Julia Exklusiv Band 352

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EIN ABENTEUER ZU VIEL? von CATHY WILLIAMS
Das Leben könnte nicht schöner sein! Ruth ist neu in der Stadt, und jeder in der Redaktion ist von ihr begeistert – auch ihr Boss Franco Leonie. Als sie mit ihm an einer Reportage über das Londoner Nachtleben arbeitet, vermischen sich Berufliches und Privates mit ungeahnten Folgen ...

TU, WAS DEIN HERZ BEFIEHLT von SHARON KENDRICK
Trotz aller Zweifel: Alessandra und Cameron sind nach ihrer Blitzhochzeit weiter glücklich! Ihr Geheimrezept? Nur eine Wochenend-Ehe führen! Bis Alessandra Cameron bei einer Tagung überrascht – und etwas passiert, das alles verändert …

NUR GUTE FREUNDE? von ANNE MCALLISTER
Eigentlich waren Mariah und Rhys beste Freunde – bis sie eine Nacht miteinander verbracht haben und Mariah schwanger wurde. Rhys gibt ihr zu verstehen, dass er mit Familie nichts im Sinn hat. Erst als Mariah sich mit anderen Männern trifft, erkennt er seinen Irrtum und versucht, ihr mit einem Geschenk zu zeigen, was er für sie empfindet ...


  • Erscheinungstag 22.07.2022
  • Bandnummer 352
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511971
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cathy Williams, Sharon Kendrick, Anne McAllister

JULIA EXKLUSIV BAND 352

1. KAPITEL

Ruth Jacobs hörte die Schritte im Treppenhaus und erstarrte. Hatten ihre Eltern sie nicht vor den Gefahren gewarnt, die in London lauern würden?

Straßenräuber. Perverse. Vergewaltiger.

Sie schluckte und fragte sich, ob sie sich dem Einbrecher stellen sollte, der in dem zweistöckigen viktorianischen Haus herumschlich. Dieses hatte man im letzten Jahr in Büroräume für fünfzehn Angestellte umgebaut.

Aber sie war noch nie besonders mutig gewesen! Also blieb sie einfach im Zimmer stehen und betete, der Eindringling möge erkennen, dass es hier nichts zu stehlen gab, und wieder auf demselben Weg verschwinden, auf dem er gekommen war.

Sie hörte die Schritte auf dem Parkettboden immer deutlicher. Der Unhold musste sich dem Büro nähern, schien genau zu wissen, wohin er gehen wollte.

Auf dem Flur brannte kein Licht. Es war kurz nach halb acht abends, und wenngleich der Sommer noch nicht ganz vorüber war, wurde es schon dunkel.

Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um in Ohnmacht zu fallen, dachte Ruth, als hinter der Glastür ein großer Schatten auftauchte. Doch sie tat es nicht. Sie war so von Angst erfüllt, dass sie sich noch nicht einmal von der Stelle rühren konnte, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und ein großer, breitschultriger schwarzhaariger Mann hereinkam.

Er wirkt in seinem Anzug eigentlich nicht wie ein Gewaltverbrecher, überlegte sie. Hatte er sich vielleicht nur in der Adresse geirrt und wollte ganz woandershin? Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie schrill.

Der Mann musterte sie kurz mit seinen blauen Augen. „Wo sind die anderen?“, erkundigte er sich und begann, von Schreibtisch zu Schreibtisch zu gehen, als hätte er jedes Recht dazu.

„Vielleicht könnten Sie mir sagen, wer Sie sind?“, meinte Ruth, nachdem sie ihn einen Moment beobachtet hatte.

„Vielleicht könnten Sie mir sagen, wer Sie sind?“ Er sah sie über die Schulter hinweg an.

„Ich arbeite hier.“ Allmählich verließ sie der Mut, und sie ermahnte sich stumm, sich zusammenzureißen.

„Und wie heißen Sie?“

„Ruth Jacobs“, antwortete sie, bevor sie sich klarmachte, dass es ihn überhaupt nichts anging. Er hatte kein Recht, sie auszufragen. Er arbeitete nicht in diesem Haus und hatte hier nichts zu suchen.

„Der Name kommt mir nicht bekannt vor.“ Der Mann setzte sich auf eine Schreibtischkante und betrachtete Ruth. „Sie gehören nicht zu meinen Redakteuren. Ich habe eine Liste der Namen, und Ihrer steht nicht darauf.“

Die Angst fiel von ihr ab. Stattdessen war Ruth jetzt ziemlich verwirrt, was ihrem zarten, blassen Gesicht deutlich abzulesen war.

„Wer sind Sie?“ Schnell senkte sie den Blick, damit seine überwältigende männliche Ausstrahlung sie nicht noch mehr durcheinanderbrachte. „Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden.“

„Wahrscheinlich, weil ich ihn nicht genannt habe“, erwiderte er trocken. „Ruth Jacobs, Ruth Jacobs …“ Er neigte den Kopf etwas zur Seite und musterte sie weiter. „Ja, Sie könnten … sehr geeignet …“

„Hören Sie … Ich wollte gerade die Redaktionsräume abschließen … Vielleicht könnten Sie einen Termin bei Miss Hawes …“ Plötzlich wurde ihr bewusst, wie seltsam es auf ihn wirken musste, dass sie noch immer wie regungslos mit einem Stoß Akten in Händen dastand. Sie legte ihn auf den nächstbesten Schreibtisch, holte Alisons Terminkalender und begann darin zu blättern.

„Als was arbeiten Sie hier?“

Ruth atmete tief ein. „Ich beantworte keine weiteren Fragen mehr, bevor Sie mir gesagt haben, wer Sie sind“, erklärte sie in einem Anflug von Kühnheit und errötete umgehend. Oh verflixt, dachte sie, mit zweiundzwanzig solltest du nicht mehr so schüchtern und ungewandt sein und wie ein Backfisch erröten.

„Ich heiße Franco Leonie“, stellte er sich vor und wartete einen Moment lang auf eine Reaktion. Als Ruth ihn aber weiterhin verwirrt anblickte, fügte er leicht ungeduldig hinzu: „Mir gehört diese Redaktion, Miss Jacobs.“

„Wirklich?“, erwiderte sie zweifelnd.

„Erzählt Alison Ihnen denn überhaupt nichts? Was für ein schlechter Führungsstil! Wie lange arbeiten Sie schon hier? Sind Sie eine Aushilfskraft? Warum, zum Teufel, betraut sie eine Aushilfskraft mit dem Abschließen der Redaktionsräume? Das ist einfach unmöglich.“

Seine immer ärgerlicher klingende Stimme brachte sie zur Besinnung. „Ich bin keine Aushilfskraft, Mr. Leonie. Ich arbeite hier seit der Übernahme vor elf Monaten.“

„Dann sollten Sie wissen, wer ich bin. Wo ist Alison?“

„Sie ist vor etwa einer Stunde gegangen“, antwortete Ruth widerwillig, während sie fieberhaft versuchte, etwas mit seinem Namen anzufangen. Doch es gelang ihr nicht. Sie wusste zwar, dass das kleine, verlustreiche Magazin von einer Firmengruppe übernommen worden war, aber die Namen der neuen Besitzer hatte sie entweder noch nie gehört, oder sie waren ihr momentan entfallen.

„Wohin ist sie gegangen? Stellen Sie mir eine Telefonverbindung mit ihr her.“

„Es ist Freitag, Mr. Leonie. Miss Hawes wird nicht zu Hause sein. Ich glaube, sie wollte mit … mit ihrer Mutter ins Theater.“

Ruth spürte, wie sie bei der kleinen Notlüge erneut errötete, und blickte an ihm vorbei zum Fenster. Eigentlich nahm sie es mit der Wahrheit immer sehr genau. Allerdings hatte sie der Verdacht beschlichen, dass Franco Leonie nicht gerade erbaut sein würde, wenn sie ihm erzählte, dass Alison mit einem anderen Mann essen gegangen war.

Die rothaarige Chefredakteurin war eine sehr temperamentvolle, lebenslustige Frau, die häufiger die Partner wechselte. Und dieser umwerfend attraktive Mann hier schien ihr, Ruth, ganz nach deren Geschmack zu sein. Doch sie fühlte sich nach einem langen Arbeitstag außerstande, mit einem ehemaligen Freund ihrer Chefin fertig zu werden.

„Dann müssen Sie mir wohl einfach glauben, dass ich der Boss bin.“ Lächelnd betrachtete Franco Leonie sie, als würde ihre Miene ihn amüsieren. „Und glauben Sie es oder nicht, ich bin froh, dass ich auf Sie getroffen bin.“ Ein nachdenklicher Ausdruck trat in seine Augen, aber Ruth beachtete ihn kaum.

„Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“

„Eltern, die sich Sorgen machen?“

„Ich lebe nicht bei meinen Eltern“, antwortete sie kühl. Auch nach fast fünfzehn Monaten freute sie sich noch immer, abends in ihre wenn auch kleine Wohnung zu kommen. Sie hatte als Letzte ihrer Freundinnen das schützende Zuhause verlassen und es auch nur getan, weil sie gespürt hatte, dass es nötig war.

Sie liebte ihre Eltern sehr und auch das Pfarrhaus, in dem sie aufgewachsen war. Doch mit der Zeit war ihr klar geworden, dass es zwei Möglichkeiten für sie gab. Entweder führte sie ein beschauliches Leben in ihrem Heimatdorf, wo ihre Altersgenossinnen nur ein Ziel hatten – zu heiraten und viele Kinder zu bekommen. Oder sie verließ die vertraute Umgebung, zog hinaus in die große, weite Welt und lernte diese kennen.

„Nein?“, fragte Franco Leonie, als würde er ihr nicht glauben.

Finster blickte sie ihn an. „Nein. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und habe eine Wohnung in Hampstead. Möchten Sie nun einen Termin bei Miss Hawes?“

„Sie haben offenbar vergessen, dass mir die Redaktion gehört. Ich brauche keinen Termin.“

Was für ein arroganter Mann, dachte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut. Würden Sie dann vielleicht gehen?“

„Haben Sie schon gegessen?“

„Wie bitte?“

„Ich habe Sie gefragt …“

„Ich habe Sie sehr wohl verstanden, Mr. Leonie. Mir ist nur nicht klar, was Ihre Frage bedeuten soll.“

„Dass ich Sie zum Essen einlade, Miss Jacobs.“

„Ich fürchte … Ich kann unmöglich … Es ist nicht …“

„Es ist nicht Ihre Art, sich von fremden Männern einladen zu lassen?“

Natürlich hatte er gewusst, was sie gedacht hatte. Es lag ihr einfach nicht, sich zu verstellen.

„Das ist richtig“, bestätigte sie ärgerlich. „Und wahrscheinlich finden Sie das etwas ungewöhnlich, aber ich …“ Was tat sie denn da? Wollte sie ihm erzählen, wie behütet sie als Tochter eines Pfarrers aufgewachsen war? War sie nicht nach London gezogen, um in der Großstadt etwas weltgewandter zu werden?

„Ich beiße nicht, Miss Jacobs“, erklärte Franco Leonie und stand auf.

Wenn er meint, er könnte mich glauben machen, dass er ein harmloser Mann ist, hat er sich geirrt, dachte sie. Sie mochte zwar naiv sein, aber nicht wirklichkeitsfremd.

„Sie sind meine Angestellte. Werten Sie die Einladung als Versuch, ein gutes Arbeitsklima zu schaffen.“ Wieder betrachtete er sie abschätzend, und ihr wurde erneut leicht beklommen zumute. „Ich würde gern etwas mehr über Sie erfahren, hören, was Sie hier tun … Und falls Sie mir immer noch nicht glauben, wer ich bin …“ Er seufzte, zog seine Brieftasche heraus, klappte sie auf und reichte ihr einen Brief. Er war an Alison gerichtet und trug nicht nur seine Unterschrift, sondern gab auch die Stellung an, die er innehatte.

Ruth überflog ihn. Ohne Umschweife brachte Franco Leonie darin zum Ausdruck, dass das Magazin nicht den gewünschten Erfolg auf dem Markt erzielte und man sich zusammensetzen müsste, um die Gründe zu erörtern. Wahrscheinlich ist er heute Abend deshalb zu dieser für einen Freitag lächerlich späten Stunde hergekommen, überlegte sie und sah auf.

„Glauben Sie mir jetzt?“ Sein Tonfall verriet nicht das geringste Bedauern darüber, dass er sie so unnötig geängstigt hatte, indem er sich nicht gleich durch den Brief ausgewiesen hatte.

„Ja. Danke.“

„Als was arbeiten Sie hier?“

„Ich mache nichts Wichtiges“, antwortete sie schnell, damit Franco Leonie nicht auf die Idee kam, mit ihr über die Probleme von Issues zu reden. „Ich bin Mädchen für alles. Ich tippe das eine oder andere, nehme Telefonate entgegen …“

„Erzählen Sie mir alles beim Essen.“

Ihre Hände berührten sich flüchtig, als er den Brief wieder an sich nahm, und Ruth hatte das Gefühl, dass sie innerlich vor ihm zurückschreckte. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet. Ihre drei bisherigen Freunde waren nette junge Männer aus ihrem Heimatdorf gewesen, die keine großen Ziele verfolgt und das Leben auch nicht als Herausforderung betrachtet hatten. Franco Leonie hingegen wirkte auf sie wie ein Mann, der die Herausforderung liebte, sie geradezu suchte.

„Lassen Sie uns aufbrechen.“

Er stand nun unmittelbar neben ihr, und sie spürte, wie diese Nähe sie noch mehr beunruhigte. In dem feinen Maßanzug machte er wirklich eine gute Figur. Schnell holte Ruth ihre Jacke und schlüpfte hinein.

„Braves Mädchen.“ Er öffnete ihr die Tür. „Mein Wagen steht gleich vor dem Haus“, erklärte er, nachdem sie das Büro abgeschlossen hatte und sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen. „Und versuchen Sie, nicht so besorgt auszusehen. Ich fühle mich sonst wie ein kranker alter Mann, der unschuldige junge Frauen nötigt.“

Ruth bemerkte seinen amüsierten Tonfall. Sie brauchte ihn gar nicht erst anzusehen, um zu wissen, dass er sich über sie lustig machte.

Franco fuhr einen silberfarbenen Jaguar. Galant hielt er ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie eingestiegen war. Kaum hatte er sich hinters Steuer gesetzt, wandte er sich ihr zu. „Was möchten Sie gern essen?“

„Das ist mir egal“, antwortete sie schnell. Hier im dunklen Wagen empfand sie seine Nähe als noch bedrohlicher. Warum hatte sie die Einladung nur angenommen? Auch wenn er mein Arbeitgeber ist, bedeutet das nicht, dass ich ihm in jeder Hinsicht vertrauen kann, dachte sie und musste dann selbst über ihre etwas prüde Einstellung schmunzeln. Aber ihre Eltern hatten sie, ihr einziges Kind, vom ersten Tag an geliebt und behütet.

„Eine unkomplizierte Frau, wie erfrischend“, sagte Franco leise, während er den Motor anließ. „Mögen Sie die italienische Küche?“

„Ja.“

Ruth spürte, wie ihr Herz heftig klopfte, als er Gas gab und losfuhr.

„Was machen Sie genau bei Issues?“

„Wenn Ihnen das Magazin gehört, wie kommt es, dass Sie noch nie in der Redaktion waren?“, fragte sie neugierig. Sie hatte sich gegen die Tür gelehnt und blickte ihn argwöhnisch an.

„Das Magazin ist nur ein ganz kleines Unternehmen von mir.“ Franco sah sie an. „Habe ich schon gesagt, dass ich nicht beiße? Ich habe auch keine ansteckende Krankheit. Sie müssen also nicht so verzweifelt versuchen, noch einige Zentimeter mehr Abstand zwischen uns zu bringen, und es dabei riskieren, aus dem Wagen zu fallen.“ Er konzentrierte sich wieder auf die Straße, und Ruth setzte sich bequemer hin. „Ich habe es gekauft, weil ich dachte, man könnte etwas daraus machen, und es auch als eine Art Hobby betrachte.“

„Eine Art Hobby?“, wiederholte sie ungläubig. „Sie haben eine Zeitschrift quasi zum Spaß gekauft? Was für ein Leben führen Sie? Hobbys sind in meiner Vorstellung Tennis spielen … Vögel beobachten … oder Briefmarken sammeln. Ihr Hobby ist es, kleine Firmen zu kaufen?“

„Sie brauchen nicht so entrüstet zu klingen“, erwiderte er gereizt und runzelte die Stirn.

„Ich bin entrüstet“, antwortete sie und vergaß ihre Schüchternheit.

„Warum?“

„Weil, Mr. Leonie …“

„Nennen Sie mich Franco. Ich habe noch nie etwas von so förmlichen Anreden gehalten.“

„Weil es schamlos ist“, fuhr sie unbeirrt fort, „so viel Geld zu besitzen, dass man einfach so eine Firma kauft.“

„Meine kleine Aktion hat zufällig Arbeitsplätze geschaffen“, erklärte er gelassen, obwohl er so ruhig gar nicht war, wie sie zu spüren meinte. „Und ich habe zugestimmt, dass alle meine Angestellten, Sie eingeschlossen, davon profitieren, wenn das Magazin erfolgreich ist.“

Als sie nicht reagierte, sondern weiter schwieg, erkundigte er sich schließlich unvermittelt: „Nun, was haben Sie dazu zu sagen?“

„Ich … Nichts …“

„Ich … Nichts …“, ahmte er sie ärgerlich nach. „Was soll das heißen? Dass Sie keine Meinung zu dem Thema haben? Vor einer Minute hatten Sie jedenfalls noch eine.“

„Das soll heißen, dass Sie mein Arbeitgeber sind, Mr. Leonie …“

„Franco!“

„Ja, also …“

„Sagen Sie es!“

„Was soll ich sagen?“

„Meinen Namen!“

„Das soll heißen, dass Sie mein Arbeitgeber sind, Franco.“ Ruth errötete tief, als sie seinen Vornamen aussprach, und fuhr schnell fort: „Und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Das war ein beliebtes Sprichwort ihres Vaters, der sie schon früh gelehrt hatte, zuzuhören, ohne zu verurteilen, und besonnen anstatt impulsiv zu reagieren.

„Zum Kuckuck mit der Vorsicht!“

Neugierig sah sie Franco an. Regte er sich etwa auf? Das hätte sie von einem Mann wie ihm nicht erwartet.

„Ja“, erwiderte sie ruhig, „Sie haben Arbeitsplätze geschaffen, und wenn das Magazin erfolgreich ist, haben auch wir etwas davon. Aber wenn jemand eine Firma nur so zum Spaß kauft, scheint mir das etwas zu sein …“ Sie atmete tief ein. „… was ein Mensch tut, der zu viel Geld hat und sich vielleicht … langweilt.“

„Sich langweilt?“, wiederholte er wütend und stoppte den Wagen so unvermittelt, als hätte er sich gerade erst wieder erinnert, dass sie eigentlich unterwegs zu einem Restaurant waren, und wäre daran schon vorbeigefahren. Energisch stellte er den Motor ab und wandte sich ihr zu.

Ruth sah seine finstere Miene. Unwillkürlich presste sie sich wieder gegen die Autotür und machte sich auf eine Schimpftirade gefasst. Franco atmete tief ein, strich sich durchs Haar und schüttelte dann verwundert den Kopf.

„Wie lange ist es her, seit wir uns begegnet sind?“ Er blickte kurz auf seine Armbanduhr. „Fünfundvierzig Minuten? In dieser Zeit ist es Ihnen gelungen, mich falscher einzuschätzen, als es die meisten Leute in ihrem ganzen Leben nicht schaffen.“

„Es … es tut mir leid.“

„Das ist wirklich eine Leistung“, erklärte er und ignorierte ihre Entschuldigung.

„Ich empfinde es als keine sonderliche Leistung, jemanden zu verärgern“, erwiderte sie, entsetzt über seinen Rückschluss.

„Deshalb beherrschen Sie es vielleicht auch so gut.“ Franco hatte seine Gelassenheit zurückgewonnen und öffnete die Tür. „Ich freue mich auf das Essen“, sagte er, bevor er ausstieg. „Es ist das erste Mal, dass ich einen Weg beschreite, von dem ich nicht weiß, wohin er führt.“

Was meint er damit? fragte sie sich verwirrt, während sie ebenfalls ausstieg. Wenn er mit ihr einen netten Abend verbringen wollte, hatte er sich gründlich geirrt. Boss hin, Boss her.

Offenbar war er in dem kleinen, gut besuchten Restaurant bekannt, denn man begrüßte ihn herzlich an der Tür, und es entspann sich sogleich eine Unterhaltung auf Italienisch.

„Sie sprechen fließend Italienisch“, bemerkte Ruth höflich, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Leben Sie schon lange in England?“

Nachdenklich blickte Franco sie an. „Sie sehen viel jünger aus als zweiundzwanzig. Woher kommen Sie?“

Dergleichen hatte man ihr schon ihr ganzes Leben lang erzählt. Wenn sie einmal fünfzig war, würde sie sich vermutlich über eine solche Schmeichelei freuen. Aber jetzt, in Gesellschaft dieses weltgewandten Mannes, empfand sie es nicht unbedingt als Kompliment.

„Ich stamme aus einem Dorf in Shropshire“, antwortete sie, während sie die Speisekarte studierte, die man ihr gereicht hatte. „Sie haben von dem Ort bestimmt noch nichts gehört.“

„Wetten, dass?“

Als sie ihm den Namen nannte und er eingestand, dass er ihn noch nie gehört hatte, lachte sie schüchtern. „Habe ich es Ihnen nicht gesagt?“

„Sie sind also nach London gekommen … um das aufregende Großstadtleben kennenzulernen?“

Ruth zuckte die Schultern. „Ich dachte, ein Tapetenwechsel könnte nicht schaden“, antwortete sie ausweichend, denn sie wollte nicht zugeben, dass es einer der Hauptgründe für ihren Umzug gewesen war.

„Und was haben Sie davor gemacht, bevor Sie nach London gekommen sind?“

Franco hatte noch keinen Blick in die Speisekarte geworfen, als der Ober erschien, um ihre Bestellung aufzunehmen. Doch er wusste bereits, was er wollte: gegrillten Heilbutt. Sie hatte sich für Hähnchen in Weißwein-Sahnesoße entschieden, ein vergleichsweise gehaltvolles Gericht. Sie hatte schon immer einen gesunden Appetit gehabt, sehr zur Freude ihrer Mutter, die eine begeisterte Köchin war. Und auf Kalorien hatte sie noch nie zu achten brauchen, obwohl sie ausgesprochen schlank war. Sie hatte ihr Leben lang nach Herzenslust essen können, ohne je mit Übergewicht zu kämpfen.

„Ich habe als Sekretärin gearbeitet und meinen Eltern geholfen. Ich habe für Dad Briefe getippt, die Leute aus seiner Pfarrgemeinde besucht …“

„Ihr Vater ist … Pfarrer?“, fragte er überrascht.

„Ja, und ein sehr guter dazu.“

Franco lächelte warmherzig. Und dieses Lächeln verwandelte sein Gesicht, verscheuchte den aggressiven Ausdruck und ließ sie innerlich erbeben. „Sie sind die Tochter eines Pfarrers?“

„Ja.“

„Ihre Eltern muss der Schlag getroffen haben, als Sie ihnen gesagt haben, dass Sie nach London ziehen wollen.“

Er betrachtete sie, als wäre sie der faszinierendste Mensch auf Erden. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit verwirrte Ruth und ließ sie wieder einmal erröten.

„Sie haben mich sehr unterstützt.“

„Sich aber auch entsetzlich gesorgt.“

„Ein wenig“, gab sie zu, während sie nervös mit dem Besteck spielte. Als ihr bewusst wurde, dass es nicht von guten Manieren zeugte, faltete sie die Hände und legte sie in ihren Schoß.

„Sie haben also nach Beendigung der Schule als Sekretärin gearbeitet und weiter zu Hause gewohnt, bis Sie nach London gezogen sind“, stellte Franco zusammenfassend fest und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Was haben Sie hier gemacht? Haben Sie gleich bei Issues angefangen?“

„Gut einen Monat vor meinem Auszug haben mich Mum und Dad hierher begleitet, um sicherzustellen, dass ich auch eine Bleibe habe. Sie haben mich wohl schon auf einer Parkbank übernachten sehen.“ Ruth lächelte wieder schüchtern, was ihrem eher durchschnittlich hübschen Gesicht einen Anflug von ätherischer Schönheit verlieh.

„Ich hatte eine Stelle als Aushilfskraft in einem Büro in Marble Arch. Als ich mich dann nach etwas Dauerhaftem umsah …“ Sie zuckte die Schultern und dachte noch einmal an den glücklichen Zufall. „… war ich zur gleichen Zeit bei der Stellenvermittlung wie Miss Hawes, die ein Mädchen für alles suchte. Ich habe den Job sofort bekommen.“

„Sie helfen also überall aus“, sagte er leise mehr zu sich. „Sind Sie damit zufrieden?“

„Ich arbeite gern bei Issues“, antwortete sie nachdenklich. „Und ich hoffe, dass man mir nach meiner Beurteilung vielleicht etwas mehr Verantwortung überträgt. Die Bezahlung ist allerdings sehr gut …“

„Ich weiß. Ich habe genug Unternehmen geleitet, um zu wissen, dass Motivation und Loyalität stark mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen. Und eine gute Bezahlung macht im Allgemeinen auch einen guten Angestellten.“

„Wie viele Unternehmen besitzen Sie?“, fragte Ruth zaghaft, nachdem der Ober ihnen das Essen serviert hatte.

„Diverse, sodass ich kaum Freizeit habe. Ich bin meistens im Ausland, an den Standorten in Nordamerika und im Fernen Osten. Allerdings habe ich auch schon einige Male bei Alison vorbeigeschaut. Sie waren nicht da. Ich hätte mich an Sie erinnert.“

Sie war nicht mehr ganz so angespannt, da sie ihre Aufmerksamkeit jetzt auch auf das Essen richten konnte. „Nein, das hätten Sie nicht“, widersprach sie, während sie den Blick auf den Teller gerichtet hatte. „Ich zähle nicht zu den unvergesslichen Frauen.“

Ihre Eltern hatten ihr immer versichert, sie wäre schön, doch das erzählten alle Mütter und Väter ihren Kindern. Sie war leidlich hübsch, würde aber bestimmt nie von jemandem als sexy empfunden werden, selbst wenn sie sich darum bemühte, so zu wirken.

Franco erwiderte nichts. Er betrachtete Ruth, beobachtete, wie sie unbefangen zu essen begann, und konnte nur schwer den Blick von ihr abwenden, was absolut untypisch für ihn war.

Wann hatte er zuletzt eine Frau kennengelernt, die noch erröten konnte? Seine Begleiterinnen konnten lachen und flirten und verstanden es, genug von ihren Reizen zu offenbaren, um sein Interesse zu wecken. Aber keine von ihnen besaß dieses Flair von Unschuld, das die junge Frau ihm gegenüber hatte. Ihre Verträumtheit und Schüchternheit hatten ihn fast vom ersten Moment an fasziniert.

Franco zwang sich, sich aufs Essen zu konzentrieren. Doch nachdem er die Gabel zum Mund geführt hatte, sah er unwillkürlich wieder zu Ruth hin. Plötzlich verspürte er das lächerliche Verlangen, sie zu beeindrucken, irgendetwas zu sagen oder zu tun, damit sie aufblickte und ihn mit jenem glühenden Interesse betrachtete, das er von anderen Frauen gewohnt war.

Aufmerksam beobachtete er, wie ihr das glatte, schulterlange blonde Haar beim Essen immer wieder ins Gesicht fiel und sie es ein ums andere Mal hinters Ohr strich. Sie sah aus wie eine Sechzehnjährige! Er musste nicht mehr recht bei Verstand sein!

„Stammen Sie aus Italien?“ Ruth errötete und lächelte. „Was für eine dumme Frage! Natürlich tun Sie das, bei dem Namen. Wie lange leben Sie schon in London?“

„Fast mein ganzes Leben. Meine Mutter war Irin und mein Vater Italiener“, antwortete er, während er überlegte, wie sich ihre Haut anfühlen mochte. Dann wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nichts aß, und er aß schnell einige Bissen. Was für eine Figur sich wohl unter der weißen Bluse und dem wadenlangen Rock verbarg? Im nächsten Moment stellte er sich vor, wie er Ruth ganz langsam auszog, und spürte, wie sein Körper sogleich auf seine Fantasien ansprach.

Das war grotesk! Er reagierte wie ein Teenager, der noch nie eine Frau berührt hatte!

„Wie exotisch“, erwiderte sie.

Offenbar nicht exotisch genug, um sie vom Essen abzulenken, ging es Franco durch den Kopf. Überhaupt schien sie sich weit mehr für ihr Hähnchen zu interessieren als für ihn. „Sie brauchen kein höfliches Interesse zu bekunden“, sagte er barsch und sah den bestürzten Ausdruck in ihren grauen Augen.

„Aber es interessiert mich“, protestierte sie. Seine plötzliche Schroffheit entmutigte sie. Natürlich, sie langweilte ihn, war viel zu ungewandt, um einen Weltmann wie ihn zu fesseln. „Das Essen ist hervorragend, finden Sie nicht auch?“, fragte sie, in der Hoffnung, mit diesem unverfänglichen Thema die ihr unerklärliche Missstimmung zu vertreiben.

„Ich sehe, dass es Ihnen geschmeckt hat“, meinte Franco ironisch.

Ruth lächelte verlegen. „Ich fürchte, mein Appetit ist nicht sehr ladylike.“

Sie hatte ihren Teller leer gegessen und legte das Besteck aus der Hand. In anderer Gesellschaft hätte sie auch gern noch eine Nachspeise genommen. Als Franco sie danach fragte, lehnte sie allerdings dankend ab, trank jedoch eine Tasse Kaffee.

„Ich schätze, Sie haben gelesen, was ich Ihrer Chefin geschrieben habe“, sagte er nebenbei, während er sie über den Tassenrand hinweg ansah. Er hatte den Stuhl etwas nach hinten gerückt, sodass er jetzt schräg zum Tisch saß und die Beine übereinanderschlagen konnte.

„Nicht wirklich. Ich habe den Brief nur überflogen.“

„Aber Sie haben verstanden, was ich ausdrücken wollte.“

„Ich glaube nicht, dass es Alison gefallen würde, wenn ich mich zu etwas äußern würde, das nur für sie bestimmt gewesen ist.“

„Ich würde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem habe ich vor, mit allen Redaktionsmitgliedern zu sprechen. Seit der Übernahme haben sich die Verkaufszahlen zwar verbessert, aber nicht genug. Ich habe die Artikel gelesen, die unsere drei Journalisten in den vergangenen Monaten verfasst haben … Sie auch?“

„Oh ja.“

„Und? Wie fanden Sie sie?“

Ruth verstand nicht ganz, warum ihn die Meinung einer so unbedeutenden Mitarbeiterin, wie sie es war, interessierte. Doch er blickte sie erwartungsvoll an, und so seufzte sie und antwortete bedächtig: „Sie waren gut. Aber mir scheint, dass irgendwo die klare Linie verloren gegangen ist. Ich will damit sagen“, fuhr sie schnell fort, „dass die Artikel vielleicht zu verschiedenartig sind und das Magazin deshalb möglicherweise keiner Zielgruppe klar zuzuordnen ist. Allerdings“, fühlte sie sich gezwungen hinzuzufügen, „steht es mir nicht zu, irgendetwas zu kritisieren.“

„Warum nicht?“ Franco beugte sich vor, legte den Arm auf den Tisch und sah sie durchdringend an.

„Weil ich keine Redakteurin bin.“

„Aber Sie wollen, dass Issues erfolgreich ist?“

„Natürlich.“

„Würden Sie auch Ihren Teil dazu beitragen?“ Er beugte sich noch etwas weiter vor.

„Selbstverständlich. Ich tue mein Bestes … Ich kann nicht schreiben, wenn Sie das meinen … aber ich helfe, wo immer ich kann.“ Verwirrt blickte sie ihn an.

„Genau das wollte ich hören.“ Franco bedeutete dem Ober, die Rechnung zu bringen, und wandte sich dann wieder an sie. „Ich möchte Ihnen nämlich einen Vorschlag unterbreiten.“

„Und welchen?“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte er zweifelsohne etwas im Sinn, das ihr nicht sonderlich behagen würde.

„Ich spreche erst mit Alison darüber. Aber ja … es ist Zeit für einige Veränderungen … und Sie könnten je nachdem die richtige Unterstützung sein …“

2. KAPITEL

Als Ruth am Montag um Viertel vor acht in die Redaktion kam, war Alison in ihrem Büro und die Tür geschlossen. Das war sehr ungewöhnlich, aber noch ungewöhnlicher war der stille Arbeitseifer, der ihre Kollegen schon zu so früher Stunde erfasst hatte.

Ruth ging auf den Schreibtisch von Janet Peters zu, um die Redakteurin zu fragen, was los sei. Doch bevor sie etwas sagen konnte, schnitt die junge Frau ein Gesicht nach dem anderen.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Jan?“, erkundigte sich Ruth besorgt, und Janet bedeutete ihr, sich zu ihr hinunterzubeugen.

„Rate mal, wer bei Alison im Büro ist“, flüsterte sie. „Deshalb herrscht hier auch so eine Totenstille.“

„Franco Leonie, der Eigentümer von Issues?“, mutmaßte Ruth und lächelte, als die Redakteurin sie verblüfft anblickte.

„Woher weißt du das?“

„Ich … habe übersinnliche Fähigkeiten.“ Ruth lachte und spielte mit einem ihrer Zöpfe. Sie trug ihr Haar häufiger so, da es ihr dann nicht ins Gesicht fiel. Nur sah sie mit der Frisur leider wie eine Zwölfjährige aus.

„Jetzt aber mal ehrlich“, sagte Janet ernst. Drei andere Kollegen hatten sich inzwischen zu ihnen gesellt, und die gewohnte heitere Stimmung breitete sich unaufhaltsam wieder in der Redaktion aus.

„Woher hast du das gewusst?“, fragte Jack Brady, der sich auf die Schreibtischkante gesetzt hatte und Ruth treuherzig ansah. Er wirkte mit seinen Sommersprossen und dem dichten blonden Haar selber kaum älter als zwölf, und auf seine treuherzigen Blicke fielen auch nur diejenigen herein, die ihn nicht kannten.

„Er ist am Freitagabend hier hereingekommen, als ich gerade abschließen wollte, und hat mich zu Tode erschreckt.“

„War das“, meinte Jack und neigte den Kopf leicht zur Seite, „bevor oder nachdem er dich aufgefordert hatte, dich auf den Schreibtisch zu legen, um sich auf schändliche Weise mit dir zu vergnügen?“

„Vorher“, antwortete sie mit ernster Miene. „Nachher habe ich mich prima gefühlt.“

„Ruth Jacobs!“ Jack gab sich schockiert. „Du sollst nicht solch freche Dinge sagen! Vor allem nicht, wenn du so reizend und unschuldig sexy aussiehst mit deinen entzückenden blonden Zöpfen und den großen, bezaubernden Augen.“ Er zog sie spielerisch an den Zöpfen, sodass sie mehr oder minder gezwungen war, sich zu ihm hinunterzubeugen. Und während sie sich anlachten, ging die Tür von Alisons Zimmer auf, und Franco erschien auf der Schwelle.

Eilig kehrten die Kollegen an ihre Schreibtische zurück. Und auch Ruth und Jack bemerkten ihn dann und schreckten auseinander.

„Ein Büro voller fleißiger Mitarbeiter“, sagte Franco und kam mit dem freundlichen Gesichtsausdruck eines Raubtiers auf Beutefang näher. „Was für ein erfreulicher Anblick! Vor allem nachdem ich mich gerade mit Ihrer Chefin beraten habe, warum das Magazin nicht so erfolgreich ist, wie es sein sollte.“

Er trug einen silbergrauen Anzug mit einem blassblauen Hemd und einer dunkelblauen Krawatte. Seine Kleidung war ausgesprochen konservativ, aber er sah umwerfend darin aus.

Jack hatte inzwischen die Sprache wieder gefunden und begann, sich wortreich zu entschuldigen. Franco winkte einfach ab und würdigte ihn keines Blickes. Er wandte den übrigen Angestellten, die sich jetzt eifrig über ihre Arbeit beugten, den Rücken zu und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf Ruth, die als Einzige noch stand und keinen Platz hatte, an den sie sich flüchten konnte.

„Gehört Flirten zu Ihrem Job als Mädchen für alles?“, fragte er leise.

„Ich habe nicht … geflirtet“, protestierte sie leise. „Jack hat nur …“

„Mit Ihren Haaren gespielt.“

Sie versuchte, an ihm vorbeizusehen, um festzustellen, ob die anderen sie beide neugierig beobachteten. „Das … das ist richtig“, erwiderte sie geistesabwesend, während sie den Blick über die gesenkten Köpfe oder den Bildschirmen zugewandten Gesichter ihrer Kollegen schweifen ließ.

„Würden Sie mich bitte ansehen, wenn ich mit Ihnen rede“, sagte Franco spitz, und Ruth zuckte zusammen und wandte sich ihm augenblicklich wieder zu.

„Selbstverständlich!“ Fast hätte sie salutiert und musste dann ein Lachen unterdrücken, als sie sich vorstellte, was er daraufhin wohl für ein Gesicht gemacht hätte.

„Erinnern Sie sich noch an unsere kleine Unterhaltung am Freitag?“

„An welchen Teil?“, erkundigte sie sich vorsichtig und blickte unwillkürlich wieder woandershin, während sie versuchte, sich ihr Gespräch ins Gedächtnis zu rufen.

„Könnte ich Ihre Aufmerksamkeit haben?“, fragte er grimmig, und sie lächelte ihn nervös an.

War er sich bewusst, dass er sehr laut sprach und alle aufmerksam lauschten? Alle Kollegen warteten nur darauf, dass er ging, um sie dann mit tausend Fragen zu bestürmen. Ruth wurde es angst und bange.

Sie konnte ihn unmöglich bitten, leiser zu sprechen. Aber wenn sie die Stimme senkte, würde er sich zu ihr herunterbeugen müssen, um zu verstehen, was sie sagte.

„Ich bin ganz aufmerksam“, flüsterte sie und kam sich wie eine zwielichtige Gestalt in einem drittklassigen Film vor.

„Ich habe mit Alison über meinen Vorschlag gesprochen …“

„Welchen Vorschlag?“

„Können Sie sich denn nicht einmal einen Moment auf etwas konzentrieren?“

Finster betrachtete er Ruth. Was hatte sie nur für einen perfekten, natürlichen Teint! So etwas hatte er noch bei keiner Frau gesehen. Entsetzt merkte er, dass seine Gedanken erneut abschweiften, und blickte Ruth, die sich nervös auf die Lippe biss, nur noch ärgerlicher an. Und auch die Tatsache, dass sie ihm zwar genau zuhörte, ihn allerdings nicht beachtete, schürte seinen Unmut.

Wer war der Jüngling, der mit ihren Haaren gespielt hatte? Hatten die beiden etwas miteinander?

Franco rief sich zur Vernunft und rang sich ein steifes, gekünsteltes Lächeln ab, das Ruth jedoch noch mehr zu beunruhigen schien als seine finstere Miene von eben. „Vielleicht setzen wir unsere Unterhaltung in Alisons Büro fort. Da sind wir ungestört.“

„Ja.“ Sie seufzte erleichtert auf.

„Nach Ihnen“, sagte er höflich und machte einen Schritt zur Seite.

Was will er von mir, warum will er allein mit mir reden? fragte sie sich ängstlich, während sie auf Alisons Büro zuging. Deutlich spürte sie seinen Blick im Rücken und wusste, dass Franco sie genau beobachtete.

„Könnte ich Ruth einen Moment unter vier Augen sprechen?“, wandte er sich an seine Chefredakteurin, sobald sie das Zimmer betreten hatten, und sie verließ eilig den Raum. Entweder war sie froh, nicht in Francos Nähe bleiben zu müssen, oder fieberhaft darauf bedacht, jeden seiner Wünsche zu erfüllen.

„Nehmen Sie Platz.“ Er deutete auf den schwarzen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

Ruth setzte sich und beobachtete, wie er zum Fenster ging und einen Moment hinaussah. Dann drehte er sich um, lehnte sich gegen die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich erzähle Ihnen nichts, was Ihre Kollegen nicht auch bald erfahren werden. Im Wesentlichen hat sich meine Unterhaltung mit Alison um das gedreht, was wir am Freitag kurz besprochen haben. Das Magazin lässt sich auf dem Markt nicht eindeutig zuordnen, wie Sie selbst richtig festgestellt haben. Wir müssen das Konzept ändern.“

Das unerwartete Kompliment tat ihr gut und half ihr, sich etwas zu entspannen.

„Wir haben drei begabte Redakteure mit einem ansprechenden Schreibstil. Aber die Themenbereiche sind zu verschieden. Sport, Mode, Naturkatastrophen. Können Sie mir folgen?“

„Natürlich kann ich Ihnen folgen. Ich bin doch keine Vollidiotin.“ Seine herablassende Art machte Ruth plötzlich ärgerlich. Auch hatte er ihr noch immer nicht erklärt, warum er allein mit ihr reden wollte. Beabsichtigte er, ihr zu kündigen? Eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. Sie hatte nichts mit der Leitung von Issues zu tun, war nur das Mädchen für alles, und den Job machte sie gut und mit viel Begeisterung.

Ihr fiel nur ein Grund ein, warum er dieses Gespräch unter vier Augen herbeigeführt hatte: um alles, was sie impulsiv sagte, in der Luft zerreißen zu können. Ihre gutmütige Art war vielleicht eine zu große Herausforderung für ihn, sodass er der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte, auf ihr, Ruth, herumzutrampeln.

Nein, dachte sie entschlossen, das lasse ich nicht mit mir machen. Sie war normalerweise sehr sanftmütig, doch wenn man ihr zusetzte, konnte sie auch unnachgiebig sein.

„Entschuldigen Sie.“ Franco lächelte flüchtig.

Diese unerwartete Reaktion dämpfte ihren Zorn sogleich wieder. „Ja, ist in Ordnung.“ Ruth lächelte matt und senkte den Blick. Als ihr bewusst wurde, dass sie diesem Mann besser nicht so schüchtern begegnete, sah sie ihn mutig wieder an.

„Ich schätze, Sie haben das Magazin in seiner alten Form, also vor der Übernahme, nicht gekannt“, erklärte Franco, nachdem er sie einige Sekunden stumm betrachtet hatte.

Ruth schüttelte den Kopf und beobachtete, wie er sich von der Fensterbank abstieß und zum Schreibtisch ging. Doch anstatt sich auf Alisons Sessel zu setzen, hockte er sich auf die Schreibtischkante. Er sah also immer noch zu ihr herunter – wenngleich nicht mehr von ganz so weit oben, allerdings war der Abstand zwischen ihnen auch nicht mehr so groß.

„Es hat sich nicht gut verkauft, weil zu wenig Geld da war, um halbwegs vernünftige Redakteure zu bezahlen. Die Artikel waren zu oberflächlich, die Themen aber gut gewählt. Das Magazin hat sich mit aktuellen Problemen befasst. Drogen auf dem Schulhof, Korruption in der Kommunalpolitik und dergleichen.“

„Ja“, erwiderte sie leise und fragte sich, was das mit ihr zu tun hatte.

„Ich denke, wir sollten dieses Konzept wieder aufgreifen, es jedoch besser umsetzen als unsere Vorgänger.“

„Was hält Alison von Ihrer Idee?“ Sie beugte sich etwas vor, um die Hände auf die Knie zu legen, und blickte zu ihm hoch.

Hätte sie sich heute Morgen nur nicht die Zopffrisur gemacht und sich auch etwas Schickeres als die schlichte langärmelige Bluse und den taubengrauen Rock angezogen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, Franco zu begegnen, sonst hätte sie versucht, etwas eleganter auszusehen. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm ihr Erscheinungsbild missfiel.

„Sie stimmt absolut mit mir überein“, antwortete er. „Wahrscheinlich informiert sie gerade Ihre Kollegen … und Freunde“, fügte er leiser hinzu.

Ruth runzelte die Stirn. „Ich hoffe, Sie verübeln mir meine Frage nicht. Aber warum haben Sie mich zur Seite genommen und erklären es mir hier, wenn ich es draußen zusammen mit allen hätte erfahren können?“

„Weil …“ Er neigte den Kopf etwas zur Seite und schien beunruhigend lange über die Frage nachzudenken. „Weil es noch eine Kleinigkeit gibt, über die ich mit Ihnen reden möchte.“

Sie verspannte sich unwillkürlich bei seinem Ton. „Ja?“

„Ich glaube, Sie könnten sehr dabei helfen, das Magazin wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen.“

„Ich?“ Fast hätte sie laut gelacht, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig. Wenn er sie für ein begabte Reporterin hielt, irrte er sich gewaltig. Sie hatte in der Schule Aufsätze geschrieben und ihrem Vater gelegentlich bei der Vorbereitung der Sonntagspredigt geholfen. Schlagkräftige Artikel über aktuelle Themen zu verfassen lag allerdings wirklich außerhalb ihrer Fähigkeiten.

„Ja, Sie. Und Sie brauchen nicht so bestürzt zu klingen. Trauen Sie sich denn so wenig zu?“

„Ich kann nicht schreiben, auch nicht wenn mein Leben davon abhängen würde.“

„Haben Sie es je versucht?“ Franco beugte sich etwas näher zu ihr und betrachtete sie mit einem Anflug von Neugier, während sie ihn weiter ungläubig ansah.

„Natürlich“, erwiderte sie energisch. „In der Schule. Ich habe das Abitur unter anderem in Englisch gemacht, aber ich möchte es bestimmt nicht auf die Probe stellen, indem ich einen Artikel schreibe. Und ich schätze“, fügte sie lächelnd hinzu, „dass die meisten Leser mir die Mühe auch nicht danken würden.“

„Haben Sie nie überlegt zu studieren?“

Argwöhnisch blickte sie ihn an. Was hatte diese Frage mit Issues zu tun?

Geistesabwesend betrachtete Franco ihre Zöpfe. Wie würde sie wohl reagieren, wenn er sie anfasste und mit ihnen spielte wie der junge Mann eben? Sie würde bestimmt nicht lachen, sondern vermutlich ängstlich zurückweichen. Sofort spürte er, wie diese Erkenntnis in ihm ein feindseliges Gefühl dem Angestellten gegenüber weckte, der eindeutig so vertraut mit ihr war, um sich diese Freiheit herausnehmen zu dürfen.

Hatten die beiden ein Verhältnis?

Er würde es herausfinden. Er würde überhaupt alles, was er konnte, über die junge Frau vor ihm herausfinden, und sei es nur, um seine brennende Neugierde zu stillen. Wieder verspürte er das Verlangen, sie auf sich aufmerksam zu machen, und schüttelte innerlich den Kopf über seine pubertäre Anwandlung.

„Nein“, entgegnete Ruth lachend. „Ich bin keine Intelligenzbestie. Meine einzigen Tugenden sind meine Begeisterungsfähigkeit und meine Bereitschaft, hart zu arbeiten.“

„Tatsächlich?“, meinte er bedächtig. „Das sind wirklich bewundernswerte Tugenden.“ Er betrachtete ihr Gesicht, und sie errötete, als ihr die Mehrdeutigkeit seiner Antwort bewusst wurde. „Sie erröten leicht. Kommt es daher, dass Sie sich in meiner Gegenwart unbehaglich fühlen?“

Franco betrachtete sie so durchdringend, dass sie die Lider senkte. Welch ein Fehler! Denn ihr Blick glitt unwillkürlich an seinem langen Oberkörper hinab und immer tiefer bis zu seinem Schritt. Sie spürte, wie ihr leicht anders wurde.

„Nein“, protestierte sie schnell und sah Franco wieder ins Gesicht. „Ich erröte bei jedem … Da gibt es keinen Unterschied. In dem Punkt bin ich einfach ein hoffnungsloser Fall … Aber egal, Sie haben mir noch immer nicht gesagt, worüber Sie mit mir sprechen wollten.“

„Habe ich nicht?“

„Nein“, antwortete sie trocken, „das haben Sie nicht.“

Er lächelte sie an. „Vielleicht habe ich darum herumgeredet, weil ich ausloten wollte, wie ich Ihnen meinen Vorschlag am besten unterbreite. Und bevor Sie mich fragen, er hat nichts mit dem Schreiben von Artikeln zu tun.“

„Und womit dann?“

„Wie ich schon sagte, sollte das Magazin wieder schlagkräftige Artikel enthalten, die die Menschen interessieren und ihnen etwas geben.“ Franco stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, als könnte er so besser nachdenken. „Ich habe vor, selber den Anfang zu machen.“

„Ja?“ Was sollte das heißen? Ruth fühlte sich wie jemand, der unbeabsichtigt ein Labyrinth betreten hatte und sich immer weiter darin verirrte.

„Ich habe vor, die erste Story selbst zu recherchieren und zu schreiben.“

„Ich dachte, Sie seien Geschäftsmann.“ Sie hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas Wichtiges überhört hatte, wusste jedoch nicht, was.

„Ich bin sehr vielseitig“, antwortete Franco leise. Er wartete darauf, dass sie ihn bat, seine Äußerung näher zu erklären, und sie spürte, dass es ihn unverhältnismäßig ärgerte, als sie nur nickte und meinte, es sei sicher eine sehr gute Idee, sich persönlich zu engagieren.

„Haben Sie deshalb das Magazin gekauft? Um als Journalist aktiv werden zu können? Es ist bestimmt etwas ganz anderes, als in einem Büro zu arbeiten.“

„Ich arbeite in keinem Büro“, widersprach er mürrisch. „Ich leite Unternehmen.“

„Ich weiß. Aber das tun Sie von einem Büro aus.“

„Ja, das stimmt. Ich habe einen Schreibtisch und auch alles andere, was ich in meiner Position brauche, aber …“

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein.“

Franco murmelte etwas Unverständliches, während er sich wunderte, wie, zum Teufel, er nur derart erotische Fantasien über eine Frau entwickeln konnte, die ihn kaum lange genug ansah, um überhaupt festzustellen, dass er ein Mann war – noch dazu ein ausgesprochen wohlhabender und einflussreicher Mann.

„Ich habe mich nur gefragt“, fuhr Ruth fort, „ob Ihr Entschluss, journalistisch tätig zu werden, mit Ihrer Langeweile im Büro zusammenhängt …“

Wieder sagte er etwas Unverständliches, wenngleich es deutlich lauter war und auch alarmierender klang.

„Entschuldigung.“ Wie hatte sie es nur geschafft, so unbekümmert und gründlich ins Fettnäpfchen zu treten? „Ich habe ganz vergessen, dass Sie nicht im Büro arbeiten. Es gehört Ihnen mehr oder weniger, und Sie langweilen sich nicht. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich muss wohl etwas abgespannt sein. Das Wochenende war sehr anstrengend.“

„So? Was haben Sie denn gemacht, Ruth?“, fragte er schalkhaft. „Sind Sie und der junge Mann da draußen zusammen? Sie sollten wissen, dass ich Liebesbeziehungen unter Angestellten nicht schätze. Darunter leidet normalerweise als Erstes die Arbeit.“

„Wie bitte?“ Ruth war entsetzt über seine Vermutung und überlegte, wie sie überhaupt auf dieses Thema gekommen waren. Eigentlich hatten sie doch über seine Idee geredet, einen Artikel für Issues zu schreiben. Doch jetzt sprachen sie plötzlich über ihr Privatleben und obendrein über ihr – nicht vorhandenes – Liebesleben.

„Ich fragte, ob …“

„Ich habe Sie sehr wohl verstanden! Nein! Natürlich nicht! Jack und ich sind Freunde. Mir würde nicht im Traum einfallen … Nein …

Franco versuchte, nicht zufrieden zu lächeln. Er konnte sich nicht erklären, warum, aber seit er die beiden vorhin so vertraut miteinander gesehen hatte, war er entschlossen gewesen, herauszufinden, was zwischen ihnen war. Und Ruths überraschter Gesichtsausdruck überzeugte ihn, dass sie die Wahrheit sagte.

Franco war sich bewusst, dass ihm die Dinge ein wenig entglitten. Es war vollkommen in Ordnung, ein gewisses Interesse für seine Mitmenschen zu zeigen. Doch Ruth beschäftigte ihn mehr, übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus … Unvermittelt setzte er sich hin, denn sein Körper weigerte sich erneut, sich dem Diktat seines Verstands zu beugen.

„Gut, denn eine Liebesbeziehung wäre meinem Vorhaben nicht ganz so zuträglich.“ Franco sah sie an und erkundigte sich nebenbei: „Sie sind also ungebunden?“

Ihm war klar, dass er die Situation schamlos ausnutzte, doch er verdrängte seine Schuldgefühle. Er missbrauchte seine Stellung, um Informationen von Ruth zu bekommen, die er gern erhalten würde, die sie aber vermutlich nicht unbedingt preisgeben wollte.

„Nein.“ Ruth errötete und überwand dann ihre Verlegenheit, die seine Unverfrorenheit bei ihr hervorgerufen hatte. „Sie haben kein Recht, mich so etwas zu fragen. Was ich in meiner Freizeit tue, ist …“

„Ich weiß, ich weiß …“ Er hatte erfahren, was er wissen wollte, und war nun bereit, sich zu entschuldigen. „Es tut mir ehrlich leid, dass ich in Ihre Privatsphäre eingedrungen bin, aber mein Vorschlag … Ich möchte Ihre Mitarbeit bei dem Projekt, das mir vorschwebt.“

Sie glaubte, sich verhört zu haben, und wartete auf eine nähere Erklärung. Als er nicht weiterredete, sagte sie mit einem bedauernden Lächeln: „Ich dachte, ich hätte klargestellt, dass ich nicht schreiben kann.“

„Sie sollen auch nichts schreiben. Ich habe vor, eine Artikelserie zu starten, die Einblicke ins Leben unserer so genannten zivilisierten Gesellschaft gewährt. Dazu möchte ich eine Reihe von Interviews mit jungen Mädchen führen, die man zur Prostitution verleitet hat.“

Was stellt er sich nur vor! dachte sie entrüstet. Hatte sie ihm nicht erzählt, dass sie die Tochter eines Pfarrers wäre? Sie konnte unmöglich an diesem Projekt mitwirken.

„Es tut mir leid, aber ich kann nicht …“

„Warum nicht?“

„Ich fürchte, ich bin völlig ungeeignet für eine solche Aufgabe“, erklärte sie lächelnd. „Ich bin dafür wirklich nicht die richtige Person.“

„Warum lassen Sie mich das nicht entscheiden?“

Hörte er ihr denn überhaupt nicht zu?

„Wie müsste denn Ihrer Meinung nach die richtige Person sein?“ Franco kam auf sie zu und blieb unmittelbar vor ihr stehen, sodass sie den Kopf zurückbeugen musste, um ihn anblicken zu können.

„Unerschrocken und selbstbewusst“, stieß sie hervor. „Vielleicht sollten Sie Jan fragen.“

„Sie entspricht nicht meiner Vorstellung von der richtigen Person“, erwiderte er, ohne ihren Vorschlag auch nur eine Sekunde lang zu überdenken. Er beugte sich vor und legte die Hände rechts und links von ihr auf die Rückenlehne ihres Stuhls, sodass sie sich wie eine Gefangene vorkam. „Tatsächlich“, fuhr er leise fort, während sein Gesicht ihrem so nahe war, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spüren und die dunklen Flecken in seinen blauen Augen sehen konnte, „habe ich bei unserer ersten Begegnung sofort gewusst, dass Sie die Frau sind …“ Franco verstummte und kostete ihr Unbehagen aus. „Die ich für den Job will.“

Ruth war maßlos erleichtert, als er sich endlich wieder aufrichtete. Er massierte sich kurz den Nacken und setzte sich dann an den Schreibtisch.

„Meine Eltern …“

„Sie würden es bestimmt begrüßen, wenn Sie versuchen würden, selbstständig zu werden. Haben Sie nicht selbst gesagt, dass Sie deshalb nach London gezogen seien?“

Finster sah sie ihn an und ärgerte sich, dass er sie zitierte, um sie dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte.

„Sie sind nun ein großes Mädchen, Ruth“, fuhr er schonungslos fort. „Es wird Zeit, dass Sie aufhören, zu Mummy und Daddy zu laufen, wenn Sie eine Entscheidung treffen müssen. Jetzt gilt es, sich der bösen, weiten Welt zu stellen und sich nicht vor ihr zu verstecken.“

„Ich verstecke mich nicht“, entgegnete sie eigensinnig. „Ich bin nur realistisch und weiß, dass ich einer solchen Aufgabe aufgrund meiner Erziehung nicht gerecht werden kann.“

„Was haben Sie mit Ihrem Leben vor? Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass die interessantesten Herausforderungen oft auch die gefährlichsten sind?“

Franco war sich im Klaren, dass er mit viel Fingerspitzengefühl vorgehen musste, um sie zur Mitarbeit bei dem Projekt zu bewegen. Er war wirklich davon überzeugt, dass sie dafür die Richtige war, aber die Versuchung, dann eng mit ihr zusammenarbeiten zu können, war auch groß. Doch er durfte Ruth nicht zu sehr bedrängen. Sonst würde sie sich stur stellen und sich rundheraus weigern, seine Assistentin zu werden.

„Ich werde Sie nicht bitten, etwas Gefährliches zu tun, Ruth“, fuhr er sanfter fort und musste sich sehr beherrschen, um sie nicht unter Druck zu setzen, damit sie seinem Wunsch entsprach. „Wir werden es mit jungen Mädchen zu tun haben, denen wir sehr persönliche Fragen stellen müssen. Und diese Teenager werden sich Ihnen gegenüber weit schneller öffnen, als sie es je bei einem forsch auftretenden Menschen machen würden. Mit Ihrem freundlichen, ruhigen Wesen können Sie eine Vertrauensbasis schaffen, sodass die Mädchen sich Ihnen etwas offenbaren. Und wer weiß, vielleicht gelingt es Ihnen sogar, das eine oder andere dazu zu bringen, den eingeschlagenen Weg noch einmal zu überdenken.“

Ruth errötete. Sie war einfach machtlos dagegen. Wenngleich ihr bewusst war, dass er ihre Sanftmut mit meisterlichem Geschick ausnutzte, war ihr auch klar, dass sie nicht vor allem davonlaufen konnte, das nicht ganz alltäglich oder ungefährlich war.

Franco las die Unentschlossenheit in ihrem Blick und fuhr in dem Gefühl, dass er schon fast gewonnen hatte, ruhig fort: „Die Hauptarbeit fällt abends an. Deshalb habe ich Sie auch gefragt, ob Sie einen Partner haben. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen müssen, dass ich Sie Ihrem Freund entziehe. Sie können, wie gewohnt, einige Tage in der Woche hier in der Redaktion sein. Aber wenn sich Ihr Körper auf die neue Arbeitszeit umstellt, ist es möglich, dass Sie tagsüber lieber schlafen möchten. Und die Recherchen werden ja auch nicht ewig dauern. Ich schätze, maximal zwei Wochen. Dann dürften wir uns ein Bild davon gemacht haben, was den jungen Mädchen da draußen widerfährt und die Regierung dagegen unternimmt.“

„Warum wollen Sie selbst aktiv werden?“, fragte Ruth, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. „Jeder Ihrer Redakteure ist absolut fähig, sich der Sache anzunehmen.“

„Ich gehe gern mit gutem Beispiel voran.“ Franco lächelte spöttisch. „Und außerdem haben Sie möglicherweise recht mit Ihrer Feststellung, dass ich mich etwas langweile.“ Er zuckte die Schultern und versuchte, zerknirscht auszusehen. „Ich habe alles, was ich brauche oder je wollen könnte. Wissen Sie, ich habe selbst einmal als Reporter angefangen.“

Franco verschränkte die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich etwas zurück und blickte zur Decke. „Erst habe ich bei einem Lokalblatt gearbeitet und Skandale aufgedeckt. Danach war ich Wirtschaftsredakteur bei einer größeren Zeitung. Es hat viel Spaß gemacht und sich als sehr nützlich erwiesen, als ich mich dann selbstständig gemacht und mein Glück auf den Geldmärkten versucht habe. Ich war recht erfolgreich, und nun – wer weiß – möchte ich vielleicht zu meinen Wurzeln zurückkehren. Oder ich suche einfach nur ein wenig …“ Er blickte ihr in die Augen. „… Aufregung.“

Ruth fragte sich staunend, wie er einem einzigen Wort so viel Bedeutung verleihen konnte. „Haben Sie Alison erzählt, was Sie vorhaben … mit mir, meine ich? Ich möchte niemanden verärgern …“

„Ja, selbstverständlich.“ Franco legte die Hände auf den Schreibtisch und setzte eine geschäftsmäßige Miene auf. „Sie findet meine Idee großartig und wird die Redakteure ermutigen, sich ähnlich strittiger Themen anzunehmen, sodass die Ausgabe Ende nächsten Monats in gewisser Weise ein einheitliches Ganzes wird. Und wenn wir unsere Zusammenarbeit beendet haben, bekommen Sie eine verantwortlichere Position, in der Sie vielleicht auch gelegentlich einen der Redakteure unterstützen.“

„Oh!“, stieß sie atemlos hervor. Die in Aussicht gestellte Beförderung flößte ihr etwas Scheu ein.

„Natürlich wirkt sich diese Veränderung auch auf Ihr Gehalt aus“, sagte er, während er ein Blatt Papier unter einem Briefbeschwerer herausnahm. „Sie werden sofort mehr Geld bekommen. Und in drei Monaten erfolgt eine weitere Erhöhung, wenn Sie sich in der verantwortlicheren Stellung bewährt haben. Das heißt, wenn Sie überhaupt mehr Verantwortung übernehmen wollen.“

Er beugte sich vor und klopfte energisch mit dem Finger unten auf das Blatt. „Sie müssen nur hier unterschreiben.“ Schon hielt er ihr einen Füllfederhalter hin.

Ruth konzentrierte sich kurz auf das, was auf dem eng bedruckten Blatt stand. Sie las die neue Stellenbeschreibung, und ihr stockte fast der Atem, als sie sah, was sie in Zukunft verdienen würde.

„Unterschreiben Sie hier unten, und dann hat alles seine Richtigkeit.“

„Ich bin mir noch nicht sicher …“ Sie blickte von dem Vertrag auf.

„Natürlich sind Sie das“, erwiderte er freundlich. „Sie haben etwas Angst, sind sich aber sicher.“

Ruth runzelte die Stirn, wusste nicht, was sie von seiner Kurzanalyse halten sollte. Ärgerlich gestand sie sich dann ein, dass er recht hatte.

Franco sah auf seine Armbanduhr. „Mit Ihrer Unterschrift setzen Sie nicht Ihr Leben aufs Spiel. Wenn Sie nach einer Woche feststellen, dass Ihnen die Arbeit missfällt, werde ich Sie bestimmt nicht zum Weitermachen zwingen. Aber geben Sie sich die Chance, es herauszufinden.“

Sie zögerte noch einen Moment und unterschrieb schließlich. Nein, sie besiegelte mit ihrer Unterschrift nicht ihr Leben. Doch als sie ihm das Papier wieder zuschob, hatte sie das Gefühl, dass sie irgendetwas besiegelte, auch wenn sie nicht wusste, was es war.

Oder machte sie einfach nur der selbstgefällige Zug um seinen Mund ein wenig nervös? Sie war stark versucht, den Vertrag wieder in die Hand zu nehmen, ihn in tausend Stücke zu reißen und das Büro zu verlassen. Aber als könnte Franco ihre Gedanken lesen, nahm er das Papier schnell an sich, öffnete den Aktenkoffer, der neben dem Schreibtisch stand, und ließ es darin verschwinden. Dann klappte er ihn energisch wieder zu und stand auf.

„Da wir nun alles geregelt haben, möchte ich noch einige Dinge anmerken, bevor wir am Mittwoch mit der Arbeit beginnen.“

„Schon am Mittwoch?“

„Warum kostbare Zeit verschenken?“ Franco schrieb etwas auf einen Zettel. „Wir treffen uns abends um acht in der Breakfast Bar in Soho. Ich habe Ihnen hier die Adresse notiert.“ Er reichte ihr den Zettel. „Das Lokal soll eine Anlaufstelle für viele junge Mädchen sein, wenn sie das erste Mal nach London kommen. Es ist billig, liegt im Zentrum und hat den zweifelhaften Ruf, dass man dort Leute kennenlernen kann.“

„Wie haben Sie das alles herausgefunden?“

„Ich bin clever und begabt. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?“, erwiderte er sanft. „Ziehen Sie sich leger an. Jeans, Freizeitschuhe, nichts zu … Offizielles. Sie sollten in etwa wie die Mädchen gekleidet sein, die wir dort treffen … Dann begegnen sie uns entspannter und öffnen sich uns leichter.“

„Woher wollen Sie wissen, dass sie uns nicht einfach auslachen und stehen lassen?“

„Meiner Meinung nach fühlen sie sich entweder geschmeichelt oder sind erleichtert darüber, dass sich jemand für sie interessiert.“ Franco umfasste den Türknauf. „Wir gehen folgendermaßen vor: Am Abend führen wir Interviews und besprechen uns am nächsten Tag beim Abendessen, bevor wir zur nächsten Befragungsrunde aufbrechen.“ Er lächelte sie an. „Und haben Sie keine Angst. Ich passe auf Sie auf.“

3. KAPITEL

„Ich weiß nicht, ob ich das machen kann.“

Ruth hatte eine lange Rede vorbereitet und einstudiert. Sie hatte sie sogar vor dem Badezimmerspiegel geübt, damit sie nicht zu schnell sprach und selbstbewusst und entschlossen wirkte.

Aber als sie Franco gegenüber jetzt zu ihrem ersten Geschäftsessen Platz nahm, war sie alles andere als selbstsicher. Die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt, und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hielt er sie wohl für verrückt.

Mit dem Satz „Ich weiß nicht, ob ich das machen kann“ begrüßt zu werden ist ja auch wirklich etwas seltsam, gestand sie sich ein.

„Möchten Sie etwas trinken?“

Aufgebracht sah sie ihn an. „Nein, ich möchte nichts trinken. Ich möchte das sagen, was ich zu sagen habe.“

„Ich höre.“ Franco lehnte sich auf dem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und blickte sie interessiert an.

Sie hatten sich gestern Abend in diesem Pub in Hampstead verabredet, der jetzt, um halb sieben, noch ziemlich leer war. Die meisten Barhocker an der Theke waren noch frei, und auch an den Tischen saßen nur vereinzelt Gäste.

„Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht“, begann Ruth, während sie die Hände im Schoß faltete. „Eigentlich habe ich fast den ganzen Tag darüber nachgedacht …“

„Sind Sie sicher, dass Sie nichts trinken möchten? Vielleicht um etwas Mut zu schöpfen?“

„Ja, ein Glas Wein wäre prima“, antwortete sie nach kurzem Zögern. Nur zu ihrem Spiegelbild zu sprechen war wesentlich einfacher gewesen.

Ruth beobachtete, wie er zum Tresen ging und sich dann mit dem Rücken dagegen lehnte, während er darauf wartete, dass der Barkeeper die Bestellung ausführte.

Franco trug auch heute Abend wieder Jeans. Schon gestern hatte sie bemerkt, dass er darin noch beunruhigender auf sie wirkte als im Anzug, mit dem sie – zu Recht oder Unrecht – eher gutes Benehmen, Kultiviertheit und Selbstbeherrschung verband. Als sie ihn in der lässigen Freizeitkleidung erblickt hatte, war ihr auch bewusst geworden, dass er jünger sein musste, als sie zunächst gedacht hatte. In gewisser Weise hatte er in der perfekt sitzenden engen Hose noch verführerischer ausgesehen, als er es ohnehin schon war. Und auch jetzt konnte sie sich seiner so umwerfend männlichen Ausstrahlung nicht völlig entziehen.

„Nun, was wollten Sie sagen?“, fragte Franco, nachdem er an den Tisch zurückgekehrt war. Er reichte ihr das Weinglas, setzte sich und blickte sie über den Rand seines Bierglases hinweg an.

Ruth trank einen Schluck und fuhr sich dann nachdenklich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ich glaube nicht, dass ich meine Sache gestern besonders gut gemacht habe“, erklärte sie. „Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, als ich diese Aufgabe übernommen habe. Aber sie überfordert mich ein wenig.“

„Ich fand eigentlich, dass Sie recht gut waren“, erwiderte er, während er sich den Nacken massierte. „Sie waren interessiert und freundlich. Kate und Angie haben sich Ihnen gegenüber ziemlich geöffnet.“

„Ja, schon, und das ist das Problem. Ich glaube, ich möchte nicht …“ Sie zögerte und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Ich bin nicht mutig … entschlossen genug …“

„Stopp!“ Franco legte die Hände auf den Tisch und sah Ruth grimmig an. „Hören Sie mir genau zu, denn ich werde es nur einmal sagen. Wenn Sie nicht weitermachen wollen, dann ist das in Ordnung. Aber verstecken Sie sich nicht hinter blödsinnigen Argumenten wie Sie seien nicht mutig genug oder aufgrund Ihrer Erziehung nicht geeignet oder als Tochter eines Pfarrers nicht die Richtige für diese Aufgabe. Sagen Sie einfach, wie es wirklich ist. Dass Ihnen dieser Job nicht gefällt. Vielleicht mögen Sie nicht abends arbeiten. Vielleicht finden Sie die jungen Mädchen schrecklich, die wir treffen. Ist es das? Habe ich ins Schwarze getroffen? Halten Sie sich für etwas Besseres?“

Ruth wurde ganz blass, und ihre Hand zitterte, als sie das Weinglas nahm. Wie konnte er das nur von ihr glauben? Sie hatte sich stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, was sie sagen wollte und wie sie es formulieren sollte. Doch es hatte ihr im entscheidenden Moment nichts genützt, denn sie hatte sich wieder einmal unbeholfen und gehemmt gezeigt und offenbar einen völlig falschen Eindruck bei ihm erweckt.

„Nein, ich habe nichts dagegen, abends zu arbeiten … Ich habe keine familiären Verpflichtungen … und ich habe auch nichts … Wie können Sie mir nur unterstellen, dass ich diese Mädchen … schrecklich finde?“, fügte sie bestürzt hinzu und beobachtete, wie sein Blick freundlicher wurde.

„Was ist es dann?“

„Ich … ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen“, erklärte sie schließlich. „Die Geschichten gestern Abend haben mich entsetzt. Siebzehnjährige Mädchen verlassen ihr Zuhause, nur weil es ihnen dort zu eng ist oder sie Streit mit einem Stiefelternteil haben, und begraben ihre ganze Zukunft. Ich wollte sie mit in meine Wohnung nehmen und … ich weiß nicht … sie retten, glaube ich. Stattdessen musste ich jedes Wort aufschreiben, das sie gesagt haben, ihnen Fragen stellen und mich dann von ihnen verabschieden, weil wir heute die nächsten Teenager interviewen, mit wieder anderen Geschichten und Tragödien.“

„Aber Sie können nicht die ganze Welt verbessern, und vor unangenehmen Tatsachen davonzulaufen bedeutet nicht, dass es sie nicht länger gibt. Sie entziehen sich dadurch nur einer unbequemen Konfrontation.“

Wie gestern trug sie das Haar offen, sodass es ihr locker auf die Schultern fiel. Und in dem etwas kürzeren Rock und der nicht ganz so hochgeschlossenen Bluse fühlte sie sich seltsam verletzlich. Sie empfand sich als Frau und nicht als Mädchen, vor allem jetzt, in der unmittelbaren Nähe dieses so ausgesprochen maskulinen Mannes.

Gestern hatte sie sich bewusst so weit wie möglich von ihm entfernt hingesetzt, sich aber dennoch dabei ertappt, wie sie immer wieder zu ihm hingesehen hatte. Es war ihr fast so vorgekommen, als würde sie unter einem gewissen Zwang stehen, ihn mit ihren Blicken zu verschlingen und sich von seiner überwältigenden Ausstrahlung durchdringen zu lassen.

Ihre Reaktion auf ihn machte ihr Angst und verwirrte sie. Aber ist es nicht eigentlich normal, von einem Mann fasziniert zu sein, der so anders ist als jene, die ich bisher kennengelernt habe? fragte sich Ruth. Wenn ich einem zweiköpfigen Monster gegenübersitzen würde, wäre ich doch auch fasziniert, überlegte sie weiter, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie unlogisch es war.

„Ich habe kein Problem damit, mich der Realität zu stellen“, erwiderte sie verlegen.

„Sagen Sie es, wenn ich mich irre. Ich glaube, dass Sie sehr behütet aufgewachsen sind. Sie haben in der Schule fleißig gelernt, Ballettunterricht und vielleicht auch Reitstunden genommen. Ihr Leben war bis ins kleinste Detail geplant …“

„Was ist falsch daran? Ich bin froh, dass ich so behütet und umsorgt wurde. Ich fände es schrecklich, wenn ich wie diese Mädchen gewesen wäre!“

„Fällt Ihnen die Begegnung mit ihnen deshalb so schwer? Weil Sie sich nicht mit ihnen identifizieren können? Weil sie Ihnen wie Außerirdische erscheinen, während sie eigentlich nur nicht so viel Glück gehabt haben wie Sie?“

„Nein“, antwortete Ruth. „Ich empfinde einfach zu viel Mitleid … und komme mir in ihrer Gegenwart vor, als wäre ich hundert, obwohl ich nur einige Jahre älter bin. Ich fühle wie ihre Mütter und reagiere, als wäre ich es …“

„Sie kommen sich wegen Ihrer Selbstdarstellung älter vor.“

„Wie meinen Sie das?“

Franco atmete tief ein und blickte sie unverwandt an. „Nehmen Sie zum Beispiel Ihre Kleidung.“

Unwillkürlich sah sie an sich hinunter und errötete.

„Sie haben gestern den ganzen Abend Ihre Jeansjacke anbehalten, als hätten Sie Angst davor, sich irgendetwas zu holen, wenn Sie sie ausziehen würden.“

„Mir war kalt.“

„In dem Lokal wimmelte es von Leuten, und es war brütend heiß.“

„Ich … ich …“ Vergebens suchte sie nach einer plausiblen Erklärung.

Die Wahrheit war, dass sie sich nicht getraut hatte, sich in dem hautengen Top zu zeigen, das sie unter der Jacke getragen hatte. Normalerweise zog sie es nur zu Hause an, wenn sie allein war. Es war ihr selbst rätselhaft, warum sie es gestern getragen hatte. Vielleicht war es ein Anflug von Leichtsinn gewesen … Im Lokal hatte sie dann jedoch den Mut verloren und die Jacke anbehalten, obwohl ihr ausgesprochen warm gewesen war. Dass er es überhaupt bemerkt hatte, wunderte sie allerdings.

„Sie haben das Gesicht eines jungen Mädchens, eines engelhaften Kindes, und kleiden sich wie eine Matrone, als würden Sie sich Ihres Aussehens schämen“, fuhr er fort und ließ den Blick an ihr hinuntergleiten.

„Ich bin kein Kind mehr“, erwiderte Ruth, wusste in ihrer Verletztheit nichts weiter zu sagen.

„Sie müssen nicht zur Sozialarbeiterin dieser Teenager werden. Sie sollen nur erfassen, was in ihnen vorgeht. Dieses Verständnis wird sich in unserer Reportage niederschlagen, und was wir schreiben, wird dann vielleicht das Leben einiger von ihnen verändern. Es gibt sehr gute Anlaufstellen, wohin sich die jungen Leute flüchten können, bis sie wieder klarer denken und ihr Leben besser im Griff haben. Aber wie so viele andere brauchen auch diese Stellen staatliche Förderung. Und das gedruckte Wort wirkt zuweilen Wunder.“

Franco bemerkte, wie ihre Verlegenheit allmählich wich und ein interessierter Ausdruck in ihre graue Augen trat. Sie mochte eine erwachsene Frau sein, doch sie war so leicht zu durchschauen wie ein junges Mädchen. Jede noch so kleine Gefühlsregung, jeder noch so kleine Stimmungswandel spiegelte sich in ihrem Gesicht. Er konnte das Wechselspiel endlos verfolgen, es war so faszinierend wie Ebbe und Flut in einer mondhellen Nacht. Ruth zu betrachten war unterhaltsamer, als ein gutes Buch zu lesen.

Auch verspürte er eine wunderbare Erregung. Verstohlen hatte er gestern Abend verfolgt, wie sie ihn immer wieder angeblickt und dann schnell weggesehen hatte, als hätte sie Angst, bei etwas Ungehörigem ertappt zu werden.

Sie hatte ihm in der bis oben zugeknöpften Jacke gegenübergesessen und ihn so zu Spekulationen verleitet, was sie wohl darunter trug. Und wenn sie sich Notizen gemacht hatte – er sollte sich wirklich darum kümmern, dass sie mit ihrer Tüchtigkeit eine andere Arbeit in der Redaktion bekam –, hatte ihr Haar ihre Wangen gestreift, und ihr kurzer Pony war immer wieder leicht in Unordnung geraten, wenn sie den Atem nach oben ausgestoßen hatte, weil ihr warm oder sie betroffen war oder auch beides.

Was hatte sie gerade gesagt? Franco sah sie ernst an, um zu verbergen, dass er überhaupt nicht bei der Sache gewesen war. Ruth und ihre faszinierende Persönlichkeit schienen ihn von Minute zu Minute mehr zu fesseln.

„Ja“, antwortete er automatisch. Sie musste ihn etwas gefragt haben, denn sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und blickte ihn mit leicht geöffnetem Mund an.

„Wie bitte?“, meinte sie verwirrt.

„Was haben Sie gesagt?“

„Ich wollte wissen, wie Sie die Chancen einschätzen, dass die beiden Mädchen ihr Leben wieder in den Griff bekommen.“

„Oh, ja, richtig. Ich hatte den Eindruck, dass sie ziemlich Hals über Kopf von Manchester nach London ausgerückt sind und nun merken, dass sie sich mit ihrer Flucht von Zuhause übernommen haben. Ich wäre nicht erstaunt, wenn sie anfangen würden, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie sich nicht vielleicht lieber ihren wütenden Müttern und aufgeregten Geschwistern stellen sollten, als ihr Glück hier in der Großstadt zu suchen.“

„Das habe ich auch gedacht, und …“ Ruth nahm den Notizblock aus ihrer Tasche und überflog die beschriebenen Seiten. „Kate hat sich auch ziemlich eindeutig dahin gehend geäußert, dass sie derselben Meinung ist. Es ist sicherlich hilfreich, dass sie einander haben. Wenn sie allein wären, könnten sie verletzlicher sein und eine leichtere Beute für … üble Typen … Sie wissen schon, was ich meine …“

„Ja“, bestätigte er ernst. „Wie sieht’s aus? Was möchten Sie essen?“

„Irgendetwas mit Pommes frites. Ich sterbe vor Hunger.“

Franco unterdrückte ein Lächeln. „Haben Sie heute noch nichts gegessen?“

„Nicht viel. Müsli und Toast zum Frühstück.“ Sie beugte sich etwas vor, um besser lesen zu können, was auf der schwarzen Tafel geschrieben stand, die weiter hinten im Raum an der Wand hing. „Sandwiches und Obst zu Mittag. Seither nichts mehr. Deshalb habe ich wahrscheinlich auch so einen Hunger.“

Fast hätte er laut gelacht und hielt sich schnell den Mund zu. Er wusste instinktiv, dass es ihr nicht gefallen würde, wenn er über ihren Appetit lachte. Vermutlich würde sie fälschlicherweise annehmen, dass er sie verspottete und für eine Landpomeranze hielt.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte sie, als er so tat, als würde er husten. „Haben Sie etwas im Hals?“ Schon stand sie auf und klopfte ihm energisch auf den Rücken.

„Was machen Sie?“, stieß er keuchend hervor und blickte sie überrascht an.

„Ich dachte, Ihnen wäre etwas im Hals stecken geblieben.“

„Ich muss mich verschluckt haben“, erklärte er, als sie sich wieder hinsetzte. „Also Pommes frites?“

„Ja, gern. Wie ich sehe, gibt es heute Schellfisch mit Pommes frites, Brot und Salat.“

„Mögen Sie sonst noch etwas?“, erkundigte er sich und stand auf.

Ruth blickte erneut zur Tafel, und Franco überlegte verblüfft, ob sie wirklich noch mehr bestellen wollte. Doch schließlich schüttelte sie den Kopf und lehnte höflich ab.

„Wie haben Sie sich entschieden?“, erkundigte er sich, als er mit einem Glas Wein und einem weiteren Bier für sich an den Tisch zurückkehrte. „Machen Sie weiter, oder wollen Sie aufhören?“

Sie spielte einen Moment mit ihrem Glas. „Ich mache weiter, aber …“

„Aber was?“, meinte er freundlich.

„Aber Sie müssen darauf gefasst sein, dass ich wegen der jungen Mädchen manchmal zutiefst bekümmert bin.“

„Ich wäre überrascht, wenn es anders wäre.“

Angenehm überrascht? fragte sie sich unwillkürlich. „Ich bin ein mitfühlender und leicht zu Tränen zu rührender Mensch“, erklärte sie mit herausforderndem Blick, der ihn warnen sollte, keine Diskussion mit ihr über den Sinn und Zweck dieser Verhaltensweise anzufangen.

„Sagen Sie nicht, Sie würden bei Filmen weinen.“

„Doch, heftig.“

„Und wegen trauriger Geschichten in der Presse nachts schlecht schlafen.“

„Bis hin zu stundenlangem wach liegen.“

„Und sich grämen, wenn Sie glauben, jemandem wehgetan zu haben.“

„Endlos.“

„Dann haben wir viel gemeinsam. Ich mache das nämlich auch.“

Bei der Vorstellung, dass er während eines Films weinte, musste Ruth schallend lachen. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wischte sich die Tränen aus den Augen. Als sie sein stilles Lächeln sah und sich seiner Gegenwart plötzlich überdeutlich bewusst wurde, wurde sie jedoch wieder ernst.

Autor

Sharon Kendrick
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Anne Mc Allister
Anne Mcallister, Preisträgerin des begehrten RITA Award, wurde in Kalifornien geboren und verbrachte ihre Ferien entweder an kalifornischen Stränden, auf der Ranch ihrer Großeltern in Colorado oder bei Verwandten in Montana. Genug Gelegenheiten also, um die muskulösen Surfer, die braungebrannten Beach-Volleyballer und die raubeinigen Cowboys zu beobachten! Am Besten gefielen...
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