Julia Exklusiv Band 326

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VERBOTENE NÄCHTE MIT DEM SCHEICH von LUCY MONROE

Aaliyah bewirbt sich in einem der legendärsten Hotels in London und wird sofort eingestellt: Denn sie spricht die Sprache von Scheich Sayed - und verbringt bald verbotene Nächte mit dem Thronfolger des fernen Wüstenreiches … der kurz vor der Hochzeit mit einer Prinzessin steht!

VALENTINA UND DER VENEZIANISCHE VERFÜHRER von TRISH MOREY

"Zieh dich aus." Mit bebenden Fingern öffnet Valentina ihr Kleid, bis sie nackt vor Luca Barbarigo steht. Sie muss gehorchen - sonst zerstört er die Existenz ihrer Eltern. Warum kann Valentina den feurigen Venezianer nicht hassen? Warum verspürt sie noch immer Sehnsucht nach ihm wie einst?

GEHEIMNIS EINER BALLNACHT von CATHERINE GEORGE

Er küsst sie zärtlich, er liebt sie feurig - und doch ahnt Anna: Ryder Wyndham, Besitzer eines prächtigen Landguts, ist nicht der Richtige für sie, die Enkelin des Jagdaufsehers. So sehr die Leidenschaft seit einer heißen Ballnacht zwischen ihnen lodert, mehr als eine Affäre kann es nicht werden.


  • Erscheinungstag 17.07.2020
  • Bandnummer 326
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715212
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Monroe, Trish Morey, Catherine George

JULIA EXKLUSIV BAND 326

1. KAPITEL

Obwohl nicht leicht zu beeindrucken, hatte Liyah Amari bei ihrem Eintritt ins Chatsfield London das Gefühl zu träumen. Das Flaggschiff des ehrwürdigen Familienimperiums – von Europas Elite als Luxushotel der Extraklasse bevorzugt – war so unfassbar prächtig, dass es sie überwältigte.

Dabei war die Chatsfield-Dependance in San Francisco, wo ihre Mutter bereits vor ihrer Geburt gearbeitet hatte, ebenfalls wunderschön, aber nicht zu vergleichen mit dem Glanz und Zauber dieses Hotels. Angefangen vom livrierten Portier bis zur Grandezza des Hotelfoyers in Ballsaalgröße fühlte es sich an, als würde man in eine längst versunkene Ära eintauchen, geprägt von geradezu dekadentem Luxus.

Allerdings stand die auffällig hektische Betriebsamkeit in starkem Kontrast zur stilvollen Umgebung. So wie ein nicht greifbares Flair von Erwartung und Vorbereitung. Ein Zimmermädchen in Arbeitsuniform hastete durch die Lobby, was Liyah mehr als ungewöhnlich erschien, während ein anderes am Treppenaufgang das gewundene Geländer aus kostbarem Walnussholz polierte.

Am Empfangstresen war das Rezeptionspersonal entweder mit Telefonieren beschäftigt oder tippte frenetisch auf der Computertastatur herum, während gleich daneben ein attraktives, älteres Paar eincheckte.

„Willkommen im Chatsfield London, Mr. und Mrs. Michaels. Darf ich Ihnen die Schlüsselkarte zu Ihrer Suite überreichen?“, fragte ein freundlicher junger Mann. „Und, als Gruß des Hauses, Ihr Empfangsgeschenk. Wir hoffen sehr, Sie genießen Ihren Aufenthalt.“

Hinter der Rezeption hingen gerahmte Porträts der Belegschaft. Als Liyah das Foto von Lucilla Chatsfield ins Auge fiel, spürte sie einen seltsamen Druck in der Brust. Sie war die älteste der Chatsfield-Geschwister und diejenige, der Liyah am liebsten einmal persönlich begegnet wäre. Doch das konnte sie gleich wieder vergessen, weil Lucilla in der Hotelhierarchie viel zu hoch über ihr stand.

Ein Geräusch in ihrem Rücken lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den riesigen Kronleuchter im Hintergrund, an dem gerade eine Glühbirne ausgewechselt wurde. Durch unzählige, geschliffene Kristallprismen warf er schimmernde Lichtreflexe gegen die mit venezianischer Seide bespannten Wände und auf den kostbaren Marmorboden. Ecrufarbene Säulen und ornamentierte Zierleisten rundeten subtil und geschmackvoll die opulente Eleganz ab. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von frischer Farbe verriet Liyah, dass hier erst kürzlich renoviert worden war.

Ihre Schuhe verursachten dank der Gummisohlen nicht das leiseste Geräusch auf dem schwarz-weiß gefliesten Marmorboden. Gemäß ihrer Anweisung visierte sie direkt die Fahrstühle an. Doch kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, trat ihr ein breitschultriger Mann in den Weg.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ton und Miene waren höflich, aber bestimmt.

Liyah wusste natürlich, dass sie trotz ihres perfekt sitzenden schwarzen Hosenanzugs nicht in die elitäre Liga der Chatsfield-Gäste eingestuft wurde. „Ich habe einen Termin bei Mrs. Miller.“ Da Pünktlichkeit in ihren Augen einen hohen Stellenwert besaß, war sie fünfzehn Minuten vor der verabredeten Zeit eingetroffen, um sich der Hausdame des Hotels vorzustellen.

Schlagartig hellte sich das Gesicht des Mannes auf. „Oh, dann müssen Sie das Zimmermädchen aus Zeena Sahra sein!“

Nein, das ist meine Mutter gewesen …

„Ich bin mit dem Land und der Kultur vertraut, wurde aber in Amerika geboren“, erklärte sie zurückhaltend. Man hatte sie als Aufsicht führendes Raumpersonal für die nobelste Hoteletage engagiert, die direkt unter der Penthouse-Suite lag. Allerdings mit einem erweiterten Tätigkeitsbereich, der neben organisatorischen Aufgaben auch die Betreuung und Bewirtung der exklusiven Hausgäste einschloss.

Das Ganze sollte auf Anordnung der neuen Hotelleitung in Abstimmung mit dem Concierge-Team geschehen, um die lückenlose Rundumbetreuung der anspruchsvollen Kunden zu optimieren und so deren Zufriedenheit und Akzeptanz sicherzustellen.

Für Liyah bedeutete es eine weitaus befriedigendere Stellung, als ihre Mutter sie fast drei Jahrzehnte lang innegehabt hatte. Und Hena würde ihr sicher von ganzem Herzen zustimmen, wenn sie jetzt hier sein könnte …

„Die Lifte sind gleich dort drüben“, informierte der Sicherheitsbeamte sie und ging vor. „Ich muss nur erst Ihre Zugangsberechtigung für das Untergeschoss eintippen.“

„Danke.“ Immer noch fünf Minuten zu früh, stand Liyah kurz darauf vor der Bürotür der Hausdame und klopfte.

„Herein.“

Mrs. Miller war eine große, schlanke Frau, die eine noch strengere Version von Liyahs Hosenanzug trug, über einer blütenweißen Baumwollbluse mit gestärktem Kragen. Natürlich hatte sie sämtliche Knöpfe des Blazers geschlossen.

„Ich bin sehr froh, Sie zu sehen, Miss Amari, und kann nur hoffen, dass Sie darauf vorbereitet sind, Ihren Dienst direkt anzutreten“, sagte sie nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln.

„Selbstverständlich.“

„Sehr gut. Fast die gesamte Etage, die Sie zu betreuen haben, wurde für den Harem des Scheichs gebucht.“ Der missbilligende Unterton dieser unerwarteten Eröffnung war nicht zu überhören.

„Habe ich das richtig verstanden?“, vergewisserte sich Liyah. „Es wird also ein Scheich aus Zeena Sahra erwartet? Und er braucht eine ganze Etage für seinen Harem?“ Kein Wunder, dass man versucht hatte, ihre Mutter vom Chatsfield San Francisco anzufordern.

„Ja, der Scheich wird uns vierzehn Tage mit seiner Anwesenheit beehren. In der zweiten Woche will seine Verlobte dazukommen.“

Liyah tat ihr Bestes, um sich ihren Schock und ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.

„Scheich al Zeena oder Scheich bin Falah al Zeena …“, referierte Mrs. Miller. „Auf keinen Fall aber Scheich bin Falah, das würde nämlich einen Affront bedeuten.“

Innerlich zuckte sie zusammen, verzichtete aber darauf, die Hausdame zu korrigieren. Inzwischen war ihr klar, dass man sie genau wegen dieses Insiderwissens engagiert hatte. Und langsam dämmerte ihr auch, dass nicht irgendein Scheich im Chatsfield London absteigen würde, sondern der Kronprinz von Zeena Sahra persönlich.

Er galt als einer der attraktivsten und aufregendsten Männer auf dem ganzen Erdball und hätte leicht als internationaler Playboy durchgehen können. Stattdessen genoss er den Ruf, sich extrem zugeknöpft zu geben, und schien sich einzig und allein auf seine Pflichten als Emir von Zeena Sahra zu konzentrieren.

„Verstehe, ich werde es mir merken. Ihn als Euer Hoheit anzusprechen, wäre sicher auch akzeptabel. Allerdings vermute ich, dass er den Titel Emir bevorzugt, da Zeena Sahra ein Emirat ist.“

Mrs. Millers Lippen wurden schmal. „Warum wissen wir so etwas nicht?“

„Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit“, beschwichtigte Liyah.

„Nein!“ Das sah die Hausdame offensichtlich anders. „Was den Besuch des Scheichs in unserem Haus angeht, gibt es keine unwichtigen Informationen. Jedes noch so winzige Detail ist von Bedeutung. Sonst passieren Fehler, und die sind im Chatsfield nicht zulässig.“

„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Liyah.

„Davon gehe ich aus. Ach, ehe ich es vergesse … neben Ihren regulären Pflichten haben Sie während der Dauer des Scheich-Besuchs auch die Oberaufsicht über das Zimmerpersonal, das die Suite Seiner Hoheit und die angrenzenden Räume, in denen seine Bodyguards untergebracht sind, betreut.“

Obwohl die Liste ihrer Zuständigkeiten immer länger wurde, zuckte Liyah nicht mit der Wimper. Sie liebte Herausforderungen und scheute nicht davor zurück, Verantwortung zu tragen. Wie gut, dass sie ihr Studium trotz aller Widerstände mit einem Diplom in Hotelmanagement abgeschlossen hatte. Außerdem hatte sie dank ihrer allsommerlichen Ferienjobs als Zimmermädchen im Chatsfield San Francisco während ihrer Highschool- und Unizeit praktische Erfahrung und eine gewisse Routine.

Nicht, dass ihre Mutter sie dazu gedrängt hätte – im Gegenteil. Wenn Hena sich gegenüber ihrer sehr selbstständigen und etwas eigenwilligen Tochter hätte durchsetzen können, wäre Liyah nie im Chatsfield gelandet, sondern hätte eine ganz andere Ausbildung gemacht. Und in diesem Moment überlegte Liyah, ob das nicht vielleicht sogar besser gewesen wäre.

Nach einer „Sightseeingtour“ durch das Hotel und einer Art Blitzeinführung in seine Gepflogenheiten, während der sie dem Hotelpersonal unzählige Fragen über Zeena Sahra beantworten musste, kehrte Liyah erschöpft in ihr möbliertes Zimmer zurück. Es hatte die Größe ihrer ehemaligen engen Studentenbude, inklusive einer kleinen Kochnische und einem noch winzigeren Bad. Dafür hatte sie ein helles Zweiraumapartment mit Balkon in San Francisco aufgegeben, wo sie mit ihrer Mutter gelebt hatte.

Doch das Jobangebot vom Chatsfield London war zu verlockend gewesen, um es auszuschlagen. Und selbst ihre kritische Mutter hätte es nicht nur als große Chance, sondern auch als Wink des Schicksals angesehen. Allerdings hatte Hena lebenslang eine ausgeprägt romantische Ader gehabt, die ihrer eher pragmatischen Tochter fehlte.

Das änderte sich schlagartig, als Liyah nach Henas Tod den Inhalt eines Tresorfachs ausgehändigt bekam, von dem sie noch nie zuvor etwas gehört hatte. Nachdem sie den Abschiedsbrief ihrer Mutter gelesen hatte, stand für sie fest, dass sie nach England musste. Das Jobangebot war ihr wie ein Wink des Himmels erschienen. Es erlaubte ihr, den Plan in die Tat umzusetzen, ohne ihr kleines Erbe über Gebühr zu strapazieren, das aus einer Lebensversicherung ihrer Mutter stammte. Auch von dem Geld hatte sie nichts gewusst, es nach dem ersten Schock aber dankbar als Zeichen Henas liebevoller Fürsorge akzeptiert.

Unglaublich, wie dramatisch sich ihr Leben seitdem verändert hatte. Wobei Liyah die überraschende Anstellung im Chatsfield London als vorläufigen Höhepunkt ansah.

Die Hotelleitung hatte ausdrücklich nach jemandem Ausschau gehalten, der mit der Kultur Zeena Sahras vertraut war und über Kenntnisse in der Sprache und den gesellschaftlichen Umgangsformen verfügte. Darum wandte man sich an die Chatsfield-Dependance in San Francisco, in der Hoffnung, Hena Amari für die Aufgabe engagieren zu können. Da sie jedoch kurz zuvor verstorben war, setzte sich Stefanie Carter, die dortige Hausdame, mit Liyah in Verbindung und schlug London vor, sie stattdessen zu engagieren. Obwohl sie nach ihrem Studium nicht mehr im Hotel gearbeitet hatte, qualifizierten Ausbildung, Erfahrung und Flexibilität sie nahezu perfekt für die Stelle.

Aber was für eine Ironie des Schicksals, dass genau dieser Job Henas Tochter in die Lage versetzte, den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen …

Liyah verübelte Hena nicht, dass sie geschwiegen und ihr Geheimnis bis zum Tod für sich behalten hatte. Allerdings gelang es ihr nur dank lebenslang trainierter Selbstkontrolle, die brisante Wahrheit über ihre Herkunft ohne Zusammenbruch zu verkraften. Zumindest nach außen hin!

Immer noch erschien es ihr wie ein Wunder, dass der extrem wohlhabende englische Hotelier Gene Chatsfield ihr Vater sein sollte. Nachdem sie über all die Jahre hinweg immer wieder Bilder seiner legitimen Kinder in sämtlichen namhaften Klatschmagazinen hatte auftauchen sehen, erschien es ihr unglaublich, dass in ihren eigenen Adern dasselbe Blut fließen sollte. Was könnte sie – jemand, der sich alles im Leben hart erarbeiten musste – mit dieser berühmt-berüchtigten Familie gemein haben?

Nichts, so viel stand fest.

Gleichzeitig verspürte Liyah den unbändigen Drang herauszufinden, wie Gene Chatsfield seine Kinder einerseits mit Geld überhäufen und gleichzeitig ihre Mutter mit einer spärlichen Unterstützung abfinden konnte, die kaum reichte, um die Ausbildung der illegitimen Tochter zu finanzieren. Geschweige denn, ihr auch nur einen Hauch von Luxus zu ermöglichen.

Die Antwort lag wohl allein in Liyahs Existenz begründet, als dem sichtbar gewordenen Resultat einer von Gene Chatsfields zahlreichen Affären. Und zwar einer von der Sorte, wie sie nicht in den Illustrierten auftauchten, dafür waren Zimmermädchen einfach nicht interessant und wichtig genug.

Von Gene Chatsfields ausgeprägter Vorliebe für weibliches Hotelpersonal hatte Liyahs Mutter ebenso wenig gewusst wie von seiner Ehefrau. Zumindest nicht als er San Francisco verließ und ein zutiefst verstörtes, schwangeres Zimmermädchen zurückblieb. Niemand kannte die Identität von Liyahs Vater, und die Scham darüber, dass sie sich mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte, überschattete fortan Henas Leben.

All das erfuhr Liyah erst aus dem Abschiedsbrief ihrer Mutter, in dem Hena sie auch bat, ihrem Vater zu verzeihen, der kein Schuft oder übler Kerl gewesen sei, sondern ein unglücklicher Mann, der harte Zeiten zu überstehen gehabt hatte. Der Brief endete mit der Bitte an ihre Tochter, nach London zu reisen, um ihren Vater persönlich kennenzulernen. Liyah war entschlossen, den letzten Willen ihrer Mutter zu respektieren, gleichzeitig aber auch froh darüber, ihrem Erzeuger zunächst inkognito gegenüberzutreten.

Und zwar als seine Angestellte und nicht als die illegitime Tochter, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

In ihrer kleidsamen, perfekt sitzenden Uniform, das lange, üppige Haar in einem strengen Knoten gebändigt, hielt Liyah sich bewusst im Schatten der prächtigen, geschwungenen Treppe. Sie hatte bereits zwei hektische Wochen im Chatsfield hinter sich und brannte förmlich darauf, ihren Vater endlich zu Gesicht zu bekommen.

Da sie gehört hatte, dass Seine Hoheit, Scheich Sayed bin Falah al Zeena, heute im Chatsfield eintreffen würde, glaubte Liyah, ihre Chance dafür sei endlich gekommen. Denn dem Besuch des Scheichs wurde von der Hotelleitung höchste Priorität eingeräumt. Das zeigte sich auch darin, dass Gene Chatsfield extra angereist kam, um den Empfang des Emirs persönlich zu überwachen, obwohl er momentan in der New Yorker Dependance residierte und seinem neuen CEO Christos Giantrakos die Zügel für das Londoner Hotel übergeben hatte.

Was wiederum Liyah anspornte, ihren Job absolut tadellos auszuführen. Wenn sie sich ihrem Vater gegenüber zu erkennen gab, sollte er keinen Grund zur Kritik an ihrer Qualifikation und Arbeitseinstellung finden. In dem ihr anvertrauten Geschoss war alles perfekt vorbereitet. In jedem Zimmer erwarteten die Gäste üppige Kristallschalen mit frischen Früchten sowie Silbervasen mit blühendem Jasmin. Sie hatte sogar an Paravents auf den langen Fluren gedacht, um die ‚Haremsquartiere‘ vor neugierigen Blicken abzuschotten.

Und natürlich hatte sie der privaten Suite des Emirs ganz besondere Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Es gab nichts, was sein Feingefühl hätte stören können.

Jeder Gedanke an ihre Arbeit war vergessen, als ein älterer Mann in ihr Blickfeld kam, der mit unnachahmlichem Selbstbewusstsein das Foyer durchquerte. Die Begrüßungen seiner Angestellten nahm er mit dem knappsten Kopfnicken entgegen.

Mein Vater.

Vor der Rezeption hielt er an, sodass sie Gelegenheit bekam, ihn in aller Ruhe zu betrachten. Das dichte graue Haar war silbrig überhaucht, die blauen Augen klar und intensiv, die hohe, schlanke Gestalt nur ganz leicht gebeugt. Zum perfekt sitzenden Pierre-Cardin-Anzug trug er zweifellos handgearbeitete Schuhe und bot damit das Bild eines attraktiven Mannes, der absolut in die Liga seiner wohlhabenden, internationalen Gäste passte.

Als Gene lächelte und etwas zum Empfangschef sagte, der hinter dem polierten Tresen stand, stieß Liyah keuchend den angehaltenen Atem aus. Dieses Lächeln hatte sie Hunderte von Malen bei sich selbst im Spiegel gesehen. Seine Lippen waren schmaler als ihre, doch die leicht hochgezogenen Mundwinkel zu beiden Seiten des festen Kinns …

Der Anblick war ihr so vertraut, dass ihr Herz schmerzhaft klopfte.

Seine Augen waren blau, ihre grün, aber die Form ähnelte sich sehr. Warum war ihr das nicht anhand der Fotos aufgefallen, die sie nach dem Tod ihrer Mutter im Internet aufgerufen und aufmerksam studiert hatte? Ihre Hautfarbe war dunkler als seine. Sie glich Henas warmem Honigton. Auch die zierliche Statur hatte sie von ihrer Mutter. Jeder, der sie zusammen gesehen hatte, war geradezu frappiert von der Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter gewesen. Dass sie auch etwas Offensichtliches von dem Mann am Tresen geerbt haben könnte, wäre Liyah nie in den Sinn gekommen. Die Ähnlichkeit war nicht augenfällig, aber dieses Lächeln … Gene Chatsfield war tatsächlich ihr Vater.

Diese unumstößliche Erkenntnis ließ sie taumeln, sodass sie an der Wand neben sich Halt suchte.

In völliger Unkenntnis, was die Identität ihres Vaters betraf, und konfrontiert mit der strikten Ablehnung der Familie ihrer Mutter, hatte Liyah bisher ein sehr einsames Leben geführt. Ihr einziger Bezugspunkt und Halt war Hena gewesen, und nach ihrem Tod blieb sie völlig allein zurück.

Plötzlich veränderte sich der Ausdruck auf dem attraktiven, gebräunten Gesicht ihres Vaters. Er wirkte seltsam angespannt, das Lächeln eine Spur gezwungen, die Körperhaltung wachsam und konzentriert. Als hätte er meine Gedanken gelesen, schoss es Liyah unsinnigerweise durch den Kopf. Doch als sie seinem Blick folgte, taumelte sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.

Umringt von einer eindrucksvollen Entourage und gekleidet in der traditionellen Kluft des Scheichs von Zeena Sahra, stand der umwerfendste und aufregendste Mann, den sie jemals gesehen hatte, im Hotelfoyer. Eine Beschreibung, die der Emir ganz sicher nicht schätzen würde, obwohl er trotz seiner zurückhaltenden, ernsten Art in sämtlichen Hochglanzgazetten als Hot Shot des internationalen Jetsets gehandelt wurde.

Liyah schluckte heftig und versuchte, sich zu fassen. Kein Illustriertenfoto und keine noch so schwärmerische Headline wurden der Realität auch nur annähernd gerecht. Mit seiner eindrucksvollen Größe, der muskulösen Gestalt, den harten Wangenknochen und durchdringenden nachtschwarzen Augen war Scheich Sayed bin Falah ein Bild von einem Mann. Neben seinem faszinierenden Äußeren umgab ihn zudem ein nicht greifbares Charisma und Flair von Macht, das die Luft um ihn herum vor Elektrizität zum Knistern brachte.

Und das lag nicht etwa an der schlichten schwarzen Abaya, dem traditionellen bodenlangen Umhang, oder an der burgunderfarbenen Ghutra. Die Farbe der arabischen Kopfbedeckung wies auf seinen königlichen Status hin und wurde mit einer Agaal gehalten – in diesem Fall einer dreiteiligen Haltekordel, als Zeichen seines Rangs als Emir.

Dass er die Abaya offen über einem maßgeschneiderten Armani-Anzug trug, zeigte seine Nähe zur westlichen Zivilisation, doch das dunkle Gesicht unter der Ghutra erinnerte daran, dass in seinen Adern das heiße Blut eines Wüstenkriegers floss.

Wie magisch angezogen von der hochgewachsenen Gestalt bewegte sich Liyah vorwärts und kam erst wieder zu sich, als sie kaum einen Meter entfernt von dem hohen Gast stand. Um zurückzuweichen oder sich zu verstecken, war es angesichts der fragend erhobenen Brauen ihres Gegenübers zu spät. Ihre Blicke begegneten sich, und alles, was Liyah sich in jahrelangem Training an Souveränität und Coolness erworben hatte, war vergessen. Ihr fiel absolut nichts ein, was sie in diesem Moment hätte sagen können.

Ihr Geist war umnebelt und ihr Körper reagierte auf eine Weise, vor der ihre Mutter sie stets gewarnt und die Liyah noch nie zuvor am eigenen Leib erfahren hatte. Nur vage war sie sich der umstehenden Personen bewusst, die entweder zu seinem Gefolge oder zum Hotel gehörten, einschließlich ihres Vaters. Stimmen und Geräusche mischten sich zu einem undurchdringlichen Wirrwarr, verbunden mit dem schwachen Hauch von Zedernholz, Leder und weißen Rosen, der ihr schon beim Betreten des Chatsfield aufgefallen war.

Überlagert wurde er von einem herben, maskulinen Duft, der ihr heiße Schauer über den Rücken jagte und ihre empfindsamen Brustwarzen bis zur Verhärtung reizte.

Der Scheich verzog keine Miene, aber ein kurzes Aufblitzen in den dunklen Augen verriet, dass auch er nicht ganz unberührt geblieben war.

„Scheich al Zeena, dies ist Amari, die für die Dauer Ihres Aufenthalts in unserem Hause die Verantwortung für Ihr Wohlergehen und das Ihrer Begleitung trägt“, rettete der Empfangschef die peinliche Situation.

Daran, dass man sie nur mit ihrem Nachnamen vorstellte, war Liyah gewöhnt, nicht aber an die persönliche Konfrontation mit einem Kronprinzen. Zum Glück fing sie sich dank der Intervention des Hotelangestellten endlich wieder, schloss die rechte Hand über ihrer linken Faust und presste sie gegen ihr wild hämmerndes Herz. Dann beugte sie den Kopf zum traditionellen Gruß, wie ihre Mutter Hena es sie gelehrt hatte.

„Emir, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen und Ihrer Gefolgschaft zu dienen.“

Sayed kämpfte noch mit der völlig unangemessenen Reaktion seines Körpers auf die Erscheinung der attraktiven Hotelangestellten. Wilde Fantasien über ihre Dienste überschwemmten ihn wie eine Welle glühender Lava. Die tiefe Röte auf ihren Wangen und der seltsam verletzliche und gleichzeitig hungrige Blick aus grünen Nixenaugen zeigten ihm, dass sein Begehren ganz sicher erwidert wurde.

Momentan war er nur froh über den weichen Fall der Abaya, die das Ausmaß seines Verlangens vor den neugierigen Blicken der Umstehenden verbarg. Und das, obwohl er in Kürze ein verheirateter Mann sein würde, ganz zu schweigen von der Verantwortung seinem Land gegenüber, die absolut keinen Raum für sexuelle Intermezzi ließ! Ihn irritierte allerdings der Umstand, wie schwer es ihm fiel, sich von erotischen Traumvorstellungen zu lösen, wie er sie sich bisher weder zugetraut noch erlaubt hatte.

„Danke, Miss Amari“, erwiderte er fast brüsk, um seine Reaktion auf sie zu kaschieren. „Dies ist Abdullah-Hasiba.“ Er wies mit dem Kinn auf eine dunkel gekleidete Frau in seinem Gefolge. „Sie ist Ihre Ansprechpartnerin für alle Fragen und Befindlichkeiten.“

„Sehr wohl, Euer Hoheit.“

Was ihm keineswegs entging, war der Schatten, der angesichts seiner offenen Zurückweisung über Miss Amaris Gesicht huschte, und wie sie die Lippen zusammenpresste, während sie sich wieder verneigte, ehe sie sich seiner Begleiterin zuwandte.

„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“

Mit einer erneuten Verbeugung tat die gefährlich attraktive Hotelangestellte, was ihresgleichen perfekt beherrschte: Sie schien einfach mit dem Hintergrund zu verschmelzen und wurde unsichtbar. Und Sayed musste sich auf die Zunge beißen, um dem unsinnigen Drang zu widerstehen, sie zurückzurufen.

2. KAPITEL

Immer noch fassungslos darüber, dass Scheich Sayed, wie sie ihn heimlich nannte, die Existenz ihres Vaters durch sein bloßes Erscheinen verdrängt hatte, klopfte Liyah an Abdullah-Hasibas Tür.

Wie hatte sie sich nur die Chance entgehen lassen können, Gene Chatsfield von Angesicht zu Angesicht in die Augen zu sehen? Hatte sie den Job nicht in erster Linie angenommen, um ihren Vater endlich persönlich kennenzulernen? Und was tat sie stattdessen? Sie stand da wie eine Närrin und gaffte einen wildfremden Scheich an!

Dass sie wie ertappt zusammenzuckte, als die Tür unerwartet aufschwang, zeigte ihr, wie wenig sie noch immer zu ihrem normalen Selbst zurückgefunden hatte.

Abdullah-Hasiba, die inzwischen einen apricotfarbenen Kameez zur dunklen Salwar trug, legte die Hände vor der Brust flach zusammen und verneigte sich ehrerbietig. Die arabische Variante eines legeren Hosenanzugs ließ sie weniger steif und traditionell erscheinen. „Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Miss Amari?“

„Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie und die Begleiterinnen des Emirs mit der Unterbringung zufrieden sind.“

„Sehr sogar.“ Die ältere Frau trat zur Seite und machte eine einladende Geste. „Treten Sie doch bitte ein, Miss Amari.“

Liyah zögerte. „Ich möchte Sie nicht von Ihren Pflichten abhalten.“

„Das tun Sie nicht. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir.“

Da es unhöflich gewesen wäre, eine derartige freundliche Einladung abzulehnen, und Liyahs Neugier dafür auch viel zu groß war, folgte sie Abdullah-Hasiba zu einem kleinen Sofa an der gegenüberliegenden Wand des luxuriösen Raums. So sehr sie deswegen auch mit sich haderte, ihre Faszination, was den attraktiven Scheich betraf, war nicht zu leugnen.

Ein arabisches Teeservice, wie es Liyah im Auftrag des Hotels ebenfalls für die Suite des Emirs und seiner Verlobten besorgt hatte, stand in der Mitte des ovalen Couchtischs. Abdullah-Hasiba schenkte das aromatische heiße Getränk aus der transparenten Kanne in die dazu passenden Gläser ein.

„Was für ein Vergnügen, aus diesen wundervollen Gläsern trinken zu können“, sagte sie.

„Ach, ja?“

Die ältere Frau nickte lächelnd. „Wir reisen nicht mit Glasgeschirr, da es unterwegs leicht zu Bruch gehen kann.“

„Verständlich …“, murmelte Liyah, nahm einen Schluck von dem Tee und gab sich für einen wehmütigen Moment bittersüßen Erinnerungen hin. Ihre Mutter hatte stets darauf bestanden, jeden Tag mit Pfefferminztee und einem Hauch Honig zu beginnen und abzuschließen.

„Das Chatsfield ist allerdings das erste Hotel, das sich offensichtlich Gedanken bezüglich der traditionellen arabischen Teezeremonie während der ausgedehnten Europareise des Emirs gemacht hat.“

„Ich befürchte, das dafür vorgesehene Geschirr steht nur in Ihrem Zimmer, der Suite des Emirs und der seiner Verlobten zur Verfügung.“

Abdullah-Hasibas Lächeln vertiefte sich. „Ihre Kenntnis unserer Kultur ist beeindruckend, Miss Amari. Die meisten Hotelangestellten hätten das Service und die Utensilien sicher ins Zimmer seiner Sekretärin gestellt.“

Liyah wusste, worauf die offensichtlich enge Vertraute des Emirs anspielte. „Soweit ich informiert bin, ist seine Sekretärin nur eine Bürohilfe auf Stundenbasis.“

„Korrekt. Der Emir hält sehr viel von Traditionen. Darum ist sein persönlicher Assistent Duwad auch ein Mann …“

„Weil der Emir nicht allein mit einer Frau in seiner Suite zusammenarbeiten kann, verheiratet oder nicht“, ergänzte Liyah mit feinem Lächeln.

„Exakt.“

„Dann ist dies also eine geschäftliche Reise?“

„Größtenteils. Melech Falah hat darauf bestanden, dass Scheich Sayed eine ausgedehnte Europatour absolviert, ehe er endgültig die Regentschaft seines Landes antritt.“

„Der König von Zeena Sarah will seinem Sohn den Thron überlassen?“ Es hatte in der Presse zwar diesbezügliche Spekulationen gegeben, doch etwas Konkretes hatte Liyah nicht in Erfahrung bringen können.

„Es ist zumindest eine mögliche Konstellation nach der geplanten königlichen Hochzeit“, erwiderte Sayeds Vertraute zurückhaltend.

Liyah schätzte feinfühlige Diskretion und verzichtete darauf, weiter nachzuhaken. „Die erste Hausdame zeigte sich ein wenig schockiert bei der Aussicht, eine gesamte Etage für den Harem des Scheichs bereithalten zu sollen“, schnitt sie ein hoffentlich weniger brisantes Thema an.

Wider Erwarten entlockte sie Abdullah-Hasiba damit ein Schmunzeln. „Ah … vermutlich dachte sie, er würde eine Truppe von Bauchtänzerinnen in seinem Gefolge haben, um seinen leiblichen Bedürfnissen Genüge zu tun.“

„So etwas in der Art, denke ich …“, murmelte Liyah und verzichtete darauf, zu gestehen, dass ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gegangen waren.

Die ältere Frau lachte leise und wissend. „Leider muss ich Sie beide enttäuschen. Der Emir ist ausgesprochen verantwortungsvoll und sich seiner Rolle als verlobter Kronprinz sehr bewusst.“

Nicht überzeugt, aber zu gut erzogen und mit zu wenig Erfahrung ausgestattet, was Männer und ihr geheimes Sexleben betraf, verzichtete Liyah auf Einwände. Zumal sie inzwischen wusste, dass die meisten der reservierten Zimmer für das weibliche Personal im Gefolge des Emirs gedacht waren. Die meisten Frauen standen aber unzweifelhaft im Dienst seiner Verlobten, die außerdem von ihrem Bruder begleitet wurde, der eine Suite neben der seines zukünftigen Schwagers gebucht hatte. Nicht ganz so riesig, aber dennoch beeindruckend.

Nach der überraschend angenehmen Teezeit mit Hasiba – wie die reizende ältere Frau angesprochen werden wollte – machte sich Liyah auf den Weg zur Rezeption. Der Empfangschef und seine Mitarbeiter hofften auf kreative Vorschläge von ihrer Seite, was das Unterhaltungsprogramm für den Scheich und sein Gefolge betraf, die immerhin zwei ganze Wochen im Chatsfield wohnen würden.

Stunden später verließ Liyah nach einem anstrengenden Meeting und einer abschließenden Kontrolle der vorbereiteten Zimmer die königliche Suite. Sie war außerordentlich zufrieden mit der Arbeit der Zimmermädchen, denen es gelungen war, den Räumen des Emirs eine ganz persönliche Note zu verleihen.

Opulente Buketts aus violetter Iris – der landestypischen Blume für Zeena Sahra – erwarteten den Thronfolger. Zu beiden Seiten des schweren Silberleuchters auf dem Esstisch standen Kristallschalen mit duftenden weißen Jasminblüten, die nicht den winzigsten braunen Fleck aufwiesen.

Die Betten waren perfekt gemacht, und das traditionelle Teegeschirr stand auf einem extra dafür angeschafften niedrigen Tabletttisch.

Liyah steuerte auf einen der Hauptlifte zu, den sie, im Unterschied zum normalen Hotelpersonal, benutzen durfte. Die arbeitsreichste Phase für das Personal und die Lieferanten fiel zum Glück mit der Zeit zusammen, in der die Gästefahrstühle am wenigsten genutzt wurden. So kam es nur selten zu unerwarteten Begegnungen.

Doch als die Türen lautlos auseinanderglitten und Liyah den Lift betreten wollte, sah sie sich einem dunklen Augenpaar gegenüber. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um gleich darauf im wilden Stakkato zu klopfen. Der Ausdruck auf dem harten Gesicht des Emirs war eine seltsame Mischung aus Überraschung und etwas, das Liyah nicht deuten konnte.

„Miss Amari?“

„Emir Sayed …“ Sie neigte leicht den Kopf in Anerkennung seines hohen Ranges. „Ich habe mich nur davon überzeugt, dass in Ihrer Suite an alles gedacht wurde.“

„Der Service ist absolut untadelig.“

„Das freut mich, zu hören. Ich werde das Lob an die für Ihre Suite zuständigen Mitarbeiter des Hotels weiterleiten.“

Er nickte kurz, was Liyah als unbewusste Geste wertete. Sie wartete darauf, dass er den Lift verließ, doch der Scheich rührte sich nicht. Anders als sein Bodyguard, der sofort nach dem Öffnen der Lifttüren den Hotelflur in beide Richtungen gecheckt hatte. Auch Sayeds persönlicher Assistent und die junge Schreibkraft warteten offensichtlich darauf, dass der Scheich ihnen folgte. Stattdessen drückte er auf den Knopf, der die Türen des Lifts schloss.

„Was ist? Kommen Sie nun oder nicht?“, fragte er ungeduldig.

Warum er das tat, konnte Liyah sich nicht erklären. Aber sie wusste, dass es ein absoluter Fauxpas wäre, zusammen im Lift mit dem Emir nach unten zu fahren und dann auch noch ohne seinen Bodyguard. „Oh, nein … ich nehme den Angestelltenfahrstuhl.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich!“ Mit einer abrupten Bewegung umfasste er ihr Handgelenk und zog sie in die Kabine, die schockierten Proteste seiner Begleiter und den aufgeregten Zuruf seines Bodyguards ignorierend. Liyah war wie erstarrt, während ein derber Fluch des Sicherheitsbeamten durch die sich schließenden Türen abgeschnitten wurde.

„Emir Sayed!“

Der laute, missbilligende Ausruf jenseits der Stahltüren war das Letzte, was Liyah hörte, bevor sich der Lift in Bewegung setzte.

„Euer Hoheit?“, fragte sie etwas atemlos.

„Kein Grund, warum Sie einen anderen Lift benutzen sollten“, knurrte er barsch.

„Aber hätten Sie nicht wenigstens noch auf Ihre Begleiter warten sollen?“ Seine schlanken, kräftigen Finger hielten immer noch Liyahs Handgelenk umklammert. Er schien auch nicht die Absicht zu haben, sie wieder loszulassen.

„Ich bin es nicht gewohnt, meine Handlungen von einer Bediensteten infrage gestellt zu sehen.“ Die Worte waren eine Beleidigung, der Ton kalt und arrogant, sein Blick aber nicht. Bis zu diesem Moment hatte Liyah nicht gewusst, dass in nachtschwarzen Augen ein derartiges Feuer brennen konnte. Heiß genug, um sie beide zu versengen.

Mit aller Gewalt erinnerte sie sich daran, wer sie war, wo sie war und warum. Dabei half Liyah das eiserne Training der schweren und einsamen Jahre als unterprivilegierte Schülerin in teuren Internaten, wo sie sich immer als Außenseiterin gefühlt hatte.

„Und ich bin es nicht gewohnt, mich von Hotelgästen bevormunden und grob anfassen zu lassen“, konterte sie kühl und sah mit erhobenen Brauen auf seine gebräunte Hand – sicher, dass er sie sofort zurückziehen würde. Liyah war mit der Kultur und den konservativen Gepflogenheiten in Zeena Sahra genügend vertraut, um zu wissen, dass es keinem Mann gestattet war, eine Frau ohne Begleitung zu berühren, wenn sie nicht zu seiner unmittelbaren Familie gehörte. Nicht einmal Cousinen zweiten Grades und schon gar keine Fremde.

„Das kann man wohl kaum grob nennen …“ Anstatt Liyah freizugeben, massierte er mit dem Daumen die Stelle, wo ihr Puls wie verrückt klopfte.

Er hatte im Dialekt seines Heimatlandes gesprochen, offensichtlich in der Annahme, sie würde ihn nicht verstehen. Und Liyah dachte nicht daran, den Emir eines Besseren zu belehren. Sie hätte es auch nicht gekonnt, selbst wenn sie es gewollt hätte. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Liyah unterdrückte ein wohliges Beben und biss die Zähne zusammen. „Ich verstehe das alles nicht …“, murmelte sie gepresst.

„Sie sind eine Verführerin … eine unwiderstehliche Herausforderung!“, hielt er ihr gereizt vor, was sie auch verstanden hätte, wenn sie seinen Dialekt nicht fließend beherrschen würde.

Der Gedanke, dass sie vielleicht unabsichtlich etwas getan hatte, um ihn zu einem derartigen Verhalten zu ermutigen, trieb Liyah heiße Schamesröte in die Wangen. Sie versuchte, sich mit einem Ruck loszumachen, und plötzlich war sie frei. Dafür stand Sayed so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. Das Rascheln seiner schwarzen Robe war das einzige Geräusch neben ihren gepressten Atemzügen.

Erst jetzt registrierte Liyah verstört, dass sich der Lift gar nicht mehr bewegte. Der Scheich hatte ihn offenbar angehalten.

„Emir?“ Ihre Stimme klang viel zu hoch und schrill.

„Sayed. Mein Name ist Sayed.“

Und sie war nicht berechtigt, ihn so anzusprechen. Trotzdem konnte Liyah einfach nicht widerstehen. „Sayed …“, flüsterte sie rau.

In den schwarzen Augen blitzte es triumphierend auf. Die Farbe auf den hohen Wangenknochen vertiefte sich, die Mundwinkel hoben sich leicht. Offensichtlich gefiel es ihm, seinen Namen aus ihrem Mund zu hören.

„Sie heißen nicht Amari“, sagte er leise und berührte mit dem Zeigefinger das Namensschild auf ihrem schwarzen Jackett.

„Doch.“

„Aber es ist nicht Ihr Vorname.“

„Aaliyah …“ Sie sagte es, bevor ihr sonst perfekt funktionierender Selbstschutz es verhindern konnte.

„Ein wunderschöner Name.“ Sanft strich er über das Plastikschild, und für Liyah war es, als berühre er ihre nackte Haut. „Ihre Eltern sind Traditionalisten, nicht wahr?“

„Nicht unbedingt.“ Henas Entscheidung, ein illegitimes Kind zur Welt zu bringen und es ohne Unterstützung des Vaters oder ihrer Familie allein aufzuziehen, konnte man kaum als traditionell bezeichnen. Allerdings hatte sie immer versucht, ihrer kleinen Tochter so viel von ihrem Heimatland in Herz und Seele zu pflanzen wie möglich. Auch ihren Namen hatte sie bewusst gewählt, um jedes Mal, wenn sie ihn sagte, Hoffnung über das Leben ihres Kindes auszusprechen.

Aaliyah … die Erhöhte.

Ein weiteres Beispiel für Henas unheilbar romantische Ader, im Gegensatz zum Pragmatismus ihrer Tochter. Gene Chatsfield hatte auf die Namensgebung ganz sicher keinen Einfluss gehabt.

„Ihr Akzent klingt amerikanisch.“

„Ihrer auch … Hoheit.“

„Seit meinem dreizehnten Lebensjahr bin ich in den Vereinigten Staaten zur Schule gegangen und erst nach Abschluss der Highschool wieder nach Zeena Sahra zurückgekehrt.“

Das war Liyah nicht neu. Der tragische Tod seines Bruders, der bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war, der seinem Vater gegolten hatte, beeinflusste damals auch Sayeds Leben und die Zukunft seines Heimatlandes auf geradezu dramatische Weise. Die nicht enden wollenden Unruhen in den Nachbarstaaten und die Sorge um das Wohlergehen ihres einzigen, überlebenden Sohns hatten den König und die Königin dazu veranlasst, Sayed in ein ausländisches Internat zu schicken.

Das war nicht gerade ein Staatsgeheimnis. Ebenso wenig wie der Fakt, dass der junge Kronprinz seine Ausbildung mit Universitätsabschlüssen in Politik und Wirtschaftswissenschaften vervollständigt hatte. Doch dass er es ihr von sich aus anvertraute, verursachte ein warmes Kribbeln in Liyahs Magengegend.

Vielleicht lag es aber auch einfach nur an Sayeds beunruhigender Nähe.

Die Gästefahrstühle waren sehr großzügig bemessen, für Liyah fühlte sich die geschlossene Kabine trotzdem viel zu klein an. „Sie sind nicht sehr westlich gekleidet“, stellte sie fest, um ihre verstörenden Emotionen und verbotenen Fantasien zu überspielen.

„Ich bin Herz und Seele von Zeena Sahra“, kam es stolz, aber nicht arrogant zurück. „Sollten da mein Land, mein Volk und seine Traditionen nicht im Fokus stehen?“

Es irritierte Liyah, wie sehr ihr seine Worte unter die Haut gingen. Um ihre Reaktion zu verbergen, ging sie auf Abstand und deutete mit der Hand auf sich und den Emir. „Das hier gehört, glaube ich, nicht zu den Traditionen Zeena Sahras.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja.“

„Dann kennen Sie die Kultur und Tradition meines Landes offenbar sehr gut.“ Das klang nicht nur interessiert, sondern regelrecht animiert.

„Nehmen Sie es nicht persönlich … Euer Hoheit.“

Sayed lachte. Der warme, raue Ton berührte Liyah noch mehr als sein eindringlicher Blick, der sie nicht eine Sekunde losließ.

„Sie sind nicht so wie andere Frauen“, stellte er fest.

„Sie sind ein Emir.“

„Soll heißen, dass sich andere Frauen von meinem Titel einschüchtern lassen?“

„Eingebildet sind Sie gar nicht, oder?“ Der Satz entschlüpfte ihr, ehe sie es verhindern konnte. Was war nur in sie gefahren?

„Ist man eingebildet, wenn man die Wahrheit sagt?“

Liyah zögerte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Nicht einmal arrogant, dachte sie und gestand sich widerstrebend ein, dass sie Scheich Sayed bin Falah absolut unwiderstehlich fand. Zudem beschlich sie der Verdacht, dass er sich dessen sehr bewusst war. Instinktiv wollte sie weiter zurückweichen und spürte die kühle Stahlwand des Lifts in ihrem Rücken. Dafür war Sayed ihr plötzlich so nah, dass die Falten seiner Robe ihre Schenkel streiften. Liyahs Atem stockte, dann entschlüpfte ihr ein kleiner Protestlaut.

„Sie haben einen wundervollen Mund“, stellte Sayed fest und strich sanft mit der Fingerspitze über ihre bebenden Lippen.

„Ich halte das für keine gute Idee …“, murmelte Liyah gepresst.

„Nicht?“ Er neigte den Kopf.

„Nein.“ Ob es so zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater begonnen hatte? „Ich gehöre nicht zu den Annehmlichkeiten, die das Chatsfield für Sie bereithält, Euer Hoheit.“ Kein Wunder, dass Hena sie immer wieder eindringlich vor den Verführungskünsten der Männer gewarnt hatte!

„Ich weiß.“

„Und Sex im Fahrstuhl gehört absolut nicht zu meinen Gewohnheiten“, stellte Liyah klar, falls er sie immer noch nicht verstanden haben sollte.

In den schwarzen Augen des Emirs blitzte es auf, dann trat er zurück und schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie, Miss Amari. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.“

„Wahrscheinlich sind Sie es einfach gewohnt, dass die Frauen reihenweise umfallen, sobald Sie Ihnen Ihre Aufmerksamkeit schenken“, bot Liyah als Erklärung an.

Sayed kniff die dunklen Brauen zusammen. „Soll das ein Dämpfer für mein übersteigertes Ego sein oder eine Herausforderung?“

„Oder keines von beidem?“, warf sie ein.

Wieder schüttelte Sayed den Kopf, als versuche er, zur Besinnung zu kommen. Ob es half? Liyah, die sich mindestens so wie er hilflos widerstreitenden Gefühlen und Wünschen ausgesetzt sah, wäre für jeden Tipp in dieser Richtung dankbar gewesen.

Wer weiß, wie das gefährliche Katz-und-Maus-Spiel ausgegangen wäre, hätte nicht plötzlich das Nottelefon im Lift geklingelt. Liyah riss sich zusammen, öffnete das Wandpaneel, das die Anlage verdeckte, und nahm den Anruf entgegen.

„Amari am Apparat.“

„Ist der Scheich bei Ihnen?“, fragte eine unbekannte, autoritäre Stimme, und Liyah überlegte kurz, ob sie gerade den neuen CEO des Chatsfield in der Leitung hatte, Christos Giantrakos persönlich. Erst verspätet registrierte sie, dass es keine junge Stimme war. Ein Schauer lief über ihren Rücken, während sie kurz die Augen schloss.

„Ja, der Emir ist hier“, sagte Liyah gepresst, während ihr bewusst wurde, dass sie gerade zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrem Vater sprach.

„Geben Sie ihn mir.“

„Ja, Sir.“

Sie wollte den Hörer weiterreichen, doch die Schnur war zu kurz. „Mr. Chatsfield möchte mit Ihnen sprechen.“ Sayed kam näher und nahm ihr den Hörer ab, wobei er peinlichst jede zufällige Berührung vermied. Liyah zog sich in den Hintergrund des Lifts zurück und lauschte wie in Trance der einseitigen Konversation.

Viel wurde ohnehin nicht gesprochen, außer der Erklärung, dass es kein Problem gäbe und sie jeden Moment das Erdgeschoss erreicht haben müssten. Hätte sie nicht miterlebt, wie schockiert Sayed über sein ungewöhnliches Verhalten war, würde sie annehmen, alles nur geträumt zu haben. Haltung und Stimme des Emirs waren so beherrscht und souverän, wie sie ihn bei seiner Ankunft im Chatsfield erlebt hatte.

Als der Lift hielt und die Türen lautlos auseinanderglitten, stand Liyah dem Bodyguard des Emirs und ihrem Vater gegenüber. Dass sonst niemand im riesigen Foyer zu sehen war, sprach für sich und machte Liyah klar, was man sich offenbar als Grund für den unerwarteten Halt des Lifts ausgemalt hatte.

Obwohl die kränkenden Rückschlüsse über ihren Charakter Liyah empörten, ließ sie sich äußerlich nichts anmerken. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie aus der Kabine und wartete stumm auf das, was folgen würde.

Dass der Emir dem Hotelbesitzer nicht mehr als ein flüchtiges Nicken gönnte, bevor er seinen Bodyguard mit einem autoritären „Komm schon, Yusuf!“ in den Lift winkte, trug offensichtlich nicht zur Entspannung von Gene Chatsfield bei.

„In mein Büro!“, knirschte er und marschierte los, ohne Liyah auch nur eines Blickes zu würdigen.

Die folgenden zehn Minuten gehörten zu den unangenehmsten in Liyahs gesamtem Leben. Schlimm genug, von ihrem obersten Boss gnadenlos runtergeputzt zu werden. Aber das Wissen, dabei ihrem Vater gegenüberzustehen, steigerte ihre Scham und Qual bis an die Grenze des Erträglichen. Allein die kurze Zeitspanne, die Scheich Sayed und sie allein im Fahrstuhl verbracht hatten, retteten sie vor Schlimmerem als einer demütigenden Standpauke.

Sayed schreckte aus einem Traum hoch, der so lebhaft und real war, dass er schockiert den Atem anhielt. Benommen fuhr er sich mit der Hand über die Augen und ließ sich mit einem unterdrückten Fluch in die Kissen zurückfallen. Sein wild klopfendes Herz und das schmerzhafte Ziehen in den Lenden ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, wovon er gerade geträumt hatte.

Allerdings hatte nicht seine Verlobte die heißen Fantasien ausgelöst. Tahira und er waren einander bereits als Kinder versprochen worden. Die Verlobung zwischen ihm und der Prinzessin eines benachbarten Scheichtums fand statt, als er gerade mal dreizehn war und kurz vor seiner Internatszeit im Ausland stand. Seine Gefühle für Tahira hatten sich in der Zwischenzeit nicht verändert.

Dafür spielten sie offenbar verrückt, seit er der wunderschönen Aaliyah Amari begegnet war. An seinem ersten Tag in London! Kein Wunder, dass sie sogar seine Träume beherrschte, wenn er ununterbrochen an sie denken musste. Dabei hatte er sie nach dem Zwischenfall im Fahrstuhl nur zweimal kurz gesehen. Während sein Blick unwiderstehlich von ihr angezogen wurde, tat Aaliyah so, als würde sie ihn gar nicht kennen.

Was er ihr kaum vorwerfen konnte.

Nur einen kurzen, verstohlenen Seitenblick aus smaragdgrünen Augen gönnte sie ihm. Und der hatte ihn geradezu elektrisiert und fast stolpern lassen. Ihn! Ganz abgesehen von der heftigen Reaktion seiner Libido, mit der er immer noch zu kämpfen hatte.

Da er es gewohnt war, immer wieder als Eisklotz bezeichnet zu werden, verunsicherte ihn sein momentaner Zustand mehr, als Sayed es vor sich selbst zugeben wollte. Scheichs machten sich nicht an Zimmermädchen ran – selbst, wenn sie in leitender Position beschäftigt waren. Aaliyah gehörte zum Dienstpersonal, und er war ein Emir, daran gab es nichts zu rütteln. Eine Affäre zwischen ihnen war indiskutabel.

Nicht, dass er sein gesamtes Erwachsenenleben im Zölibat verbracht hätte, nur die letzten drei Jahre. Und dafür gab es einen triftigen Grund.

Am Tag von Tahiras Volljährigkeit war ihre Verlobung offiziell bekannt gegeben worden, und bald würde sie seine Frau sein. Sayeds Ehrgefühl erlaubte ihm keine Intimität mit einer anderen Frau. Niemand sonst schien eine derart konservative Haltung von ihm zu erwarten, doch der Kronprinz von Zeena Sahra war es gewohnt, allein nach seinen eigenen Maßstäben zu leben und zu agieren.

Wenigstens konnte die selbst verordnete Enthaltsamkeit als plausible Erklärung für seine verstörend heftigen, sexuellen Träume und Fantasien herhalten. Drei Jahre waren eine lange Zeit für einen gesunden, seit Teenagertagen sexuell aktiven Mann von sechsunddreißig Jahren.

Dass die sexuelle Durststrecke bereits in wenigen Wochen, nämlich am Tag seiner Hochzeit mit Tahira, hinter ihm liegen würde, sollte ihm eigentlich große Genugtuung bereiten. Doch mit seiner zukünftigen Ehefrau zu schlafen, die er trotz der Volljährigkeit immer noch als junges Mädchen ansah, erschien Sayed mindestens so absurd, wie vor seinem stetig wachsenden Hunger nach Aaliyah Amari zu kapitulieren.

3. KAPITEL

Liyah hielt sich hinter einer Säule in der Hotellobby verborgen und beobachtete ihren Vater aus sicherer Entfernung.

Es war absolut lächerlich! Wenn sie nicht heimlich nach dem attraktiven Emir Ausschau hielt, dann versuchte sie, wenigstens einen Blick auf Gene Chatsfield zu erhaschen. Jahrelang hatten Männer in ihrem Leben, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle gespielt, und jetzt fühlte sie sich gleich von zwei sehr unterschiedlichen Exemplaren unwiderstehlich angezogen. Wie es aussah, in beiden Fällen eher aussichtslos.

Ihrer fatalen Schwäche für Sayed konnte sie nur Herr werden, indem sie jeden direkten Kontakt vermied, und was eine Aussprache mit ihrem Vater betraf, benahm sie sich wie ein elender Feigling.

Hena Amari war immer unglaublich stolz auf die Unerschrockenheit und den kühnen Geist ihrer Tochter gewesen, wie sie es genannt hatte. Leider spürte Liyah nichts davon, während sie mit brennenden Augen jede noch so winzige Geste oder Regung im Gesicht ihres Vaters verfolgte. Sie musste endlich über den Schock hinwegkommen, den sie anlässlich ihrer ersten, unerfreulichen Begegnung in seinem Büro erlitten hatte. Und sei es nur, um ihn über das Ableben ihrer Mutter zu unterrichten.

Liyah sah, wie ihr Vater auf den Fahrstuhl zuging. Wie es aussah, wollte er ins Penthouse, das er bewohnte, wenn er sich in London aufhielt. Die perfekte Gelegenheit, sich Gene Chatsfield als seine Tochter vorzustellen …

Anders als ihre Halbschwester strebte Liyah absolut keine Karriere im Familienhotel an. Soweit sie es in Erfahrung hatte bringen können, wurde Lucilla dabei von ihrem Vater kaum unterstützt, obwohl sie als Einzige reges Interesse am Wohlergehen des Hotels zeigte und unverdrossen hart dafür arbeitete. Statt ihre Bemühungen jedoch anzuerkennen, engagierte Gene einen Mann mit zweifelhaftem Leumund und harter Hand als CEO.

Wenn man den Gerüchten glauben konnte, erwartete er sogar von Christos Giantrakos, dass er nicht nur Lucilla, sondern auch all seine verwöhnten Sprösslinge hart an die Kandare nahm. Was modernes Arbeitsmanagement anbetraf, war Gene Chatsfield offenbar eine Art Dinosaurier. Konservativ und unbeweglich.

Liyah erwartete nicht wirklich, dass er sie öffentlich anerkannte. Nicht nachdem er den ‚peinlichen Fehltritt‘ bisher standhaft ignoriert hatte. Was nicht heißen musste, dass er kein Interesse daran hatte, seine sechsundzwanzigjährige Tochter besser kennenzulernen, oder? Dass ihm etwas an ihr lag, bewies allein das Schulgeld, mit dem er sie während der Collegezeit unterstützt hatte.

Okay, es war also so weit …

Mit klopfendem Herzen zog Liyah das Medaillon ihrer Mutter hervor, das sie versteckt unter der hochgeschlossenen Bluse trug. Hena hatte es ihr auf dem Sterbebett gegeben. Es unter ihren Fingern zu spüren, verlieh ihr die Kraft, die sie brauchte, um den Knopf im Lift zu drücken, der sie nach oben ins Penthouse bringen würde.

Kurz darauf öffnete Gene Chatsfield ihr mit dem Handy am Ohr die Tür zur Luxus-Suite. „Ja, Amari?“, fragte er mit irritiertem Blick.

Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken, als ihr Vater sie mit dem Nachnamen ansprach. Möglicherweise kannte er ihren Vornamen auch gar nicht. Nun, das würde sich in der nächsten Stunde ändern. Ungeachtet ihrer zitternden Nerven bemühte sich Liyah um einen gelassenen Gesichtsausdruck.

„Mr. Chatsfield, würden Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken?“

„Wenn es um Ihre Anstellung hier im Hotel geht, kann ich Ihnen versichern, dass sowohl die Personalabteilung wie auch Mrs. Miller mein absolutes Vertrauen genießen. Es ist also völlig unnötig, mich persönlich zu belästigen, und zeugt, offen gesagt, weder von Ihrer Menschenkenntnis noch von einer guten Kinderstube.“

Liyah schluckte trocken, zuckte aber mit keiner Wimper. „Es ist nichts dieser Art. Bitte, Mr. Chatsfield …“

Ihre Hartnäckigkeit schien ihn gleichermaßen zu irritieren und zu beeindrucken. „Kommen Sie.“ Er machte mit dem Kinn eine Geste in Richtung des Wohnraums, wo sich zwei antike Ledersofas gegenüberstanden. „Setzen Sie sich. Ich brauche nicht länger als zwei Minuten.“ Damit wandte er ihr den Rücken zu. „Ich habe es endgültig satt, Lucca.“

Seltsam berührt, weil sie in eine private Konversation zwischen Gene Chatsfield und seinem Sohn geraten war, blieb Liyah, wo sie war, und sah sich in dem großen, elegant eingerichteten Raum um. Neben einem bequem aussehenden antiken Sessel stand ein rundes Tischchen mit einem Glas, das vermutlich Whiskey enthielt, daneben lag eine Tageszeitung. Die Headline war so riesig, dass sie einem förmlich ins Auge sprang: Lucca Chatsfield hat es schon wieder getan!

Was für Liyah bis vor Kurzem noch amüsante Neuigkeiten über Londons heißesten Playboy gewesen wären, betraf sie plötzlich auf eine ganz seltsame Weise.

„Sieh zu, dass du es aus dem Netz kriegst, und lass um Himmels willen die Finger vom Twitter!“, grollte Gene ins Telefon, ehe er das Gespräch abrupt beendete und sich wieder Liyah zuwandte. „Ich kann nur hoffen, dass Sie nicht mit Erwartungen hergekommen sind, die sich auf meinen etwas zweifelhaften Ruf gründen, was den Umgang mit Zimmermädchen betrifft. Meine Ambitionen in dieser Richtung liegen etliche Jahre zurück.“

„Deshalb bin ich ganz sicher nicht hier.“ Liyah hatte Mühe, ihre Empörung über eine derart unsinnige Unterstellung zu verbergen. Ganz war es ihr offenbar nicht gelungen.

„Freut mich zu hören.“ Gene lächelte unerwartet. „Meine Verlobte ist nämlich sehr eifersüchtig und besitzergreifend.“

Und er ist ein ehemaliger Schürzenjäger, der die Vergangenheit zweifellos genau da lassen will, wo sie ist: vergessen und beerdigt …

„Ich glaube, es war keine gute Idee, hierherzukommen“, murmelte Liyah. „Verzeihen Sie, dass ich Sie belästigt habe.“ Plötzlich erschien es ihr unmöglich, den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen.

„Unsinn! Sie haben sich doch nicht ohne Grund in die Höhle des Löwen gewagt, oder? Kommen Sie rein, Amari.“ Gene trat zur Seite und wedelte ungeduldig mit der Hand.

„Gerade erinnern Sie mich an den Emir“, murmelte Liyah und tat wie geheißen.

Offenbar hatte Gene sie gehört und honorierte ihren Sarkasmus überraschenderweise mit einem amüsierten Auflachen. „Und Sie sind kein zimperliches Mauerblümchen, Amari, das muss man Ihnen lassen.“

„Mein Name ist Aaliyah, ich werde aber meistens Liyah genannt.“ Das hörte sich eher amerikanisch an, obwohl die Schreibweise den Mittleren Osten verriet.

Sein Lächeln schwand. „So vertraut sind wir wohl kaum, dass der Vorname relevant wäre“, stellte Gene klar und wies auf einen der Lehnsessel, die zu beiden Seiten eines weißen Marmorkamins standen, in dem ein Feuer brannte. „Nehmen Sie doch Platz.“

Liyah setzte sich auf die vordere Kante und knetete nervös die Hände im Schoß. „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll.“

„Am besten von vorn, würde ich sagen.“

Sie nickte gedankenverloren, löste spontan die Kette mit dem Medaillon von ihrem Hals und reichte sie Gene.

„Ein sehr schönes Schmuckstück“, urteilte er nach einem kurzen Blick. „Wollen Sie es verkaufen?“, fragte er dann etwas verwirrt, ohne etwas von der erwarteten Reaktion zu zeigen.

„Nein. Würden Sie es bitte öffnen und sich die Bilder auf der Innenseite ansehen?“ Eines war von ihr selbst an ihrem sechzehnten Geburtstag, das andere von ihrer Mutter, im gleichen Alter. Mit achtzehn, also in dem Jahr ihrer kurzen Affäre mit Gene Chatsfield, konnte sie nicht viel anders ausgesehen haben.

Gene sah sich die Bilder aufmerksam an und wirkte immer noch so verwirrt wie zuvor. „Sie waren ein sehr hübsches Mädchen, ebenso wie ihre Schwester, aber ich bin nicht sicher, was …“

„Das andere Mädchen ist nicht meine Schwester, sondern war meine Mutter.“

Ihr Vater sah auf. „Sie lebt nicht mehr?“

Stumm schüttelte Liyah den Kopf und schluckte heftig.

„Das tut mir sehr leid für Sie.“

„Danke. Leider hat sie mir bis kurz vor ihrem Tod nichts von Ihnen erzählt.“

Jetzt war Genes Blick eher wachsam als verwirrt. „Vielleicht erzählen Sie mir erst mal, wer sie ist und warum sie mit Ihnen über mich geredet haben soll.“

„Sie haben sie wirklich nicht erkannt?“ Das Foto war zwar klein, aber ziemlich scharf.

„Nein.“

„Das ist …“ Fast hätte Liyah beschämend gesagt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. „Enttäuschend.“

„Langsam kann ich mir wenigstens ein Bild darüber machen, warum Sie hier sind.“ Aus Genes Stimme war jede Verbindlichkeit verschwunden.

„Sie wissen es also doch?“

„Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit so etwas konfrontiert werde.“

Der sarkastische Unterton ließ den kleinen Hoffnungsschimmer wieder erlöschen, der gerade in ihr aufgekeimt war. „Ich verstehe nicht …“

„Sind Sie nicht hier, um mir zu eröffnen, dass ich Ihr Vater bin?“

„Das passiert Ihnen öfter?“, fragte sie schockiert. „Wie viele unschuldige Zimmermädchen haben Sie denn verführt?“

„Das geht Sie nichts an.“ Jetzt war seine Stimme hart und kalt wie Stahl.

Ganz unrecht hatte er nicht. „Gut, aber tun Sie nicht so, als würden Sie nichts von mir wissen – selbst wenn Sie meine Mutter nie nach meinem Vornamen gefragt haben. Sie hat mir nämlich von der finanziellen Unterstützung erzählt.“

„Der Name Ihrer Mutter?“

„Hena Amari.“ So, das sollte ihm endlich die Augen öffnen, auch wenn Liyah sich wunderte, dass ihn der Nachname bisher nicht stutzig gemacht hatte.

„Sie bezichtigen mich also, eine Affäre mit Ihrer Mutter unterhalten zu haben, die nicht ohne Folgen geblieben ist.“ Es hörte sich nicht an wie eine Frage. „War sie auch in einem meiner Hotels beschäftigt?“

„Ja, als Zimmermädchen im Chatsfield San Francisco.“

„Welches Jahr?“

Sie sagte es ihm, doch Gene schüttelte nur den Kopf. „Auch wenn ich nicht stolz bin, was den Teil meines Lebens betrifft, lasse ich mich grundsätzlich nicht erpressen.“

„Aber … das habe ich doch gar nicht versucht!“

„Sie haben eine finanzielle Unterstützung erwähnt.“

„Die Sie geleistet haben, bis mein Studium abgeschlossen war. Es war nicht besonders viel, kam aber regelmäßig.“

„Ah! So langsam nähern wir uns dem Kern der Sache.“

„Tatsächlich?“ Inzwischen fühlte sich Liyah so verwirrt, wie ihr Vater es gewesen war, als sie unerwartet vor seiner Tür aufgetaucht war.

„Sie wollen Geld.“

„Will ich nicht!“

„Warum haben Sie die Zahlungen dann erwähnt?“

„Um Ihnen zu beweisen, dass Sie schon immer von mir wussten.“ Liyah sagte es so langsam und eindringlich, als spräche sie mit einem kleinen Kind. Entweder stellte er sich absichtlich dumm, oder die Sachlage war nicht so, wie sie es bisher gedacht hatte. Es war, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen.

„Ich habe nie irgendwelche Zahlungen geleistet.“

Entschieden schüttelte Liyah den Kopf. „Das ist unmöglich.“ Er log. Es musste eine Lüge sein. „Mom hat mir versichert, Sie seien kein schlechter Mensch, sondern ein unglücklicher Mann in einer schwierigen Situation. Und die Unterstützung sei der Beweis dafür, dass Ihnen etwas an mir läge, auch wenn Sie nicht an meinem Leben teilhaben könnten.“

„Ihre Mutter scheint eine ganze Menge gesagt zu haben, das meiste davon offenbar ziemlich konstruiert.“

Es klang zu desinteressiert, um vorgetäuscht zu sein. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam nur schwer Luft und rang nach Atem, während ihr die Wahrheit dämmerte.

Nicht Gene Chatsfield hat gelogen, sondern Hena. Die einzige Person, der sie bedingungslos vertraut hatte. Die einzige Familie, die sie je hatte.

Etwas in Liyah brach sich gewaltsam Bahn. Tief verwurzelte Überzeugungen und verstörende Gefühle wirbelten durcheinander in einem emotionalen Sturm, der in ihrem Innern tobte. Der letzte Wille ihrer Mutter war eine Farce. Ihr Vater wusste gar nicht von ihr und wollte auch nichts mit ihr zu tun haben.

„Ich kann nur wiederholen, ich habe nie irgendwelche Zahlungen geleistet.“ In seinen kalten blauen Augen sah sie weder Verständnis noch Anteilnahme oder gar Mitgefühl. „Davon abgesehen, wenn Sie tatsächlich meine Tochter wären und ich mich bereit erklärt hätte, Sie zu fördern, wäre die Unterstützung ganz sicher nicht spärlich ausgefallen.“

Das Herz lag wie ein Stein in Liyahs Brust. „Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben …“, murmelte sie tonlos. „Es wird nie wieder geschehen.“

Sie erhoben sich gleichzeitig, und einen Moment lang standen Vater und Tochter dicht voreinander. Gene Chatsfield überragte Liyah trotz der altersbedingten, leicht gebeugten Haltung fast um Haupteslänge. „Sollten Sie versuchen, aus unserer angeblichen Verbindung ein wie auch immer geartetes Kapital schlagen zu wollen, werde ich nicht zögern, gerichtlich gegen Sie vorzugehen.“

Liyah zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. „Meine Mutter war im Unrecht“, murmelte sie tonlos.

„Auf jeden Fall, da sie die Verantwortung für diese unschöne Szene trägt. Ist sie wirklich verstorben? Langsam bezweifle ich sogar das.“

Liyahs Blick stand seinem in Kälte nichts nach. „Sie ist vor vier Monaten gestorben.“

„Was hat Sie abgehalten, Ihr Glück schon früher bei mir zu versuchen?“, fragte er zynisch und gab sich gleich darauf selbst die Antwort. „Wahrscheinlich hat es einfach seine Zeit gedauert, auszubaldowern, welche Annehmlichkeiten Ihnen zukünftig winken, sollte es Ihnen gelingen, mich um den kleinen Finger zu wickeln.“

Mit hoch erhobenem Gesicht sah Liyah Gene Chatsfield fest in die Augen. „Die einzige Annehmlichkeit ist der Umstand, dass Ihre Hotelleitung für mein Flugticket nach London aufgekommen ist“, informierte sie ihren Vater.

„Ich erwarte, Ihre Kündigung morgen auf meinem Tisch vorzufinden. Für Möchtegernerpresser ist in meinen Hotels kein Platz.“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich auf der Stelle gehen“, konterte Liyah kühl. „Doch im Gegensatz zu einigen Ihrer Kinder, die Sie erzogen haben, besitze ich ein ausgeprägtes Pflichtgefühl.“ Damit leitete sie ihren strategischen Rückzug ein und tat ihr Bestes, um Gene Chatsfield nicht zu zeigen, wie erschüttert sie war.

Als sie ihn mit vielen umständlichen Worten und Erklärungen gebeten hatte, ihr ein Vater zu sein, hatte sie ihm ihre verletzliche Seite gezeigt, doch das würde nie wieder geschehen.

Als Liyah bereits mit dem Lift auf dem Weg ins Erdgeschoss war, fiel ihr ein, dass sie das Medaillon ihrer Mutter vergessen hatte. Die Türen glitten auf, doch sie fühlte sich innerlich so zerrissen, dass sie weder den Fahrstuhl verlassen noch sich dazu durchringen konnte, wieder nach oben zu fahren, um das unersetzbare Schmuckstück zurückzufordern.

Sie focht immer noch einen stummen Kampf mit sich aus, als sich zwei Männer zu ihr gesellten. Da sie nie wieder mit Gästen fahren wollte, hätte sie den Lift spätestens jetzt verlassen müssen, doch sie wandte sich nur ab und senkte den Blick, nachdem einer von ihnen den Knopf für die Etage gedrückt hatte, in der Sayed untergebracht war.

Liyah ballte die Hände zu Fäusten. Trotz ihrer Verstörung wusste sie eins ganz genau: Niemals würde sie Gene Chatsfield um die Rückgabe der Kette bitten. Dann musste sie eben von dieser kostbaren Erinnerung Abschied nehmen, wie sie es schon von der Überzeugung getan hatte, dass ihre Mutter sie niemals anlügen würde.

Ihre gesamte Kindheit hatte sie geglaubt, dass ihr Vater von ihrer Existenz wusste und aus der Ferne für sie sorgte, wenn auch nur minimal.

Was für eine Ironie!

Doch ganz unerwartet erkannte Liyah plötzlich, wie viel es ihr bedeutet hatte, dass sie überhaupt einen Vater besaß, egal, wie anonym und abwesend er war. Ihre Mutter musste so etwas vorausgesehen haben. Arme, tapfere, kluge, einsame Hena.

Ein eisiger Schauer überlief sie. Ihr Hirn fühlte sich an wie in Watte gepackt, die Hände zitterten, das Herz schlug in einem Rhythmus, der ihr völlig fremd war.

Hätte Liyah es nicht besser gewusst, würde sie annehmen, dass sie einen Schock hatte. Geräusche drangen wie durch einen Tunnel an ihr Ohr, die Farben in ihrer Umgebung wirkten unnatürlich scharf, während wichtige Details in einem grauen Nebel verschwanden. Sie hatte Angst, dass die Fahrstuhlwand einfach zurückweichen würde, wenn sie jetzt die Hand danach ausstreckte. Nichts schien mehr greifbar und real angesichts der Lebenslüge, in die Hena sie beide eingesponnen hatte.

Inmitten ihrer Benommenheit nahm Liyah eine Stimme wahr, die ihr durch Mark und Bein ging. Vielleicht weil sie von dem Mann kam, der ihre Gedanken noch mehr gefangen nahm als ihr biologischer Vater.

Sayed sprach auf Arabisch mit seinem persönlichen Bodyguard, dem Mann, den er Yusuf genannt hatte. Er war so wütend und außer sich, dass er ihre Anwesenheit im Lift gar nicht wahrnahm. Was Liyah nicht wunderte, als sie den Inhalt der Konversation realisierte. Offenbar hatte sie heute nicht als Einzige eine unglaubliche Enttäuschung erlebt. So unfassbar es schien – wie es aussah, war die zukünftige Sheikha von Zeena Sahra mit einer Palastwache durchgebrannt.

Was für eine Frau mochte das sein, die mit einem anderen davonlief, wenn sie ein Leben lang mit Sayed zusammen sein könnte?

Die Türen glitten auf, und Liyah betrat die Etage, die ausschließlich für die Entourage des Emirs reserviert war. Wobei ein Zimmer ab sofort frei stand. Sayeds Verlobte würde es nicht benutzen, nicht morgen und an keinem anderen Tag.

Damit hatte Liyahs überwältigendes Verlangen, endlich allein zu sein, um ihre Wunden lecken zu können, ein Ziel. Sie schaute kurz um sich, doch von Sayeds Gefolge war niemand zu sehen. Mit ihrer Generalkarte öffnete sie die Tür der Exverlobten und betrat den luxuriösen Raum. Ihr Hals brannte von ungeweinten Tränen, die sie ihr Leben lang unterdrückt hatte, um ihre Mutter nicht zu betrüben und noch mehr zu belasten. Und schon gar nicht hätte sie sich vor Fremden eine derartige Schwäche erlaubt.

Während Liyah sich umsah, hatte sie keine Augen für die mit mintgrüner Seide bespannten Wände, die eleganten Stilmöbel und die geschickt gesetzten, weißen Akzente, die der Suite eine charmant weibliche Note verliehen. Sie war ganz auf die Zimmerbar konzentriert, die sich, wie Liyah wusste, in einer Nische zwischen dem Wohn- und Schlafbereich befand.

Die Menge und Auswahl an Alkohol hatte sie überrascht, als sie die Suite zum ersten Mal inspiziert hatte. Doch wie sie vom Personal erfuhr, kam die Order nicht aus Sayeds Umfeld, sondern von Tahira persönlich. Und Liyahs Aufgabe war es nicht, Fragen zu stellen, sondern dafür zu sorgen, dass auch die Sonderwünsche der Gäste erfüllt wurden.

Trotzdem kam Liyah nicht umhin, sich zu wundern, dass es weder in Sayeds Suite noch in den Zimmern seiner Begleiter Alkohol gab. Ob er überhaupt von den speziellen Vorlieben seiner Verlobten wusste?

Egal. Offensichtlich waren Tahiras Trinkgewohnheiten nicht das Einzige, was sie vor ihrem Verlobten geheim gehalten hatte …

Liyah war bei ihrem dritten Glas eines ausgezeichneten Whiskeys angekommen, als sie hörte, wie die Tür in ihrem Rücken geöffnet wurde. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr Sayeds attraktives, seltsam angespanntes Gesicht. Gekleidet war er wie gewohnt: Maßanzug unter der offenen, schwarzen Abaya.

Als sich ihre Blicke begegneten, glaubte sie im Feuer seiner dunklen Augen zu verglühen.

4. KAPITEL

Was ihn in die Suite seiner Exverlobten trieb, hatte absolut nichts mit sentimentalen Regungen zu tun. Sayed ging es einzig und allein um die exzellent bestückte Bar, an der er sich ohne Zeugen bedienen wollte.

Es traf ihn wie ein Blitzschlag, dass er nicht allein war. Sein Körper reagierte prompt mit einem inzwischen schon schmerzhaft vertrauten Ziehen in der Lendengegend. Allerdings irritierte und störte ihn das längst nicht so, wie es noch vor zwei Stunden der Fall gewesen wäre.

Aaliyah Amari saß hingegossen auf einem der niedrigen Sofas, in der Hand ein Whiskeyglas, in den smaragdgrünen Augen einen eher wachsamen als schuldbewussten Ausdruck. Der leise Duft von einem ausgezeichneten Single Malt verriet ihm, dass sie aus dem gleichen Grund hergekommen war wie er. Um zu trinken.

An jedem anderen Tag wäre er darüber empört gewesen und hätte eine Erklärung für ihr unakzeptables Verhalten gefordert, doch heute hatte er sein gesamtes Wutpotenzial bereits in der Reaktion auf Tahiras unglaublichen Betrug verschossen.

„Sie ist nicht hier“, eröffnete ihm Aaliyah mit belegter Stimme.

„Das ist mir durchaus bewusst.“

Liyah versuchte ein schwaches Lächeln. „Wahrscheinlich fragen Sie sich, was ich hier zu suchen habe …“

„Ich nehme an, Sie brauchten einen Drink und einen Rückzugsort, um ihn zu sich zu nehmen.“

Vor Überraschung weiteten sich ihre Augen. „Sind Sie ein Hellseher?“

Sayed zuckte nur mit den Schultern.

„Haben Sie mit meinem Vater gesprochen?“ Liyah beugte sich vor und fixierte ihn misstrauisch.

Der aggressive Unterton in ihrer Stimme ließ ihn die Brauen heben. Sie musste bereits betrunken sein, um anzunehmen, der Emir von Zeena Sahra würde Kontakt zu einem ihrer Elternteile suchen. „Falls ich Mr. Amari begegnet sein sollte, war es mir zumindest nicht bewusst.“

Liyah ließ sich in die weichen Kissen zurückfallen und schürzte die Lippen. Was herauskam, war ein leiser Seufzer, der in einen Schluckauf überging.

„Sie sind betrunken.“

„Ich glaube nicht …“ Sie schien darüber nachdenken zu müssen. „Ich hatte erst drei Gläser Whiskey. Reicht das, um betrunken zu sein?“

Sayed war ernsthaft schockiert. „Sie haben drei Whiskeys getrunken?“

„Die Gläser waren nicht randvoll“, klärte sie ihn auf. „Ich weiß, wie man einen Drink einschenkt, auch wenn ich für gewöhnlich keinen Alkohol zu mir nehme.“ Sie zeigte die Füllmenge mit einem Finger an und schaute verwundert auf, als sie Sayed schnauben hörte.

„Sie haben drei Doppelte getrunken!“

„Ist das schlimm?“

„Kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Aus welchem Grund Sie trinken.“

„Ich habe heute herausgefunden, dass jemand, dem ich absolut vertraut habe, mich mein ganzes Leben lang belogen hat. Und dass ich Dinge für wahr gehalten habe, die nicht mehr als ein schönes Märchen waren.“

„Tut mir leid für Sie.“

Jetzt war Liyah es, die mit den Schultern zuckte und dabei fast den restlichen Whiskey verschüttet hätte. „Sie hat mir erzählt, mein Vater sei kein schlechter Mensch.“

„Sie?“

„Meine Mom.“

„Sie kennen Ihren Vater gar nicht?“ Sein Leben war sicher nicht so wundervoll verlaufen, wie man es sich gemeinhin vorstellte, wenn jemand königlichen Geblüts war, aber wenigstens hatte er einen Vater. Falah al Zeena war seinem Volk ein gerechter, verantwortungsvoller Herrscher, aber für Sayed war er mehr als nur der König. Früher hatte er ihn liebevoll Baba genannt, und noch heute war er sein engster Vertrauter.

„Nicht bis vor Kurzem …“ Sie seufzte. „Ich glaube, meine Mutter hat sich geirrt.“

„Soll heißen, er ist ein schlechter Mensch?“ Die surreale Konversation zwischen ihm und dem Zimmermädchen schien irgendwie zu dem verrückten Tag zu passen.

Erneutes Seufzen. „Vielleicht nicht gerade schlecht, aber auf keinen Fall nett.“

„Ich befürchte, dass viele Menschen auch über mich so denken.“

„Schon möglich.“

Sayed lachte. „Sie hätten mir widersprechen müssen, das ist Ihnen doch wohl klar?“

Liyah suchte seinen Blick, wenn auch etwas unsicher. „Warum? Wenn es die Wahrheit ist. Ich glaube, Sie sind viel zu arrogant und autoritär, um nett zu sein.“

„Ich bin ein Emir.“

„Exakt.“

„Glauben Sie nicht, dass ein Herrscher auch freundlich sein kann?“

„Freundlich ist nicht dasselbe wie nett“, entschied Liyah spontan. „Außerdem sind Sie noch kein Herrscher.“

„Als Emir obliegen mir aber etliche Verpflichtungen, die denen eines Herrschers entsprechen.“ Und die sich verzehnfachen würden, wenn er nach der Hochzeit mit Tahira den Thron von seinem Vater übernommen hätte. Nach einer Hochzeit, die nie stattfinden würde, da seine Braut es vorgezogen hatte, mit einem Mann durchzubrennen, der nicht nur ein Jahr jünger als sie selbst war, sondern gesellschaftlich auch noch weit unter ihr stand.

„Okay.“

„Okay … was?“

„Ich bin nicht sicher.“ Liyah starrte ihn an, als erwarte sie die Antwort von ihm.

Sayed schüttelte den Kopf. „Sie sind ja völlig hinüber.“

„Und Sie wären es gern, oder? Auch wenn sich in meinem Kopf alles dreht, funktioniert mein Gehirn noch ausgezeichnet.“

„Was sich genau wie bemerkbar macht?“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Das trug ihm einen überraschend scharfen Blick ein. „Dass mit dem Drink und dem verschwiegenen Platz wussten Sie nur, weil sie selbst danach Ausschau gehalten haben, stimmt’s?“

„Eine verwegene Theorie für eine Frau, die unter Garantie nicht mehr ganz sicher auf den Beinen ist.“

„Was ich nicht vorhabe, auszuprobieren“, informierte Liyah den Emir hoheitsvoll.

„Ich hätte jetzt aber gern meinen Drink.“

„Wo ist das Problem?“ Liyah wedelte auffordernd mit der Hand. „Bedienen Sie sich.“

„Wäre das nicht eigentlich Ihre Aufgabe?“, fragte Sayed in völlig verändertem Ton, der ihr aber nur ein Kichern entlockte. Da sie so offenbar nicht weiterkommen würden, füllte er Eiswürfel in ein Glas und goss einen Schluck Ouzo darüber, ehe er neben Liyah auf dem Sofa Platz nahm. „Sie werden niemandem davon erzählen.“

Seufzend rollte sie mit den Augen. „Was ist nur mit diesen reichen, mächtigen Typen los, dass sie ständig annehmen, mir so etwas sagen zu müssen? Glauben Sie etwa, ich wäre scharf darauf, überall herumzuposaunen, dass man mich betrunken in einer der luxuriösesten Gästesuiten entdeckt hat?“

„Tahira wird sie nicht brauchen.“ Was für eine unsinnige Antwort! Eher pragmatisch als bitter. Natürlich war er wütend wegen ihrer Verantwortungslosigkeit und des extrem schlechten Timings, während die Tatsache, dass sie ihm einen anderen Mann vorzog, Sayed kaltließ.

„Wie praktisch für uns beide.“

Eine betrunkene Logik, auf die er sich lieber nicht einlassen sollte. „Ich wäre nicht hier, wenn meine Verlobte ihr Versprechen gehalten hätte.“

Liyah nickte. „Sie ist mit einem anderen durchgebrannt, oder?“

Erschrocken fuhr er zusammen. „Ist die Geschichte etwa schon in der Presse?“

Sein Leben würde also wieder einmal eine Wende nehmen, die sich niemand gewünscht hätte, doch zum ersten Mal, seit er sich zurückerinnerte, war es ihm egal. Er hatte seinen Bruder verloren und mit ihm den Rest seiner Kindheit. Die folgenden Jahre hatte er jede Pflicht und Verantwortung klaglos auf sich genommen, die man ihm damals auf die schmalen Schultern geladen hatte – und parallel dazu seine eigenen Wünsche, Träume und Hoffnungen stumm begraben.

Jetzt war er nur noch müde, frustriert und wütend.

Natürlich würde das nicht ewig anhalten, aber eine Nacht lang wollte er nicht der Emir von Zeena Sahra sein, sondern nur ein gewöhnlicher Mann. Ein freier Mann …

„Ich habe mein gesamtes Leben damit zugebracht, der zu sein, den man in mir sehen wollte, und das zu tun, was von mir verlangt wurde“, erklärte er rau, nicht sicher, warum er sich dazu gedrungen sah. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, der Frau an seiner Seite vollends vertrauen zu können – angetrunken oder nicht.

Aaliyah kippte den Rest ihres Whiskeys in einem Schluck herunter. „Ach … ja?“

„Tahira war nicht meine große Liebe. Und eine Heirat mit einer Frau, die für einen eher die kleine Schwester ist, erscheint nur wenig verlockend.“

„Aber Nein gesagt haben Sie nicht.“

„Natürlich nicht!“

„Und jetzt ärgert es Sie, dass Tahira die Initiative ergreift und dem goldenen Käfig ein freies Leben vorzieht.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Sind Sie sicher, dass Sie wirklich drei Doppelte hatten? Oder war das nur jetzt ein kurzer lichter Moment?“

Sie kicherte, was dummerweise zum nächsten Schluckauf führte und Sayed ein amüsiertes Lächeln entlockte. Noch vor zehn Minuten hätte er das für unmöglich gehalten. Aber diese Frau schien eine Zauberin zu sein. Selbst sein anfänglicher Wutausbruch, nachdem er von Tahiras Betrug erfahren hatte, konnte nicht mit dem brennenden Verlangen mithalten, das ihn quälte, seit er Aaliyah zum ersten Mal in die grünen Nixenaugen geschaut hatte.

„Ich glaube, ihr seid jetzt beide besser dran“, entschied Liyah und ging zur vertraulichen Anrede über, ohne sich den leisesten Gedanken zu machen.

Sayeds Lächeln vertiefte sich. „Eine ziemlich naive Sichtweise.“

„Vielleicht.“ Sie dachte einen Moment nach. „Ich wurde von einer bewundernswerten Frau zur Welt gebracht, die auf alles im Leben verzichtet hat, um mich behalten zu können. Und sie war keine Königin.“

„Meine Mutter schon, und sie ist ebenfalls eine wundervolle Frau“, fühlte sich Sayed gedrängt zu versichern.

Liyah lächelte weich. „Ich weiß. Ich habe über sie gelesen. Melecha Durrah gilt als gütige und freundliche Herrscherin, das sagen alle.“

„Nicht nett?“, zog Sayed sie auf.

„Kann ich nicht sagen, da ich sie leider noch nie persönlich getroffen habe.“

„Sie ist es aber, viel mehr als ihr Mann oder Sohn.“

Nett wird auch häufig überbewertet.“

„Warum sagst du das?“ Auch Sayed tat sich keinen Zwang mehr an. Seltsamerweise erschien es ihm völlig natürlich, sich so vertraut mit jemandem zu unterhalten, den er kaum kannte.

„Meine Mutter zum Beispiel war viel zu nett. Wenn sie irgendwann mal wütend auf die Menschen geworden wäre, die sie andauernd verletzt haben, hätte sie ein wesentlich besseres und leichteres Leben gehabt.“

„Vielleicht war ihr der innere Frieden wichtiger, weil sie vergeben konnte.“

„Mag sein.“ Liyah stemmte sich abrupt aus den weichen Polstern hoch und blieb nach ein paar unsicheren Schritten schwankend stehen. „Ich glaube, ich brauche noch einen.“

Wie der Blitz war Sayed an ihrer Seite und dirigierte sie zurück aufs Sofa. „Gleich nach einem Glas Wasser“, versprach er.

„Ich will aber kein Wasser.“

Autor

Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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