Julia Exklusiv Band 358

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SCHENK MIR DIESE NACHT von CAROLE MORTIMER
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  • Erscheinungstag 06.01.2023
  • Bandnummer 358
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519489
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carole Mortimer, Lee Wilkinson, Catherine Spencer

JULIA EXKLUSIV BAND 358

1. KAPITEL

Gaye hob den Kopf, als der Mann lässig den Korridor entlang auf das Schwesternzimmer zuschlenderte, in dem sie saß und telefonierte. Er schien es nicht eilig zu haben, im Gegenteil, er tat fast so, als hätte er alle Zeit der Welt. Ein höchst ungewöhnliches Verhalten in einer privaten Entbindungsklinik, in der die männlichen Besucher entweder gerade Vater geworden waren oder es zumindest bald sein würden. Auf jeden Fall jedoch hatten sie es normalerweise wesentlich eiliger, zu ihren Ehefrauen oder Partnerinnen zu gelangen, als offenbar dieser Mann.

Ein Vater wider Willen, entschied Gaye geringschätzig. Sein zögernder Gang gestattete es ihr allerdings, ihn in aller Ruhe zu betrachten, während sie darauf wartete, dass sich endlich am anderen Ende der Leitung jemand meldete. Und dieser Mann zwar zweifellos einen zweiten Blick wert – selbst für Gayes kritischen Geschmack …

Er war über eins achtzig groß und hatte dichtes, ein wenig lockiges goldblondes Haar und ein so attraktives Gesicht, dass es beinahe zu perfekt gewirkt hätte, wäre da nicht die leicht schiefe Nase gewesen. Allem Anschein nach hatte er sie sich in der Jugend gebrochen und nicht operieren lassen, sodass sie nun seinen aristokratischen Zügen einen etwas überheblichen Ausdruck verlieh. Der dunkle Anzug stammte zweifellos von einem exklusiven Schneider, und das strahlende Weiß des Hemdes betonte den sonnengebräunten Teint des Mannes.

Die Bräune wurde noch deutlicher, als er Gayes Tisch erreichte und sie mit ebenmäßigen weißen Zähnen anlächelte. „Hallo“, begrüßte er sie freundlich. Winzige Lachfältchen erschienen um seine sinnlichen Lippen. Sein Blick verriet unverhohlene Bewunderung.

Wie hypnotisiert legte Gaye die Hand auf die Sprechmuschel und ließ den Apparat am anderen Ende der Leitung läuten. Noch nie zuvor hatte sie solche Augen gesehen! Sie hatten einen tiefen, warmen Goldton und schienen das Licht einzufangen. Löwenaugen. Unglaublich.

Da der Mann jedoch Mitte bis Ende dreißig war, hatte er sicher bereits häufiger erlebt, welche Wirkung sein Äußeres auf das weibliche Geschlecht ausübte, und deshalb bemühte Gaye sich um einen besonders sachlichen Tonfall, als sie ihm antwortete: „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin sicher, das können Sie, Schwester … Royal.“ Ein kurzer Blick auf das kleine Schild an ihrer Uniform hatte ihm ihren Namen verraten. „Mein Name ist Hunter, und …“

„Hunter!“, wiederholte sie scharf, legte den Hörer zurück auf den Apparat und stand unvermittelt auf. „Ich wollte Sie gerade anrufen. Wir versuchen schon seit über einer Stunde, Sie zu erreichen.“

„So?“ Ihre heftige Reaktion schien ihn zu überraschen. „Nach meinen Informationen wurde Abbie erst vor ein paar Stunden eingeliefert.“

„Mit vorzeitigen Wehen. Jawohl.“ Blitzschnell überlegte sie, welche Kittelgröße er wohl brauchen würde. „Mrs. Hunter befindet sich auf dem Weg in den OP. Wenn wir uns beeilen, können Sie bei der Geburt dabei sein.“

Wie der Ehemann sehr richtig bemerkt hatte, war Abbie Hunter erst vor zwei Stunden in der Klinik eingetroffen. Außer den verfrühten Wehen hatten noch weitere Komplikationen den behandelnden Arzt bewogen, unverzüglich einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Deshalb war man so verzweifelt bemüht gewesen, sich mit dem Ehemann in Verbindung zu setzen. Gott sei Dank war er endlich aufgetaucht, denn der bloße Gedanke, er würde nicht bei ihr sein, hatte seine Frau in helle Aufregung versetzt.

Offenbar hatte er keine Ahnung von deren kritischem Zustand, sonst wäre er kaum so hereingeschlendert. Und dabei war sie so wunderschön und warmherzig – und zutiefst besorgt, dass irgendetwas bei der Geburt des Babys, das sie sich so sehnlich wünschte, schiefgehen könnte.

„Soweit ich weiß, wollte Mrs. Hunter, dass Sie bei der Entbindung anwesend sind“, erklärte Gaye kühl, als sie sein Zögern bemerkte.

Er schluckte und wurde unter der Sonnenbräune eine Spur blasser. „Ach ja?“

Er wollte Zeit gewinnen, davon war Gaye felsenfest überzeugt. Allerdings lag ihr das Wohl der Patientin momentan mehr am Herzen als seines – und Abbie Hunter wollte, dass er bei der Geburt ihres Kindes dabei war.

„Kommen Sie mit“, befahl sie kurz angebunden. „Ich besorge Ihnen einen Kittel und bringe Sie dann persönlich in den OP.“ Mit energischen Schritten eilte sie ihm voraus den Flur entlang. Die blaue Schwesternuniform trug wenig dazu bei, ihre geschmeidigen Bewegungen und die wohlgeformte Figur darunter zu verbergen.

Leider fiel das auch Mr. Hunter auf, wie Gaye missbilligend feststellen musste, als sie sich kurz umdrehte, um sich zu vergewissern, dass er ihr auch folgte. Er war nicht nur direkt hinter ihr, sondern betrachtete mit typisch männlicher Bewunderung den sanften Schwung ihrer Hüften. Ihre Meinung über Männer war selbst im günstigsten Fall nicht die beste, aber dieser Mann übertraf wirklich alles! Seine Frau lag in den Wehen, und er zögerte nicht nur, bei ihr zu sein, sondern musterte überdies ungeniert die Kurven einer anderen!

Gayes Haltung wurde zunehmend frostiger, als sie ihm einen OP-Kittel reichte und sich selbst einen überstreifte. In all den Jahren als Krankenschwester und später als Hebamme war ihr noch nie ein Mann einer Patientin begegnet, der so offen mit ihr geflirtet hatte.

Und um alles noch schlimmer zu machen, genügte ihm ein kurzer Blick auf seine schläfrig auf dem OP-Tisch liegende Frau, um eine ähnlich grüne Farbe anzunehmen wie der Kittel, den er trug. Wunderbar! Sie würden sich also auch noch um einen Ohnmächtigen kümmern müssen …!

Natürlich kam dies gelegentlich vor. Viele Männer hatten schon bei einer normalen Geburt Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten, aber Mr. Hunter hatte einen derart selbstsicheren Eindruck erweckt, dass Gaye niemals auf die Idee gekommen wäre, er könne zimperlich sein.

„Sprechen Sie mit Ihrer Frau“, ermunterte sie ihn leise. Wenn er ohnmächtig wurde, würde das Team eben über ihn hinwegsteigen müssen.

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Meine Frau? Aber …“

„Sie ist benommen, aber wach“, versicherte sie ihm. „Reden Sie mit ihr. Das hilft.“ Und zwar beiden, zumindest hoffte Gaye dies. Abbie Hunter würde ruhig und ihr Mann auf den Füßen bleiben.

Als die Patientin die Lider öffnete, blitzte es in ihren veilchenblauen Augen freudig auf. Dann schien sie zu stutzen. „Jonathan …?“

„Jarrett ist auf dem Weg, Abbie“, erwiderte er ruhig – trotz seines kreideweißen Gesichts – und trat zu ihr. „Er wird, so schnell er kann, bei uns sein.“

Nun, zumindest tut er jetzt seine Pflicht, dachte Gaye zufrieden. Wenn wir ihn nun noch daran hindern könnten, umzufallen … „Reden Sie einfach weiter“, drängte sie sanft. „Sie beide werden schon bald Ihren Sohn in den Armen halten.“

Wie die meisten Paare hatten auch die Hunters das Geschlecht ihres Kindes erfahren wollen, um die passenden Möbel und Babysachen aussuchen zu können.

Dr. Gilchrist hatte den Eingriff bereits begonnen, und es war daher der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für den großen dunkelhaarigen Mann, ohne Erlaubnis und ohne sterilen Kittel – aber dafür dicht gefolgt von einer protestierenden Hebamme – in den OP zu stürmen. Was, um alles in der Welt …

„Hätte wohl jemand die Güte, ihn aus meinem OP zu schaffen?“, fragte der Chirurg ungeduldig, während er sich weiterhin auf die Patientin konzentrierte. „Wir sind hier schließlich nicht im Zirkus“, fügte er hinzu.

„Ich werde nirgendwo hingehen, James“, verkündete der große dunkelhaarige Mann nachdrücklich und deutete auf Abbie Hunter. „Dies ist meine Frau, und ich beabsichtige, bei der Geburt unseres ersten Kindes bei ihr zu sein.“

Seine Frau? Sein Kind?

Gaye blickte von dem Eindringling zu dem Mann, der an Abbies Seite stand und ihre Hand hielt. Wenn der Dunkelhaarige der Ehemann war, wer war dann der Blonde? James Gilchrist hatte sich geirrt: Der OP verwandelte sich allmählich in einen Zirkus – und Gaye befand sich mitten in der Arena!

James Gilchrist richtete sich stirnrunzelnd auf. „Ich weiß, wer Sie sind, Jarrett“, erwiderte er trocken und wandte sich dem blonden Mann zu. „Und Ihnen, wer immer Sie sein mögen, empfehle ich, hier schnellstens zu verschwinden, damit wir endlich das Baby holen können.“

Der Angesprochene trat rasch vom OP-Tisch zurück, streifte den Kittel ab und reichte ihn Jarrett. „Mit dem größten Vergnügen“, beteuerte er aufatmend. „Ich warte draußen“, sagte er zu Jarrett, bevor er förmlich aus dem Saal eilte.

Gaye folgte ihm. Sie hatte soeben den schlimmsten Irrtum ihrer beruflichen Laufbahn begangen und den falschen Mann zu einer werdenden Mutter gebracht. Und Jonathan Hunter hatte sie gewähren lassen! Warum hatte er ihr nicht erklärt, dass er nicht Abbies Ehemann war? Dieser Fehler war wirklich unverzeihlich. Und was Dr. Gilchrist betraf …

„Wer sind Sie?“, fragte Gaye, als sie endlich auf dem Flur standen. Ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde.

Inzwischen war wieder etwas Farbe in die Wangen des Mannes zurückgekehrt. „Jonathan Hunter“, meinte er wenig hilfreich. Als er ihre Verwirrung bemerkte, setzte er hinzu: „Der Onkel des Kindes, nicht der Vater.“

Jarrett Hunters Bruder. Abbie Hunters Schwager.

Erst im Nachhinein fiel Gaye ein, dass der dunkelhaarige Mann, der so überraschend in den OP geplatzt war, die gleichen außergewöhnlichen goldbraunen Augen hatte. Damit erschöpften sich jedoch die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Brüdern. Der eine war groß, dunkel und befehlsgewohnt, der andere groß, blond und jungenhaft charmant. Allerdings wurde sie das Gefühl nicht los, dass Jonathan Hunter genauso überheblich sein konnte wie sein Bruder, falls die Situation es erforderte …

„Warum haben Sie mir das nicht von Anfang an gesagt?“, beschwerte sie sich empört.

Er zog spöttisch die Brauen hoch. „Soweit ich mich erinnere, haben Sie mir dazu keine Gelegenheit gegeben.“

Errötend dachte sie an ihre Reaktion, als er ihr seinen Namen genannt hatte. Sie hatte ihm tatsächlich keine Zeit gelassen, seine Beziehung zu Abbie Hunter zu erklären. Schuld daran war zum Teil die geradezu magische Anziehungskraft, die er auf sie ausübte – doch das ging niemand etwas an, außer sie selbst. Noch bevor er den Mund geöffnet hatte, war sie wütend auf ihn gewesen – und auf sich. Allein deshalb hatte sie sich ihm gegenüber so schroff verhalten.

„Aber ich kann Sie trösten“, fuhr Jonathan Hunter fort, „wäre Jarrett nicht rechtzeitig eingetroffen, hätte er von mir erwartet, dass ich nicht von Abbies Seite weiche.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des OP. „Abbie und er sind erst seit ein paar Jahren verheiratet, und dies ist ihr erstes gemeinsames Kind. Leider kommt es ein bisschen früher als erwartet, sonst hätten Sie bestimmt keine Probleme gehabt, Jarrett zu erreichen, denn er hätte sie niemals allein gelassen. Er ist heute Morgen nur ins Büro gefahren, weil Abbie ihm versichert hat, alles sei in bester Ordnung. Ich schwöre Ihnen, Jarrett hätte Hackfleisch aus mir gemacht, wenn ich nicht an seiner Stelle bei Abbie geblieben wäre.“

Diese Aussicht schien ihn allerdings nicht sonderlich einzuschüchtern … Gaye hatte die vage Ahnung, dass sein Charme sich nur schwer beeindrucken ließ. Es sei denn …

„Auch dann, wenn man Sie ohnmächtig aus dem OP getragen hätte?“, erkundigte sie sich lächelnd.

Er verzog erneut das Gesicht. „Das war nicht sehr nett, Schwester Royal“, tadelte er sie.

Diesmal hatte er nicht auf das Schild an ihrer Uniform sehen müssen. Sonderbarerweise war Gaye auch darüber verärgert. Wenn das Hunter-Baby erst einmal geboren war und Dr. Gilchrist einen freien Moment hatte, würde sie einiges zu erklären haben!

„Aber wahr“, konterte sie.

„War es so deutlich?“, meinte er zerknirscht.

„Lassen Sie es mich so formulieren: Grün ist einfach nicht Ihre Farbe“, neckte sie ihn.

„Aber Ihre schon, darauf könnte ich wetten.“ Unverhohlene Bewunderung spiegelte sich in den goldbraunen Tiefen wider, als er ihr in die Augen sah.

Er flirtete erneut mit ihr! Okay, sie wusste zwar, er war nicht mit Abbie Hunter verheiratet, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er ledig war. In Anbetracht seines Alters, seines attraktiven Äußeren und seines Charmes tendierten die Chancen, dass er noch ungebunden war, gegen null. Vielleicht hatte er sogar Kinder. Nach seinem vorherigen Verhalten zu urteilen, war er jedoch bei ihrer Geburt sicher nicht dabei gewesen.

„Ich bringe Sie ins Wartezimmer“, erklärte sie kühl. „Sobald es etwas Neues gibt, wird Ihr Bruder Sie gewiss …“

„Onkel Jonathan“, rief plötzlich eine begeisterte Kinderstimme.

Gaye wandte sich um und sah, wie ein bezauberndes kleines Geschöpf sich in Jonathan Hunters Arme warf. Dem Mädchen folgte ein weiterer großer, gut aussehender Mann mit widerspenstigem dunklen Haar und goldfarbenen Augen.

Noch ein Hunter! Diesmal erkannte sie ihn sofort. Denn während Jarrett und Jonathan einander bis auf die Augen überhaupt nicht ähnelten, schien dieser Mann die Vorzüge der beiden Brüder in sich zu vereinen.

Überdies besaß er Jonathan Hunters Talent, eine Frau mit einem einzigen Blick abzuschätzen, und das Lächeln, das er Gaye zuwarf, bevor er sich wieder seinem Bruder und dem kleinen Mädchen zuwandte, verriet, dass ihm das Gesehene gefallen hatte.

„Sie wollte nicht zu Hause bleiben“, sagte er entschuldigend zu seinem Bruder. „Und wenn Charlie sich erst einmal etwas vorgenommen hat …“

„Ist sie genauso dickköpfig wie ihre Mutter“, bestätigte Jonathan liebevoll. „Und wir alle werden zu Wachs in ihren Händen.“

„Hat Mummy das Baby schon?“, fragte das Mädchen aufgeregt.

Auch ohne das Wort „Mummy“ hätte Gaye erkannt, dass dies Abbie Hunters Tochter aus erster Ehe sein musste. Charlie hatte die Schönheit ihrer Mutter geerbt: langes dunkles Haar und veilchenblaue Augen. Kein Wunder, dass die Kleine die Hunter-Männer um den Finger wickeln konnte – sie war schlichtweg anbetungswürdig.

„Noch nicht, Püppchen“, erwiderte Jonathan beruhigend. „Diese nette Schwester hat mir jedoch versichert, dass es nicht mehr lange dauern wird.“

Charlie schaute Gaye schüchtern an. Als sie lächelte, erschien ein Grübchen in ihrer Wange. „Bekommt Mummy gerade das Baby?“

Gaye spürte, wie sie beim Anblick des niedlichen Kindes dahinschmolz. „Ja“, versicherte sie. „Möchtest du lieber einen Bruder oder eine Schwester?“

„Daddy meint, er will ein kleines Mädchen, das genauso wie ich aussieht“, erklärte Charlie ihr ernst. „Aber ich will einen Bruder.“

„Noch ein männliches Wesen, das sie einwickeln kann.“ Jonathan stöhnte kopfschüttelnd auf.

„Onkel Jonathan sagt, dass er mich heiraten wird, wenn ich erwachsen bin“, vertraute Charlie Gaye treuherzig an. „Aber Daddy meint, er sei zu alt für mich.“

„Viel zu alt“, bestätigte der dritte Hunter schmunzelnd. „Ich passe viel besser zu dir.“

Charlie schüttelte den Kopf. „Daddy meint, du seist auch zu alt für mich, Onkel Jordan“, teilte sie ihm bedauernd mit.

Jonathan. Jarrett. Und Jordan. Gaye schwirrte der Kopf angesichts der Hunter-Männer. Und nicht nur wegen ihrer Namen! Die drei waren ein atemberaubendes Trio.

„Das Wartezimmer befindet sich am Ende des Gangs auf der linken Seite.“ Sie deutete in die Richtung. „Ich werde Ihnen Kaffee besorgen“, erbot sie sich. „Was möchtest du trinken, Charlie?“ Ihre Stimme wurde merklich sanfter, als sie mit dem Mädchen sprach. Gaye liebte Kinder, und Charlie war einfach entzückend.

„Ein Glas Milch, bitte, Schwester“, antwortete die Kleine schüchtern.

„Schwester Royal“, korrigierte Jonathan sie leise.

„Du kannst mich Gaye nennen“, schlug sie lächelnd vor, wobei sie es absichtlich vermied, den beiden Männern das gleiche Recht einzuräumen. Dann eilte sie in die Stationsküche, wo sie sich um Kaffee und Milch kümmerte.

Sie brauchte dringend eine Verschnaufpause, um sich von dieser Hunter-Invasion zu erholen. Hoffentlich gab es nicht noch mehr davon. Allerdings kam in diesem Moment ein weiterer auf die Welt, und auch der Name dieses Jungen würde zweifellos mit J beginnen – sei es nun aus Tradition oder nur, um die Verwirrung zu steigern.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine mittlerweile vertraute Stimme, die Gaye sofort als Jonathan Hunters erkannte. „Oder habe ich heute schon genug angerichtet?“, fügte er reumütig hinzu, als er sich nach dem Teelöffel bückte, den sie fallen gelassen hatte.

Was meinte er damit? Das Missgeschick mit dem Löffel oder die Tatsache, dass sie sich seinetwegen im OP zur Närrin gemacht hatte? Atemlos drehte Gaye sich zu ihm um – und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Ein Lächeln, das das Herz einer jeden Frau zum Schmelzen brachte, dessen war sie sicher. Nur war ihr Herz völlig unempfänglich, ob nun für Jonathan Hunters Charme oder für den irgendeines anderen Mannes.

„Ich komme allein zurecht, danke“, entgegnete sie frostig.

„Davon bin ich überzeugt“, versicherte er fröhlich. „Ich würde aber gern helfen.“

Gaye betrachtete sein modisch gestyltes Haar, den maßgeschneiderten Anzug, das seidene Hemd und die eleganten Schuhe und fragte sich ernsthaft, ob er überhaupt das eine Ende eines Kaffeebechers vom anderen unterscheiden konnte. Zweifellos verfügten die Hunters über ganze Heerscharen von Dienstboten, die ihnen derart niedere Tätigkeiten abnahmen.

„Ich komme wirklich allein zurecht“, beharrte sie. „Würden Sie bitte wieder ins Wartezimmer gehen?“ Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der Kaffeemaschine zu. Gott sei Dank hatte sie in einer halben Stunde Feierabend. Andererseits war die Aussicht, nach Hause zurückzukehren, nicht sonderlich beglückend …

„War das eben ein Seufzer?“

Sie seufzte noch einmal resigniert auf, bevor sie sich zu Jonathan Hunter umdrehte. „Ich dachte, Sie seien fort.“

Er lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Wie Sie sehen, bin ich noch hier“, erwiderte er ungerührt. „Da Sie mich nicht helfen lassen wollten, hatte ich gehofft, wenigstens das Tablett für Sie tragen zu dürfen.“

Mit anderen Worten, er hatte nicht die Absicht zu verschwinden! Gaye wunderte das nicht im Mindesten. Hinter seinem Charme verbarg sich stahlharte Entschlossenheit – auch wenn er sich von seiner Stiefnichte um den kleinen Finger wickeln ließ. Charlie war vermutlich das einzige weibliche Wesen, dem dies gelang …

„Und warum seufzen Sie jetzt?“ Jonathans Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Seine Hartnäckigkeit war wirklich lästig! Warum ausgerechnet ich? fragte Gaye sich im Stillen. War ihr Leben nicht schon kompliziert genug, auch ohne das Interesse dieses Mannes? Sie ging zur Arbeit, erledigte ihren Job nach besten Kräften, verlangte von niemandem etwas und erwartete noch weniger – warum also musste dieser Charmeur mit all seinem Reichtum und unwiderstehlichen Lächeln alles durcheinanderbringen?

„Es war ein langer Tag“, entschuldigte sie sich kurz angebunden. Und Gott sei Dank war er fast vorbei.

Er nickte. „Andererseits ist es bestimmt sehr befriedigend, neuem Leben auf die Welt zu helfen.“

Verwundert schaute sie ihn an. Ja, es war wundervoll, die grenzenlose Freude auf dem Gesicht einer Mutter zu beobachten, wenn ihr das Baby in die Arme gelegt wurde. Dies war einer der Gründe, weshalb sie sich auf Geburtshilfe spezialisiert hatte – denn es bedeutete Leben und nicht Tod.

Wann hatte sie diesen Aspekt aus den Augen verloren? Wie hatte sie ihn nur aus den Augen verlieren können?

Sie kannte die Antwort auf beide Fragen. Aber erst wurde ihr klar, dass sie gegen das Wunder einer Geburt fast immun geworden war und das eigene Leben viel zu wichtig genommen hatte.

Tränen stiegen ihr in die Augen, die Gefühle drohten sie zu überwältigen. Doch vor diesem Mann konnte und durfte sie nicht weinen. Sie hatte noch nie vor anderen geweint. Zwei Jahre lang hatte sie sich eisern in der Gewalt gehabt, und jetzt würde sie auch nicht zusammenbrechen!

„Gaye …“ Jonathan Hunter war sofort bei ihr und umfasste sacht ihre Arme, den Blick besorgt auf ihr blasses Gesicht gerichtet.

Ein Gesicht, das in den vergangenen zwei Jahren schmaler geworden war, mit grünen Augen, die fast zu groß für diese zarten Züge waren, hohen Wangenknochen, einer schmalen Nase über sinnlichen Lippen und einem energischen, festen Kinn. Die Fröhlichkeit, die sich einst in den grünen Augen widergespiegelt hatte, war schon zu lange erloschen und unbeschreiblicher Verwundbarkeit gewichen.

Das Letzte, was Gaye sich wünschte, war die flüchtige Anteilnahme dieses Mannes. Sie wollte – und brauchte – sein Mitleid nicht. Falls sie den Emotionen nachgab, die sie so lange unter Kontrolle gehabt hatte, würde sie sich wahrscheinlich nicht mehr davon erholen. Wenn Jonathan Hunter heute die Klinik verließ, würde er keinen zweiten Gedanken an sie verschwenden, aber für sie würde das brüchige Kartenhaus zusammenstürzen, zu dem ihr Leben in den vergangenen zwei Jahren geworden war. Nur ein kurzer Moment der Schwäche, und sie würde wieder von vorn anfangen müssen.

„Bitte, Mr. Hunter.“ Sie wich einen Schritt zurück. Ihre kalte, abweisende Miene hatte sowohl alte Freunde vertrieben als auch neue Bekanntschaften verhindert – und sie würde auch Jonathan Hunter auf Distanz halten. „Ich will nicht …“

„Jonathan!“ Jordan Hunter tauchte plötzlich mit strahlendem Lächeln an der Tür auf. „Entschuldigen Sie die Störung, Schwester“, bat er rasch. „Es ist ein Junge, Jonathan. Abbie und ihm geht es gut“, fügte er erleichtert hinzu. Offenbar war er seiner Schwägerin genauso zugetan wie Jonathan. „Jarrett ist gerade mit Charlie bei ihnen.“

„Das sind ja wundervolle Neuigkeiten“, meinte Gaye betont fröhlich. „Und wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben“, sie drückte Jonathan Hunter das Tablett in die Hände, „wird Ihre Schwägerin wieder in ihrem Zimmer sein, und Sie können sie besuchen.“ Und ich habe Feierabend, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Gaye …?“

An der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu Jonathan Hunter um. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Warum konnte dieser Mann nicht zu seinem gewohnten Leben zurückkehren und sie ihrem eigenen überlassen?

„Ja?“

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte er leise.

Und dann lächelte er. Es war, als würde die Sonne durch eine dichte Wolkendecke brechen. Seine Augen schimmerten wie Bernstein, um seinen Mund und seine Augen bildeten sich winzige Lachfältchen, und sogar sein Haar schien einen tieferen Goldton anzunehmen.

Gaye schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, wofür Sie sich bedanken – dafür, dass Sie beinahe bei der Geburt Ihres Neffen dabei gewesen wären, oder für die Erkenntnis, dass Grün nicht Ihre Farbe ist.“ Bevor er etwas darauf erwidern konnte, war sie verschwunden.

Sie musste nämlich noch Dr. Gilchrist suchen und sich bei ihm entschuldigen, weil sie seinen OP in einen Zirkus verwandelt hatte.

Und dann musste sie nach Hause fahren …

Sie freute sich weder auf das eine noch auf das andere.

2. KAPITEL

„Tolle Beine“, stellte Jordan anerkennend fest.

„Hm.“ Stirnrunzelnd wandte Jonathan sich seinem jüngeren Bruder zu, der Gaye bewundernd nachschaute. Offenbar war Jordan ebenso hingerissen von der natürlichen Anmut ihrer Bewegungen und den langen, wohlgeformten Beinen, die sich unter der Schwesternuniform verbargen, wie er selbst es vom ersten Moment an gewesen war. „Hände – und Augen! – weg, kleiner Bruder“, warnte er nachdrücklich. „Bring das hier ins Wartezimmer.“ Er reichte Jordan das Tablett.

„Wohin gehst du?“, fragte Jordan erstaunt.

Gaye besaß nicht nur wundervolle Beine, sondern auch ein außergewöhnliches Gesicht. Ihre Schönheit hatte Jonathan fast den Atem geraubt. Als er vor einigen Jahren im Krankenhaus gewesen war, um sich den Blinddarm herausnehmen zu lassen, hatte es dort keine so umwerfend attraktiven Schwestern gegeben. Das war wahrscheinlich auch gut so, denn sonst hätte er wohl kaum den Wunsch gehabt, wieder gesund zu werden!

Jonathan lächelte. „Ich werde einen Arzt über einen ganz verständlichen Irrtum aufklären“, erwiderte er geheimnisvoll und ließ Jordan stehen.

Verdammt, Jordans Bemerkung über ihre Beine hatte ihn geärgert! Auch wenn sie stimmte! Tatsache war, dass Gaye in jeder nur erdenklichen Hinsicht hinreißend war. Sie hatte eine Traumfigur: volle Brüste und eine zierliche Taille, schmale Hüften und schier endlos lange Beine. Und erst ihr Gesicht! Sie war so überirdisch schön, dass es ihm beinahe die Sprache verschlagen hätte, und angesichts der grenzenlosen Traurigkeit, die sich in den grünen Tiefen ihrer Augen widergespiegelt hatte, war in ihm der Beschützerinstinkt erwacht. Schönheit und Verletzlichkeit – eine geradezu tödliche Kombination!

Und trotzdem … Während er sich auf die Suche nach dem Chirurgen machte, der Abbie operiert hatte, fragte er sich unwillkürlich, wie lang Gayes blondes Haar wohl sein mochte, wenn es nicht streng im Nacken zusammengefasst war …

Ob sie verheiratet war? Falls ja, hätte er schwören können, dass sie keine glückliche Ehe führte! Aber ob glücklich oder nicht, falls sie verheiratet war, würde er, Jonathan, die Finger von ihr lassen. Verheiratete Frauen waren für ihn tabu.

Insgeheim verwünschte er sich, weil er ihren Händen nicht mehr Beachtung geschenkt und sich vergewissert hatte, ob sie einen Ehering trug oder nicht. Ihm war natürlich klar, dass dieses Detail heutzutage überhaupt nichts besagte, da manche Frauen es vorzogen, auf einen Ehering zu verzichten – im Gegensatz zu Abbie und Jarrett, die vor zwei Jahren die Ringe als Symbol ihrer immer währenden Liebe getauscht hatten …

Das Leben geht schon sonderbare Wege, überlegte Jonathan, während er den Flur entlangeilte. Seine beiden Brüder und er hatten sich nach einer stürmischen Kindheit in einer gescheiterten Beziehung geschworen, sich niemals fest zu binden, und trotzdem wusste Jonathan, dass Jarrett keine andere Frau mehr angesehen hatte, seit er mit Abbie verheiratet war.

Und nun hatten Abbie und Jarrett einen Sohn …

Conor James, wie Jonathan zwanzig Minuten später von den stolzen Eltern erfuhr. Abbie war zwar noch ein bisschen benommen, aber überglücklich, und Jarrett strahlte über das ganze Gesicht.

Soweit Jonathan es beurteilen konnte, war es tatsächlich ein hübsches Baby – sofern man einen Jungen als hübsch bezeichnen konnte. Doch abgesehen davon, dass Conor sein Neffe war, das dunkle Haar seiner Eltern geerbt und Jarrett ihn offenbar für das schönste Kind auf Erden hielt, war Jonathan es bald überdrüssig, das winzige, wehrlose Bündel zu betrachten, dessen einzige Aktivitäten darin zu bestehen schienen, von Zeit zu Zeit die Stirn zu runzeln und die Finger auszustrecken. Verglichen mit Conor war Charlie bereits eine kleine Erwachsene.

Doch auch sie war hingerissen. „Ist er nicht wundervoll, Onkel Jonathan?“ Behutsam streichelte sie die kleine Faust ihres Bruders.

„Wirklich niedlich“, bestätigte er und fragte sich, wann er sich wohl mit Anstand verabschieden könnte.

Abbie lachte. „Warte nur, bis du dein eigenes Baby im Arm hältst. Dann werden wir schon sehen, wie ‚niedlich‘ es ist“, neckte sie ihn.

„Darauf könnt ihr lange warten“, erwiderte er trocken.

Jarrett sah ihn prüfend an. „Jordan hat uns erzählt, dass du dich verliebt hast“, meinte er spöttisch.

Jonathan warf seinem jüngeren Bruder einen vernichtenden Blick zu – und erntete dafür ein treuherziges Lächeln. „Jordan hat eine blühende Fantasie“, behauptete er verärgert. „Da jedoch offenbar die gesamte Geschäftsführung von Hunters hier versammelt ist, sollte einer von uns vielleicht wieder in die Firma fahren und den Angestellten für den Rest des Tages freigeben.“

„Willst du das tun?“ In Jordans Augen funkelte es mutwillig.

„Nein – du fährst“, erklärte Jonathan energisch. „Ich muss noch etwas anderes erledigen.“

„Schwester Royal hat vor zehn Minuten Feierabend gemacht“, teilte Jordan ihm unschuldig mit.

„Woher, zum Teufel, weißt du das?“

Jordan lächelte selbstzufrieden. „Ich habe mich erkundigt.“

Jonathan ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde er mit dem allergrößten Vergnügen dieses Grinsen von Jordans Gesicht …

„Bis nachher, Jonathan.“ Einmal mehr betätigte sich Jarrett als Schlichter zwischen seinen streitsüchtigen Brüdern.

Nach einem letzten drohenden Blick auf Jordan und dem Versprechen, später noch einmal bei Mutter und Kind vorbeizuschauen, verließ Jonathan das Zimmer und eilte den Korridor entlang. Er hoffte inständig, dass er Gaye nicht verpasst hatte.

Er hatte. Unter den Besuchern und Angestellten, die aus dem Hospital strömten, war Gaye nicht zu entdecken. Zur Hölle mit Jordan! Wenn er sich unbedingt nach Gaye hatte erkundigen müssen, hätte er besser nach ihrer Adresse statt nach ihrem Dienstplan fragen sollen!

Erst als Jonathan vom Krankenhausgelände fuhr, sah er sie. Gaye stand in einer langen Schlange an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite.

Nun brauchte er nicht weiter über die Länge ihres Haars nachzugrübeln – es fiel wie ein schwerer, seidiger Vorhang über ihren Rücken. Das dunkelgrüne Sweatshirt und die hellen Jeans ließen sie fast jungenhaft schlank wirken. Ohne die strenge Uniform sah sie sehr jung und unbeschreiblich schön aus.

Es dauerte einige Minuten, bis Jonathan eine Lücke in dem dichten Feierabendverkehr entdeckte. Kostbare Minuten, in denen er betete, dass der verdammte Bus nicht auftauchen und sie ihm vor der Nase wegschnappen möge, bevor er sie erreichte.

Als er den schwarzen BMW neben ihr anhielt und ausstieg, sah sie ihn verständnislos an. Nicht das geringste Anzeichen des Wiedererkennens spiegelte sich in ihren herrlichen grünen Augen wider. Zum Teufel, diese Frau war Gift für sein Selbstbewusstsein!

„Jonathan Hunter“, erinnerte er sie höflich – und zutiefst gekränkt, weil er sich erneut vorstellen musste. „Ich dachte, ich könnte Sie vielleicht nach Hause bringen.“

„Mr. Hunter …“ Gaye errötete. „Ich … Mein Bus kommt gerade.“

Er würdigte das nahende Vehikel keines Blickes. „Dann sollten wir uns beeilen, damit wir die Haltestelle nicht länger blockieren.“

„Aber …“

„Kommen Sie, Gaye.“ Jonathan nahm sie beim Arm, öffnete die Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen. „Wir behindern den Verkehr“, fügte er hinzu, bevor er die Tür schloss und dem Busfahrer beschwichtigend zuwinkte.

Dann nahm er hinter dem Lenkrad Platz und sah Gaye kurz an, während er den Schlüssel im Zündschloss drehte. Sie hatte den Blick unverwandt geradeaus gerichtet. Jonathan war nicht sicher, ob sie auf ihn wütend war oder sich lediglich wunderte, dass sie in seinem Wagen und nicht im Bus saß.

Vorsichtig fädelte er sich in den fließenden Verkehr ein. „Welche Richtung?“, fragte er.

„Das habe ich Ihnen gerade klarmachen wollen.“ Ihre Stimme klang sanft und melodisch. „Ich lebe in einem Vorort von London und muss zuerst den Bus und dann den Zug nehmen, um nach Hause zu kommen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das verrät mir immer noch nicht, welche Richtung ich einschlagen muss.“

Nachdem sie ihm kurze, präzise Anweisungen gegeben hatte, versank sie erneut in Schweigen.

Gaye Royal ist wirklich anders, dachte Jonathan. Ihm war noch nie eine Frau begegnet, die so wenig sprach wie sie. Gewiss, ununterbrochen plappernde Frauen waren ihm ein Gräuel, aber diese junge Dame erinnerte ihn stark an eine Auster! Bislang hatte er nicht mehr über sie erfahren, als er mit eigenen Augen sehen konnte. Sie war ausgebildete Hebamme, groß, blond, grünäugig und ungefähr zehn Jahre jünger als er mit seinen siebenunddreißig.

Und er hatte von der ersten Sekunde an gewusst, dass er sie begehrte!

Sie war kühl, zurückhaltend und überirdisch schön. Jonathan sehnte sich danach, sie nackt und erregt in seinen Armen zu sehen. Er wollte dafür sorgen, dass auch der letzte Rest ihrer kühlen Zurückhaltung dahinschmolz. Ein ehrgeiziges Unterfangen, wie er insgeheim zugeben musste, denn Gaye benahm sich nun noch frostiger als vorhin auf der Station.

„Sie haben mit Dr. Gilchrist gesprochen“, stellte sie leise fest. „Genau genommen haben Sie wohl ein bisschen mehr getan als nur mit ihm geplaudert. Er hat sich förmlich bei mir entschuldigt, weil er mich vor allen Anwesenden im OP angeschrien hat.“

Ihr verwunderter Tonfall entlockte Jonathan ein Schmunzeln. „Das passt überhaupt nicht zu ihm, oder?“

Seiner Meinung nach war der Arzt ein überheblicher Snob, dem es absolut nicht schadete, wenn man ihn in aller Deutlichkeit darauf hinwies, dass er die Hunters nicht damit beeindrucken konnte, indem er eine Hebamme anschnauzte, die nur versucht hatte, ihre Pflicht zu tun. Wie so oft hatte auch diesmal der Name Hunter Wunder bewirkt. Gelegentlich war es durchaus von Vorteil, einer der drei Brüder zu sein, die einen der erfolgreichsten Konzerne Englands leiteten. Es mochte vielleicht nicht fair sein, aus diesem Umstand Kapital zu schlagen, aber wenn Dr. Gilchrist sich bei Gaye entschuldigt hatte, heiligte der Zweck die Mittel.

„Eigentlich nicht.“ Sie seufzte. „Jedenfalls möchte ich mich für Ihre Unterstützung bedanken.“ Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre sinnlichen Lippen.

„Es war mir ein Vergnügen. Umfasst Ihre Dankbarkeit auch ein Dinner mit mir heute Abend?“

Sogleich wurde sie wieder ernst. „Vielen Dank. Nein.“

„Einfach ‚nein‘?“ Jonathan machte sich nicht die Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte zwar bereits eine Verabredung, doch die würde er mit Freuden absagen, wenn er dafür die Zeit mit Gaye verbringen dürfte. „Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?“

„Nein.“

„Sind Sie verheiratet?“ Seine Zuversicht schwand dahin. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so fasziniert von einer Frau gewesen zu sein. „Falls ja, dann tut es mir leid, wenn ich …“

„Ich bin nicht verheiratet“, versicherte sie. „Es ist nur so, dass ich heute Abend etwas anderes vorhabe.“

Die Erleichterung, dass sie nicht verheiratet war, wich rasch maßloser Enttäuschung. Sie traf sich mit einem anderen. Die bloße Vorstellung, dass sie mit einem anderen Mann zusammen war, ihn anlächelte, mit ihm lachte, ihn küsste und womöglich noch mehr tat, als ihn nur zu küssen, erfüllte Jonathan mit heftigem Zorn. Er packte das Lenkrad fester.

Was, zum Teufel, war nur los mit ihm? Er war siebenunddreißig Jahre alt, er hatte schon viele schöne Frauen gekannt und sich noch nie dafür interessiert, ob es andere Männer vor ihm gegeben hatte. Und trotzdem machte ihn der Gedanke, ein anderer Mann könnte nackt neben Gaye liegen, so wütend, dass er am liebsten …

„Sagen Sie ab!“ Jonathan war selbst verblüfft über seinen barschen Tonfall. Genau wie Gilchrist benahm auch er sich nun völlig untypisch – schließlich war er der Charmeur in der Familie und überließ die Arroganz normalerweise Jarrett.

Gaye sah ihn erstaunt an. „Wie bitte?“

„Schon gut“, wehrte er verlegen ab. „Wie wäre es mit morgen Abend?“

„So leid es mir tut – nein.“

„Dann übermorgen?“ Er kannte die Antwort, bevor sie etwas erwiderte. „Bestimmen Sie den Termin“, fügte er entnervt hinzu.

„Mr. Hunter …“

„Um Himmels willen, nennen Sie mich Jonathan“, rief er ungeduldig. „Sie vermitteln mir das Gefühl, Ihr Zahnarzt zu sein.“ Eine Verabredung mit dieser Frau zu treffen war offenbar komplizierter als eine Wurzelbehandlung!

Sie lächelte, und sofort wurde das Grün ihrer Augen dunkler. „Mein Zahnarzt ist fünfzig und fast kahl.“

„Das werde ich vermutlich ebenfalls sein, bevor Sie meine Einladung annehmen“, konterte er.

Gaye lachte – der bezauberndste Laut, den Jonathan je gehört hatte. Ihr Lachen glich silberhellem Glockenklang. Als es endete, wünschte er sich nichts sehnlicher, als es erneut zu hören. Doch dieses Glück würde ihm nicht vergönnt sein, denn sie wurde wieder ernst.

„Ist es eine Krankenhausvorschrift, dass Sie sich nicht mit Ihren Patienten verabreden dürfen?“, erkundigte er sich.

„Da es sich bei unseren Patienten ausschließlich um schwangere Frauen handelt, wäre eine solche Vorschrift ziemlich unsinnig“, entgegnete sie ironisch.

Ein Punkt für sie! Die andere Alternative war … „Demnach mögen Sie mich nicht“, stellte er bitter fest.

Es passierte zwar nicht allzu oft, aber es war nicht das erste Mal, dass er einen Korb bekam. Verdammt, er lief schließlich nicht jeder Frau nach, im Gegenteil, in den vergangenen Jahren war er sogar sehr wählerisch geworden. Allerdings fühlte er sich so stark zu dieser Frau hingezogen, dass er eine Zurückweisung nur schwer akzeptieren konnte.

Sie seufzte. „Das habe ich nicht gesagt …“

Das konnte ihn auch nicht trösten. „Aber Sie wollen nicht mit mir ausgehen.“

„Jonathan …“ Gaye schien ihre Antwort sorgfältig abzuwägen. „Ich bin weder verheiratet noch verlobt oder anderweitig gebunden. Es ist auch nicht so, dass ich Sie nicht mag.“

„Dann …“

„Genauso wenig bin ich jedoch für eine oberflächliche, bedeutungslose Affäre geschaffen, wie Sie sie offenbar im Sinn haben“, fuhr sie nachdrücklich fort. „Und das meine ich keineswegs beleidigend.“

„So?“ Es fiel ihm schwer, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Anscheinend hatte sie ihn ganz richtig eingeschätzt – und sich trotzdem geirrt. Denn mit Gaye Royal konnte er sich keine oberflächliche, bedeutungslose Affäre vorstellen. Obwohl er selbst nicht recht wusste, was er mit ihr im Sinn hatte, aber bedeutungslos würde es auf gar keinen Fall sein!

„Momentan gibt es in meinem Leben keinen Platz für seichte Vergnügungen.“

Er spürte, dass mehr hinter ihren Worten steckte, als sie ihm verraten wollte. „Was tun Sie an all den Abenden, dass Sie keine Zeit mehr für ein Privatleben haben? Lernen Sie, um sich beruflich zu qualifizieren? Besuchen Sie Fortbildungskurse?“

Je heftiger er sie bedrängte, desto verschlossener wurde ihre Miene.

„Oder ziehen Sie es einfach nur vor, nicht auswärts zu essen?“, forschte er weiter. „Wir könnten ins Kino gehen, oder ich besorge Karten für irgendeine Show …“

„Nein“, unterbrach sie ihn rasch. „Wie ich schon sagte: Ich werde nicht mit Ihnen ausgehen. Nirgendwohin. Zu keinem Zeitpunkt.“

Er runzelte die Stirn. „Das klingt ziemlich endgültig.“

„Das ist es“, bestätigte sie ernst.

Jonathan hasste Rätsel, und diese Frau entwickelte sich allmählich zu einem Mysterium. Sie hatte nichts gegen ihn und wollte sich dennoch nicht mit ihm verabreden. Hatte sie etwa der Name Hunter abgeschreckt?

„Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie lesen“, behauptete er.

Verwirrt wandte sie sich zu ihm um. „Wie bitte?“

„In der Vergangenheit waren die Klatschspalten in den Zeitungen voll mit Geschichten über meine beiden Brüder und mich. Seit Jarretts Heirat mit Abbie wandte sich die Aufmerksamkeit der Reporter Jordan und mir zu. Sobald wir uns für eine Frau interessieren, kursieren sofort die wildesten Gerüchte“, erklärte er. „Ich will Ihnen damit nur sagen, dass es noch niemand in meinem Leben gibt.“

Die Frau, mit der er sich eigentlich an diesem Abend hatte treffen wollen, war nichts Ernstes, nur jemand, mit dem er gelegentlich eine Nacht verbrachte.

„Das ist gut zu wissen“, meinte Gaye und zuckte die Schultern.

„Aber es ändert nichts an Ihrer Antwort.“ Jonathan war frustriert. Nie zuvor hatte er sich so sehr gewünscht, mit einer Frau auszugehen. Gayes Körpersprache verriet ihm jedoch, dass sein Traum sich nicht erfüllen würde.

„Sie müssen links abbiegen“, befahl sie an einer Kreuzung. „Sie können mich hier aussteigen lassen“, fügte sie dann hinzu.

Dieses „Hier“ war eine Straßenecke, und obwohl in der Nähe etliche Häuser standen, war nicht ersichtlich, zu welchem der Gebäude Gaye wollte. Er sollte also nicht herausfinden, wo sie wohnte!

„Ich bringe Sie zur Tür“, sagte er energisch. Noch keine andere Frau hatte ihm je so nachhaltig das Gefühl vermittelt, überflüssig zu sein! Was, um alles in der Welt, hatte sie an ihm zu beanstanden?

„Das ist nicht nötig.“

„Doch, das ist es“, beharrte er wütend. „Ich habe Ihnen versprochen, Sie nach Hause zu bringen, und genau das werde ich tun!“

Ja, er war wütend, und das geschah nur sehr selten. Momentan war er sogar sehr wütend. Und zwar auf diese kühle, abweisende Frau!

War er tatsächlich so arrogant, dass er ein Nein als Antwort nicht akzeptieren konnte?

Es war keine Frage der Arroganz – er konnte sich nur nicht damit abfinden, dass er Gaye nicht wiedersehen sollte …

„Verzeihen Sie“, bat er leise. „Ich hätte nicht so mit Ihnen reden dürfen. Allerdings habe ich noch immer nicht vor, Sie hier einfach abzusetzen“, fuhr er fort, bevor sie etwas äußern konnte. Er musste unbedingt wissen, wo sie wohnte.

Ihre smaragdgrünen Augen funkelten vor Empörung. Jonathan ahnte, dass Zorn für Gaye ebenso fremd war wie für ihn. In seiner Verzweiflung war ihm jedoch jede Reaktion ihrerseits lieber als gar keine.

„Das zweite Haus links“, sagte sie kurz angebunden.

Das zweite Haus links war viel weiter entfernt, als man zunächst hätte vermuten können. Die Gebäude in dem offenbar recht exklusiven Vorort lagen allesamt auf weitläufigen Grundstücken. Als Jonathan den Wagen parkte und die schier endlose Auffahrt des Anwesens entlangblickte, wurde ihm klar, dass Gaye unmöglich allein in diesem riesigen viktorianischen Haus wohnen konnte …

„Ich …“

„Danke fürs Mitnehmen.“ Noch während sie sprach, hatte sie die Beifahrertür geöffnet.

„Gaye …“ Er sprang aus dem BMW, umrundete blitzschnell die Motorhaube und erreichte den Bürgersteig, bevor sie aussteigen konnte. „Es besteht wohl keine Chance, dass Sie mich zu einer Tasse Tee einladen?“, erkundigte er sich liebenswürdig. „Immerhin war ich heute doch so etwas wie ein werdender Vater.“

Sie lächelte flüchtig. „Wie könnte ich das jemals vergessen? In Zukunft werde ich mich zweimal vergewissern, dass ich auch den Richtigen vor mir habe. Ich will nicht noch einmal einen ahnungslosen Mann in den Kreißsaal schleppen.“

Er lachte. „Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen, als Jarrett hereinkam.“

„Ich kann es mir vorstellen.“ Sie stöhnte vor Verlegenheit auf. „Hoffentlich haben es die anderen vergessen, bis ich wieder zum Dienst muss.“

„Sie sind morgen nicht in der Klinik?“

Gaye schüttelte den Kopf. Das blonde Haar umspielte ihre Schultern wie ein seidiger Vorhang. „Ich habe zwei Tage frei.“

Verdammt! Er hatte gedacht, hatte darauf vertraut, dass er sie zumindest sehen würde, wenn er Abbie besuchte. Und außerdem hatte Gaye es geschickt vermieden, ihn zum Tee einzuladen.

Seufzend ließ er die Hände leicht über ihre Arme gleiten. „Sie bringen mich auf die Palme, Gaye Royal.“

Lächelnd schob sie ihn fort. „Das hat man mir schon häufiger gesagt, Jonathan Hunter.“ Dann wandte sie sich um und ging die kiesbestreute Auffahrt hinauf zu dem imposanten Haus, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Trotzdem spürte Jonathan, dass sie zögerte. Er hatte das unerklärliche Gefühl, dass dies der letzte Ort war, an dem sie sein wollte. Wer mochte hinter der mächtigen Eichentür auf sie warten?

Und wen hatte sie sonst noch auf die Palme gebracht? Diese Redewendung war unter Liebenden recht gebräuchlich. Allerdings hatte sie ihm versichert, dass sie keinen Liebhaber habe …

Es gab so vieles an Gaye Royal, das er weder wusste noch verstand.

Und ob es ihr nun gefiel oder nicht – Jonathan war fest entschlossen, es herauszufinden!

3. KAPITEL

Jonathan Hunter machte Gaye nervös.

Die beiden dienstfreien Tage waren weniger erholsam gewesen als sonst – hauptsächlich deshalb, weil sie in ständiger Furcht gelebt hatte, es könnte an der Tür läuten, und er könnte auf der Schwelle stehen, wenn sie öffnete. Er hatte auf sie nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der ein Nein als Antwort akzeptierte, insbesondere wenn es um eine Frau ging. Sie bezweifelte, dass er oft zurückgewiesen wurde.

Aber die Türglocke blieb still. Genau wie das Telefon. Niemand kam mehr zu dem Haus, und auch die Anrufe hatten vor langer Zeit aufgehört. Die Wankelmütigkeit der menschlichen Rasse … Trotz seines unbekümmerten Charmes hatte Jonathan Hunter auf sie allerdings nicht gerade wankelmütig gewirkt.

Deshalb war sein Schweigen während der vergangenen beiden Tagen besonders beunruhigend gewesen. Er hatte so hartnäckig auf eine Verabredung mit ihr gedrängt, dass die Zurückhaltung, mit der er auf ihre Weigerung reagierte, nichts Gutes verhieß.

Gaye war daher sonderbar gereizt, als sie am Morgen das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren. Dass an diesem Tag ausgerechnet Abbie Hunter ihre erste Patientin war, trug nicht dazu bei, ihren Seelenfrieden wieder herzustellen. Zu allem Überfluss war auch noch Abbies überheblicher Ehemann im Zimmer.

Abbie war nicht nur schön, sondern auch warmherzig und freundlich. Und sie war offenbar glücklich verheiratet. In Jarretts Gegenwart fühlte Gaye sich ebenso unbehaglich wie in der seines Bruders – allerdings aus anderen Gründen. Er schien mit seinen bernsteinfarbenen Augen mühelos die kühle Fassade zu durchschauen, die Gaye um sich errichtet hatte, und die verletzliche Frau zu sehen, die sich dahinter verbarg.

Jarrett Hunter erhob sich, als Gaye hereinkam. „Ich lasse euch jetzt allein, damit ihr euch in Ruhe unterhalten könnt. Am Nachmittag besuche ich dich wieder“, versprach er seiner Frau und küsste sie auf die Wange. „Bis später, Gaye“, fügte er hinzu, bevor er das Zimmer verließ.

Verwundert blickte Gaye ihm hinterher. Er kannte ihren Namen! Dafür gab es nur eine Erklärung …

Abbie lachte leise, als sie Gayes Verwirrung bemerkte. „Die Hunter-Brüder stehen einander sehr nahe – aber sie sind auch sehr diskret.“

Gaye rang sich ein Lächeln ab und hielt den Blumenstrauß hoch, der für die junge Mutter abgegeben worden war. „Rosen“, verkündete sie überflüssigerweise.

Abbie nahm das Bouquet entgegen, machte jedoch keine Anstalten, das beigefügte Kärtchen zu lesen. Stattdessen sah sie Gaye unverwandt an. „Haben Sie die freien Tage genossen und etwas Aufregendes erlebt?“, erkundigte sie sich neugierig.

Gaye dachte an die beiden Tage, an denen sie von der Krankenhausroutine und dem Zwang, ständig fröhlich sein zu müssen, befreit gewesen war. „Nein.“

Erstaunt zog Abbie die Brauen hoch. „Nein, Sie haben die Tage nicht genossen, oder nein, Sie haben nichts Aufregendes erlebt?“

Auf beide Fragen lautete die Antwort nein. Vor zwei Jahren hatte Gayes Leben eine grundlegende Richtungsänderung erfahren, und trotz aller Bemühungen war es ihr bislang nicht gelungen, daran etwas zu ändern. Eines wusste sie jedoch mit Sicherheit: Wenn sie sich mit den Hunters einließ, würde alles nur noch komplizierter werden!

„Ich habe nichts Aufregendes gemacht“, erwiderte sie leise.

„Oh.“ Abbie wirkte verblüfft. „Jonathan schien zu denken, dass Sie sehr beschäftigt sind.“

Jonathan Hunter hat das bestimmt nicht gedacht. Sie hatte ihm schließlich in aller Deutlichkeit gesagt, warum sie nicht mit ihm ausgehen würde – und das hatte nicht das Geringste mit Terminschwierigkeiten zu tun!

„Jonathan hat sich geirrt.“ Gaye war ziemlich sicher, dass Abbie ahnte, was sich tatsächlich zwischen ihr und Jonathan abgespielt hatte.

„Er kommt nachher vorbei“, meinte Abbie ruhig.

Gaye versuchte, eine unbeteiligte Miene zu machen, nahm sich jedoch insgeheim vor, bei seiner Ankunft in irgendeiner Wäschekammer zu verschwinden. „Wie schön für Sie!“, sagte sie scheinbar ungerührt.

Die andere Frau brach in schallendes Lachen aus. „Entschuldigen Sie, Gaye“, bat sie, nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. „Ich musste gerade daran denken, wie ich vor zwei Jahren gewesen bin. Damals habe ich versucht, mich Jarretts Aufmerksamkeiten zu entziehen – und sehen Sie, was aus mir geworden ist.“ Ihr glückliches Lächeln verriet, dass sie mit dem Ergebnis überaus zufrieden war.

Gaye schüttelte den Kopf. „Die Situation lässt sich wohl kaum vergleichen“, entgegnete sie abwehrend.

Sie kannte Abbies Lebensgeschichte in groben Zügen. Abbie hatte in ihrer Jugend mit großem Erfolg als Model gearbeitet und ihre Karriere beendet, um den schwerreichen Daniel Sutherland zu heiraten. Nach dessen Tod war sie Jarrett Hunters Ehefrau geworden. Abgesehen von der Tatsache, dass Gayes Eltern recht wohlhabend gewesen waren, verband die beiden Frauen nur sehr wenig.

Und was ist mit den Hunter-Männern? fragte eine verräterische innere Stimme.

Nein, auch die nicht, sagte sie sich energisch. Sie wollte, dass ihr Leben genauso blieb, wie es war – außerhalb des Rampenlichts und fern der Öffentlichkeit.

„Die Situation könnte aber so sein“, warf Abbie sanft ein.

„Das glaube ich nicht.“ Abbie würde in ein paar Tagen entlassen werden, und dann brauchte Gaye sich nicht mehr vor Jonathan Hunter zu verstecken … „Ich muss mich beeilen“, behauptete sie betont fröhlich. „Läuten Sie, wenn Sie irgendetwas benötigen. Ich bin sicher …“

„Nach Jarrett ist Jonathan mir der Liebste“, vertraute Abbie ihr an.

Gaye drehte sich zu ihr um. „Ich bin überzeugt, er ist sehr nett“, erwiderte sie vorsichtig.

Abbie erhob sich langsam aus dem Stuhl am Fenster, in dem sie die ganze Zeit gesessen hatte. „Er ist mehr als nur ‚nett‘, Gaye. Er …“

„Redest du von mir, Abbie?“ Der jüngste Hunter-Bruder kam herein. Seine goldbraunen Augen funkelten spöttisch, als er die Schwägerin auf die Wange küsste. Dann wandte er sich lächelnd zu Gaye um. „Hat sie Ihnen erzählt, wie sie mich schnöde sitzen gelassen hat, um meinen großen Bruder zu heiraten?“, fragte er boshaft. „Sie hat versprochen, die Mutter meiner Kinder zu werden, und dennoch …“

„Ich habe versprochen, die Patin deiner Kinder zu werden“, unterbrach Abbie ihn trocken. „Falls du jemals welche haben solltest! Hör auf, Gaye solchen Unsinn aufzutischen, Jordan, sonst glaubt sie noch, die ganze Familie wäre verrückt.“ Missbilligend schüttelte sie den Kopf.

Nun ja, vielleicht nicht gerade verrückt, aber trotzdem war es schwer, die Hunters zu ignorieren – selbst wenn man sich noch so viel Mühe gab!

„Hören Sie auf meinen Rat, Gaye, und halten Sie sich von Jordan fern“, sagte Abbie mit einem liebevollen Blick auf ihren Schwager. „Er ist der Herzensbrecher in der Familie.“

„Demnach hast du gerade von Jonathans Tugenden geschwärmt.“ Jordan seufzte theatralisch. „Also Gaye, ich könnte Ihnen ein paar Dinge über den lieben Jonathan berichten, die …“

„Habe ich da gerade meinen Namen gehört?“ Jonathan betrat lässig das Zimmer. Er lächelte Abbie zu, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit auf Gaye richtete.

Sie spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen stieg, während sie seinem Blick tapfer begegnete. In dem maßgeschneiderten Anzug und dem hellblauen Hemd sah Jonathan einfach umwerfend aus! Als Abbie vorhin gesagt hatte, Jonathan würde vorbeikommen, hatte Gaye nicht geahnt, dass seine Ankunft unmittelbar bevorstand. Ein kurzer Seitenblick auf Abbies allzu unschuldige Miene verriet jedoch, dass Jonathans Schwägerin mit seinem Eintreffen gerechnet hatte. Hatte sie Gaye deshalb in ein Gespräch verwickelt?

Diese Familie war nicht nur unvergesslich, sie war geradezu gefährlich. Und zwar jeder für sich!

„An Ihrer Stelle würde ich kein Wort von dem glauben, was Jordan Ihnen erzählt, Gaye – egal, zu welchem Thema“, empfahl Jonathan unbekümmert. „Seine Geschichten sind mehr als fragwürdig.“

„Das ist nun der Dank, dass ich Gaye aufgehalten habe, bis du deinen Wagen geparkt hast“, beschwerte Jordan sich. Das fröhliche Funkeln in seinen Augen strafte jedoch den vorwurfsvollen Ton Lügen.

Eine Familienverschwörung! Was, um alles in der Welt, hatte Jonathan ihnen über sie berichtet, dass sie alle sich so benahmen?

„Ich werde mich später bei dir bedanken, Jordan.“ Jonathan warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu, ehe er sich wieder Gaye zuwandte. „Hatten Sie ein paar schöne freie Tage?“

„Ich war beschäftigt“, behauptete sie herausfordernd – immerhin hatte er genau das seinen Angehörigen erzählt, oder?

Zugegeben, Männer wie Jonathan Hunter waren selten: gut aussehend, charmant, weltgewandt, unvorstellbar reich und, was am besten war, noch immer ledig. Die meisten Frauen hätten eine Einladung von ihm nicht abgelehnt! Sie hatte jedoch ihre Gründe dafür – gute Gründe – und würde sich weder durch ihn noch durch seine Familie umstimmen lassen.

Eines stand jedenfalls fest: Die Hunters konnten einen in Atem halten!

„Daran gewöhnt man sich.“ Abbie schien ihre Gedanken erraten zu haben.

Gaye hatte nicht die Absicht, lange genug im Zimmer zu bleiben, um dies herauszufinden. „Das hoffe ich in Ihrem Interesse“, erwiderte sie nachdrücklich. Gott sei Dank wurde Abbie Hunter bald entlassen. „Ich lasse Sie jetzt mit Ihren beiden Besuchern allein.“ Da Jonathan sie nach wie vor unverwandt mit seinen faszinierenden goldbraunen Augen beobachtete, vermied sie es sorgsam, in seine Richtung zu schauen.

Er machte sie nervös. Er besaß die gleiche selbstsichere Beharrlichkeit, die sie zuvor schon bei Jarrett Hunter bemerkt hatte, eine unbeirrbare Entschlossenheit, die gewährleistete, dass er stets sein Ziel erreichte. Ein verstohlener Seitenblick auf ihn zeigte Gaye, dass sein Schweigen während der vergangenen beiden Tage lediglich eine Pause und nicht das Ende seiner Bemühungen bedeutete …

Auf einmal hatte sie das Gefühl, als lastete ein Zentnergewicht auf ihren Schultern. Es war die Verantwortung, die sie ständig mit sich herumtrug …

„Überanstrengen Sie sich nicht“, riet sie der Patientin, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und, den Tränen nahe, den Raum verließ. Was war nur an Jonathan Hunter, dass er sie derart aus der Fassung brachte?

Was, um alles in der Welt, ist los mit mir? fragte sie sich später, als sie Dr. Gilchrist auf der Visite begleitete. Dabei kannte sie die Antwort nur zu genau. Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren ihr Leben eingerichtet, ein zurückgezogenes Leben ohne Freundschaften, und Jonathan Hunter und seine Familie mit ihren witzigen Dialogen und der unverhohlenen Zuneigung hatten nicht nur die Mauern durchbrochen, die Gaye um sich errichtet hatte, sondern ihr auch gezeigt, was ihrem Dasein fehlte. Diese flüchtigen Einblicke hatten ihr Verlangen nach etwas geweckt, das sie nicht haben konnte: Freunde, anregende Gespräche, ein gesellschaftliches Leben, das mitunter vielleicht sogar zu hektisch werden konnte. Alles vorbei. Stattdessen gab es für sie Einsamkeit, Schweigen und Verstellung – und in Letzterem war sie ironischerweise noch nie gut gewesen.

Gaye trank ihren Morgenkaffee allein in der Kantine. Aus freien Stücken. Obwohl sie erst sechs Monate in der Klinik arbeitete, hatte sie schon bald herausgefunden, dass es unklug war, sich mit den anderen Hebammen anzufreunden. Freundschaft bedeutete Nähe, und Nähe ermutigte zu Fragen – Fragen, die sie nicht beantworten wollte. Also hielt sie sich von ihren Kolleginnen fern …

„Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“

Beim Klang dieser vertrauten Stimme hob sie erschrocken den Kopf. „Jonathan!“ Voller Unbehagen bemerkte sie, dass das zumeist weibliche Personal an den anderen Tischen sie neugierig beobachtete. Jonathans Anwesenheit machte Gayes Wunsch, unauffällig und ungestört ihrer Arbeit nachzugehen, zunichte. „Ich fürchte, Sie haben sich verirrt, Mr. Hunter.“ Sie sprach absichtlich lauter als sonst. „Die Cafeteria für Besucher befindet sich …“

„Ich wollte nicht in die Cafeteria für Besucher“, unterbrach er sie seelenruhig, ohne dem interessiert lauschenden Publikum die geringste Beachtung zu schenken. „Ich möchte mit Ihnen Kaffee trinken“, verkündete er unbekümmert und nahm ihr gegenüber Platz.

Gaye schloss aufstöhnend die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, dass Jonathan sie fragend anschaute. „Nicht hier“, sagte sie leise und hoffte, er möge aufstehen und verschwinden.

Was er natürlich nicht tat. Dieser Mann hatte die Angewohnheit, zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen – und Gaye damit regelmäßig in Verlegenheit zu bringen.

„Warum nicht?“ Verwundert blickte er sich in dem Speisesaal um, dessen hohe Fenster einen hübschen Blick auf den Park hinter der Klinik boten. „Es ist hier doch ganz gemütlich.“ Er inspizierte den Inhalt von Gayes Tasse. „Der Kaffee scheint genießbar zu sein.“

„Das ist er“, bestätigte sie ungeduldig. „Trotzdem sollten Sie nicht hier sein. Sie lenken die Aufmerksamkeit der anderen auf uns“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.

Jonathan sah sie nachdenklich an. „Und das gefällt Ihnen nicht, oder?“ Offenbar war er blind für die bewundernden Blicke der Schwestern und Pflegerinnen. „Sie sind doch nur neugierig, Gaye.“ Gleichmütig zuckte er die Schultern. „Es ist unwichtig.“

„Für mich nicht“, beharrte sie. „Ich will nicht im Mittelpunkt von Klatsch und Spekulationen stehen.“ Der bloße Gedanke daran ließ sie erschauern.

In den vergangenen zwei Jahren hatte es genug Gerüchte über sie gegeben, und sie wollte nicht, dass alles wieder von vorn anfing. Sie hatte sich für ein Leben in der Anonymität entschieden und nicht die Absicht, alles aufs Spiel zu setzen, nur weil dieser Mann sie belästigte!

Jonathan lächelte sie an. „Es gibt nicht die geringste Möglichkeit, die Leute daran zu hindern, über Sie zu klatschen, Gaye! Das habe ich schon vor Jahren begreifen müssen und gelernt, mich dadurch nicht stören zu lassen.“

„Nun, mich stört es jedenfalls!“ Sie schob ihre halb geleerte Tasse beiseite und stand auf. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

Erst als sie den Flur erreichte, merkte sie, dass Jonathan noch immer an ihrer Seite war. Obwohl sie selbst ziemlich groß war, überragte er sie um Haupteslänge, und seine breiten Schultern unter dem maßgeschneiderten Jackett verhießen Schutz – Schutz, nach dem sie sich so verzweifelt sehnte … Nein! Sie brauchte niemand und am allerwenigsten einen Mann wie Jonathan Hunter, dem nach seinen eigenen Worten die Klatschreporter auf Schritt und Tritt folgten.

„Sollten Sie nicht auch wieder zur Arbeit?“, erkundigte sie sich spöttisch, als er keine Anstalten machte, sie allein zu lassen.

Er schenkte ihr ein betörendes Lächeln, das sofort ihr Herz schneller schlagen ließ. „Das ist einer der Vorteile, wenn man Mitinhaber einer Firma ist: Ich bin nur mir selbst Rechenschaft darüber schuldig, wie viel Zeit ich im Büro verbringe.“

Mit anderen Worten: Wenn er wollte, konnte er den ganzen Tag hier herumhängen und ihr auf die Nerven gehen!

„Nun, manchen von uns ist das leider nicht vergönnt“, erklärte sie kurz angebunden, als sie die Tür zu Gayes Station erreicht hatten. „Einen schönen Tag noch, Mr. Hun…“

„Wir hatten uns doch auf Jonathan geeinigt“, erinnerte er sie und legte ihr sanft die Hand auf den Arm. „Es gibt einige Dinge, über die ich mit Ihnen reden möchte, Gaye …“

„Zum Beispiel?“, fragte sie misstrauisch.

„Gaye …“ Er verstummte, als zwei junge Hebammen kichernd und tuschelnd an ihnen vorbeigingen. „Sie haben recht. Dies ist nicht der geeignete Ort dafür. Ich hole Sie nach Feierabend ab. Dann können wir irgendwohin fahren und uns unterhalten.“

„Nein!“ Es kostete sie einige Mühe, ruhig zu bleiben. „Ich habe gleich nach dem Dienst einiges zu erledigen. Ich … Vielleicht später“, fügte sie nervös hinzu. „An der Ecke von der Straße, wo ich wohne, ist ein Pub. ‚The Swan‘. Ich treffe Sie dort um halb zehn.“ Sie befreite sich aus seinem Griff und wandte sich zum Gehen.

„Gaye?“, rief Jonathan ihr hinterher.

Sie atmete tief durch, bevor sie sich zu ihm umdrehte. „Ja?“

Er lächelte erneut. „Falls ich vor Ihnen dort sein sollte – was darf ich Ihnen zu trinken bestellen?“

Diesmal verfehlte sein Charme die Wirkung auf sie, denn sie war viel zu angespannt und besorgt. Worüber wollte er mit ihr reden? Was wusste er?

„Wenn Sie mich tatsächlich so gut kennen, wie Sie behaupten, werden Sie es gewiss erraten“, konterte sie spöttisch und ließ ihn stehen.

Bevor sich jedoch die breiten Schwingtüren hinter ihr schlossen, warf sie einen kurzen Blick zurück. Jonathan hatte sich nicht von der Stelle gerührt und sah ihr überrascht hinterher. Warum, um alles in der Welt, war er so verblüfft?

„Halb zehn“, wiederholte er.

Stirnrunzelnd kehrte Gaye an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass Jonathan Hunter nur Ärger bedeutete – und bislang hatte er nichts getan, um ihren Verdacht auszuräumen!

4. KAPITEL

Worüber, um alles in der Welt, sollte er mit Gaye reden?

Jonathan war kurz vor halb zehn im „The Swan“ eingetroffen, hatte für sich einen Whisky und ein Glas Weißwein für Gaye besorgt – sie schien ihm eher eine Weintrinkerin als ein Bierfan zu sein –, und nun saß er an einem Ecktisch in dem sich rasch füllenden Pub und überlegte angestrengt, welches Thema bedeutsam genug sein könnte, um dieses Treffen zu rechtfertigen.

Leider fiel ihm absolut nichts ein! Die Behauptung, unbedingt mit ihr reden zu müssen, war der Verzweiflung entsprungen, Gaye daran zu hindern, einfach aus seinem Leben zu verschwinden. Hinzu kam die Tatsache, dass Abbie und Conor bald entlassen werden würden und er somit keinen Grund mehr hätte, die beiden in der Klinik zu besuchen und Gaye wiederzusehen …

Zunächst jedoch musste er etwas finden, worüber er sich mit ihr unterhalten konnte! Sie würde bestimmt nicht sehr freundlich reagieren, wenn …

Sie war gekommen!

Er hatte ständig die Tür im Auge behalten und sich dabei bemüht, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde er auf jemand warten – eigentlich absurd in Anbetracht der beiden vor ihm stehenden Gläser. Tief in seinem Herzen hatte er nämlich befürchtet, sie würde nicht auftauchen, und er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als irgendwann den Pub verlassen zu müssen, nachdem jedermann Zeuge geworden war, dass man ihn versetzt hatte. Nicht, dass ihm das schon einmal passiert wäre, aber bei Gaye hatte er gelernt, mit dem Unerwarteten zu rechnen.

Wie jetzt zum Beispiel. Natürlich hatte sie inzwischen die Schwesterntracht abgelegt, aber die Jeans und das Sweatshirt, in denen er sie neulich bewundert hatte, waren ebenfalls verschwunden. Stattdessen trug sie eine grüne Seidenbluse und einen engen schwarzen Rock, der knapp über dem Knie endete. Die hochhackigen schwarzen Pumps brachten ihre wohlgeformten Beine besonders gut zur Geltung. Sie sah einfach umwerfend aus! Stirnrunzelnd registrierte Jonathan, dass männliche Gäste im Lokal sie bewundernd anblickten.

Während sie den Pub durchquerte, wandten sich immer mehr Köpfe zu ihr um. Das goldblonde Haar fiel ihr offen über den Rücken, ein bezauberndes Lächeln umspielte ihre sinnlichen Lippen, und ihre grünen Augen leuchteten.

Sie ist wunderschön, dachte Jonathan wohl zum hundertsten Mal. Es war ihm unbegreiflich, dass sie nicht verheiratet oder anderweitig gebunden war. Sie hatte es jedoch behauptet, und er hatte keine Veranlassung, daran zu zweifeln – abgesehen von dem vagen Gefühl, dass sie etwas vor ihm verbarg und ihn offenbar unbedingt von ihrem Haus fernhalten wollte. Und das behagte ihm absolut nicht.

Er erhob sich, als sie den Tisch erreichte. „Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten“, meinte er herzlich.

„Ich sagte doch, dass ich kommen würde“, erwiderte sie, während sie sich setzte. Ihre Stimme hatte jenen verführerischen Klang, den er so aufregend fand. „Dachten Sie, ich würde nicht Wort halten?“

Nun ja, ganz sicher war er sich wirklich nicht gewesen. Ihr plötzliches Einlenken vorhin hätte genauso gut ein Versuch gewesen sein können, ihn loszuwerden. Andererseits wäre sie dann Gefahr gelaufen, dass er vor ihrem Haus aufgetaucht wäre – und das hatte sie bislang mit allen Mitteln verhindern wollen.

Lächelnd ließ er sich ihr gegenüber nieder. „Ich habe Ihnen Weißwein bestellt, ich hoffe, das ist okay?“

Gaye trank einen Schluck und lehnte sich entspannt zurück. „Sehr schön, danke. Wie ich sehe, ist es hier immer noch gemütlich. Ich hatte schon befürchtet, ‚The Swan‘ könnte sich verändert haben.“ Neugierig blickte sie sich um.

Es handelte sich um einen jener altmodischen Pubs, die sich derzeit größter Beliebtheit erfreuten: weiche Teppiche, bequeme Stühle, Tapeten an den Wänden, keine tief dekolletierte Barfrau hinter der Theke, sondern eine mollige, mütterliche Wirtin und ein älterer Zapfer, der offenbar ihr Mann war.

Jonathan war jedoch nicht an seiner Umgebung interessiert. „Wie lange ist es her, seit Sie zuletzt hier waren?“

Bereits diese harmlose Frage schien Gaye zu beunruhigen. „Eine Weile“, erwiderte sie ausweichend.

Sehr hilfreich! „Ich dachte nur, Sie wären vielleicht häufiger …“

„Ich gehe nur selten in Gaststätten“, unterbrach sie ihn kühl.

Damit hatte sie ihn nachhaltig in die Schranken verwiesen! „Ob Sie es glauben oder nicht“, konterte er trocken, „ich auch nicht.“

Sie unterzog sein Äußeres – zartgelbes Hemd, braunes Sakko und beigefarbene Hose – einer eindringlichen Musterung. „Ich glaube Ihnen“, stellte sie schließlich fest.

Auf einmal fühlte er sich hoffnungslos overdressed.

Gaye betrachtete ihn noch immer, und auf einmal brach sie in Lachen aus, jenes glockenhelle, melodische Lachen, das er bislang nur ein einziges Mal von ihr gehört hatte. Es hatte sich gelohnt, darauf zu warten. Der Klang war zauberhaft, ihre Augen funkelten wie kostbare Smaragde, und ihr Gesicht schien vor kindlicher Freude zu leuchten. Jonathan war viel zu hingerissen, um sich daran zu stören, dass sie offenbar über ihn lachte.

„Sie sind absolut richtig angezogen“, versicherte sie und trank noch einen Schluck. „Und der Wein ist genau so, wie ich ihn mag – kühl und trocken.“

„Seien Sie vorsichtig, Gaye“, warnte er sie leise. „Wenn Sie zu nett zu mir sind, könnte ich das als Ermutigung auffassen.“

Spöttisch schüttelte sie den Kopf. „Ich denke, dazu sind Sie viel zu intelligent.“

Er zuckte die Schultern. „Meiner Meinung nach versagt jegliche Intelligenz, wenn ein Mann eine Frau attraktiv findet.“

Obwohl Gaye sich nicht von der Stelle rührte, spürte er, wie sie sich innerlich von ihm zurückzog. Verdammt! Der Abend war bis zu diesem Moment völlig normal verlaufen. Er war ein Narr! Diese Frau war nicht so wie die anderen Frauen, mit denen er sich im Lauf der Jahre verabredet hatte. Sie war für Flirtversuche – oder besser gesagt, die Wahrheit – nicht empfänglich.

„Sehen Sie jetzt, was ich meine?“, fragte er selbstironisch. „Ziemlich dumm von mir, oder?“

Zu seiner grenzenlosen Erleichterung lachte sie erneut. „Ich bezweifle, dass Ihnen das allzu häufig passiert.“

In ihrer Nähe sogar viel zu oft! Jordan wäre beispielsweise entsetzt gewesen, wie wenig Fingerspitzengefühl sein Bruder bei Gaye bewies. Dabei galt Jonathan in der Familie doch als der charmante Überredungskünstler – so viel also zum Charme. Gegenwärtig hatte er wohl eher Chancen bei ihr, wenn er sich zum Narren machte!

„In letzter Zeit viel häufiger, als Sie ahnen“, erwiderte er.

„Ach, ich weiß nicht.“ Sie zog skeptisch die Brauen hoch. „Wer sich in den OP schleppen lässt, um bei der Geburt seines Neffen dabei zu sein, ist nicht einfältiger als die Schwester, die …“

„Okay, okay. In diesem Punkt wären wir also quitt. Am besten beginnen wir noch einmal ganz von vorn.“ Er reichte ihr die Hand. „Hallo, ich bin Jonathan Hunter.“

Zögernd ergriff sie die ausgestreckte Hand und schüttelte sie kurz. „Gaye Royal“, stellte sie sich schüchtern vor.

„Ein ungewöhnlicher Name.“

Gaye sah ihn argwöhnisch an, und einmal mehr spürte Jonathan, wie sie innerlich zusammenzuckte. Die Sache mit dem Neuanfang konnte er wohl vergessen. Eine Unterhaltung mit Gaye glich dem Versuch, mit verbundenen Augen durch ein Minenfeld zu tappen. Er wusste einfach nicht, was er tun oder sagen sollte.

„Royal?“, fragte sie frostig. „Ich glaube nicht, dass …“

„Nein – Gaye“, korrigierte er sie rasch. Ihr erleichtertes Aufatmen zeigte ihm, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.

Je länger ihre Bekanntschaft dauerte, desto deutlicher wurde, dass Gaye etwas zu verbergen hatte. Und sie war entschlossen, ihr Geheimnis zu bewahren. Normalerweise hätte er ihren Wunsch nach Privatsphäre respektiert – wenn nicht eben diese Privatsphäre ihn daran gehindert hätte, ihr näherzukommen.

Dank seines unwiderstehlichen Charmes hatte er bislang alles erreicht, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, das hieß allerdings nicht, dass ihm die für die Hunters typische Hartnäckigkeit fehlte. Im Gegenteil, was Gaye betraf, so besaß er diesen Charakterzug im Übermaß!

„Haben Sie Geschwister, Gaye?“, erkundigte er sich höflich.

„Nein“, entgegnete sie kurz angebunden. „Warum?“

„Nur so“, beteuerte er rasch. „Reine Neugier.“

„Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht so viele Fragen stellen würden. Sie haben mich um dieses Treffen gebeten, weil Sie etwas mit mir besprechen wollten“, erinnerte sie ihn.

Er hatte gewusst, dass dieser Einwand irgendwann hatte kommen müssen. Erstaunlich war nur, dass es so lange gedauert hatte, und darüber freute er sich. Immerhin hatte er so Gelegenheit gehabt, sie noch einmal lachen zu hören und ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen, bevor sie aufstand und ihn sitzen ließ.

Jonathan atmete tief durch. „Die Sache ist die, Gaye …“

„Gaye!“ Eine laute Männerstimme unterbrach ihn. „Du bist es tatsächlich, Gaye!“ Der Mann blieb vor ihrem Tisch stehen.

Jonathan war ihm insgeheim dankbar für die Rettung. Als er den gut aussehenden Fremden mit dem widerspenstigen dunklen Haar und den fröhlich funkelnden blauen Augen – Augen, die Gaye mit unverhohlener Bewunderung anblickten – jedoch näher betrachtete, war er sich nicht mehr so sicher, ob er sich über die Störung freuen sollte. Obwohl er wusste, dass er dem Mann noch nie begegnet war, kam er ihm sonderbar bekannt vor.

Erst jetzt bemerkte Jonathan, dass Gaye auffallend still war. Als er sich zu ihr umwandte, sah er ihre entsetzte Miene. Ihre grünen Augen wirkten in dem plötzlich blassen Gesicht unnatürlich groß. Wer immer dieser Mann sein mochte, er war offensichtlich jemand, dem Gaye unbedingt aus dem Weg gehen wollte.

Der Fremde wurde zunehmend nervöser, je länger Gaye und Jonathan ihn schweigend ansahen. „Ich habe mich wohl geirrt“, sagte er schließlich. „Tut mir leid.“ Er lächelte Gaye an. „Ich habe Sie mit jemandem verwechselt. Es ist schon eine Weile her – Menschen verändern sich“, fügte er hinzu, ohne den Blick von ihr zu wenden.

Sowohl er als auch Jonathan und Gaye wussten, dass er sich keineswegs geirrt hatte. Mit jeder Sekunde, die Gaye ihn jedoch wortlos ansah, wurde deutlicher, dass sie ihm nicht widersprechen würde.

„Entschuldigen Sie die Störung“, bat der Mann, bevor er sich wieder zu seinen Freunden gesellte, die an der Bar standen.

Nachdem er verschwunden war, saß Gaye noch immer wie erstarrt neben Jonathan. Einmal mehr war er froh, ihr nicht erklären zu müssen, warum er sie um das Treffen gebeten hatte – gleichzeitig wünschte er jedoch, dass es andere Umstände gewesen wären, die ihm die Antwort erspart hätten.

„Möchten Sie gehen?“, fragte er leise.

Sie zuckte zusammen, als hätte sie seine Anwesenheit ganz vergessen gehabt. „Wie bitte?“

Jonathan konnte nicht anders, er musste sie einfach berühren. Zuerst schien sie vor ihm zurückweichen zu wollen, dann aber entspannte sie sich und drehte der Bar seufzend den Rücken zu.

Der Bar und dem Mann, der sie angesprochen hatte … Der Fremde blickte nach wie vor in ihre Richtung, ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.

Autor

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