Deshalb steigen Sie bitte in den Wagen! Es ist zu kalt, um sich hier draußen zu unterhalten“, sagte er entschieden.

„Geht es um das Solo? Ich habe Ihrem Assistenten vorhin schon erklärt, dass ich am Gala-Wochenende verhindert bin. Ein anderes Engagement hat leider Vorrang. Es tut mir leid, wenn Sie diese Nachricht nicht rechtzeitig erreicht hat.“

Der Assistent, ein Mann mittleren Alters mit einer unerbittlichen Ausstrahlung, war geradezu entsetzt gewesen, als sie ihm eine Absage erteilt hatte. Und der Konzertmeister hatte sie einfach nur mit flehenden Augen angestarrt.

„Die Nachricht hat mich erreicht, deshalb habe ich auch auf dem Weg zum Flughafen umgedreht und bin hergekommen. Ich muss diese Angelegenheit in Ruhe mit Ihnen persönlich besprechen.“ Er wirkte ärgerlich, so als wäre es ihre Schuld, dass seine Pläne durchkreuzt wurden. „Sie müssen Ihr Engagement absagen. Ich möchte, dass Sie auf der Gala zu Ehren meines Großvaters spielen.“

„Das würde ich auch gern“, log sie. Schon immer hatte sie sich gegen dominante Persönlichkeiten durchsetzen müssen, daher war sie auf diesen Moment gut vorbereitet. Kein Verhandlungspartner konnte schlimmer sein als ihre eigene Mutter! „Aber es bleibt bei einem Nein. Diese Verpflichtung kann ich unmöglich absagen.“

Irritiert runzelte er die Stirn, als hätte er das Wörtchen Nein noch nie zuvor gehört. „Sie wissen schon, wer mein Großvater ist, oder? Und dass dieser Auftritt eine Riesenchance für Ihre Karriere darstellt?“

„Ja, ich weiß, er ist der König von Agon. Und ich bin mir dessen bewusst, welche Ehre es bedeutet, ausgesucht zu werden, um für ihn zu spielen …“

„Außerdem werden bedeutende ausländische Staatsmänner und – frauen anwesend sein“, unterbrach er sie ungeduldig.

„Aber es gibt doch genügend andere Violinisten im Orchester“, ignorierte sie seinen Einwand. „Wenn Sie das Vorspielen nicht abgebrochen hätten, wäre Ihnen längst klar, dass die meisten viel talentierter sind als ich.“

Selbstverständlich wusste sie, was für eine gigantische Veranstaltung diese Gala werden würde. Ihre Musikerkollegen redeten seit Wochen von nichts anderem mehr. Jedes größere Orchester in ganz Europa war durch die Meldung aufgescheucht worden, Talos Kalliakis würde einen Solisten an der Violine suchen.

Und nachdem gestern verkündet worden war, dass er sich heute das Pariser Nationalorchester anschauen wollte, gerieten die weiblichen Mitglieder sofort in helle Panik. Es erfolgte ein blitzartiger Sturm auf Friseursalons und Kosmetikstudios, denn die drei Prinzen von Agon zählten ganz offiziell zu den begehrtesten Junggesellen weltweit. Und zu den attraktivsten!

Amalie hatte von Beginn an gewusst, dass sie nicht vorspielen würde, darum hatte sie sich auch keine Mühe mit ihrem Äußeren gegeben – was sie in diesem Moment zutiefst bereute. Wenn sie geahnt hätte, dass sie unter vier Augen mit dem berühmten Talos Kalliakis sprechen würde …

Aber es kam auf keinen Fall infrage, dass sie bei einer festlichen Gala auf der Bühne stand und für die ganze Welt spielte. Niemals! Das konnte sie einfach nicht. Allein die Vorstellung sorgte schon dafür, dass ihr der kalte Angstschweiß ausbrach.

Der Wind auf dem Parkplatz wehte eisig durch die Häuserschluchten, und Amalie krümmte ihre erfrorenen Zehen in den ausgekühlten Schuhen, die inzwischen halb durchnässt waren.

Das Innere von Talos’ Limousine sah warm und einladend aus, ganz im Gegensatz zu dem Ausdruck seiner dunklen Augen.

„Entschuldigung, Monsieur, aber ich muss jetzt wirklich nach Hause. Wir geben heute Abend noch ein Konzert, und ich muss in wenigen Stunden wieder herkommen. Viel Glück bei ihrer Suche nach einem geeigneten Solisten.“

Seine Miene wurde ein kleines bisschen zugänglicher, doch sein Blick blieb hart. „Wir unterhalten uns am Montag weiter, despinis. Bis dahin rate ich Ihnen, gut darüber nachzudenken, was Sie verpassen, wenn Sie mein Angebot ausschlagen.“

„Montag haben wir unseren freien Tag. Ich werde erst Dienstag wieder hier sein, wenn Sie mit mir sprechen möchten. Allerdings finde ich, es ist bereits alles gesagt.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Wir werden sehen. Oh, und bei unserer nächsten Begegnung reden Sie mich bitte mit meinem förmlichen Titel an: Eure Hoheit.“

Darauf konnte sie sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. „Aber, Monsieur, wir befinden uns hier in Frankreich. Selbst wenn wir eine königliche Familie hätten, würden die männlichen Thronerben mit Monsieur angesprochen werden, demnach verhalte ich mich Ihnen gegenüber absolut korrekt. Und ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, was in diesem Land mit den Menschen geschehen ist, die sich zu viel auf ihr blaues Blut eingebildet haben? Man hat sie geköpft!“

Amalie nahm auf ihrem Bühnenstuhl Platz – in der vorletzten Reihe, schön versteckt zwischen den anderen zweiten Violinisten des Orchesters. Genau dort fühlte sie sich am wohlsten. Weit weg vom Scheinwerferlicht.

Während sie auf Sebastian Cassel warteten, den Gastdirigenten, spürte Amalie plötzlich ein Kribbeln auf ihrer Haut.

Suchend ließ sie ihren Blick durchs Auditorium schweifen und erkannte sofort, dass der erwartete Kartenverkauf leider erfüllt, wenn nicht sogar unterboten worden war. Im besten Fall war der Saal etwa zur Hälfte besetzt.

Wie lange konnte das noch gut gehen?

Paris war eine Kulturhauptstadt, hier gastierten schon seit Jahrhunderten Orchester aus der ganzen Welt. Allerdings wurden sie wohl kaum in einem abgewrackten Musiktheater untergebracht, das seine pompösen Zeiten in Glanz und Gloria längst hinter sich hatte. Jahre der Vernachlässigung und fehlenden Investitionen hatten dem Gebäude schwer zugesetzt.

Rechts von ihr in der teuersten Loge des Hauses entdeckte Amalie einen großen Schatten, und sie musste zweimal blinzeln, ehe sie den Besucher erkannte. Das erklärte natürlich dieses unheimliche Kribbeln auf ihrer Haut!

Irgendetwas an diesem Prinzen und seiner bedrohlichen Ausstrahlung weckte in ihr den Wunsch zu fliehen. Und zwar stärker, als wenn hundert Scheinwerfer auf sie gerichtet wären. Seine rein körperliche Kraft und sein finstere Miene reichten schon völlig aus, um ihr einen Heidenrespekt einzujagen.

Juliette, ihre Kollegin direkt neben ihr, stieß ihr einen spitzen Ellenbogen in die Seite. Und Sebastien starrte sie mit aufgerissenen Augen an, während sein Bariton vibrierte.

Hastig heftete Amalie ihren Blick auf das Notenblatt vor ihr und betete, dass ihre Finger sie in diesem Moment nicht im Stich ließen. Zwischen achtzig anderen Musikern zu sitzen gab ihr normalerweise das Gefühl, unsichtbar zu sein. Nur ein weiterer Kopf unter vielen, der vom Spotlight übersehen wurde.

Sie konnte es nicht aushalten, irgendwo im Mittelpunkt zu stehen. Und sie vermied solche Situationen strikt … seit ihrem zwölften Lebensjahr.

Und genauso unangenehm fand sie es, die Augen dieses Mannes auf sich zu spüren, während sie spielte.

Für Talos würde es ein langer Abend werden. Das Orchester glänzte zwar mit einer außerordentlichen Leistung, aber er war nicht hier, um sich die Musik anzuhören. Direkt nach dem Konzert hatte er einen Termin mit dem Besitzer dieser heruntergekommenen Bruchbude. Dabei hatte er längst wieder im Privatflieger zurück nach Agon sitzen wollen, doch Amalie Cartwright hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht!

Er beobachtete, wie flink sich die Finger ihrer linken Hand über die Saiten bewegten. Kaum zu fassen, wie rüde diese begabte, junge Frau sein konnte! Wenn man ihr schmales hübsches Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen betrachtete, ahnte man nichts von dem Temperament, das hinter der süßen Fassade lauerte.

Sie wirkte zierlich, fast zerbrechlich, und besaß dabei die klassische Eleganz einer waschechten Pariserin. Schon erstaunlich, wie sehr das Äußere einer Person täuschen konnte.

Indem diese Dame es ablehnte, auf der Gala zu Ehren seines Großvaters zu spielen, beleidigte sie den Familiennamen Kalliakis. Außerdem war sie mit ihrer Bemerkung über die Hinrichtung französischer Adeliger entschieden zu weit gegangen.

Amalie Cartwright musste dieses Solo spielen, dafür würde er sorgen! Ein Talos Kalliakis bekam immer, wonach er verlangte.

Immer.

2. KAPITEL

Amalie versteckte ihren Kopf unter dem großen weichen Kissen und ignorierte das penetrante Klingeln an der Haustür. Sie erwartete keine Besucher oder irgendwelche Lieferungen.

Ihre französische Mutter würde nicht im Traum daran denken, um diese Uhrzeit unangemeldet aufzutauchen, und ihr Vater – der Engländer war – befand sich gerade in Südamerika.

Aber wer immer dort vor der Tür stand, hatte offenbar nicht vor aufzugeben. Zusätzlich zur Klingel klopfte er jetzt sogar mit der Faust an!

Amalie fluchte gleichzeitig auf Englisch und Französisch, während sie aus dem warmen Bett kroch und sich einen Bademantel über ihren Pyjama zog. Dann lief sie die Treppe hinunter und riss ärgerlich die Tür auf.

„Guten Morgen, despinis.“

Mit diesen Worten drängte Talos Kalliakis an ihr vorbei in die Wohnung.

„Was zur …? Entschuldigung, aber Sie können hier nicht einfach hereinplatzen.“

„Ich sagte Ihnen doch, heute würden wir uns unterhalten.“

Sein Tonfall war neutral, als würde er ihre verständliche Wut überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen.

„Und ich sagte Ihnen, dass dies mein freier Tag ist. Darum gehen Sie jetzt bitte!“

Er betrat die Küche. „Das werde ich tun … gleich nach unserem Gespräch.“

Um seinen Standpunkt unmissverständlich klarzustellen, streifte er seinen schwarzen Mantel ab, hängte ihn über einen Stuhl und setzte sich an den Küchentisch.

„Was machen Sie denn da? Ich habe Sie nicht hereingebeten. Falls Sie ein Gespräch mit mir wünschen, wird das bis morgen warten müssen.“

Diesen Einwand tat er mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. „Ich beanspruche höchstens zehn Minuten Ihrer kostbaren Zeit, danach bin ich verschwunden. Was wir besprechen müssen, wird nicht lange dauern.“

Sprachlos biss sie sich auf die Unterlippe und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Auf keinen Fall durfte sie in Panik geraten. „Das ist Hausfriedensbruch“, begann sie so ruhig wie möglich. „Entweder verschwinden Sie sofort, oder ich rufe die Polizei.“

„Tun Sie das.“ Gleichgültig zuckte er die breiten Schultern, und Amalie bemerkte, wie sein schwarzes Hemd dabei über der Brust spannte. „Bis die hier sind, haben wir die Angelegenheit längst geklärt.“

Fassungslos starrte sie ihn an und wagte nicht einmal zu blinzeln. Ganz langsam wich sie ein paar Schritte zurück und überlegte, was sie im Notfall als Waffe benutzen könnte.

Immerhin war dieser Mann ein Fremder – noch dazu von einer einschüchternden Größe – und er war unaufgefordert in ihr Haus eingedrungen.

Sie fühlte sich hilflos … wie eine Maus, die von einem Panther belauert wurde.

„Sie brauchen nicht um Ihre Sicherheit zu fürchten“, sagte er schneidend, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Schließlich bin ich kein Unmensch. Ich möchte nur mit Ihnen reden.“

Doch sie traute ihm nicht, obwohl sie in seinen Augen keine echte Gefahr erkannte. Das beruhigte sie etwas. Nein, dieser Prinz würde ihr nichts tun. Zumindest nicht gegen ihren Willen …

Mit einer Hand rieb sie sich die Augen. „Okay, zehn Minuten. Trotzdem hätten Sie vorher anrufen sollen. Es gehört sich nicht, mich einfach zu überfallen, während ich noch schlafe.“

Bei diesen Worten wurde ihr bewusst, wie sie aussehen musste in ihrem alten Baumwollschlafanzug, dem Bademantel und dem zerzausten Haar. Er dagegen war frisch geduscht und rasiert und duftete herrlich nach Aftershave.

Er warf einen Blick auf seine sündhaft teure Armbanduhr. „Es ist zehn Uhr vormittags. Eine durchaus angemessene Zeit für einen Besuch.“

Zu ihrem Entsetzen spürte sie eine erregende Hitze in sich aufsteigen. Und um ganz ehrlich zu sein, war dieser herrische Prinz auch verantwortlich dafür, dass sie in der vergangenen Nacht kaum Schlaf bekommen hatte. Egal wie energisch sie sich bemüht hatte, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, er war jedes Mal wieder da gewesen, sobald sie die Augen schloss. Seit zwei Tagen plagte sie sich nun schon mit diesem Fluch herum.

„Ich habe heute eigentlich frei, Monsieur. Und wie ich meine Freizeit verbringe, ist ganz allein meine Privatangelegenheit.“ Sie räusperte sich. „Jetzt brauche ich erst mal einen Kaffee.“

„Ich trinke ihn schwarz.“

Sie antwortete ihm nicht, sondern ging zur Kaffeemaschine und drückte den Schalter. Das Pulver hatte sie schon abends eingefüllt.

„Haben Sie die Sache mit dem Solo noch mal überlegt?“, fragte er, während sie zwei Tassen aus dem Schrank holte.

„Ich sagte bereits, da gibt es nichts weiter zu überlegen. An dem betreffenden Wochenende bin ich beschäftigt.“

„Diese Antwort habe ich befürchtet.“

Er klang wie ein Lehrer, der von den Leistungen seines Schülers enttäuscht war. Und irgendetwas in seinem Tonfall sorgte dafür, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

Zischend floss das Wasser durch die Maschine, und die Küche wurde von einem angenehmen Kaffeearoma erfüllt.

„Ich appelliere an Ihr Gewissen“, begann er und sah zu ihr hoch. „Meine Großmutter war eine begabte Musikerin und Komponistin.“

Sie zögerte. „Rhea Kalliakis …“

„Sie haben von ihr gehört?“

„Jeder zeitgenössische Violinist hat von ihr gehört. Sie hat wunderbare Stücke geschrieben.“

Es versetzte ihm einen bittersüßen Stich, dass diese junge Frau das Talent seiner Großmutter zu schätzen wusste. Amalie konnte es nicht wissen, aber ihr Zugeständnis festigte seine Entschlossenheit, sie zu dem Galaauftritt zu überreden. Sie war die perfekte Besetzung … die einzige Musikerin, die er für diese Aufgabe akzeptierte.

„Sie vollendete ihre letzte Komposition zwei Tage vor ihrem Tod“, schloss er tonlos und verlor sich in dem Anblick dieser ungewöhnlichen Frau, die da vor ihm stand.

Ihre Augen waren leicht mandelförmig, und die Farbe erinnerte ihn an den Saphir in dem Ring, den seine Mutter immer getragen hatte. Inzwischen wurde dieser Ring im Palastsafe aufbewahrt. Seit sechsundzwanzig Jahren wartete er dort darauf, dass Helios eine Braut fand und ihn ihr an den Finger steckte. Wenn eintraf, was der Arzt über den Zustand seines Großvaters gesagt hatte, würde der Tag jetzt wohl früher kommen, als Helios es erwartet oder gewollt hatte. Von ihm wurde erwartet, für die Thronnachfolge zu sorgen.

Als Talos den Ring zum letzten Mal zu Gesicht bekommen hatte, war das an dem Tag gewesen, als seine Mutter sich verzweifelt gegen den Gewaltausbruch seines Vaters gewehrt hatte. Zwei Stunden später waren beide tot gewesen.

Traurig zwang er sich, den Blick wieder in die Gegenwart zu richten. Zurück zu Amalie Cartwright, der einzigen Person, die der letzten Komposition von Rhea Kalliakis gerecht werden konnte. Und die damit einem sterbenden Mann einen Herzenswunsch erfüllen würde. Einem sterbenden König.

„Und dieses Stück wollen Sie auf der Gala Ihres Großvaters spielen lassen?“, erkundigte sie sich.

„Genau. In den fünf Jahren seit ihrem Tod haben wir die Noten unter Verschluss gehalten und niemandem gestattet, sie zu spielen. Aber meine Brüder und ich sind der Meinung, der passende Zeitpunkt ist gekommen, um der Welt dieses Erbe zu präsentieren. Gibt es eine bessere Gelegenheit dafür als die Jubiläumsgala? Und Sie sind genau die richtige Musikerin für dieses Unterfangen.“

Absichtlich verriet er nichts über den Gesundheitszustand seines Großvaters. Die Öffentlichkeit wusste noch nicht Bescheid. Es war geplant, dass der König höchstpersönlich auf seiner Gala Stellung in Bezug auf seine Krankheit nahm.

Amalie schenkte den frisch aufgebrühten Kaffee in die Tassen und gab in ihre eigene einen großzügigen Schluck Milch. Dann setzte sie sich zu Talos Kalliakis an den Tisch.

„Ich finde es ganz wunderbar, was Sie da tun“, begann sie geduldig. „Und jeder Musiker würde sich durch dieses einmalige Angebot höchst geehrt fühlen. Aber es tut mir leid, Monsieur, ich kann es leider nicht annehmen.“

„Warum nicht?“

„Das habe ich bereits erklärt. Ich habe schon etwas anderes vor.“

Seine Miene wurde starr. „Ich zahle einen hohen Preis. Zwanzigtausend Euro.“

„Nein.“

„Fünfzigtausend.“

„Nein.“

Talos wusste, wie sehr sein Blick und seine gesamte Erscheinung andere Menschen einschüchtern konnten. Er hatte diesen speziellen Gesichtsausdruck unzählige Male vor dem Spiegel einstudiert, und die einzigen Personen, die sich dagegen immun zeigten, waren seine Brüder und sein Großvater.

Wenn er seiner Großmutter gegenüber dieses Gesicht zog – wie sie es nannte –, hatte sie ihn immer am Ohr gezogen. Er vermisste sie an jedem einzelnen Tag seines Lebens.

Aber abgesehen von seiner Familie war er nie jemandem begegnet, der sich durch seinen bösen Blick nicht einschüchtern ließ. Bis heute.

Amalie zeigte sich gänzlich unbeeindruckt und schüttelte nur den Kopf, sodass ihr langes Haar – das dringend mit einer Bürste Bekanntschaft machen sollte – vor ihre Augen fiel. Ungeduldig schob sie es beiseite.

Talos seufzte übertrieben, um damit seine Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. Doch auch darauf reagierte die junge Frau nicht.

Entschlossen umklammerte Amalie ihren Kaffeebecher und wappnete sich gegen den stechenden Blick dieses Furcht einflößenden Prinzen.

Ihr Leben lang hatte sie sich gegen autoritäre Persönlichkeiten und ihre übertrieben großen Egos durchsetzen müssen. Sie hatte gelernt, wie wichtig es war, die eigenen Gefühle strikt unter Verschluss zu halten. In diesem Augenblick war Talos ihr Feind, und seinen Feinden gegenüber durfte man keine Schwäche zeigen. Denn das würde ihnen einen gefährlichen Vorteil verschaffen.

Aber noch nie war es ihr so schwergefallen, passiv und neutral zu bleiben. Dieser Mann hatte etwas an sich, auf das sie nicht gefasst gewesen war: Er beeinflusste ihren Verstand und ihre Sinne. In ihrem Bauch kribbelte es, wenn sie ihn ansah.

Talos zückte seinen Aktenkoffer und stellte ihn mitten auf den Küchentisch. Mit einem scharfen Klicken öffneten sich die Verschlüsse.

„Ich habe versucht, an Ihr Gewissen zu appellieren und auch an ihre Geldgier. Sie haben ausreichend Gelegenheit bekommen, den einfachen Weg zu gehen.“ Aus dem Fach im Kofferdeckel zog er einen Stapel Dokumente und hielt ihn ihr hin. „Dies sind die Papiere des Musiktheaters. Blättern Sie ruhig mal durch! Dann werden Sie feststellen, dass ich der neue Besitzer bin.“

Sprachlos schüttelte sie den Kopf.

„Möchten Sie die Beweise nicht sehen?“, hakte er nach.

„Wie ist das möglich?“, flüsterte sie und überlegte erschrocken, welche Folgen das für sie selbst und ihr Orchester haben würde.

„Ich habe am Samstagabend mein Angebot abgegeben, und vor gut einer Stunde wurde der Kauf abgewickelt.“

„Aber … wir befinden uns hier in Frankreich. Da dauern solche Dinge bekanntlich ihre Zeit.“

„Geld regiert eben die Welt“, kommentierte er trocken und verstaute die Unterlagen wieder in seinem Koffer. „Ich bin ein Prinz, und ich verfüge nicht nur über harte Währung, sondern auch über jede Menge Einfluss. Das sollten Sie stets in Erinnerung behalten!“

Gelassen nahm er einen Schluck von seinem Kaffee, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Sie umklammerte ihren Becher noch fester, damit er ihr nicht aus den zitternden Händen rutschte.

„Jetzt gehört mir das Theater, und ich frage mich, was ich mit dem Gebäude und mit dem Orchester anstellen soll.“ Er stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter und schob den Becher dann mit Schwung über die Tischplatte. „Nehmen Sie dieses Solo an, despinis, und ich werde investieren, bis die Gäste wieder in Scharen kommen und Ihr Orchester zur kulturellen Attraktion von Paris wird. Lehnen Sie den Auftrag ab, werde ich das Theater schließen und zum Hotel umbauen lassen.“

Das Gedankenkarussell in Amalies Kopf kam ruckartig zum Stillstand. Die offene Drohung stand klar und unüberhörbar im Raum, fast als könnte man sie mit beiden Händen greifen.

„Sie wollen mich erpressen“, stellte sie zögernd fest. „Sie versuchen tatsächlich, mich eiskalt zu erpressen.“

Achselzuckend schob er seinen Stuhl zurück. „Nennen Sie es, wie Sie möchten.“

„Ich nenne es Erpressung, und das ist illegal.“

„Dann zeigen Sie mich doch an.“ Sein Grinsen war teuflisch. „Doch bevor Sie die Polizei rufen, sollten Sie wissen, dass ich diplomatische Immunität genieße.“

„Das ist wirklich niederträchtig!“

„Ich kann noch viel niederträchtiger werden, wenn ich will. Hören Sie, Kleines, es steht sogar in meiner Macht, Ihre professionelle Karriere als Violinistin für immer zu beenden. Ich kann Ihren Ruf ruinieren, ebenso wie den all Ihrer Kollegen. Danach würde Ihnen kein Orchester dieser Erde mehr einen Vertrag anbieten.“

Das Kribbeln in ihrer Magengegend verwandelte sich in einen ziehenden Schmerz. „Verlassen Sie sofort mein Haus!“, verlangte Amalie.

„Keine Sorge, Kleines, ich wollte sowieso gerade gehen.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „In sechs Stunden bin ich zurück und erwarte Ihre Entscheidung.“

Ihre Entscheidung?

Er drohte damit, ihre Karriere zu zerstören – und auch die ihrer Freunde und Kollegen –, und erwartete jetzt noch eine überlegte Antwort von ihr?

Ihre Wut erreichte ein neues Rekordmaß! Im Nu war sie auf den Beinen und stürmte auf ihn zu. Ohne zu überlegen, packte sie seinen Arm.

„Ich sagte, verlassen Sie sofort mein Haus!“, rief sie und wollte ihn vom Stuhl ziehen. Doch er rührte sich nicht. „Mir ist egal, ob Sie ein Prinz oder sonst irgendein Diplomat sind. Raus hier!“

Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er nach ihren Händen und hielt sie fest in einer Faust zusammen.

„Da schlummert also doch ein Feuer unter dieser blassen Haut“, murmelte er. „Ich habe mich schon gefragt, ob du Temperament hast.“

„Loslassen!“, verlangte sie panisch und schrie erschrocken auf, als er sie wie bei einer Tanzeinlage um die eigene Achse drehte, bis sie rückwärts auf seinem Schoß landete. Dort hielt er sie mit eisernem Griff fest.

Wie wild trat sie um sich und erwischte barfuß sein Schienbein. Das war schmerzhaft – für sie. Er reagierte überhaupt nicht auf ihre Befreiungsversuche, außer seinen freien Arm um sie zu legen und sie noch enger an sich zu ziehen.

„Dieses Gezappel tut dir mehr weh als mir“, bemerkte er ruhig und betrachtete ihre schmalen Hände. „Diese eleganten Finger … Jetzt sei bitte brav, und benimm dich!“

„Red nicht mit mir, als wäre ich ein Kleinkind!“, brauste sie auf.

„Sonst was? Wirst du mich wieder treten?“ Amüsiert schnalzte er mit der Zunge. „Wo wir schon mal beim Du angekommen sind …“

„Du machst mir Angst“, unterbrach sie ihn und meinte das zumindest teilweise sehr ernst. Vor allem ängstigte sie das Gefühl, das seine aufregende Nähe in ihr auslöste.

„Ich weiß, und dafür entschuldige ich mich in aller Form. Ich lasse dich los, wenn du mir versprichst, deine Emotionen unter Kontrolle zu halten und nicht noch einmal auf mich loszugehen.“

Seltsamerweise beruhigte sie seine tiefe, etwas heisere Stimme ein wenig, und sie hörte auf, sich gegen ihn zu wehren. Sie presste die Lippen zusammen und atmete durch, nur leider inhalierte sie dabei seinen aufregend maskulinen Duft.

Ihr lief buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Alle ihre Sinne waren geschärft, und sie hörte ihren eigenen Herzschlag laut in ihren Ohren pochen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schob Talos sie von seinem Schoß, und Amalie floh gehetzt bis zur entgegengesetzten Ecke der Küche. Endlich bekam sie wieder Luft, ohne diesen sexy Prinzen dabei buchstäblich in sich aufzunehmen …

„Sechs Stunden, despinis“, erinnerte er sie und warf sich seinen Mantel über. „Und sei dir sicher, ich mache meine Drohung wahr, und zwar umgehend!“

Amalies Handy vibrierte.

Hastig griff sie danach. „Maman?“

„Chérie, mir sind da ein paar Dinge zu Ohren gekommen.“

Das war typisch für ihre Mutter. Sie kam immer direkt auf den Punkt.

„Ich konnte Pierre nicht erreichen, habe aber mit seiner reizenden Assistentin gesprochen. Angeblich ist er heute Morgen später ins Büro gekommen, hat jedem Angestellten fünfhundert Euro ausgehändigt und verkündet, er würde die nächsten drei Monate freinehmen. Zuletzt wurde er gesehen, als er sich zum Flughafen fahren ließ.“

„Dann hat er es also tatsächlich verkauft“, schloss Amalie leise.

Erst vor zwei Wochen hatte Pierre Gaskin – der offenbar inzwischen ehemalige Besitzer des Musiktheaters – nicht einmal die Gasrechnung zahlen können, um das Gebäude zu beheizen.

„Sieht ganz danach aus, chérie. Und jetzt raus damit!“, fuhr Colette fort. „Wieso hat Prinz Talos das Theater übernommen? Mir war gar nicht bekannt, dass er sich für die Welt der Künste interessiert.“

„Keine Ahnung“, antwortete Amalie nicht ganz wahrheitsgemäß und massierte mit den Fingerspitzen ihre Augenbrauen, um die aufsteigenden Kopfschmerzen zu unterdrücken.

Sie hatte ihrer Mutter verschwiegen, was am Wochenende genau geschehen war, und sie nur darum gebeten, sich wegen des Verkaufs mal umzuhören. Die Antwort war ernüchternd. Talos hatte nicht geblufft …

„Ich kannte seinen Vater, Prinz Lelantos“, plauderte die Französin weiter und klang dabei richtig verträumt. „Ich habe einst für ihn gesungen. Ach, er war ein großartiger Mann!“, schwärmte sie.

„Maman, ich muss jetzt los“, erwiderte Amalie gereizt.

„Natürlich, chérie. Falls dir Prinz Talos wieder über den Weg läuft, grüß ihn bitte von mir.“

„Das mache ich.“

Amalie legte das Handy zurück auf den Tisch und bedeckte dann ihr Gesicht mit beiden Händen.

Was sollte sie tun? Sie musste Talos Kalliakis reinen Wein einschenken …

3. KAPITEL

Als Talos sechs Stunden später erneut an ihrer Haustür klingelte, wusste er gleich, dass Amalie auf ihn gewartet haben musste. Sie riss die Tür auf, noch ehe er seine Hand von der Klingel zurückgezogen hatte.

Sie blickte ihn an, so als ob nie etwas zwischen ihnen geschehen war. Offenbar hatte er sie nicht aus der Fassung gebracht.

Ohne ein Wort der Begrüßung folgte er ihr in die Küche.

Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Gebäck und zwei Tellern. Eine Kanne Kaffee war gerade frisch durch die Maschine gelaufen. Amalie trug eine schwarze Jeans, die ihre schlanke Figur perfekt zur Geltung brachte, kombiniert mit einem silbernen hochgeschlossenen Top. Ihr glattes dunkles Haar war im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Sie trug kein Make-up, und die Sommersprossen auf ihrer Nase wurden durch das helle Sonnenlicht betont.

Es war ihm sofort klar, dass sie ihre Meinung endlich geändert hatte. Aber warum in aller Welt erst jetzt? Sie war eine professionelle Musikerin. Wieso hatte er sie erst erpressen müssen?

Die Zeit wurde allmählich knapp, um die Gala für seinen Großvater zu organisieren. Die Chemotherapie hatte ihn stark geschwächt. Es gab Tage, an denen er nur im Bett lag und kaum die Kraft aufbrachte, in einen Eimer zu würgen. Doch an anderen Tagen fand Talos ihn in guter Stimmung – richtig glücklich – draußen im weitläufigen Schlosspark sitzen und Agons Sonnenschein genießen.

Talos dachte daran, dass er eigentlich geplant hatte, nach den Castings am Samstag zurückzufliegen und den Rest des Wochenendes mit seinem Großvater zu verbringen. Stattdessen war er dazu gezwungen worden, den überstürzten Kauf von diesem schrecklichen Pariser Theater voranzutreiben. Und wofür? Nur weil die einzige professionelle Geigerin, die der Komposition seiner Großmutter gerecht werden konnte, mit harten Bandagen spielen wollte.

Niemand sprang so mit Talos Kalliakis um. Niemand. Unglaublich, dass dieses schmale Persönchen es mit ihm aufnehmen wollte.

Aber sie hatte ihren Fehler ja eingesehen. Das war alles, was jetzt zählte.

Er erlaubte sich ein siegessicheres Lächeln und setzte sich auf den Stuhl, den er erst wenige Stunden zuvor geräumt hatte.

Eine Niederlage war ihm nie in den Sinn gekommen. Es war bedauerlich, dass er zu solchen Mitteln hatte greifen müssen, um seinen Willen zu bekommen, aber die Zeit lief ihm nun einmal davon. Das Jubiläum fand schon in einem Monat statt. Gerade noch genügend Zeit für diese junge Dame, um das Stück angemessen einzustudieren. Außerdem musste das Orchester die Begleitmusik lernen. Er wollte, dass alle perfekt vorbereitet waren, ehe sie im Palast die Bühne betraten.

Versehentlich streifte Amalie seinen Arm, als sie einen Becher Kaffee vor ihm abstellte. Sein Blick fiel auf ihre schlanken Finger, wie schon vorhin, als er sie in seiner Hand gehalten hatte. Es waren die Nägel am Ende dieser langen eleganten Finger, die ihm sofort aufgefallen waren. An der linken Hand waren sie kurz und stumpf. Die Nägel ihrer rechten Hand waren viel länger und wohlgeformt.

Den ganzen Tag hatte er darüber nachgedacht, wie er es genossen hatte, sie auf seinem Schoß sitzen zu haben. Seine heftige Reaktion auf ihre Nähe hatte ihn verwirrt. Ihm waren Bilder durch den Kopf gegangen, die man nicht mehr als jugendfrei bezeichnen konnte!

Talos war ein Mann, der die Gesellschaft von schönen Frauen liebte. Und schöne Frauen mochten ihn. Sobald sie erfuhren, wer er war, wurde er von ihnen regelrecht verfolgt und gejagt.

Noch nie war ihm eine Frau begegnet, die ihn offensichtlich nicht ausstehen konnte – bis jetzt. Und noch kein Mensch außerhalb seiner eigenen Familie hatte ihm jemals Widerworte entgegengebracht oder ihm einen Wunsch abgeschlagen.

Amalie Cartwright war auf ihre ganz eigene Weise eine attraktive Erscheinung. Und die trotzige Haltung, die sie ihm gegenüber einnahm, ärgerte und faszinierte ihn gleichermaßen.

Was, fragte er sich, würde wohl geschehen, wenn er das Feuer vollends entfachte, das heute Morgen schon zwischen ihnen gezündelt hatte? Was brauchte es, um Feuer und Wut in Leidenschaft zu verwandeln?

Er hatte auch eine Reaktion in ihr gespürt: Ihr ganzer Körper war kurz erstarrt, und sie hatte den Atem angehalten. Ihm war es ganz ähnlich gegangen, etwas Derartiges hatte er noch nie erlebt.

Und nun beschlich ihn wieder das gleiche Gefühl wie an diesem Morgen. Das änderte natürlich die Lage … und plötzlich barg der kommende Monat unendlich viele Möglichkeiten!

„Monsieur“, begann sie und richtete ihre grünen Augen auf ihn. „Sie sagten vorhin, Sie hätten an mein Gewissen appelliert.“

„Was du außer Acht gelassen hast“, warf er ein. „Außerdem dachte ich, wir wären schon beim Du. Und dabei würde ich gern bleiben.“

Sie senkte den Kopf und nickte. „Na schön. Ich habe meine Gründe, dieses großzügige Angebot abzulehnen. Und ich werde sie mit … dir teilen in der Hoffnung, damit an dein Gewissen zu appellieren.“

Er betrachtete sie aufmerksam, aber schwieg und wartete darauf, dass sie ihre Meinung begründete. Es konnte doch wohl kaum ihr Ernst sein, dieses einmalige Solo sausen zu lassen?

„Es tut mir leid, dich belogen zu haben. Denn ich habe gar kein anderes Engagement an dem Galaabend.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie weitersprach. „Ich habe nur schreckliches Lampenfieber.“

Diese Vorstellung war absurd. Fast hätte er laut gelacht.

„Du?“, fragte er fassungslos. „Die Tochter von Colette Barthez und Julian Cartwright leidet an Lampenfieber?“

„Du weißt, wer ich bin?“

„Selbstverständlich weiß ich, wer du bist.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gehört zu meinem Geschäft, über alles Bescheid zu wissen.“

Er sah es in ihren Augen aufblitzen. Ein erstes Zeichen dafür, dass es hinter ihrer ruhigen Fassade brodelte.

„Deine französische Mutter ist der größte Mezzosopran auf diesem Erdball. Aber ich gebe zu, von deinem Vater hatte ich bisher nichts gehört, aber heute erfuhr ich, dass er ein bekannter englischer Violinist ist. Außerdem hat man mir zugetragen, er hätte zu Beginn seiner Karriere einmal mit meiner Großmutter in der Carnegie Hall gespielt.“

Dann beugte er sich vor und stützte sein Kinn auf eine Hand.

„Du selbst hast bis zu deinem zwölften Lebensjahr als Wunderkind gegolten. Bis deine Eltern dich aus dem Rampenlicht holten, damit du dich auf deine Ausbildung konzentrieren konntest. Mit zwanzig warst du schon eine professionelle Musikerin und bist beim Pariser Nationalorchester als zweite Violine eingestiegen, das war vor gut fünf Jahren.“

Sie zuckte die Schultern, und ihre Miene blieb starr. „Was du da gerade beschreibst, kann jeder innerhalb weniger Minuten im Internet nachlesen. Allerdings haben meine Eltern mich nicht wegen meiner Ausbildung von der Bühne geholt. Das erzählt meine Mutter bloß der Presse, weil sie die Schande nicht erträgt, dass ihre Tochter nicht dazu in der Lage ist, öffentlich allein aufzutreten.“

„Aber mit deinem Orchester stehst du doch mindestens einmal in der Woche auf der Bühne?“

„Ich spiele die zweite Violine. Wir musizieren im Durchschnitt mit achtzig Personen, und die Augen des Publikums ruhen dabei nicht auf mir allein. Das ist etwas ganz anderes. Auf der Gala zu Ehren deines Großvaters würde jeder Gast nur mich anstarren, und das verwandelt mich in einen Eisklotz. Es würde mich erniedrigen, meine Mutter … und am Ende auch deinen Großvater. Willst du das etwa? Dass die ganze Welt Zeuge wird, wie deine Hauptattraktion versagt und keine Note mehr spielen kann?“

Allein ihr Vater würde sich nicht für sie schämen. Sie hatte es zwar aussehen lassen, als wäre es die Entscheidung beider Eltern gewesen, aber in Wahrheit hatte ihr Vater sie gegen den Willen ihrer Mutter aus dem Rampenlicht geholt. Er war derjenige, der ihr versichert hatte, es wäre völlig in Ordnung, nur aus Liebe zur Musik zu spielen. Selbst wenn es nur im eigenen Schlafzimmer war.

Talos kniff irritiert die Augen zusammen. „Woher soll ich wissen, dass du mich jetzt nicht belügst?“

„Ich sage die Wahrheit. Du musst dir eine andere Violinistin suchen.“

„Das glaube ich kaum. Ein schwaches Nervenkostüm kann man leicht überwinden. Eine andere Künstlerin zu finden, die der Komposition meiner Großmutter gerecht wird, stelle ich mir wesentlich schwieriger vor.“

Einmal abgesehen davon, dass ihm die Zeit wirklich davonlief. Er könnte für den Rest seines Lebens auf die Suche gehen, ohne jemandem zu begegnen, der ihn mit seinem Spiel derart bezauberte, wie Amalie es schon in den ersten Minuten getan hatte.

Und Talos war noch nie in seinem Leben auf das Zweitbeste angewiesen gewesen. Damit würde er gar nicht erst anfangen.

„Was weißt du eigentlich über meine Insel?“, wechselte er geschickt das Thema, vielleicht würde ihr das helfen, sich zu entspannen.

„Nicht viel. Sie befindet sich in der Nähe von Kreta, richtig?“

„Kreta ist unser nächster Nachbar. Über die Jahrhunderte ist Agon von den Römern, den Ottomanen und den Venezianern angegriffen worden – um nur einige zu nennen. Wir haben sie allesamt in die Flucht geschlagen. Nur den Venezianern ist es gelungen, uns für einige Zeit zu besetzen. Meine Leute haben sie unter der Herrschaft von dem Krieger Ares Patakis, dessen Nachfahre ich bin, von unserem Land vertrieben. Seitdem hat es keine andere Nation mehr geschafft, an unserer Küste anzulanden. Wir sind sehr stolz auf unsere Geschichte, weil wir stets für unseren Freiheitsgedanken kämpfen.“

Bevor er weitersprach, trank er einen Schluck Kaffee, der ausgesprochen köstlich schmeckte. Das musste er ihr lassen.

„Du wunderst dich wahrscheinlich, weshalb ich dir das alles erzähle“, schloss er.

„Kann man sagen“, murmelte sie unschlüssig.

„Es soll dir einen Eindruck verschaffen, von was für Menschen wir abstammen. Wir sind Kämpfernaturen. Es gibt nichts, wovor wir einknicken. Lampenfieber? Schwache Nerven? Das sind Probleme, die man bekämpfen und überwinden kann. Und mit meiner Hilfe, schaffst du das auch.“

Amalie konnte sich Talos Kalliakis gut als Krieger vorstellen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und mit einem Speer in der Hand. Er würde sicherlich bei jeder Schlacht direkt an der Front stehen. Nur leider kämpfte er im Augenblick gegen sie.

Doch in ihrem eigenen Leben gab es kein Drama und keine große Geschichte. Und sie wollte einfach nicht zulassen, dass die Schwierigkeiten ihrer Kindheit sie bis ins Erwachsenenalter verfolgten.

„Ich habe mit eurem Konzertleiter vereinbart, dass du in zwei Tagen nach Agon kommst und dort bis zur Gala bleibst. Dein Orchester fängt gleichzeitig mit den Proben für die Hintergrundmusik an und wird eine Woche vor der Veranstaltung eingeflogen, damit ihr die letzten Proben gemeinsam absolvieren könnt.“

Ihre guten Vorsätze, Haltung zu bewahren, waren schlagartig vergessen. „Entschuldige, aber was hast du getan?“

„Ich gebe dir einen Monat, um dich in Agon zu akklimatisieren.“

„Ich brauche mich nicht zu akklimatisieren! Schließlich ist Agon kein Wüstenstaat!“

„Es wird dir einen Monat Zeit geben, um dich perfekt auf dein Solo vorzubereiten“, fuhr er fort und ignorierte ihre Unterbrechung. In seinen braunen Augen stand allerdings eine deutliche Warnung. „Ohne Ablenkung.“

„Aber …“

„Dein Lampenfieber wird überwunden werden“, stellte er unmissverständlich klar. „Dafür werde ich persönlich sorgen.“

Die darauffolgende Pause zog sich in die Länge, und Amalie hatte alle Mühe, ihr Temperament im Zaum zu halten. Was fiel ihm ein, einfach über sie zu bestimmen, als ob sie kein Mitspracherecht hätte? Wie konnte er es wagen, ihr ruhiges und zufriedenes Leben durcheinanderzuwirbeln?

„Despinis?“

Sie sah hoch und traf seinen fragenden Blick.

„Machst du das Solo?“, wollte er wissen. „Oder muss ich etwa hundert Musiker wieder zurückpfeifen? Muss ich einhundert Musikerkarrieren zerstören, inklusive deiner? Und zweifle nicht daran, ich würde es tun! Ich würde euch alle vernichten.“

Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um der aufkommenden Panik in ihrem Inneren keinen Raum zu geben.

Und sie glaubte ihm. Das war keine leere Drohung. Er konnte ihre Karriere zerstören. Wie genau, das wusste sie nicht, aber sie traute es ihm zu.

Insgeheim fragte sie sich, wieso er zu niederen Mitteln griff, um seinen Willen durchzusetzen. Ihr war völlig schleierhaft, warum er diese Hartnäckigkeit an den Tag legte. Doch wenn sie nicht einlenkte, würde er alles vernichten, was sie sich bisher aufgebaut hatte.

Aber wie sollte sie den Auftritt meistern? Ihr letztes Solo hatte sie vor den Kunstfreunden ihrer Eltern vorgetragen, alles Musiker, Schauspieler, Autoren oder Sänger. Und sie hatte sich selbst und auch ihre Mutter vor aller Augen zutiefst gedemütigt.

Wie könnte sie sich heute auf eine Bühne stellen, sich angaffen lassen und dabei nicht von denselben Ängsten innerlich zerfressen werden, die sie schon in der Vergangenheit geplagt hatten?

Das eine Mal, als sie es versucht hatte, war eine Katastrophe gewesen und hatte sie zusätzlich traumatisiert. Noch heute erinnerte sie sich daran, wie fuchsteufelswild ihr Vater geworden war, weil ihre Mutter sie zu dem Auftritt gezwungen hatte.

Nur wenige Wochen später hatten die beiden sich voneinander getrennt, und Amalies Vater war das Sorgerecht für seine einzige Tochter zugesprochen worden.

Sie konnte sich im Grunde glücklich schätzen, da sie nie in ihrem Leben wirklich in finanzielle Schwierigkeiten kommen konnte. Im Notfall würde immer ein Elternteil für sie einspringen … auf diesen Luxus konnten die meisten ihrer Kollegen leider nicht zurückgreifen.

Amalie dachte an die reizende Juliette, die gerade mit ihrem dritten Kind im siebten Monat schwanger war. An Louis, der sich vergangene Woche einen Lebenstraum erfüllt und eine kostspielige Australienreise für seine gesamte Familie gebucht hatte. An den grimmigen Giles, der sich jeden Monat über die Kreditraten beklagte, die von seinem Konto abgebucht wurden.

An all die Musiker und die anderen Beteiligten hinter den Kulissen …

Bis jetzt wussten sie nicht, dass ihre Jobs, ihre Sicherheit und ihre Existenz am seidenen Faden hingen.

Hasserfüllt starrte Amalie Talos an, der ihren Blick sofort zu deuten wusste.

„Oh, ja, ich würde es tun“, bestätigte er noch einmal. „Und mit den Konsequenzen wirst du dann leben müssen.“

Amalie sah aus dem Fenster auf Agon hinunter, während das Flugzeug über goldenen Sandstränden und dichten Palmen kreiste. In der Ferne entdeckte sie die hohen weißen Häuser der Hauptstadt, dahinter eine Bergkette.

Nach der Landung klemmte sie sich ihren Violinenkoffer unter den Arm und folgte den übrigen Business-Class-Fliegern die Gangway hinunter auf das Flugfeld. Nach den kühlen Märztemperaturen in Paris war ihr die mediterrane Wärme sehr willkommen.

Agon wurde von vielen Menschen als Ferieninsel bevorzugt, weil man hier sowohl einen herrlichen Familienurlaub als auch eine historische Bildungsreise verbringen konnte.

In Amalies Vorstellung glich das kleine Reich allerdings einem düsteren Gefängnis!

Vor dem Terminal wartete ein Chauffeur mit ihrem Namen auf einem Schild. Er lud ihr Gepäck in den Kofferraum einer schwarzen Limousine und brachte Amalie anschließend zum Palast.

Was für eine einzigartige Insel! musste sie während der Fahrt zugeben. Schließlich konnte Agon nichts dafür, dass der jüngste seiner Prinzen ein mieser Erpresser war!

Das griechische Erbe war überall deutlich zu erkennen – angefangen bei der Architektur bis hin zur Landessprache. Doch Agon war inzwischen ein unabhängiger Staat.

Am meisten fiel Amalie auf, wie penibel sauber es hier war. Makellose Straßen und Bürgersteige, herrlich gepflegte Gebäude und glänzende Fassaden. Als sie einen Jachthafen passierten, reckte sie den Hals, um die leuchtend weißen Schiffe zu beobachten. Einige von ihnen waren fast so groß wie Kreuzfahrtschiffe.

Nach einer Weile ließen sie die Hauptstadt hinter sich und fuhren weiter hinauf in die Berge. Und als der Palast in Sicht kam, vergaß Amalie im ersten Moment des Staunens zu atmen.

Er stand stolz und gigantisch groß auf einem Hügel und wirkte wie ein heiliges griechisches Monument mit einer Spur orientalischen Flairs. Etwas wie dieses Anwesen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Allein das Pförtnerhaus, vor dem sie kurz hielten, bis das eiserne Tor für einen Lieferanten wie von Zauberhand geöffnet und wieder geschlossen wurde, war so groß wie ein ganzes Hotel.

Doch der Zwischenstopp beim Palast war nur eine Stippvisite gewesen.

Bis zu dem Landsitz, den Talos sein Eigen nannte, war es noch ein ganzes Stück. Als sie das Gebäude – eine wunderschöne Villa – endlich erreichten, fuhr der Fahrer daran vorbei auf ein hübsches weißes Cottage zu, das sich inmitten der gigantischen Gartenanlage befand.

Dort stand ein älterer Herr vor der Tür, dem der laue Wind das graue Haar in die Stirn wehte. Er trat vor, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

„Guten Abend, despinis“, sagte er mit warmer Stimme. „Ich bin Kostas.“

Dann erklärte er, er würde das Haupthaus für Seine Hoheit Prinz Talos in Ordnung halten. Das Cottage sollte Amalies Heim für den kommenden Monat werden.

Die kleine Küche war perfekt ausgestattet, der Kühlschrank gefüllt, und ihr wurde sogar eine tägliche Lieferung von frischem Obst, Gemüse und Brot zugesichert. Falls sie im Haupthaus essen wollte, brauchte sie nur kurz zum Telefon zu greifen und Bescheid zu sagen. Sie könne sich ihre Mahlzeiten aber auch im Cottage servieren lassen, erklärte Kostas freundlich.

„Außerdem gibt es in der Villa einen Fitnessraum, einen Swimmingpool und diverse Wellnessgeräte – wie zum Beispiel einen Massagesessel oder ein Solarium –, die Sie gern jederzeit benutzen können“, beendete Kostas die kleine Führung, ehe er sich verabschiedete. „Es stehen Ihnen auch mehrere Fahrzeuge zur Verfügung, ebenso wie der Chauffeurdienst.“

Demnach hatte Talos nicht vor, sie auf diesem Grundstück wie eine Gefangene zu halten. Ein beruhigender Gedanke. Sie hatte schon befürchtet, er würde sie persönlich vom Flughafen abholen und in einen düsteren Kerker werfen, bis sie das Stück seiner Großmutter perfekt beherrschte!

Bestimmt wollte er einen Therapeuten engagieren, um sie auf professionelle Art und Weise von ihrem Trauma zu befreien. Würde ihr das nicht so viel Angst machen, hätte sie wohl laut über diesen Plan gelacht. Denn eine kurzfristige Therapie war völlig sinnlos.

Schon in vier Wochen sollte sie bei der Gala zum Kronjubiläum des Königs von Agon auf der Bühne stehen. In diesen dreißig Tagen musste sie eine neue Komposition einstudieren, später das Ganze mit ihrem Orchester zusammen proben und dabei irgendwie das Lampenfieber überwinden, das sie schon über die Hälfte ihres Lebens buchstäblich lähmte.

4. KAPITEL

Der Morgen brach an, frisch und strahlend schön. Nach einer kurzen Dusche zog Amalie sich eine schwarze Jeans und einen hellblauen Pullover über, machte sich ein Frühstückstablett zurecht und ging damit auf die Veranda.

Während sie ihren Kaffee trank, lehnte sie sich in ihrem Schaukelstuhl nach hinten und ließ sich die Morgensonne aufs Gesicht scheinen. Nach den hektischen letzten Tagen im kalten Paris genoss sie es in vollen Zügen, ihren Gedanken einfach freien Lauf zu lassen.

Fast hätte sie vergessen, weshalb sie eigentlich hier war. Doch ihr innerer Frieden war nur von kurzer Dauer.

Nach dem Frühstück gönnte sie sich noch einen weitere Kaffeespezialität aus der modernen Kapselmaschine, die man ihr zusammen mit einer großen Auswahl an Sorten bereitgestellt hatte. Dieses Mal entschied sie sich für einen Creme-Mokka.

Als sie auf die Veranda zurückkehrte, saß Talos dort im Schaukelstuhl und probierte gerade etwas von dem Melonensalat, den sie auf dem Tisch hatte stehen lassen.

„Guten Morgen, Kleines“, begrüßte er sie lächelnd.

Heute trug er lässige Kleidung: eine kakifarbene Militärhose, schwarze Arbeitsstiefel und ein langärmeliges graues Shirt. Er hatte einen verwegenen Dreitagebart, und sein Haar sah aus, als hätte er es nicht mit einer Bürste, sondern allein mit bloßen Händen gekämmt.

Außerdem duftete er nach Seife und herbem Rasierwasser … Die Attraktivität dieses Mannes war fast unverschämt, genau wie sein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Beides zusammen war eine gefährliche Mischung, der Amalie wenig entgegenzusetzen hatte. Ihr fehlte einfach die Erfahrung mit dem anderen Geschlecht und ganz besonders mit Männern seines Schlages!

„Ist der für mich?“, fragte er und zeigte auf den Mokka in ihrer Hand.

Achselzuckend setzte sie sich auf einen Stuhl und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sein plötzliches Auftauchen aus der Fassung brachte. „Wenn du unbedingt meine Bakterien abbekommen willst.“

„Bestimmt hat eine schöne Frau gar keine hässlichen Bakterien“, meinte er belustigt.

Der tiefe Bass seiner Stimme ging ihr unter die Haut, und sie floh schnell nach drinnen, um sich einen neuen Kaffee zu holen. Es dauerte mehrere Minuten, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte.

Talos hatte sie mit seinem Spontanbesuch ziemlich erschreckt. Gestern Abend hatte seine Sekretärin ihr zwar per E-Mail angekündigt, man würde ihr heute die Noten liefern, aber vom Prinzen selbst war keine Rede gewesen. Wer hätte gedacht, dass er die Unterlagen höchstpersönlich überbrachte?

Als sie auf die Veranda zurückkehrte, sah sie ihn mit einem angewiderten Ausdruck in den Augen auf seinen Becher starren.

„Was ist das?“, wollte er wissen.

„Mokka.“

„Ist ja widerlich!“

„Dann trink ihn nicht!“

„Werd ich auch nicht.“ Er schob den Becher von sich und zeigte dann auf ihre Tasse. „Und was ist das da?“

„Auch Mokka. Um den zu ersetzen, den du mir weggenommen hast“, erwiderte sie trocken. „Wenn du etwas anderes trinken möchtest, bediene dich ruhig. In der Küche steht die Maschine mit einer großen Auswahl an Kaffeesorten.“

Schließlich stand in ihrem Vertrag nichts davon, dass sie ihn bedienen müsste.

Seufzend griff er nach einem Apfel aus der Obstschale, die vor ihm stand, und holte mit der anderen Hand einen kleinen schmalen Gegenstand aus der Tasche. Mit dem Daumen drückte er auf einen Knopf an der Seite, und sofort sprang eine glänzende Klinge nach vorn.

Das metallische Geräusch ließ Amalie erschrocken zusammenzucken.

Das blieb nicht unbemerkt. „Hast du etwa Angst vor meinem Messer?“, fragte er.

„Überhaupt nicht. Hast du das kleine Ding zu Pfadfinderzeiten bekommen?“

Ihr abfälliger Tonfall reizte ihn mehr, als er zugeben mochte. „Das kleine Ding?“ Mit einer blitzartigen Handbewegung schleuderte er das Messer auf den Stamm eines Kirchbaums, der fast zwanzig Meter weit weg stand. Dort blieb es mit der Spitze voran stecken.

„Dieses kleine Ding war ein Geschenk meines Großvaters zum Schulabschluss in Sandhurst“, erklärte er selbstzufrieden.

„Ich bin beeindruckt“, kommentierte sie tonlos. „Aber ich dachte, dort werden nur Gentlemen ausgebildet?“

Talos traute seinen Ohren kaum. Beleidigte sie ihn etwa?

„Gibt es außer der Misshandlung von Bäumen noch einen anderen Grund, weshalb du mich aufgesucht hast?“, erkundigte sie sich spitz.

Er stand auf. „Ich habe die Komposition dabei.“ Dann ging er zum Kirschbaum und zog sein Messer aus dem Stamm. Für ihn war dieses kostbare Stück eine ehrenvolle Auszeichnung. Es ersetzte das Schweizer Taschenmesser, das jeder der jungen Prinzen zum zehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

Schweigend setzte er sich an den Tisch und begann damit, den Apfel zu zerschneiden. Und die ganze Zeit über spürte er diese aufmerksamen saphirblauen Augen auf sich ruhen.

Es gehörte zur Gewohnheit aller Kalliakis-Männer, stets ein Messer bei sich zu tragen. Allerdings wusste Talos selbst nicht, wieso er es gerade eben angeberisch auf einen Baumstamm gezielt hatte! Um Amalie zu ärgern oder um sie zu beeindrucken?

Noch nie hatte er sich in der Gegenwart eines Menschen befunden, der ihn ganz offensichtlich verachtete. Vor allem Frauen fühlten sich normalerweise stark zu ihm hingezogen – diese hier aber nicht.

Immer wieder versuchte er, an ihrer Mimik oder Körpersprache abzulesen, ob sie wirklich so kühl und gleichgültig war, wie sie sich gab.

Doch als er jetzt die Aktenmappe vor ihr auf den Tisch legte, bemerkte er, wie sich ihr Atem beschleunigte und ihre Wangen rot wurden.

„Ist dies das Lied?“ Mit bebenden Fingern schlug sie die Mappe auf.

„Warum so zögerlich?“

„Ich habe noch nie die Komposition einer royalen Persönlichkeit in den Händen gehalten.“

Neugierig legte er den Kopf schief. „Du zeigst Ehrfurcht vor der Musik, aber nicht vor mir, einem rechtmäßigen Prinzen dieses wunderbaren Landes?“, fragte er ungläubig.

„Respekt muss man sich verdienen“, erwiderte sie, ohne zu zögern. „Und du hast nichts getan, um meinen zu verdienen.“

Warum hatte sie keinerlei Angst vor ihm?

„Auf unserer Insel zollen alle der Königsfamilie den gebotenen Respekt. Das kommt automatisch.“

„Ach ja? Hast du keine Erpressungsversuche unternommen, um deine Leute gefügig zu machen?“

„Vor fünfhundert Jahren galt es als Hochverrat, sich einem Mitglied der königlichen Familie gegenüber unhöflich zu geben.“

„Ich schätze, die Menschen sind froh, dass solche Gesetze der Vergangenheit angehören.“

„Nun, wir leben hier in keiner Diktatur“, verteidigte er sich. „Die Kalliakis-Familie wird um ihrer selbst willen von der Öffentlichkeit geliebt. Und die Jubiläumsgala für meinen Großvater wird das imposanteste Volksfest seit Langem werden.“

Tatsächlich wurde sie noch ein bisschen röter im Gesicht. „Tut mir leid, ich wollte deine Familie nicht beleidigen.“

Mit einem Kopfnicken nahm er ihre Entschuldigung an.

„Nur dich.“

„Nur mich?“, fragte er.

Ihre tiefblauen Augen funkelten. „Ich wollte nur dich beleidigen.“

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Wäre der Palastkerker nicht längst zu einer Touristenattraktion geworden, würde ich dich dort einsperren lassen.“

„Und Kommentare wie diese wecken in mir den Wunsch, dich weiter zu beleidigen. Du hast mich erpresst, damit ich herkomme. Dafür hast du nicht nur meine Karriere, sondern auch die meiner Freunde bedroht. Ich musste einen Vertrag unterschreiben, in dem eine hohe Konventionalstrafe festgelegt wurde für den Fall, dass ich bei der Gala nicht auftrete. Keine Geldstrafe, oh nein! Du willst das gesamte Pariser Nationalorchester auflösen, und wie ich dich kennengelernt habe, würde dir das auch gelingen. Also, ja, mir ist jede Gelegenheit recht, dir meine Meinung zu sagen.“

Gelassen streckte er die Beine vor sich aus. „Ich frage mich, wieso eine Frau, die angeblich zu krankhaftem Lampenfieber neigt, keine Angst vor einem Mann wie mir hat?“

Es folgte eisernes Schweigen. Sie blieb ihm eine Erklärung schuldig.

„Ich schlage vor, du beginnst mit den ersten Proben“, sagte er und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. „Gegen sieben hole ich dich dann hier ab.“

„Wozu?“

„Zu deiner ersten Sitzung in Sachen Bühnenangstbewältigung.“

Verunsichert biss sie sich auf die Lippen. Andererseits hatte sie zugestimmt, sich bei ihrem Problem diskret helfen zu lassen. Das war immerhin besser, als offiziell zu einem Therapeuten gezerrt zu werden. Wenn die Presse mitbekam, dass die Tochter der berühmten Colette Barthez zum Seelenklempner ging, würde Amalie sterben vor Scham. Früher war es schwierig genug gewesen, diesen Umstand geheim zu halten …

„Zieh dir was Sportliches an!“, riet er ihr.

„Etwas Sportliches?“

„Ja, wir fahren ins Fitnessstudio. Keine Sorge, ich habe versprochen, dir zu helfen, und das werde ich auch höchstpersönlich tun.“

„Du willst das selbst in die Hand nehmen?“

„Hast du bisher schon mal professionelle Hilfe in Anspruch genommen?“

„Meine Mutter hat mich durch sämtliche infrage kommenden Praxen in Frankreich und England geschleift.“

„Und niemand konnte dir helfen“, schloss er. „Dabei hast du jede Menge Feuer im Blut. Du musst nur einen Weg finden, es zu deinem Vorteil zu nutzen. Ich bringe dir bei, gegen deine Nervosität anzukämpfen und sie zu überwinden.“

„Aber …“

„Um sieben Uhr. Sei rechtzeitig fertig!“

Entspannt schlenderte er davon, und Amalie spürte, wie ihr Temperament überschäumte. Dieser unverschämte Prinz pfuschte selbstherrlich in ihrem Leben herum, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen!

Ehe sie sich beherrschen konnte, hatte sie schon einen kleinen Apfel nach ihm geworfen, der ihn zu allem Unglück direkt am Hinterkopf traf.

Langsam drehte er sich zu ihr um. Selbst auf die weite Distanz konnte sie den finsteren Ausdruck in seinen Augen erkennen. Einen höchst gefährlichen Ausdruck.

Entsetzt über ihr eigenes Verhalten hielt Amalie den Atem an. Wenn sie ehrlich war, bekam sie jetzt doch ein bisschen Angst vor ihm. Und diese Angst wuchs mit jedem Schritt, den er jetzt wieder auf sie zukam.

Doch sie war fest entschlossen, keinen Millimeter zurückzuweichen. Also bewegte sie sich nicht, bis er direkt vor ihr stand. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken.

„Vorsicht, Kleines! Ein weniger kultivierter Mann als ich könnte das als Annäherungsversuch werten.“

Seine tiefe raue Stimme hatte einen amüsierten Klang, der ihr unmittelbar ans Herz ging. Es fing an zu rasen, und sie musste den Impuls unterdrücken, mit den Fingerspitzen die Narbe an seiner Augenbraue zu berühren. Oder seine dunklen Bartstoppeln … Was war denn plötzlich los mit ihr?

In diesem Moment beugte Talos sich noch ein Stückchen zu ihr hinunter. „Ich denke schon, dass du mich fürchtest“, raunte er ihr zu. „Nur auf andere Art als die meisten Menschen.“

Nach dieser rätselhaften Bemerkung nickte er ihr zu und ging davon.

Amalie stand wie betäubt da und atmete den maskulinen Duft ein, der sie umhüllte.

Das sportlichste Outfit, das Amalie in ihren Koffern fand, waren eine dunkelblaue Leggins und ein weißes langärmeliges T-Shirt.

Ratlos starrte Talos ihre lässigen Sneakers an.

„Hast du keine vernünftigen Turnschuhe?“

„Nein.“ Auf sein missmutiges Brummen hin fügte sie schnell eine Erklärung hinzu. „Ich bin kein Typ für körperliche Ertüchtigung.“

„Die nächsten dreißig Tage lang bist du es!“

„Das finde ich aber langweilig“, beschwerte sie sich.

„Nur weil du es nicht richtig machst.“

Außerdem konnte man es nicht gerade als langweilig bezeichnen, mit diesem aufregenden, durchtrainierten Mann zusammen auf engstem Raum zu schwitzen!

Er führte sie zu seinem Sportwagen, einem schwarzen Maserati, und sie hoffte, die Fahrt würde nicht allzu lang dauern. Denn im Auto neben ihm zu sitzen, war ihr doch etwas zu nah.

„Wie hat dir die Komposition gefallen?“, wollte er wissen.

„Sie ist wunderschön.“

Das beschrieb allerdings nicht einmal ansatzweise, wie sie das Stück fand. Fünf Stunden lang hatte sie sich durchgearbeitet, Takt für Takt. Und sie war noch sehr weit davon entfernt, alle Eigenheiten und Tiefen dieses Werkes zu begreifen. Aber die Grundmelodie hatte sie schon jetzt gefesselt.

Es würde hart werden, in nur einem Monat eine makellose Performance einzustudieren. Aber die Auflösung des Orchesters und der Umbau des alten Musiktheaters zu einem Hotel … das wollte Amalie nicht auf dem Gewissen haben. Ganz abgesehen von der Rufschädigung, die damit einhergehen würde!

„Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht“, begann Talos, nachdem er den Sportwagen vor einem cremefarbenen Gebäude zum Stehen gebracht hatte. „Ich werde dafür sorgen, dass du am Abend der Gala dazu in der Lage bist, das Lied meiner Großmutter auf der Bühne zu spielen. Also, folge mir!“

Damit half er ihr aus dem Wagen und holte anschließend eine schwarze Sporttasche aus dem Kofferraum.

Gehorsam betrat sie mit ihm das Studio, in dem offenbar hauptsächlich professionelle Boxer trainierten, wie Amalie schnell feststellte. Zwei der Männer mit unübersehbar mehrfach gebrochenen Nasen und bandagierten Händen kamen gleich auf sie beide zu und verwickelten Talos in eine angeregte Unterhaltung auf Griechisch. Sie endete damit, dass Talos den beiden anderen Männern freundschaftlich den Rücken klopfte und lachte.

Anschließend betraten sie eine größere Halle, in der Amalie zu allererst der Boxring auffiel. Überall lagen dicke blaue Matten herum, und von den Decken hingen verschieden große Säcke.

„Sag mal, ist das hier nur ein Box-Studio?“, wunderte sie sich. „Ich kann überhaupt nicht boxen.“

„Aber ich, und das schon seit meiner Kindheit. Und du kannst es lernen, sonst brichst du dir beim Schlagen noch die Finger.“

Sie hatte noch nie in ihrem Leben irgendjemanden oder irgendetwas geschlagen. Boxen war für sie immer die barbarischste aller Sportarten gewesen. Ziemlich vielsagend, dass Talos sich ausgerechnet dafür entschieden hat! Und ihre Begegnungen mit ihm lösten in ihr tatsächlich zum ersten Mal den Drang aus, jemandem eine zu verpassen!

Er zeigte auf eine blonde Frau, die in der hinteren Ecke auf einer blauen Matte stand. „Das ist Melina, eine der Trainerinnen. Ich habe dich für ihren Kickboxing-Kurs angemeldet.“

Amalie seufzte. „Wie soll mich das fit für die Bühne machen?“

Ohne Vorwarnung legte er seine Hände auf ihre Schultern und drehte sie mit Schwung um die eigene Achse, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Dann drückte er seine Daumen kräftig zwischen ihre Schulterblätter.

„Du bist total verspannt“, bemerkte er.

„Natürlich bin ich das. Schließlich bin ich nicht freiwillig hier.“

Vergeblich versuchte sie, unter seiner unwillkommenen Massage wegzutauchen, doch sein Griff war zu fest. Obwohl seine Bewegungen, mit denen er die Muskeln an ihrem Nacken lockerte, überraschend sanft und geschickt waren. Ihr wurde warm … warm und auch etwas schwindelig.

„Das Training wird dir dabei helfen, die Anspannung abzubauen und deine Endorphine freizusetzen.“ Ein tiefes Lachen drang aus seiner Kehle. „Und dafür musst du nichts weiter tun, als ein paar Schläge und Tritte in die Luft auszuteilen. Falls es dir hilft, stell dir einfach vor, ich würde direkt vor dir stehen.“

Auf dem Absatz drehte sie sich zu ihm um. „Das würde tatsächlich helfen.“

Das Lachen in seiner Stimme war augenblicklich verschwunden. „Du musst dringend ein Ventil für deine Aggressionen finden.“

„Ich bin doch überhaupt nicht aggressiv“, widersprach sie hastig. Zumindest war sie es früher nie gewesen. Talos brachte eine Seite an ihr zum Vorschein, die sie von sich nicht kannte. In ihr kochte das Feuer hoch, wann immer sie ihn sah, mit ihm sprach, an ihn dachte oder … auch nur von ihm träumte.

Vielleicht half ihr dieses Training am Ende wirklich.

„Aber diese Spannung in dir muss doch eine Ursache haben“, wunderte er sich.

„Sicherlich hat es etwas mit dir zu tun“, murmelte sie und seufzte noch mal. „Und was ist mit meiner Kondition? Ich habe seit Jahren keinen Sport mehr gemacht.“

Schweigend ließ er seinen Blick über ihren Körper gleiten, doch er machte keine negative Bemerkung, im Gegenteil. In seinen Augen blitzte etwas wie Bewunderung auf – oder sogar mehr als das.

„Ich werde dir Melina vorstellen“, sagte er leise und wandte sich ab.

Melina strahlte, als sie Talos auf sich zukommen sah. Aber als sie dicht hinter ihm Amalie entdeckte, trübte sich ihr Blick etwas.

Das kann ja was werden! dachte Amalie und streckte die Schultern durch.

Während Talos sich an den Fitnessgeräten aufwärmte, ehe er zum Sparring gehen wollte, merkte er, dass ihm der Sport nicht so gut tat wie sonst. Er bekam den Kopf einfach nicht frei, was vermutlich auch daran lag, dass er durch eine große Glasscheibe in den Raum blicken konnte, in dem das Kickboxing-Training stattfand.

Amalie hatte sich ganz hinten in der Gruppe eingeordnet, und ihre Bewegungen waren noch relativ unsicher.

Heute blieb er länger als gewöhnlich an den Geräten, um Amalie weiter unbemerkt beobachten zu können. Und nach einer Weile fiel ihm auf, wie gut ihr Körpergefühl und ihre Balance waren. Sie fand sich in den Bewegungsabläufen immer besser zurecht, vor allem für jemanden, der nach eigenen Angaben keinen regelmäßigen Sport trieb.

Eventuell spürte sie seine neugierigen Blicke auf sich ruhen, denn plötzlich runzelte sie ärgerlich die Stirn. Normalerweise fand er es eher abstoßend, wenn Frauen richtig wütend wurden, aber Amalie war in ihrer Wut hinreißend niedlich. Obwohl er ahnte, dass sich hinter ihrer reizenden Fassade eine echte Wildkatze verbarg.

Wenn sie das Knie zur Brust hochzog und anschließend einen scharfen rechten Haken austeilte, wusste er genau, dass es sein Gesicht war, das sie dabei vor Augen hatte.

Autor

Michelle Smart
Michelle Smart ist ihrer eigenen Aussage zufolge ein kaffeesüchtiger Bücherwurm! Sie hat einen ganz abwechslungsreichen Büchergeschmack, sie liest zum Beispiel Stephen King und Karin Slaughters Werke ebenso gerne wie die von Marian Keyes und Jilly Cooper. Im ländlichen Northamptonshire, mitten in England, leben ihr Mann, ihre beiden Kinder und sie...
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