Julia Extra Band 537

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EIN FLAMENCO FÜR ZWEI von CAROL MARINELLI
Feurige Flamenco-Tänze und ein heißer Urlaubsflirt mit dem spanischen Milliardär Alejandro Romero sind genau das Richtige für Emily. Zum ersten Mal nach ihrer schmerzhaften Trennung fühlt sie sich begehrenswert! Doch die leidenschaftliche Nacht mit Alejandro hat ungeahnte Folgen …

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  • Erscheinungstag 18.07.2023
  • Bandnummer 537
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518178
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Susan Meier, Natalie Anderson, Kali Anthony

JULIA EXTRA BAND 537

1. KAPITEL

„Ich kann doch nicht einfach alles hinschmeißen und nach Andalusien reisen!“, protestierte Emily Jacobs kopfschüttelnd. „Ich habe hier Verpflichtungen.“

„Nein“, korrigierte Anna sie und nickte in Richtung ihrer Tochter Willow, die ausgelassen im Schnee vor ihnen herlief und sich über den Besuch ihrer Patentante freute. „Ich bin diejenige, die hier Verpflichtungen hat. Du bist seit drei Monaten arbeitslos.“

„Aber ich habe Gordon gesagt, dass ich so lange bleibe, bis das Bed and Breakfast verkauft ist …“

Emily verstummte, als ihr einfiel, dass es in Wirklichkeit genau anders herum gewesen war. Gordon hatte ihr gesagt, dass sie im B&B wohnen bleiben durfte, bis es verkauft war. Mit einem Tonfall, als tue er ihr damit einen Gefallen – als sei das eine sehr großzügige Geste von ihm. Dabei hatten sie das B&B seiner Mutter jahrelang gemeinsam geleitet.

Doch als seine Mutter vor Kurzem gestorben war, hatte Gordon die Verlobung mit Emily abrupt gelöst, sodass sie jetzt nur noch den Status einer Angestellten hatte – mit Kost und Logis. Sie hatte in dem großen Haus immer ihr eigenes Zimmer gehabt, weil Gordon aus religiösen Gründen erst nach ihrer Hochzeit das Bett mit Emily teilen wollte. Und sie hatte seinen Wunsch respektiert.

Aber dieses intime Detail hatte Emily ihrer besten Freundin bisher noch nicht anvertraut. Anna würde sie dann bestimmt auslachen und sie fragen, warum sie überhaupt so lange mit einem Mann zusammengeblieben war, der so offensichtlich kein Interesse an ihr hatte.

Tja, weil Emily anscheinend den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte.

Trotz ihrer Unerfahrenheit war sogar ihr klar gewesen, dass Gordons Küsse eine ziemlich laue Angelegenheit gewesen waren. Und die Hände hatte er auch nie schweifen lassen, beziehungsweise nur ein einziges Mal. Und da hatte er sie abrupt losgelassen und ihr gesagt, dass sie „ganz schön füllig“ sei. Also hatte Emily abgenommen, doch das war Gordon gar nicht aufgefallen. Woraufhin sie wieder zugenommen hatte …

Schüchtern und unsicher, wie sie von Haus aus war, war ihr bisschen Selbstwertgefühl danach natürlich komplett ruiniert gewesen, sodass sie sich abwechselnd Vorwürfe wegen seines Desinteresses gemacht oder sich eingeredet hatte, dass sein Verhalten sich bestimmt ändern würde, wenn sie erst mal verheiratet waren.

Doch jetzt, an diesem hellen Februarnachmittag, an dem der Himmel so leuchtend blau war wie im Sommer, sah sie die Dinge klarer. Gordon hatte nie vorgehabt, mit ihr zu schlafen. Er hatte sie nur dazu benutzt, seine Mutter zu täuschen. Er hatte sie nie gewollt, keine Sekunde lang.

Das Ergebnis war, dass sie trotz ihrer fünfjährigen Beziehung und dreijährigen Verlobung im Alter von sechsundzwanzig Jahren noch Jungfrau war.

„Willow, warte!“, rief Anna hinter ihrer lebhaften Vierjährigen her, die schnurstracks auf den zugefrorenen See zulief. Anna rannte los. „Himmel …“

Emily beobachtete lachend, wie ihre Freundin ihre Tochter wieder einfing. Sie genoss es immer, Zeit mit ihrer besten Freundin und ihrer Patentochter zu verbringen.

Sollte sie wirklich hier weg? Die Gelegenheit nutzen, in Spanien zu arbeiten?

Vorgestern hatte sie nämlich überraschend einen Anruf von ihrer früheren Kommilitonin Sophia bekommen, mit der sie über die sozialen Medien locker in Kontakt geblieben war.

„Ich brauche ganz schnell eine Antwort“, hatte Sophia zu ihr gesagt. „Ich gehe demnächst in Mutterschutz und muss vorher alles geklärt haben. Die Brüder wollen eine frische, moderne Website, die mehr Touristen anspricht. Ich habe Alejandro deine Website für das Cottage gezeigt, in dem du arbeitest.“ Emily hatte darauf verzichtet, Sophia darauf hinzuweisen, dass es sich um ein B&B handelte. „Er war schwer beeindruckt.“

Seit ihrer Trennung von Gordon versuchte Emily, als Webdesignerin durchzustarten. Sophias Angebot war daher eine Riesenchance. Es kam nur so unerwartet. Außerdem war das kein Nullachtfünfzehnauftrag. Ihre potenziellen Auftraggeber verlangten Perfektion, auch wenn sie bereit waren, dafür viel Geld hinzulegen.

„Sechs Wochen, Unterkunft und Flüge inklusive“, hatte Sophia gesagt. „Und wenn die Website rechtzeitig fertig wird, gibt es noch einen großzügigen Bonus.“

Der Bonus war in der Tat beeindruckend – der ganze Auftrag war das. Genau das überforderte Emily ja so!

Bisher hatte sie nämlich erst zwei Auftraggeber. Eigentlich hatte sie ihre Firma ganz langsam aufbauen wollen. Ein so großer Auftrag kam viel zu früh. Sie fühlte sich dafür viel zu unterqualifiziert und unerfahren, aber das konnte sie Sophia natürlich nicht sagen.

„Überleg es dir“, hatte Sophia am Schluss gesagt. „Bis Montag brauche ich eine Antwort.“

Um in Ruhe nachdenken zu können, hatte Emily sich ausnahmsweise einen Tag und eine Nacht freigenommen, um bei Anna und deren Tochter zu übernachten. Anna und sie waren zusammen in einem kleinen englischen Dorf aufgewachsen und wurden manchmal für Schwestern gehalten. Nicht, weil sie sich ähnlich sahen – Anna war blonder, schlanker und extrovertierter als Emily –, sondern weil ihre Verbindung so eng war.

Anna und Willow waren Emilys einzige Familie.

Ob sie sich deshalb so bereitwillig mit ihrer kümmerlichen Beziehung zu Gordon hatte abspeisen lassen? Hatte sie sich so sehr nach einer eigenen Familie gesehnt, dass sie sich mit bloßen Krumen zufriedengegeben hatte?

„Du bist ja völlig durchgefroren!“ Emily lächelte ihrer Patentochter liebevoll zu, als sie die beiden einholte. Die Kleine trug neben Mantel, Stiefeln, Mütze und Handschuhen auch noch dicke Ohrschützer, weil sie so oft Mittelohrentzündung hatte, und trotzdem klapperten ihr die Zähne.

Willow versuchte, sich von der Hand ihrer Mutter loszureißen. „Ist mir egal! Ich will Schlittschuh laufen!“

„Nein!“, sagten ihre Mutter und Patentante einstimmig.

„Aber die anderen Kinder laufen auch!“ Schmollend und widerstrebend ließ sie sich wegziehen. Ihr Gesichtchen hellte sich aber schnell wieder auf, als sie den Park verließen und Richtung Dorf gingen.

„Sie ist viel zu wagemutig“, sagte Anna seufzend.

Emily lächelte. „Wie ihre Mutter. Du warst früher auch bei jeder Gelegenheit auf dem Eis.“

„Nur du nicht.“ Anna lächelte Emily zu. „Du warst immer so …“ Sie zögerte.

„… feige?“, ergänzte Emily hilfreich.

„Eigentlich wollte ich vernünftig sagen.“

„Ich wäre auch gern Schlittschuh gelaufen. Ich hatte nur …“

„Angst?“

„Nicht davor einzubrechen, eher davor, meine Eltern zu enttäuschen.“

Ihre Mutter und ihr Vater waren viel älter als die meisten Eltern ihrer Freundinnen gewesen und hatten sich ständig Sorgen um sie gemacht. Sie hatten Emily zwar nicht direkt in Watte gepackt, aber dafür in hässliche selbst gestrickte Jacken, Schals und Mützen. Wenn Emily sich auch nur fünf Minuten verspätet hatte, hatten sie schon nervös in der Einfahrt gewartet. Aber so oft das Emily auch genervt hatte – sie hatte sich immer geliebt gefühlt! Und verantwortlich für das Glück ihrer Eltern …

Sie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Wenn es einen idealen Zeitpunkt gab, endlich etwas Neues zu wagen, dann jetzt, aber selbst frisch getrennt und schon bald obdachlos hatte sie Verpflichtungen.

„Die Sachen im B&B müssen noch verkauft werden“, rief Emily ihrer Freundin ins Gedächtnis.

„Emily, von dem Erlös siehst du doch sowieso keinen Penny. Du stehst hinterher völlig mittellos da, während Gordon in Saus und Braus lebt. Sag ihm einfach, er soll sich selbst um den Verkauf kümmern. Er hat dich schon lange genug ausgenutzt.“

Emily presste die Lippen zusammen, sodass ihr kondensierender Atem durch die Nase entwich.

„Mummy, sieh mal!“, rief Willow entzückt. „Emily ist ein Drache!“

„Nur ein Halbdrache“, korrigierte Emily ihre Patentochter. Anna und sie nahmen die Kleine in die Mitte. „Ganzdrachen speien Feuer.“

„Bist du wirklich ein halber Drache?“, fragte Willow.

„Ich versuche es zumindest.“ Emily wünschte, sie hätte einen inneren Drachen, den sie immer dann aktivieren könnte, wenn es nötig wurde. Ein bisschen mehr Temperament könnte jedenfalls nicht schaden. Was Gordon anging, war sie viel zu nachgiebig gewesen.

Im Grunde war sie immer zu nachgiebig.

Sie hätte nach dem Tod ihres Vaters zum Beispiel ihr BWL- und Hotelmanagement-Studium wieder aufnehmen sollen, statt sich für die bequemere Option zu entscheiden und im B&B von Gordon und seiner Mutter anzufangen.

Es tat jedoch gut, mit Anna zu reden. Sie konnte manchmal ziemlich direkt sein, aber Emma war froh über ihre offenen Worte. Das half ihr nämlich dabei, eine Entscheidung zu treffen.

„Du hast Sophia also an der Uni kennengelernt?“, riss Anna sie aus ihren Gedanken.

Anna nickte. „Sie war in meiner Spanischgruppe.“ Spanisch zu lernen, hatte ihr damals großen Spaß gemacht. Studenten aus England und aus Spanien hatten sich gegenseitig geholfen, die jeweils andere Sprache zu lernen.

„Dann seid ihr noch in Kontakt?“

„Sporadisch. Wir folgen uns online. Sie hat meine Fotos und die Website des B&B und der Restaurantkette gesehen, für die ich gearbeitet habe.“

„Das mit dem Webdesign scheint ja ganz gut anzulaufen.“

Vor ein paar Jahren hatte Emily sich ein Herz gefasst und sich vom schmalen Erbe ihrer Eltern eine teure Kameraausrüstung gekauft. So viel Geld hatte sie bisher noch nie für etwas ausgegeben. Gordon hatte sie nicht gerade dazu ermuntert, und sie hatte deswegen auch ein total schlechtes Gewissen gehabt, aber sie hatte gewusst, dass sie die beste Ausrüstung brauchen würde, die sie sich leisten konnte, wenn sie Erfolg als Webdesignerin haben wollte. Nach und nach hatte sie verschiedene Objektive, Studioausstattung und ein Stativ hinzugekauft, was alles ganz schön teuer gewesen war.

„Sind sechs Wochen nicht eine lange Zeit, um eine Website auf den neuesten Stand zu bringen?“, fragte Anna.

Emily schüttelte den Kopf. „In diesem Fall nicht. Es handelt sich um eine große Sherry-Bodega in Spanien.“

„Groß? Ich dachte, eine Bodega ist so eine Art Weinstube.“

„Nein, die Bodega, für die ich die Website erneuern soll, ist ein ziemlich großes Handelsunternehmen mit Weingütern und allem Drum und Dran.“ Sie hatte nach Sophias Anruf sofort im Netz recherchiert. „Das Hauptgebäude ist so groß wie ein Schloss. Außerdem soll ich die Website nicht nur aktualisieren. Sie wollen, dass ich eine völlig neue erstelle, mitsamt aktuellen Fotos.“

„‚Sie‘?“

„Diese Bodega ist ein Familienunternehmen. Ich glaube, sie wird von zwei Brüdern geleitet. Wenn sie denn mal da sind“, fügte Emily trocken hinzu.

„Soll heißen …?“

„Die beiden scheinen ziemlich verwöhnte Playboys zu sein.“ Laut den Klatschspalten waren Alejandro und Sebastián Romero so verrucht wie attraktiv. „Sieht so aus, als sei der ganze Mittelmeerraum ihre Spielwiese.“ Emily holte tief Luft. „Ich fürchte nur, ich bin noch nicht mal ansatzweise qualifiziert genug für den Auftrag. Ihr Unternehmen erwirtschaftet Millionen, Milliarden sogar.“ Ihr wurde ganz mulmig bei dem Gedanken. „Und sie wollen einen völlig neuen Ansatz … Sie wünschen sich jemanden von außen, der ihre Firma unvoreingenommen betrachtet.“

„Gewissermaßen mit Unschuldsaugen?“, witzelte Anna und stupste sie an. „Obwohl, unschuldig bist du ja nicht mehr.“

Leider doch.

Dieses Geheimnis machte Emily manchmal ganz schön einsam.

Sie stand Anna sehr nahe, aber es gab Dinge, die sie trotzdem lieber für sich behielt!

Verkrampft zuckte sie die Achseln. „Aber ich habe absolut keine Ahnung von Sherry. Na ja, zumindest hatte ich bisher keine. Ich dachte immer, so etwas trinken nur alte Damen, so wie Mum und Nanny früher an Weihnachten.“ Emily lächelte wehmütig bei der Erinnerung. „Aber da drüben ist das anscheinend ein riesiger Wirtschaftszweig.“

„Du meinst in Jerez?“ Anna sprach das Wort betont affig spanisch aus.

Emily musste lachen. „Ich hätte jedenfalls nie gedacht, dass Sherry …“, sie sah Anna über Willows Kopf hinweg an und formte lautlos mit den Lippen, „… sexy ist.“

Diesmal war Anna an der Reihe zu lachen, wahrscheinlich wegen Emilys Wortwahl. Oder, weil Emily so brav war, dass sie unfähig war, das Wort laut auszusprechen …

Es war ein schöner Tag, der leider viel zu schnell vorbeiging. Schon bald hatte Willow ihren Schlafanzug an und bat Emily, ihr eine Geschichte vorzulesen.

Bereitwillig stand sie vom Sofa auf und folgte der Kleinen in deren Zimmer, wo Willow ein Buch aussuchte – eins, das kleine Mädchen dazu ermunterte, große Träume zu haben. „Ich könnte ein Drache werden, wenn ich groß bin“, sagte das kleine Mädchen, als es sich in die Decke kuschelte. „Und Feuer speien.“

„Du wärst bestimmt ein ganz toller Drache.“

Willow schüttelte den Kopf. „Aber dann würde ich das Eis auf dem See schmelzen und kann nicht mehr Schlittschuh laufen.“

„Das stimmt.“

„Ich glaube, ich werde lieber Prinzessin und Forscherin“, sagte Willow nach kurzem Nachdenken. „Und an den Wochenenden vielleicht ein Einhorn.“

„Klingt doch perfekt!“ Emily lächelte, als Willow die Augen zuklappten.

„Du siehst hübsch aus, wenn du lächelst“, murmelte Willow. „Auch wenn du nicht oft lächelst.“

Emily nickte. „Ich weiß. Ich glaube, ich wurde mit einem ernsten Gesicht geboren.“

„Und was wirst du, Em?“

„Wie meinst du das?“

„Na, wenn du groß bist.“

Eine viktorianische alte Jungfer, dachte Emily, sagte aber: „Ich bin sechsundzwanzig. Das ist schon ziemlich groß.“

„Nicht für Einhörner.“

Nachdem Emily ihrer Patentochter eine gute Nacht gewünscht hatte, schloss sie leise die Tür hinter sich. Sie konnte Anna in der Küche rumoren hören, setzte sich jedoch für einen Moment auf die Treppe, um die Stille etwas zu genießen.

Ihr Blick fiel auf die Familienfotos an der Wand. Die meisten davon hatte sie gemacht. Willows Taufe … ihr erster Geburtstag …

Auf einem Foto standen die Jacobs’ und die Douglas’ alle zusammen. Es war in Annas und Emilys Abschlussjahr an der Uni bei einem Dorffest während der Weihnachtsferien entstanden. Annas Vater war der Vikar und ihre Mutter dessen loyale Ehefrau. An jenem Tag hatte Anna Emily erzählt, dass sie schwanger war und Angst vor der Reaktion ihrer Eltern hatte.

Zu Recht, wie sich später herausgestellt hatte.

Emily betrachtete ihren eigenen Vater, der damals schon im Rollstuhl gesessen und in die Kamera gelächelt hatte, ohne zu verstehen, was los war. Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, wie erschöpft ihre Mutter gewesen war. Nur einen Monat später war sie gestorben …

Und Emily hätte sich danach fast mit einem Leben ohne jedes sinnliche Vergnügen zufriedengegeben. In der Hinsicht hatte man nämlich nicht viel zu erwarten, wenn einen der eigene Verlobte küsste wie seine zu Besuch kommende Großtante.

Emily war es mittlerweile egal, dass Gordon schwul war. Sie wünschte nur, er hätte ihr das früher gesagt. Sie hätten Freunde sein können, statt eine Beziehung vorzutäuschen. Und Emily hätte sich nicht fünf Jahre lang fragen müssen, was nicht mit ihr stimmte.

Du bist bei ihm geblieben, weil du es nicht anders gewollt hast.

Als ihr dieser unangenehme Gedanke durch den Kopf schoss, verkrampfte sie sich unwillkürlich. Normalerweise würde sie ihn jetzt verdrängen, statt sich der Wahrheit zu stellen – dass sie davor zurückschreckte, selbstbestimmt zu leben nämlich. Das war schon immer so gewesen.

Als Kind war sie so schüchtern gewesen, dass sie es geradezu als Segen empfunden hatte, überfürsorgliche Eltern zu haben. Sie hatten ihr den perfekten Vorwand geliefert, bei nichts mitzumachen, was gefährlich sein könnte. Dabei hatte sie in Wirklichkeit nur deshalb nie mitgemacht, weil sie schon allein bei der Vorstellung Panik bekommen hatte.

Und nicht nur in der Hinsicht hatte Emily sich immer zurückgehalten. Auch optisch versuchte sie, möglichst wenig aufzufallen. Sie kleidete sich stets konservativ und schnitt sich sogar selbst das Haar, nur um sich nicht dem kritischen Blick eines Friseurs aussetzen zu müssen.

Als ihr Handy summte und sie eine halb spanische, halb englische Nachricht sah, verkrampfte sich ihr Magen nervös.

Wichtige negociaciones in NYC. Los hermanos wollen die neue Website. Mutterschutz ab Montag, also brauche ich dich hier ab morgen. Kommst du? Sophia

Was, ab morgen schon?!

Bestürzt las Emily Sophias Nachricht noch mal. Anscheinend ging Sophia früher als gedacht in den Mutterschutz, was hieß, dass sie Emily nicht wie geplant würde einarbeiten können. Es bestand kein Zweifel, dass es dringend war. Und sie würde Emily bestimmt nicht noch mal bitten.

Wenn Emily den Auftrag ablehnte, würde ihn jemand anderes bekommen. Wollte sie sich diese Gelegenheit wirklich entgehen lassen? Sie sehnte sich doch so nach Abenteuern und Reisen …

Das hier bot im Grunde beides. Wenn sie den Auftrag erledigt hatte, könnte sie noch eine Weile länger in Spanien bleiben und etwas in Angriff nehmen, das sie bisher immer vernachlässigt hatte.

Die Liebe.

Sie wollte endlich wissen, wie sich ein leidenschaftlicher Kuss anfühlte. Und was ihre mangelnden sexuellen Erfahrungen anging – die musste sie dringend nachholen. Vielleicht wäre eine Urlaubsromanze ja die perfekte Lösung …

Sie zögerte ein paar Sekunden, aber der unangenehme Anruf, der ihr jetzt bevorstand, war unvermeidbar. Nach dem Telefonat atmete sie erleichtert auf und ging zu Anna ins Wohnzimmer.

„Ich habe gerade mit Gordon telefoniert“, erzählte sie mit zittriger Stimme. „Ich habe ihm gesagt, dass ich morgen früh ins Ausland reise, um einen neuen Auftrag anzunehmen.“

„Yay!“ Anna und schoss auf Emily zu, um sie zu umarmen, aber Emily hob abwehrend eine Hand. Sie war noch nicht bereit, die Neuigkeit zu feiern.

„Er war ganz schön verärgert. Er hat gesagt, ich hätte ihn vorwarnen sollen.“

Anna schnaubte verächtlich. „Dich hat er doch auch nicht vorgewarnt.“

„Ich machs jedenfalls“, sagte Emily mit etwas festerer Stimme. „Ich rufe Sophia sofort an und sag ihr, dass ich den Auftrag annehme.“

Sie setzte diesen Entschluss sofort in die Tat um …

„Sophia will versuchen, mich vom Flughafen abzuholen“, erzählte sie Anna anschließend. „Ach ja, und die Wohnung, in der ich eigentlich wohnen sollte, wurde wegen des Flamencofestivals aus Versehen vermietet, sodass ich in die Wohnung der Haushälterin ziehe.“

„Wohnst du etwa mit ihr zusammen?“

„Ich hoffe nicht.“ Emily schwirrte noch der Kopf von all den Neuigkeiten. „Es geht alles so schnell …“

„Na ja, wer weiß, wozu das gut ist. Wenn du zu lange Zeit bekommst, um darüber nachzudenken, fährst du wahrscheinlich nie.“

„Schon möglich.“ Emily seufzte tief. „Leider hab ich überhaupt nichts anzuziehen.“

Das Problem hatte Emily schon immer gehabt. Ihre Garderobe bestand ausschließlich aus Stretchhosen und schlichten Oberteilen, allesamt in Grau und Schwarz. Sie trug praktisch immer das Gleiche, aber die Hosen waren nun mal sehr praktisch, wenn man sich hinhocken musste, was beim Fotografieren öfter vorkam.

„Es gibt Boutiquen in Jerez. Und Friseursalons. Ich habe ein bisschen recherchiert, als du Willow vorgelesen hast. Jerez scheint eine tolle Stadt zu sein.“

Das sah Emily genauso.

Als sie ihre Flüge buchte, hängte sie noch zwei Wochen an ihren Aufenthalt ran und betrachtete sehnsüchtig die Internetfotos von der schönen Stadt, die auf sie wartete.

Ab jetzt lasse ich mir keine guten Gelegenheiten mehr entgehen, gelobte sie sich. Von jetzt an würde sie alles nachholen, was sie in den letzten Jahren verpasst hatte.

Emily konnte es kaum erwarten.

2. KAPITEL

Alejandro Romero wiederum konnte es kaum erwarten, das Gespräch endlich zu beenden. Oder diesen Tag. Oder diese Woche. Aber da heute Sonntagabend war, war es Gott sei Dank bald geschafft.

Nicht dass Mariana das interessierte.

„Du machst in einem Keller mit mir Schluss?“

„Ich habe schon im Dezember mit dir Schluss gemacht“, antwortete er ruhig. „Jetzt ist Februar.“

Abgesehen davon konnte man die Bodega der Romeros kaum als Keller bezeichnen. Mariana und er standen in wunderschönen hölzernen Gewölben, die früher zu einer Kirche gehört hatten. Die Lage der Bodega war heiß begehrt und der Inhalt Millionen wert, aber natürlich würde Mariana überall herumerzählen, dass Alejandro Romero sie in einem Keller abserviert hatte.

„Alejandro, wenn ich dir auch nur irgendetwas bedeute, dann warte noch.“

„Womit, Mariana? Ich habe dir schon vor Weihnachten gesagt, dass es vorbei ist.“

„Aber dann haben wir von deinem Vater erfahren.“ Sie legte die Hände auf seinen Jackettkragen. „Warte wenigstens, bis er …“

„Auf keinen Fall“, fiel er ihr ungeduldig ins Wort.

„Aber dein Vater liegt im Sterben!“

Alejandro ließ dieser Hinweis ungerührt. Er hasste überflüssige Dramen, und dieses hier war mehr als überflüssig, denn seine Beziehung mit Mariana hatte nie etwas mit Liebe zu tun gehabt.

„Wie kann man nur so emotionslos sein, Alejandro? Lass ihn doch wenigstens in dem Glauben ins Grab gehen, dass unsere Bodegas fusionieren werden.“

Alejandro schüttelte den Kopf. „Er lebt noch mindestens ein Jahr. Wenn er sich operieren lässt, vielleicht sogar noch länger. Ich will dich nicht heiraten, Mariana. Ich will dieses Spielchen nicht länger mitspielen.“ Er entfernte ihre Hand von seinem Arm. „Sag deiner Familie und deinen Freunden, dass es aus ist. Und wenn du das nicht machst, mache ich es. Ich liebe dich nicht, Mariana.“

Ihm war bewusst, dass er gerade brutal ehrlich war, aber er sagte nichts, was sie nicht schon wusste. „Genauso wenig wie du mich.“

„Genau deshalb sind wir doch das perfekte Paar.“ Sie ließ eine Hand über seinen verkrampften Unterkiefer gleiten und versuchte, ihm das volle schwarze Haar aus den Augen zu streichen, aber Alejandro entzog sich ihr. „Du glaubst nicht an Liebe und ich brauche keine.“

Wie immer hatte sie auf alles eine Antwort, und in gewisser Hinsicht hatte sie sogar recht. Alejandro glaubte tatsächlich nicht an die Liebe. Und sollte es sie geben, wollte er nichts damit zu tun haben. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, was die Liebe seinem Vater angetan hatte.

„Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Trennung fatal“, warnte sie. „Das kannst du deinem Vater nicht antun. Es würde ihn umbringen.“

„Mariana, es ist aus.“

„Bis die nächste Frau sich falsche Hoffnungen macht und mehr von dir will. Dann wirst du einsehen, wie gut wir es hatten.“

Er schob ihre Hand weg, als sie ihm zwischen die Beine griff. „Geh nach Hause!“, sagte er schroff, doch Mariana versuchte trotzdem, ihn zu küssen. Sie verschmierte ihm das Gesicht mit Lippenstift und lachte, als er den Kopf zurückbog. „Geh nach Hause!“, wiederholte er.

„Wir sehen uns wieder, wenn du einsam wirst“, spöttelte sie, bevor sie sich umdrehte und hoch erhobenen Hauptes davonstolzierte. „Spätestens im Herbst wahrscheinlich.“

Alejandro sah ihr hinterher. Ihm war bewusst, dass Mariana recht hatte – er war komplett emotionslos. Aber bei geschäftlichen Verhandlungen hatten Emotionen sowieso nichts zu suchen.

Er arbeitete hart und feierte noch härter, und zwar mit einer Nüchternheit, die seine Liebhaberinnen verärgerte und seine Geschäftsfreunde tief beeindruckte. Sein gleichgültiger Blick und sein Achselzucken waren legendär. Er ließ grundsätzlich niemanden an sich heran, und kein Mensch wusste, was wirklich in ihm vorging.

Sein Vater war das genaue Gegenteil von ihm. Die Neuigkeit mit Mariana würde ihn sehr traurig machen, das stimmte wohl. Aber ganz bestimmt würde sie ihn nicht umbringen.

Alejandro hörte Gelächter und Stimmengewirr aus der taberna Romera an der Vorderseite des Innenhofes der Bodega, den er überqueren musste, um zu seiner Wohnung zu gelangen. Statt nach Hause zu gehen, beschloss er, dort noch einen Drink zu nehmen.

¡Hola!“ Eine Kellnerin lächelte ihm freundlich zu, genauso ein paar Gäste, aber Alejandro nickte nur wortlos. Er war nicht in der Stimmung für höfliche Konversation.

Die taberna war fast jeden Abend gut besucht, aber heute, am Sonntagabend, wo auf der Bühne eine Flamencovorstellung lief, ganz besonders. Er setzte sich an den für seine Familie reservierten Tisch und atmete kurz durch.

Das Geschehen auf der Bühne würdigte er kaum eines Blickes. Es weckte einfach zu viele unangenehme Erinnerungen.

Er konnte sich noch gut erinnern, dass er bei Auftritten seiner Mutter in Barcelona oder Madrid hinter der Bühne gesessen hatte. Genauso gut erinnerte er sich an die Vorwürfe seines Vaters, wenn sie nach Hause zurückgekehrt war. Und an dessen schreckliche Depression, als sie für immer fortgeblieben war. Sein Bruder Sebastián und seine Schwester Carmen hassten ihre Mutter deswegen leidenschaftlich, aber Alejandro konnte sie irgendwie verstehen. Wäre sein Vater verständnisvoller gewesen und hätte ihr Talent mehr gefördert …

Flamenco war eine hohe Kunst.

Um dem Anblick der Bühne auszuweichen, sah er sich unter den Zuschauern um. In der taberna waren heute vor allem Einheimische und einige Tanzschülerinnen aus dem Flamencostudio um die Ecke. Ihre Lehrerin, eine ausgezeichnete Flamencotänzerin namens Eva, würde heute auftreten.

Dann fiel sein Blick auf eine Frau, die eindeutig keine Einheimische war.

Nicht nur ihr blondes Haar machte sie ziemlich auffällig, sondern auch die nervöse Art, wie sie mit ihren störrischen Locken spielte. Sie wirkte, als fühle sie sich komplett fehl am Platz. Ihr Oberteil war etwas zu eng und ihr Haar entweder windzerzaust, oder dem Friseur war beim Schneiden die Schere ausgerutscht.

Alejandro beobachtete, wie sie ein kleines Glas mit puré de guisantes nahm und vorsichtig daran schnüffelte, bevor sie das Erbsenpüree in einem Zug hinunterkippte – und dann so angewidert das Gesicht verzog, dass er fast lachen musste. Sie schüttelte sich wie ein kleiner nasser Hund, wobei ihre Brüste und ihr Haar zitterten. Er musste lächeln. Als Nächstes versuchte sie vergeblich, eine Olive mit der Gabel aufzuspießen.

Als sein Blick auf die Kamera neben ihr auf dem Tisch fiel, schoss ihm durch den Kopf, dass es sich bei ihr vielleicht um Emily Jacobs handelte, die Engländerin, die heute angereist war, um die neue Website zu erstellen. Wahrscheinlich sollte er sie begrüßen, aber wie gesagt – er hatte heute keine Lust auf Small Talk.

Sie gab den Kampf mit der störrischen Olive auf und schien aufstehen und gehen zu wollen, obwohl gerade die Flamenco-Vorstellung begann. Doch dann blickte sie plötzlich hoch.

Nicht in seine Richtung, sondern zur Bühne.

Das Stampfen und die lauten Zurufe aus dem Publikum verrieten ihm, dass Eva jeden Moment auf die Bühne kommen konnte, doch er hatte keinen Blick für die Vorstellung.

Er hatte nur Augen für Miss Jacobs. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sich gegen seine Geschwister durchzusetzen und einen Neuling mit der Website zu beauftragen. Miss Jacobs, die offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben richtigen Flamenco sah, schien ihr Unbehagen darüber komplett zu vergessen. Sie war sichtlich fasziniert von Evas Anblick.

Ihm fiel auf, dass sich ihre weiße Bluse etwas über ihren Brüsten spannte, aber trotzdem war ihr sehr schlichtes Outfit von subtiler Schönheit.

Sie war schön.

Verschwunden war ihre gebückte Haltung, als wolle sie auf keinen Fall auffallen. Sie war so gefesselt, dass sie sich komplett vergaß.

Eigentlich hätte er ihrem Blick jetzt zur Bühne folgen müssen, um zu sehen, was genau sie so faszinierte, aber er zog es vor, sie einfach weiter zu betrachten.

Noch nie in ihrem Leben war Emily so verzaubert gewesen.

Nach einer gefühlt ewig dauernden Flugreise war sie in Jerez nicht von Sophia angeholt worden, sondern von einem Mann, der ein Schild mit ihrem Namen darauf hochhielt. Der Mann hatte ihr einen Umschlag mit der Nachricht gereicht, dass Sophia morgen mit ihr in der Bodega frühstücken würde, gefolgt von der Empfehlung, abends in der taberna Romero essen zu gehen, um ein Gespür für die Atmosphäre zu bekommen. Und dass Eva auftreten würde.

Emily hatte keine Ahnung gehabt, was ihr das sagen sollte. Sie wäre lieber allein in der Gott sei Dank leeren Wohnung der Haushälterin geblieben, statt auszugehen, aber sie war nun mal beruflich hier.

Außerdem hatte sie Hunger gehabt.

Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, endlich ein Abenteuer zu erleben, sodass sie sich schließlich innerlich einen Ruck gegeben hatte.

Bei ihrer Ankunft waren nur ein paar Männer auf der Bühne gewesen, die leise Gitarre gespielt hatten. Die Atmosphäre war zwar total entspannt und zwanglos, aber allein zu essen war ihr so unangenehm, dass sie nach ihren Tapas beschlossen hatte, in ihre Wohnung zurückzukehren.

Und dann war es magisch geworfen. Auf der Bühne war das Licht ausgegangen, und das Stimmgewirr der Gäste war verstummt. Die Silhouette einer Frau war erschienen, einen Arm hoch über dem Kopf erhoben. Als die Scheinwerfer wieder angegangen waren, hatte die Frau ihre Hand bewegt – und Emily konnte nur noch dasitzen und wie gebannt zuschauen.

Das muss Eva sein, dachte sie. Die Tänzerin, die Sophia in ihrer Notiz erwähnt hatte.

Eva war absolut umwerfend. Sie hatte die schwarzen Locken über dem schlanken Hals hochgesteckt und war dramatisch geschminkt. Ihr fließendes Kleid war so gelb wie Rapsblüten. Emily setzte sich kerzengerade auf, als Eva langsam und sinnlich zu tanzen begann. Der Anblick war total faszinierend.

Eva begann, rhythmisch mit den Händen zu klatschen, bevor sie den Rhythmus mit ihren schwarzen Schuhen fortsetzte, und die Männer stimmten mit ihren Gitarren mit ein.

Eva lächelte und grollte und bleckte beim Tanzen die Zähne, um ihre wechselnden Emotionen zu vermitteln, während die Musiker sich ihr anpassten.

Emily bewunderte zutiefst, wie Eva das Publikum in ihren Bann zog. Das laute Stakkato ihrer beschlagenen Schuhe, das Donnern der Stiefel der Männer und das sich beschleunigende Tempo der Gitarren und Rhythmusinstrumente schienen auf einen Höhepunkt zuzusteuern. Und doch ging es immer weiter.

Evas Klatschen klang inzwischen laut und präzise wie Peitschenknallen, bevor es plötzlich leiser wurde. Die Männer klatschten ebenfalls, als wollten sie sie zu neuen Höchstleistungen anspornen. Evas Füße bewegten sich mit einer so rasenden Geschwindigkeit, dass Eva an Hagel denken musste.

Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es etwas so Mitreißendes gab! Am liebsten wäre sie aufgestanden, um mitzutanzen, so wie einige Gäste es taten. Sie wollte die Tänzerin genauso anfeuern wie sie. Sie ertappte sich sogar dabei, Eva lächelnd mit ihrem Weinglas zuzuprosten.

Der Tanz und die Musik waren geradezu hypnotisch …

Als eine Frau am Nebentisch aufstand, um näher zur Bühne zu gehen, drehte Emily sich kurz um. In dem Moment schienen das Klatschen, das Stampfen und die Musik für ein paar Sekunden zu verstummen.

Sie begegnete nämlich dem Blick eines Mannes.

Eines Mannes in einem dunklen Anzug.

Er war nicht der einzige Gast, der einen trug, aber die anderen hatten sich ihre Jacketts ausgezogen und sich leger die Ärmel hochgekrempelt. An diesem Mann jedoch war nichts leger. Seine Krawatte war gelockert, und er war unrasiert, aber er sah trotzdem aus wie aus dem Ei gepellt.

Und was für tolle dunkle Augen er hatte!

Noch nie hatte jemand Emily so angesehen. Sie hatte auch noch nie den Blick eines anderen Menschen so fasziniert erwidert. Irgendwie würde es sie nicht wundern, wenn er jetzt zu ihr kommen oder sie zu sich winken würde. Ihr harter Holzstuhl zitterte von den Erschütterungen des Stampfens auf der Bühne, doch das war kein Vergleich mit der Wirkung, die dieser Mann auf sie hatte.

Die Musik wurde wieder lauter, und Emilys Sinne erwachten zu neuem Leben. Sie empfand eine aufsteigende Hitze, die von ihren Schenkeln bis in ihren Bauch ausstrahlte, den sie instinktiv einzog. Nicht nur, weil sie das sowieso ständig machte, sondern weil sich ihre Muskeln unter dem glühenden Blick des Mannes irgendwie automatisch zusammenzogen. Und seine Wirkung auf sie ging sogar noch weiter. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Brüste härter wurden und ihr Hals so eng, dass sie kaum noch schlucken konnte.

Und was ihren Mund anging …

Er kam ihr plötzlich viel zu groß vor. Ohne dass auch nur ein Wort zwischen ihnen gefallen war, war sie angetörnter als je zuvor in ihrem Leben.

Das liegt bestimmt nur an der Musik, sagte sie zu sich selbst und riss den Blick von dem schönen Gesicht des Mannes los. Es konnte nur an der Musik liegen! Oder war es die Wirkung des Weins? Doch wie sie feststellte, war die Karaffe auf ihrem Tisch immer noch fast voll.

Nein, es liegt an seiner Schönheit, dachte sie, während sie wieder versuchte, die letzte Olive aufzuspießen. Und kläglich scheiterte.

Verdammt!

Sie tunkte ein Stück Brot in Olivenöl und versuchte, so zu tun, als spüre sie kein Pulsieren an einer Stelle, wo sie bisher noch nie ein Pulsieren wahrgenommen hatte. Wie erschreckend, ausgerechnet in der Öffentlichkeit zum ersten Mal so erregt zu sein! Am liebsten wäre sie zur Toilette geflohen, um diesem Ansturm unbekannter Empfindungen zu entkommen! Und der intensiven Ausstrahlung eines Mannes, den sie gar nicht kannte …

Ihre Verunsicherung gewann die Oberhand. Emily floh.

„Mujeres“ stand auf der Tür. Darunter war eine Frau in einem Flamencokleid abgebildet. Emily war froh über das Symbol, weil ihre Spanischkenntnisse leider gerade wie weggeblasen waren.

Die Toilette war leer – Gott sei Dank! Aber die anderen weiblichen Gäste sahen natürlich auch der Tänzerin namens Eva zu. Sie konnte die Rufe und die Musik bis hierhin hören.

Es ist wohl doch die Musik, dachte Emily, als sie sich vor einen der Spiegel an den Wänden stellte. Sie trug dieselbe schwarze Hose und dünne Bluse, mit der sie vorhin ihre Wohnung verlassen hatte. England sogar.

Und dieselben schwarzen Pumps …

Ihr Haar war zerzaust und ihr Gesicht wie immer komplett ungeschminkt, aber leicht gerötet.

Und ihre Lippen waren rosig, als hätte sie sich draufgebissen.

Ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter ihrer Bluse ab. Und als sie dichter an den Spiegel heranging, fiel ihr auf, dass ihre Augen fast unnatürlich glänzten und geweitete Pupillen hatten. Sie fühlte sich, als sei etwas in ihr entfesselt worden.

Das muss an der Musik liegen, schärfte sie sich erneut ein.

Sie versuchte, sich an den Moment zu erinnern, der alles verändert hatte. Als das Licht ausgegangen war? Als das Klatschen begonnen hatte? Oder das Füßestampfen?

Oder als sie dem Blick des Unbekannten begegnet war …

Als die Tür aufging, rechnete sie albernerweise mit dem aufregenden Unbekannten, riss sich jedoch zusammen. Sie war total übernächtigt!

Und ausgehungert nach Sex.

Bei dem Gedanken prustete sie los. Seltsamerweise war ihr das noch nicht mal peinlich, als eine junge Frau die Toilette betrat, denn sie lachte ebenfalls.

„¡Ella es brillante!“

„Sí“, bestätigte Emily, dankbar, dass sie die Frau verstanden hatte, aber nicht mutig genug, um auch den Rest auf Spanisch zu sagen. „Sie ist wirklich brillant! So etwas Tolles habe ich noch nie gesehen.“

„Sie ist die Beste.“ Die Frau nahm einen Lippenstift aus ihrer Handtasche. „Ich mache gerade einen Kurs bei ihr.“

„Echt?!“

Die Frau nickte. „Manchmal kommen wir zum Üben her.“ Sie fing Emilys Blick im Spiegel auf. „Kommen Sie aus England?“

Emily nickte. Sie kam sich neben der schönen, selbstsicheren Frau total unscheinbar und farblos vor.

„Ich heiße Stella.“

„Ich bin Emily.“

„Machen Sie hier Urlaub?“

„Nein, ich bin beruflich hier.“ Emily kam sich vor wie eine Hochstaplerin, denn sie hatte gerade eher das Gefühl, ihr erstes Abenteuer zu erleben.

Ein ganz besonderes Abenteuer.

Doch dann schaltete sich ihr Verstand wieder ein. „Verdammt!“, rief sie so erschrocken, dass die andere Frau zusammenzuckte. „Sorry, aber mir fällt gerade ein, dass ich meine Kamera auf dem Tisch liegengelassen habe.“

Rasch verließ Emily die Toilette. Eva war fertig mit ihrem Auftritt oder machte gerade Pause, denn die Musik war wieder leiser, und die Scheinwerfer waren an.

Und Emilys Tisch war besetzt. Eine Vierergruppe saß daran. Die Tapas und der Wein waren abgeräumt. Keine Spur von Emilys Handtasche – und schon gar nicht von ihrer Kamera.

Im ersten Moment verspürte sie einen Anflug von Panik – wie hatte sie nur so dumm sein können, sich gleich am ersten Abend ihre Sachen stehlen zu lassen?! Doch dann spürte sie plötzlich ein seltsames Gefühl der Ruhe … Eine Art Gewissheit, dass er das nie zugelassen hätte. Langsam wandte sie dem geheimnisvollen Fremden das Gesicht zu.

Da waren ihre Sachen ja. Auf seinem Tisch.

Wieder spürte sie ein seltsames Gefühl der Ruhe, als er sie mit einer Kopfbewegung zu sich beorderte.

Ohne zu zögern ging Emily zu ihm.

„Guten Abend, Emily“, sagte er höflich und stand auf, um ihr die Hand zu schütteln. „Sophia hat mir mitgeteilt, dass Sie heute kommen.“ Er winkte ihr, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.

Erst als sie auf der roten Samtbank Platz nahm, wurde ihr bewusst, dass er wahrscheinlich einer der beiden Romero-Brüder war. Keine harten Stühle für ihn, dachte sie. Irgendwie gelang es ihr, sich nach außen hin halbwegs gefasst zu geben, wenn auch nicht cool. Das wäre auch unmöglich, so heiß, wie das Blut durch ihre Adern floss.

„Ich bin Alejandro“, stellte er sich vor.

„Der jüngere Bruder?“, hakte sie nach, während sie versuchte, sich an das zu erinnern, was sie im Netz über die Romero-Geschwister gelesen hatte.

„Der Vernünftigere.“

„Gut zu wissen.“

„Zumindest im Vergleich zu meinen anderen beiden Geschwistern.“

„Sebastián und Carmen meinen Sie?“

„Sí.“ Er nickte. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Ich hatte schon Wein.“ Sie legte die Hände ans glühende Gesicht, als sei der Wein an ihren roten Wangen schuld.

Er zeigte auf ihre Kamera und ihre Tasche. „Die Kellnerin hat die Sachen zu mir gebracht. Sie hat nicht gewusst, dass Sie zum Personal gehören.“

Dankbar griff sie nach ihrer geliebten Kamera. „Ich hatte schon befürchtet, die Sachen seien gestohlen worden.“

Er schüttelte den Kopf. „Das würde hier nicht passieren. Obwohl es eine sehr schöne Kamera ist.“

„Stimmt. Sie ist ein bisschen … extravagant.“

„Aber bei Ihrem Job vermutlich nötig, oder?“

„Als ich sie gekauft habe, war das Fotografieren kaum mehr als ein Hobby.“ Sie verdrehte sie Augen. „Ein sehr teures. Meine Fotoausrüstung hat fast mein ganzes Freigepäck eingenommen.“

Als sie Alejandro verwirrt die Stirn runzeln sah, dämmerte ihr, dass die Romeros mit ihren Jachten und Privatjets wahrscheinlich keine Ahnung von so profanen Dingen wie Freigepäck hatten.

„Sie dürfen sich jederzeit an diesen Tisch der Familie setzen, wenn Sie Fotos von der Bühne oder so machen wollen.“

„Danke.“

Er war wirklich sehr höflich … geradezu förmlich. Fast, als hätte ihr heißer Blickwechsel vorhin nie stattgefunden. Aber im Grunde war ja auch gar nichts passiert. Wahrscheinlich hatte er sich nur gefragt, ob die blasse Frau mit der Kamera seine neue Angestellte war. Ihre Fantasie hatte ihr nur einen Streich gespielt.

Sein Englisch hatte einen starken spanischen Akzent. Verstohlen betrachtete sie sein Gesicht. Seine von dunklen Wimpern eingerahmten Augen wiesen sämtliche Braunschattierungen auf, die man sich nur vorstellen konnte, während das Weiß darum herum geradezu blendend war. Seine vollen Lippen waren blass, aber sie konnte eine Spur Lippenstift an einer Seite erkennen …

Wo das wohl herkam?

Aber es ging sie nichts an, wen er geküsst hatte. Selbst wenn er nicht ihr Chef wäre – er spielte in einer ganz anderen Liga. Sie saß nur bei ihm am Tisch, weil sie für ihn arbeitete.

Er lehnte sich zurück. „Wie war Ihr Flug?“

Sie versuchte, sich daran zu erinnern. Ihre Reise war plötzlich komplett vergessen. „Gut … na ja, er dauerte ziemlich lange.“

Fragend sah er sie an.

„Ich musste in Madrid ewig auf meinen Anschluss nach Jerez warten“, erklärte sie.

„Warum sind Sie nicht über Sevilla geflogen? Da gehen öfter Flieger nach Jerez.“

„Echt?“

Er nickte. „Ich wundere mich, dass Sophia das nicht so gebucht hat.“

„Ich habe meine Flüge selbst gebucht.“

„Stimmt ja, sie war krank. War sie denn in der Lage, Sie abzuholen?“

Emily schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Dann hat man Ihnen also noch nicht alles gezeigt?“

„Kein Problem“, sagte sie abwinkend, als habe sie sich so mutterseelenallein in ihrer Unterkunft nicht total einsam gefühlt. Und jetzt saß sie plötzlich in dieser taberna neben diesem unglaublich attraktiven Mann. Beides überforderte sie etwas – obwohl Letzteres ehrlich gesagt ganz angenehm war …

„Wo wohnen Sie eigentlich?“, fragte er. „An der Plaza de Santiago?“

„Nein, hier in der Bodega. Anscheinend war die übliche Unterkunft schon ausgebucht, deshalb hat Sophia mir die Wohnung der Haushälterin gegeben.“

„Dann sind wir ja Nachbarn.“

„Echt?“

Er nickte. „Das Haus neben Ihrem ist meins.“

„Ach …“

Das schöne Gebäude hinter dem gewölbten schmiedeeisernen Tor war ihr natürlich sofort aufgefallen, aber sie wäre nie darauf gekommen, dass dort jemand wohnte.

„Normalerweise wohnt Personal von außerhalb in einer Wohnung an der plaza, aber wahrscheinlich wurde die Unterkunft wegen des Flamencofestivals aus Versehen vermietet.“ Er zeigte auf die Bühne.

„Dann gibt es hier also sonst keine Vorführungen?“, fragte Emily. „Das heute ist nur wegen des Festivals?“

„O nein, hier findet regelmäßig Flamenco statt. Es kommt nur nicht oft vor, dass Eva auftritt.“

„Mir war gar nicht bewusst, was für eine wichtige Rolle Flamenco hier spielt“, gestand Emily. „Ich meine, ich dachte immer …“ Sie verstummte. Hoffentlich hielt er sie jetzt nicht für total dumm.

„Was dachten Sie?“, hakte er nach.

„Dass Flamenco nur etwas für Touristen ist.“

„O nein!“ Ihre Unwissenheit schien ihn nicht zu stören. Anscheinend hörte er das nicht zum ersten Mal. „Die Einheimischen sind sehr traditionsbewusst. Es gibt hier jede Menge peñas.

„Peñas?“, wiederholte Emily.

„Das sind gewissermaßen …“, er suchte nach dem richtigen Wort, „… Flamencoclubs für aficionados.“

„Aficionados?“, wiederholte sie. „Sie meinen Fans?“

Er nickte.

„Und Sie sind einer?“

„Eher nicht.“ Er schüttelte den Kopf, als eine Kellnerin kam, um sein Glas nachzufüllen. „Haben Sie unseren Sherry schon probiert?“, fragte er Emily.

„Nein“, gestand sie. „In England habe ich zwar versucht, welchen zu bekommen, aber ich wohne in einem kleinen Dorf und …“

„Schon gut.“ Er wechselte ein paar spanische Wort mit der Kellnerin, die kurz darauf mit einer Flasche und einem Brett mit Käse zurückkehrte.

Die Flasche weckte sofort Emilys Aufmerksamkeit. Sie hatte sie natürlich schon online gesehen, aber die Fotos wurden ihrer Schönheit nicht gerecht. Denn sie war in der Tat schön mit dem schwarzen Glas und dem mit einem tropfenförmigen Bernstein versiegelten Korken. Emily griff danach, um sie sich näher anzusehen. Sie erkannte den Namen Bodega Romero im Glas. Auch das Etikett war wunderschön.

Auf den ersten Blick erinnerte das Motiv darauf sie an eine Blume – eine orangerote Mohnblume vielleicht mit dunkler Mitte. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um das Foto einer sich drehenden Flamencotänzerin mit orangerotem Rock und schwarzem, hochgesteckten Haar handelte.

„Tolle Flasche“, sagte sie und stellte sie wieder zurück. Sie beobachtete, wie Alejandro geschickt Siegel und Korken entfernte. Sie war nervös, aber auf angenehme Art.

„Das hier ist ein Oloroso“, erklärte er. „Wahrscheinlich die Art Sherry, an die Sie gewöhnt sind.“

„Ehrlich gesagt bin ich keine ausgesprochene Sherrytrinkerin. Ich …“ Sie zögerte. Wahrscheinlich wäre es unhöflich zu sagen, dass sie das Zeug nicht ausstehen konnte. „Na ja, ich trinke generell wenig Alkohol.“

„Schon gut“, sagte er wieder. „Haben Ihnen die Tapas geschmeckt?“

„Ja“, antwortete Emily höflich. „Sie waren sehr gut.“

„Alle?“

Die Skepsis in seiner Stimme brachte sie zum Lächeln. Anscheinend hatte er sie beobachtet. „Okay, das Erbsenpüree im Schnapsglas nicht.“ Angewidert verzog sie das Gesicht. „Ich mag keine Erbsen, schon gar nicht in Flüssigform.“

„Warum haben Sie das Glas dann ausgetrunken?“

„Weil es unhöflich wäre, es stehenzulassen.“

„Der Koch würde Ihnen das nicht übelnehmen.“ Alejandro lächelte.

Himmel, sah er toll aus! Er war mit Abstand der attraktivste Mann, den Emily je gesehen hatte. Und trotzdem fühlte sie sich seltsam wohl in seiner Gegenwart.

Mit einer fließenden Bewegung schenkte er ihnen Sherry ein. Das Gespräch floss genauso mühelos dahin. „Haben Sie den kleinen Silberlöffel auf Ihrem Teller nicht gesehen?“

„Doch.“

„Der ist zum Probieren da.“

„Ich werd es mir fürs nächste Mal merken.“

„Gut.“

Von dir würde ich auch gern ein bisschen probieren, dachte sie, als sie seinen mit Lippenstift verschmierten Mund betrachtete. Wie es wohl wäre, von ihm geküsst zu werden?

Aber solche Gedanken waren komplett müßig. Er spielte in einer ganz anderen Liga als sie. Das war keine falsche Bescheidenheit, sondern Fakt. Das hier war nur eine Art Weinprobe – eine Gelegenheit für sie, das Produkt zu testen, mehr nicht. Auch wenn eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf etwas anderes suggerierte …

Ihre Blicke trafen sich, als er ihr zuprostete. „Salud.

„Prost.“ Lächelnd griff Emily nach ihrem Glas und führt es an die Lippen, die sich irgendwie ganz seltsam anfühlten. Sie brauchte zwei Anläufe, um das Glas anzusetzen, und kicherte zwischendurch nervös.

Jetzt hielt er sie bestimmt für ein komplettes Nervenwrack …

3. KAPITEL

Alejandro hielt Emily keineswegs für ein Nervenwrack, nur für etwas scheu – und sehr süß. Er beobachtete, wie sie den ersten Schluck des Sherrys im Mund behielt und dabei die blauen Augen schloss. Er hatte schon so viele Weinproben gegeben, dass das hier für ihn eigentlich Routine sein sollte. Ihr Anblick hätte ihn auf keinen Fall so antörnen dürfen!

Sie schluckte den Sherry hinunter, schlug die Augen wieder auf und ließ ihre rosa Zungenspitze hervorblitzen. „Wow!“ Wieder führte sie das Glas an die Lippen, wartete mit dem Trinken jedoch, als sie im Abgang weitere Geschmacksnuancen wahrnahm. „Oh …“ Sie lächelte Alejandro überrascht zu. „Vielleicht mag ich Sherry ja doch.“

„Oder Sie sind einfach nur höflich?“

„Nein, der Sherry schmeckt wirklich wundervoll. Aber ich habe eigentlich keine Ahnung von Wein und so, also verlangen Sie bitte nicht von mir, ihn auf der Website zu beschreiben.“

„Keine Sorge, der Part ist schon erledigt. Diesen Sherry hier bezeichnet man als … vollmundig.“ Warum klang in seinen Ohren heute eigentlich alles irgendwie anzüglich, was aus seinem Mund kam? Es fiel ihm schwer, den Blick von ihren ebenfalls vollen Lippen loszureißen, sodass er ihn zu dem Gegenstand senkte, den sie in den Händen hielt – dem Bernsteinsiegel. „Das dürfen Sie übrigens behalten. Das ist bei uns Tradition!“, fügte er hinzu, als Emily ihn überrascht ansah.

„Oh …“ Als sie den Bernstein betrachtete, erkannte sie einen kleinen eingeschlossenen Schmetterlingsflügel darin. Sofort schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dies ein Sinnbild für sie selbst war. Gefangen in ihrer eigenen Scheu. Unfähig zu fliegen.

„So, und jetzt zum Käse“, sagte er. „Ich hoffe doch, Sie mögen Käse?“

Sie nickte. Während sie das Siegel in ihrer Handtasche verstaute, beobachtete sie, wie er die verschiedene Käsestücke in Scheiben schnitt. „Nur Ziegenkäse mag ich ehrlich gesagt nicht besonders …“, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu.

Alejandro nickte, ohne hochzusehen. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, wie ungewöhnlich es für Emily war, ihre Vorlieben und Abneigungen frei zu äußern.

„Sie sind noch nicht lange im Geschäft, oder?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe zwar schon immer gern fotografiert, und an der Uni habe ich gelernt, wie man eine Website erstellt, aber …“ Sie zögerte kurz. „Ich habe keinen Abschluss.“

Wieder nickte er.

„Nur, dass Sie Bescheid wissen.“

„Ihr Lebenslauf interessiert mich nicht, Emily. Wir wollten eine modernere Website mit einem neuen, frischen Ansatz, und Sophia hat uns daraufhin Ihre bisherige Arbeit gezeigt. Es ist Ihnen gelungen, einen Schrotthaufen von einem Cottage anheimelnd wirken zu lassen.“

Emily war etwas verletzt. „Das war mein Zuhause.“

„Echt?“

Er wirkte nicht im Geringsten verlegen. Aber vielleicht wusste er auch nicht, wie beleidigend das Wort „Schrotthaufen“ war. Sie beschloss, nachsichtig zu sein. „Ja, echt.“

Emily lächelte gezwungen. Das Thema war ihr irgendwie unangenehm. Erst heute Morgen hatte sie das Haus verlassen, das so lang ihr Zuhause gewesen war, und das ohne jede Wehmut. Natürlich würde sie noch einmal dorthin zurückkehren müssen, um ihre Sachen abzuholen, aber hätte ihr der Abschied nicht ein bisschen schwerer fallen müssen?

Als irgendwann eine Gesprächspause aufkam, sah Emily sich um und stellte fest, dass es inzwischen leerer geworden war. Und dass Alejandro und sie von zwei Kellnerinnen beobachtet wurden. Und von einigen Gästen ebenfalls.

Ihm schien das auch aufzufallen. „Ich muss langsam los.“

„Ich auch“, sagte sie, ohne nachzudenken. In schlechtem Spanisch bat sie die Kellnerin um die Rechnung.

„Ist im Vertrag inbegriffen“, sagte Alejandro. „Sie können hier zu Abend essen, wann immer Sie wollen. Das Personal weiß Bescheid!“

„Danke.“

Erst als sie aufstand, wurde ihr bewusst, dass sie jetzt gemeinsam das Lokal verlassen würden, was ihr etwas unangenehm war. Sie schlang sich den Gurt ihrer Kamera über eine Schulter und griff nach ihrer Handtasche. Und die Situation wurde tatsächlich etwas unangenehm, denn jeder hier schien sich von ihm verabschieden zu wollen. Als er vor einem Pärchen stehenblieb, um ein paar Worte mit den beiden zu wechseln, beschloss sie, allein zu ihrer Wohnung zu gehen, statt müßig herumzustehen.

Sie verließ das Lokal und überquerte den Hof. Vorhin war sie zu nervös gewesen, um sich umzusehen. Erst jetzt, da die meisten Gäste gegangen waren, sah sie, wie schön es hier war. Auf einer Seite befand sich der historische Weinkeller, und der Hof war von mit Früchten beladenen Orangenbäumen gesäumt, die mit hübschen Lichterketten geschmückt waren. Der Ort hatte eine raue und zugleich elegante Schönheit, der sandige Boden dämpfte ihre Schritte, als sie sich dem gewölbten Tor näherte, hinter dem ihre Wohnung lag.

Doch das Tor war verschlossen.

„Verdammt!“, murmelte sie genervt. Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich an ihrem ersten Abend auszuschließen. Sie spielte gerade mit dem Gedanken, zur taberna zurückzugehen und um Hilfe zu bitten, als sie plötzlich Alejandros Stimme hinter sich hörte.

„Nach Mitternacht müssen Sie hinten herum zum Pförtner, wenn Sie reinkommen wollen.“

„Ich verstehe.“

„Es sei denn, Sie sind ich“, fügte er hinzu, als er bei ihr ankam.

„Okay.“ Rasch ging sie in die von ihm genannte Richtung.

„Emily, warten Sie!“, rief er hinter ihr her. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Verlegenheit schien ihn zu amüsieren. „Das war nur ein Witz. Sie brauchen nicht hinten herumzugehen.“ Er tippte einen Code in eine Tastatur ein, und das Tor ging auf. Im Weitergehen nannte er ihr die Kombination.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir sowieso keine Zahlen merken.“

„Es sind doch nur vier.“

Vorhin war ihr gar nicht aufgefallen, wie groß er war. Sie kam sich fast ein bisschen wie eine Schülerin vor dem Schuldirektor vor, als er sie jetzt auch noch bat, den Code zu wiederholen.

Abwehrend schüttelte Emily den Kopf. „Den habe ich vergessen.“

„Echt?“

„Ja, echt.“

Sie stiegen eine Treppe mit Mosaikstufen hoch, die zu zwei weiteren schmiedeeisernen Toren führte. Anscheinend würden sich ihre Wege hier trennen.

Ihr fiel auf, wie gut er duftete – so verführerisch, dass sie unwillkürlich die Augen schloss. Er benutzte genau die Art Rasierwasser, auf die man sogar einen Wildfremden auf der Straße ansprechen würde, um zu erfahren, was es war. Der Duft war moschusartig, aber nicht zu schwer. Zitronig, aber anders, als sie es kannte. Und so frisch, dass ihr plötzlich auffiel, dass sie schon seit fünf Uhr morgens auf den Beinen war und daher bestimmt nicht mehr besonders frisch aussah.

Im Gegensatz zu ihm. Wie schaffte er es nur, selbst kurz nach Mitternacht noch auszusehen, als wolle er ins Büro und nicht ins Bett? Abgesehen natürlich von dem Rest Lippenstift und den Bartstoppeln … Himmel, er sah aus wie eine Mischung aus Bandit und Model!

Die Kombination war wirklich unglaublich sexy …

Außerdem machte es Spaß – ja, tatsächlich Spaß – hier zu stehen und mit ihm zu plaudern. Wobei ihr die Gewissheit half, dass jemand, der so absolut göttlich aussah wie er, bestimmt nichts von ihr wollte.

Trotzdem sollte sie jetzt gehen. Den großen Schlüssel aus ihrer kleinen Tasche nehmen und ihre wunden und bestimmt geschwollenen Füße zur Ruhe betten.

Andererseits war es so angenehm, mit ihm zu reden …

Und er schien es auch gar nicht eilig zu haben!

„Benutzen Sie in Zukunft ruhig den Eingang hier unten.“

Sie nickte. „Okay. Danke.“

„Haben Sie den Code wirklich schon vergessen?“

„Ich habe zwei Sherrys intus“, wandte sie ein, obwohl nicht der Alkohol sie so schwindlig machte. Bisher hatte sie sich noch nie zu einem Mann hingezogen gefühlt – oder wenigstens nicht so stark. Aber das konnte sie ihm natürlich nicht sagen. Nie im Leben konnte diese Anziehung, die sie spürte, gegenseitig sein!

„Kommen Sie schon – versuchen Sie es wenigstens!“

Schuldbewusst verzog sie das Gesicht. „Vier?“, riet sie.

„Es kommt gar keine Vier darin vor.“ Sein Blick war streng, aber seine Mundwinkel zuckten belustigt. Seine Lippen wirkten auf einmal gar nicht mehr blass, sondern gut durchblutet. Sie konnte den Blick gar nicht von ihnen losreißen, als er sie aufforderte, es noch mal zu versuchen.

„Fünf?“

„Jesus!“, sagte er lachend. „Sie haben wirklich ein miserables Kurzzeitgedächtnis.“

„Nur, wenn …“ Sie verstummte. Es wäre dumm, ihm zu verraten, dass ihre mangelnde Konzentration nur auf seinen tollen Duft und ihre Schwierigkeit zurückzuführen war, in seiner Gegenwart die Hände bei sich zu behalten, statt sie …

Statt was? Sie beschloss, ihre Fantasien nicht weiter auszuschmücken. Zumindest nicht, solange er so dicht vor ihr stand. Das konnte sie später noch nachholen!

Aber Alejandro schien es immer noch nicht eilig zu haben, denn er lehnte sich entspannt gegen sein Tor. Nachdem er die Zahlenreihe noch einmal für Emily wiederholt hatte, sah er sie nachdenklich an. „Falls Sie Flamencounterricht nehmen wollen – Eva könnte Ihnen eine Menge beibringen.“

„Flamencounterricht?“ Emily lachte nervös. „Bloß nicht!“ Wie kam er nur darauf?!

Alejandro stimmte nicht in ihr Lachen mit ein. Also schien er das tatsächlich ernst zu meinen. Andererseits konnte er auch nicht wissen, wie ungeschickt sie war.

„Es würde Ihnen vielleicht Spaß machen. Und außerdem …“

Alejandro verstummte abrupt, als ihm bewusst wurde, dass er drauf und dran war zu sagen, wie gern er sie tanzen sehen würde. Manchmal ging Eva nämlich mit ihren Schülerinnen und Schülern in die taberna zum Tanzen. Bei der Vorstellung, wie Emily ihren üppigen Körper im Rhythmus der Musik bewegte, wurde ihm ganz heiß …

Konnte er ihr das wirklich sagen? Diese Situation war für ihn etwas ungewohnt. Natürlich war er schon oft mit einer schönen Frau hier gewesen. Aber jetzt würde Emily gleich nach links und er nach rechts gehen, jeder in die eigene Wohnung. Das war extrem ungewohnt!

„Und außerdem?“, hakte sie nach.

Während er ihren Blick erwiderte, fragte er sich, wie es jetzt weitergehen sollte. Es knisterte gewaltig zwischen ihnen – so heftig, dass sie schon die Aufmerksamkeit des Personals und der Gäste in der taverna erregt hatten. Nur deshalb hatte er den Abend so abrupt beendet. Doch jetzt, da sie allein waren, zögerte er. Emily strahlte eine gewisse Mutwilligkeit aus, aber auch Zurückhaltung, als wisse sie selbst nicht, was sie wollte.

Normalerweise würde er sie jetzt küssen, und dann würden sie in seine Wohnung gehen und übereinander herfallen. Andererseits würde sie in den nächsten sechs Wochen für ihn arbeiten, was die Situation erheblich verkomplizierte.

Er entschied sich für die sicherere Antwort: „Das würden Ihnen vielleicht ein besseres Gespür für diesen Ort geben. Flamenco ist hier eine Lebensart.“

„Wenn das so ist, werde ich darüber nachdenken“, antwortete sie lächelnd. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Emily.“ Er öffnete das Tor für sie. „Träumen Sie süß!“

Mit zitternden Händen schloss Emily ihre Wohnungstür auf. Als sie sich kurz darauf von innen dagegen lehnte, fühlte sie sich so aufgepeitscht, als habe sie gerade etwas Übermenschliches vollbracht. Eine Sekunde mehr, und sie hätte sich womöglich total blamiert.

Dabei hatte er sie noch nicht mal ermuntert. Er war ihr gegenüber absolut höflich und zuvorkommend gewesen. Aber sie hatte zu spüren geglaubt, dass es hinter seiner Fassade gewaltig brodelte.

Noch nie war sie einem Mann begegnet, der eine so sinnliche Ausstrahlung hatte. So sehr, dass es auf sie abfärbte!

Aus ihren hochhackigen Schuhen zu kommen, brachte leider nicht die erhoffte Erleichterung, was seltsam war, da ihr die Füße schon seit Heathrow schmerzten. Sogar den BH abzulegen, war nicht so angenehm wie sonst. Ihre Brüste fühlten sich noch genauso hart an wie vorher, und ihr Slip war feucht, als sie ihn abstreifte. Noch nie hatte sie ihren Körper so intensiv wahrgenommen.

Das weiß geflieste Badezimmer hatte eine Duschkabine mit riesigem Duschkopf. Dankbar stellte sie sich darunter und drehte das Wasser an. Ein angenehmer Luxus war, dass sie ihren Kulturbeutel nicht zu holen brauchte – alles, was sie brauchte, stand in wunderschönen geschliffenen Glasflakons bereit. Sie zog einen Stöpsel heraus und atmete den Duft des Duschbads ein. Doch so angenehm er auch war – es war nicht sein Duft.

Rasch wusch sie sich und trocknete sich mit einem flauschigen Handtuch ab, bevor sie sich auf das große Doppelbett legte und versuchte, ihren pulsierenden Körper zu ignorieren. Zum ersten Mal in ihrem Leben lag sie nackt in einem Bett.

Sie drehte den Kopf zur Seite und betrachtete den Bernstein, den sie auf den Nachttisch gelegt hatte. „Lass mich raus!“, schien der kleine Schmetterlingsflügel sie anzuflehen.

Noch nicht, dachte Emily. Ihre Urlaubsromanze würde erst in sechs Wochen beginnen, aber sie bezweifelte, dass sie einen Mann finden würde, der so aufregend und schön war wie Alejandro Romero.

Wahrscheinlich ist er bei allen Frauen so zuvorkommend, ermahnte sie sich selbst. Sie musste an den Lippenstift in seinem Mundwin...

Autor

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