Julia Jubiläum Band 4

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DU KANNST NUR EINEN LIEBEN, ANNIE! von MORTIMER, CAROLE
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  • Erscheinungstag 26.02.2016
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733705220
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carole Mortimer, Lynne Graham, Penny Jordan

JULIA JUBILÄUMSBAND BAND 4

1. KAPITEL

„Falls Sie vorhaben hinunterzuspringen, würde ich damit noch zwei Stunden warten, bis die Flut wieder da ist!“

Annie fuhr herum bei dem Klang der tiefen männlichen Stimme, einer Stimme, die ihr unbekannt war.

Eine dunkle Gestalt zeichnete sich im Nebel ab, hochgewachsen und bedrohlich.

„Im Augenblick“, fuhr die tiefe Stimme fort, „werden Sie sich höchstwahrscheinlich bis zu den Knöcheln im Schlamm wiederfinden!“

Völlig in Gedanken versunken hatte Annie am Ende des kleinen Bootsstegs gestanden. Sie war derartig mit ihren eigenen Überlegungen beschäftigt gewesen, dass sie von dem Näherkommen des Mannes nichts bemerkt hatte. Jetzt jedoch war sie sich bewusst, wie allein sie hier war, denn durch die dichten Nebelschwaden des Nachmittags war sie vom Haus aus, das so majestätisch oben auf der Klippe stand, nicht zu sehen. Dieser kleine Privatstrand wurde nur selten von den Mitgliedern der Diamond-Familie genutzt, und ganz sicher würde zu dieser Tageszeit niemand hier herunterkommen.

„Ich glaube auch nicht, dass die Diamonds besonders erfreut über einen weiteren Selbstmord auf ihrem Anwesen wären“, setzte der Fremde barsch hinzu.

Selbstmord? Das meinte er wohl doch nicht im Ernst, dass sie an so etwas dachte?

Annie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Mann aus dem Nebel auf sie zukam. Ihre Augen weiteten sich, denn der Unbekannte, für den sich die Nebelschleier zu teilen schienen, sah aus wie der Inbegriff eines jeglichen Romanhelden. Auf den ersten Blick wirkte es, als sei er der Held aus Jane Eyre, der lebendig gewordene Rochester: groß, dunkles, welliges Haar, die Züge stark und kraftvoll, die Augen schwarz wie Kohle!

Annie fröstelte, ob wegen dieses Unbekannten oder wegen der Feuchtigkeit, die allmählich durch ihre leichte Jacke und die Jeans drang, wusste sie nicht genau.

„Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“, erkundigte er sich mit erhobenen Brauen.

Aus der Nähe – viel zu nah für Annies Geschmack – bemerkte sie, dass seine Augen keineswegs schwarz waren, sondern von einem tiefen Blau, und sein Gesicht wirkte wie aus hartem Stein gemeißelt.

Den Kopf mit einem nachdenklichen Ausdruck zur Seite geneigt, schien er in seiner dunklen Jacke, dem blauen Freizeithemd und den verwaschenen Jeans gegen die feuchte Kühle immun zu sein.

„Betreten bei Strafe verboten“, zitierte er trocken das Schild, das den Zutritt zu diesem abgelegenen Strand untersagte.

Der einzige Weg von diesem Steg herunter führte an dem Mann vorbei, und da Annie recht zierlich gebaut war, nur etwa eins sechzig groß, rechnete sie sich wenig Chancen aus, ihm zu entkommen.

Sie bemühte sich um ein versöhnliches Lächeln. „Ich bin sicher, wenn Sie jetzt gehen, werden die Diamonds nie erfahren, dass Sie überhaupt hier waren“, meinte sie leichthin, wobei sie inständig hoffte, dass man ihrer Stimme die Panik nicht anmerkte, die sie empfand.

„Wenn ich gehe …?“ Er runzelte die Stirn. „Meine liebe junge Dame, ich habe nicht die Absicht zu gehen.“

Annie schluckte, die Hände in den Jackentaschen eng zusammengeballt. „Ich glaube wirklich, dass dies das Beste für Sie wäre.“ Sie zwang sich, einen beschwichtigenden Tonfall anzuschlagen. „Bevor Mr Diamond herunterkommt und Sie dabei ertappt, wie Sie unbefugt sein Grundstück betreten.“

„Mr Diamond?“, wiederholte der Fremde fragend.

„Anthony Diamond“, ergänzte Annie schnell.

„Er ist hier?“, stieß der Mann mit einem Blick in Richtung auf das Haus oben auf der Klippe hervor.

„Oh ja“, nickte sie eifrig. „Die ganze Familie ist anwesend.“

„Ach ja?“, sagte er schroff, den Mund verächtlich verzogen. „Nun, ich kann Ihnen versichern, dass Anthony unter keinen Umständen hier herunterkommen wird“, meinte er wegwerfend. „Er hasst das Meer und alles, was damit zu tun hat, besonders seit einem Bootsunfall vor einigen Jahren. Es sei denn natürlich, dass Sie beide miteinander vereinbart haben, sich hier zu treffen“, fügte er langsam hinzu.

Einen Moment lang ihre Angst vergessend, sah Annie ihn scharf an.

„Und? Haben Sie?“, fragte er sanft. „Das wäre nämlich der einzige Ort, an dem Davina ihn bestimmt nicht suchen würde. Sie kennt nämlich seine Abscheu vor bewegten Gewässern!“, spottete er.

Und dieser Mann, das merkte Annie bei der Erwähnung Davinas, Anthonys Verlobter, wusste verblüffend gut über die Diamonds Bescheid.

Der Unbekannte betrachtete sie nun, wobei er mit einem Blick ihre gesamte Erscheinung zu erfassen schien: das kurze, lockige rote Haar, das ihr knabenhaftes Gesicht umrahmte, dann die dunkelbraunen Augen, die kleine Stupsnase, den breiten, immer zu einem Lächeln bereiten Mund, das kleine spitze Kinn und die Figur, jungenhaft in Jacke, kurzem blauen Top und engsitzenden schwarzen Jeans.

„Sie sehen gar nicht aus wie Anthonys Typ“, meinte der Mann schließlich gedehnt. „Aber mit zunehmendem Alter sind für ihn junge Frauen vielleicht leichter zu beeindrucken!“

Nun, mit seinen sechsunddreißig Jahren fand Annie Anthony nicht gerade alt, und so jung war sie selbst wiederum auch nicht. Mit zweiundzwanzig hätte sie schon längst verheiratet sein und Kinder haben können.

Kühl sah sie den Fremden an. „Anthony Diamond hat, wie Sie ja bereits bemerkten, eine Verlobte.“

„Davina“, nickte er. „Und ich bin sicher, dass die Verlobung zu ihrer beiderseitigem Nutzen ist. Aber das hat Anthonys Erobererinstinkt keineswegs Einhalt geboten. Sie müssen neu im Dorf sein“, erklärte er spöttisch. „Nach dem, was ich zuletzt hörte, hatte Anthony schon alle verfügbaren weiblichen Wesen dort einmal durch. Es sei denn, Sie sind eine der Verheirateten?“

Offensichtlich kannte er sich in der Gegend nicht aus, sonst hätte er gewusst, dass sie das Kindermädchen des jüngsten Diamond-Sprösslings war.

„Ich bin weder verheiratet noch verfügbar“, entgegnete Annie scharf. „Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nicht ständig die Mitglieder der Diamond-Familie beleidigen würden!“

„Aber ich beleidige doch lediglich Anthony“, erwiderte er. „Und er macht es einem ja schließlich sehr leicht.“ Der Mann warf einen Blick auf seine schlichte goldene Armbanduhr. „Sieht nicht so aus, als würde er jetzt noch kommen. Ich habe Sie mindestens zehn Minuten beobachtet, bevor ich Sie ansprach.“

Für Annie war es ein unangenehmes Gefühl, ohne ihr Wissen beobachtet worden zu sein. Und dass sie aufgewühlt war und ihre Gedanken sie belasteten, hatte man ihr sicherlich unschwer am Gesicht ablesen können.

„Vielleicht sogar gut so. Um Ihretwillen“, schimpfte sie verärgert. „Immerhin haben Sie unbefugt den Besitz betreten.“

Ungerührt zuckte er die Achseln. „Sie ebenso. Und auch wenn Anthony nichts gegen Ihre Anwesenheit hier haben mag, was ist mit dem Rest der Familie? Zum Beispiel Rufus?“

„Rufus ist nicht da“, antwortete Annie ungeduldig.

Rufus Diamond, das Haupt der Familie und der Vater ihres kleinen Schützlings, war bereits seit drei Monaten fort. Als bekannter Nachrichtenjournalist war er in dem einen oder anderen kriegsgebeutelten Land unterwegs, schon ehe Annie vor zwei Monaten angefangen hatte, als Betreuerin seiner Tochter zu arbeiten. Seine Mutter Celia hatte sie eingestellt, da das vorherige Kindermädchen von einem Tag auf den anderen gegangen war.

„Ich dachte, Sie hätten gesagt, die ganze Familie sei anwesend?“, meinte der Mann.

„Das stimmt ja auch.“ Stirnrunzelnd blickte sie ihn an. „Aber Mr Diamond senior …“

„Sie meinen Rufus?“ Belustigt verdunkelten sich seine Augen, und sein Grinsen gab den Blick frei auf eine Reihe ebenmäßiger weißer Zähne. „Ich habe noch nie gehört, dass er so bezeichnet wurde. Das hört sich ja an, als sei er uralt!“

„Ich habe keine Ahnung, wie alt Mr Diamond … Mr Rufus Diamond ist, aber ich weiß, dass er älter ist als Anthony.“

„Drei Jahre“, bestätigte der Mann. „Und Sie können mir glauben, ich spüre jedes einzelne davon“, setzte er hinzu, während er Annies Reaktion auf seine Worte abwartete.

Und er wurde nicht enttäuscht.

Dies also war Rufus Diamond? Dieser Mann mit den zerzausten langen dunklen Haaren, den durchdringenden Augen, dem scharfgeschnittenen Gesicht und dieser hageren, kraftvollen Gestalt?

Was Annie nach den flüchtigen Bemerkungen über ihn von den übrigen Familienmitgliedern oder der glühenden Verehrung, mit der Jessica von ihrem Vater sprach, erwartet hatte, wusste sie selbst nicht so genau, doch keinesfalls diesen gutaussehenden Mann mit einer solch gebieterischen Ausstrahlung.

Vielleicht lag es daran, dass er das vollständige Gegenteil von seinem Bruder darstellte. Anthony war groß und blond, ausgesprochen attraktiv, seine Augen mittelblau, und er war immer tadellos gekleidet mit seinen maßgeschneiderten Designeranzügen. Die beiden Männer wirkten dermaßen verschieden, dass Annie sie niemals für Brüder gehalten hätte!

Einmal tief durchatmend, um ihre Fassung zurückzugewinnen, sagte sie: „Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Mr Diamond.“ Dabei streckte sie ihm die Hand entgegen.

Doch er machte keine Bewegung, sondern beobachtete sie aus schmalen Augen. „So, tun Sie das?“

Annie ließ die Hand sinken. „Ich bin Jessicas neues Kindermädchen, Mr Diamond …“

„Ach ja?“, unterbrach er sie grimmig, jeglicher Humor war aus den dunklen harten Augen verschwunden. „Und was ist mit Margaret passiert?“

„Nun, es scheint, dass sie gegangen ist, und daraufhin hat Mrs Diamond sich an die Agentur gewandt …“

„Warum?“ Sein Ärger schien sich von Sekunde zu Sekunde zu steigern.

„Wie ich bereits sagte, Margaret ging, und Jessica brauchte …“

„Ich meinte, warum ist Margaret gegangen?“, stieß er kalt hervor.

„Ich weiß es wirklich nicht.“ Annie schüttelte den Kopf. „Dazu müssten Sie Mrs Diamond befragen …“

„Worauf Sie sich verlassen können!“ Damit drehte er sich schroff auf dem Absatz herum und marschierte entschlossen auf die Klippen und das Haus zu. Bevor der Nebel ihn gänzlich verschluckte, wandte er sich noch einmal halb um. „Und Ihnen würde ich dringend anraten, zu Ihrem Schützling zurückzukehren, anstatt hier unten herumzutrödeln und auf meinen nichtsnutzigen Bruder zu warten!“ Er verschwand in den dichten Schwaden, und plötzlich war alles wieder still.

Die seltsame Begegnung hatte Annie doch mehr erschüttert, als sie wahrhaben wollte. Wie schnell sich sein Humor verloren hatte, sobald er erfahren hatte, wer sie war. Über das Verschwinden von Jessicas früherem Kindermädchen war er offenbar sehr verärgert. Von wegen Rochester!

Ob ich mich ihm gegenüber anders verhalten hätte, wenn ich gleich gewusst hätte, wer er ist? fragte sie sich. Vermutlich ja, wenn auch nur unwesentlich. Immerhin war er derjenige, der sich so kränkend über ihre angebliche Beziehung mit seinem Bruder geäußert hatte …

Annie hatte sich so gefreut über diesen Job an der Ostküste Englands. Voller Enthusiasmus war sie hergekommen, froh, aus London weggehen zu können, wo sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Die ländliche Gegend hier gefiel ihr ausnehmend gut. Sie liebte die offene Weite und die Freundlichkeit der Einheimischen – nie zuvor hatte sie sich mit einem Milchmann beim Vornamen genannt! In London hatte es gar keinen Milchmann gegeben. Dort hatte sie all ihre Lebensmittel in einem Supermarkt gleich in der Nähe der Wohnung gekauft, die sie sich mit drei anderen jungen Frauen geteilt hatte.

Der Umzug hierher hatte Annie eine völlig andere Lebensweise gestattet, als sie bislang gewohnt gewesen war. Ihre Kindheit und Jugend hatte sie im Heim verbracht, danach eine Ausbildung als Kindergärtnerin gemacht, und als es Zeit war, auf eigenen Füßen zu stehen, war sie mit drei Freundinnen aus dem Kinderheim zusammengezogen. Da sie in der Arbeit im Kindergarten nur wenig Befriedigung gefunden hatte, hatte sie sich schließlich bei einer Jobagentur gemeldet mit der Absicht, in einer familiären Umgebung zu arbeiten. Die Betreuung von Jessica Diamond war ihre erste Aufgabe als Kindermädchen, und Annie hatte die Kleine rasch in ihr Herz geschlossen.

Mit ihren acht Jahren war Jessica ein entzückendes Kind, groß für ihr Alter, mit langen dunklen Locken, kornblumenblauen Augen und von so lebhafter Intelligenz, dass Annie ganz hingerissen war. Da die meiste Zeit über nur Jessicas Großmutter anwesend war, während ihr Onkel Anthony regelmäßig an den Wochenenden zu Besuch kam, hatten Annie und das Mädchen, das sie jeden Tag nach der Schule so fröhlich begrüßte, sich bald miteinander angefreundet. Die Wochenenden verbrachten sie entweder am Strand oder mit Reiten, und an Regentagen wurde drinnen gespielt.

Doch nun war Jessicas Vater zurückgekehrt, der von dem neuen Kindermädchen seiner Tochter keineswegs angetan zu sein schien. Sobald er oben zum Haus kam, würde er außerdem herausfinden, dass Jessica am Wochenende vom Pferd gefallen war und sich dabei den Knöchel verstaucht hatte, was seine Meinung über Annie nur noch verschlechtern würde! Auch wenn diese kaum in der Lage gewesen wäre, den Sturz zu verhindern.

Annie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte Jessica vom ersten Moment an geliebt, und dieses Gefühl war im Laufe der Zeit nur noch stärker geworden, da das Mädchen offenbar ebenso nach Zuneigung hungerte wie sie selbst.

Jessicas Mutter war gestorben, als Jessica noch sehr klein war, und daher konnte sie sich kaum mehr an sie erinnern. Celia Diamond, Jessicas Großmutter väterlicherseits, war eine hochgewachsene, elegante Dame, blond und obwohl jenseits der sechzig noch immer schön, aber eine Frau, der es sichtlich schwerfiel, einem kleinen Mädchen ihre Zuneigung zu zeigen. Die Aufforderung zu einem Kuss vorm Schlafengehen in ihrem privaten kleinen Salon war das Äußerste an Aufmerksamkeit, die sie ihrer Enkelin schenkte.

Doch jetzt, da Jessicas Vater wieder da war, würden sich die Dinge möglicherweise ändern. Und eines dieser Dinge könnte die Entlassung des Kindermädchens sein!

Nur sehr zögerlich machte Annie sich auf den Rückweg zum Haus hinauf. Clifftop House war ein großartiger Bau, beinahe gotisch in seinen Ausmaßen, und Annie hatte beinahe eine Woche gebraucht, um sich in den vielen Räumen zurechtzufinden. Allerdings nach dem Eintreffen von Anthony und seiner Verlobten, noch vielmehr jedoch durch Rufus’ Ankunft schien das Haus nicht groß genug zu sein!

„Wirklich, Rufus, ich habe keinen Sinn darin gesehen, mich deshalb mit dir in Verbindung zu setzen“, protestierte Celia Diamond gerade ungeduldig, als Annie leise am Wohnzimmer vorbeiging. „Der Doktor hat gesagt, es ist nur eine einfache Verstauchung, nichts, worüber man sich aufregen müsste. Und Annie hat sich sehr gut um sie gekümmert …“

„Wer zum Teufel ist Annie?“, fragte er barsch.

„Das neue Kindermädchen, über das du so ärgerlich zu sein scheinst“, erwiderte Celia kalt. „Du warst nicht da, Rufus … Aber das bist da ja nie“, fuhr sie bissig fort. „Was hätte ich denn sonst tun sollen, nachdem Margaret uns so unerwartet im Stich gelassen hat?“

Sobald Annie ihren Namen gehört hatte, war sie wie angewurzelt stehen geblieben.

„Ich nehme an, es war wohl zu viel verlangt, dass du dich ausnahmsweise mal selbst um Jessica kümmerst“, gab Rufus schroff zurück. „Obwohl du mir immer noch eine zufriedenstellende Erklärung dafür schuldig geblieben bist, weshalb genau Margaret einfach so gegangen ist. Und wenn Annie sich tatsächlich so hervorragend um Jessica kümmert, warum liegt sie dann verletzt oben im Bett?“

Wie ungerecht! Annie schnappte nach Luft. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, ihren Schützling in jedem Augenblick zu überwachen, ohne das Kind völlig in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Außerdem ritt Jessica seit Jahren, und schließlich war er derjenige, der seiner Tochter das Pferd gekauft hatte!

„Ich denke, ich sollte Annie diese Frage vielleicht selbst stellen.“ Noch während Rufus sprach, wurde von ihm die Wohnzimmertür aufgerissen und Annie peinlicherweise beim Lauschen überrascht.

„Also?“, herrschte Rufus Diamond sie an. „Ich nehme an, Sie sind Annie?“

Sprachlos schaute sie ihn an.

„Ich muss schon sagen, Rufus“, mahnte Celia hochmütig. „Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass du Davids Sohn bist. Er war immer ein solcher Gentleman und sich seiner Stellung als Oberhaupt der Familie stets bewusst.“

Rufus warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Du meinst, du warst dir deiner Stellung als Frau des Oberhauptes dieser Familie stets bewusst!“, entgegnete er voller Abscheu. „Ich bin sicher, mein Vater starb nur deshalb mit fünfundsechzig so früh, damit er endlich von dir und deinem Aufsteigertum befreit war!“

„Rufus, also wirklich!“ Bestürzt griff Celia mit tief gekränkter Miene nach der doppelreihigen Perlenkette an ihrem Hals. „Deine lange Abwesenheit hat dich nicht gerade freundlicher gemacht. Und hast du vergessen, dass Bedienstete anwesend sind?“ Sie warf einen frostigen Blick in Annies Richtung.

Verblüfftes Schweigen trat ein.

„Ich glaube, Annie hat diese letzte Bemerkung nicht besonders gefallen, Celia“, meinte Rufus.

Annie wandte ihm den Blick zu und sah, dass in seinen dunkelblauen Augen ein belustigter Ausdruck lag. Offenbar schien er sich königlich zu amüsieren.

Stolz warf sie den Kopf zurück. „Mrs Diamond hat vollkommen recht“, erklärte sie. „Dies scheint mir eine außerordentlich private Familienunterhaltung zu sein. Aber ich bin gerne bereit, mit Ihnen zu einem geeigneteren Zeitpunkt über Jessicas Unfall zu sprechen, Mr Diamond.“ Herausfordernd begegnete sie seinem Blick.

„Für mich ist jetzt der geeignete Zeitpunkt“, meinte Rufus.

„Annie hat heute ihren freien Nachmittag“, sagte Celia schnell, ehe Annie Gelegenheit hatte zu antworten.

Rufus betrachtete sie mit verengten Augen. „Ach ja?“

Annie war klar, dass er nun zwei und zwei zusammenzählte. Sein spöttischer Blick sprach Bände.

„Ja schon, aber da ich nicht die Absicht habe wegzugehen, sondern nur oben nach Jessica schauen will, bin ich gerne zu einem Gespräch bereit, sobald Sie die Unterhaltung mit Ihrer Mutter beendet haben.“

Rufus lachte harsch auf, und Annie runzelte verwirrt die Stirn. „Habe ich etwas … Komisches gesagt?“, fragte sie stockend.

„Für mich ja, für Celia nicht“, erwiderte Rufus mit dem gleichen Grinsen wie unten am Strand. „Falls Sie schon zwei Monate hier sind, hätte Sie ja wirklich jemand über die Familienverhältnisse aufklären können …“

„Rufus!“ Auf Celias Wangen zeigten sich vor Ärger rote Flecke.

Er streifte sie lediglich mit einem flüchtigen Blick. „Noch etwas, von dem die Bediensteten nichts wissen sollen?“, höhnte er.

Celia bedachte ihn mit einem ihrer eisigen Blicke, der jedoch nicht die geringste Wirkung auf ihn zu zeitigen schien, bevor sie sich erneut Annie zuwandte. „Wenn Sie vielleicht jetzt nach Jessica schauen könnten?“, schlug sie vor, was allerdings eher einem Befehl gleichkam. „Sie und Rufus finden sicher später noch genügend Zeit.“

Damit war Annie entlassen. Allmählich wünschte sie sich, diesem Kerl nie begegnet zu sein!

Zweifellos konnte Celia Diamond ein recht herablassendes Verhalten an den Tag legen. Und seit Anthony mit seiner Verlobten zu Besuch gekommen war, waren die Dinge auch etwas kompliziert geworden, aber im Großen und Ganzen hatte Annie ihren Aufenthalt hier bisher sehr genossen. Doch sie hatte das Gefühl, dass sich durch die Ankunft von Rufus Diamond dies alles nur allzu bald ändern würde!

„Ist das nicht toll?“ Jessicas Augen leuchteten. „Daddy ist wieder zu Hause!“ Begeistert klatschte sie in die Hände.

Annie wünschte, sie könnte die Freude des Mädchens teilen, aber nachdem sie dem Mann erst vor wenigen Minuten entronnen war, hatte sie keine Eile, ihn wiederzusehen.

„Das ist eine schöne Überraschung für dich“, bestätigte Annie vorsichtig und begann, die Kissen hinter Jessicas Rücken aufzuschütteln. „Kommt dein Vater oft so unerwartet von seinen Reisen zurück?“

„Immer!“, nickte Jessica glücklich, sodass die dunklen Locken flogen. „Aber genauso plötzlich fährt er auch wieder weg“, meinte sie wehmütig.

Als Nachrichtenjournalist bleibt ihm vermutlich nichts anderes übrig, dachte Annie bei sich. Wenn sich etwas ereignet, dann muss er eben dahin, wann und wo immer dies auch sein mag. Für seine kleine Tochter ist das hart. Obwohl Jessica einen durchaus heiteren und ausgeglichenen Eindruck machte, das musste Annie zugeben.

„Wie fühlst du dich heute Nachmittag?“, lächelte sie.

Jessica grinste zurück – ein Grinsen, das dem ihres Vaters nicht unähnlich war, wie Annie mittlerweile wusste.

„Gut genug, um zum Essen runterzugehen!“, verkündete sie fröhlich.

Annie sank das Herz. Falls Jessica zum Familiendinner hinunterging, bedeutete das, dass sie ebenfalls daran teilzunehmen hatte. Und wenn die Spannungen zwischen Rufus und Celia darauf hindeuteten, welche Wirkung dieser Mann auf den Rest der Familie hatte, ließ dies wenig Erfreuliches befürchten.

„Bist du sicher?“, erkundigte Annie sich daher. „Du läufst ja immer noch an Krücken.“

Der Unfall war vor drei Tagen passiert, und der Arzt hatte Jessica mehrere Tage der Ruhe verordnet, bevor sie den Knöchel wieder belasten durfte.

Am ersten Tag hatte das Mädchen es genossen, bedient zu werden und Besuch auf ihrem Zimmer zu bekommen, aber bald schon langweilte es sich. Folglich hatte sie an diesem Morgen beschlossen, für eine Weile aufzustehen, war jedoch nach einigen Stunden recht froh gewesen, den Nachmittag wieder im Bett zu verbringen, um sich auszuruhen.

„Daddy wird mich runtertragen“, versicherte Jessica, der diese Vorstellung offenbar ausgesprochen gut gefiel.

„Je eher du wieder auf den Beinen bist, desto eher kannst du auch wieder zur Schule“, neckte Annie.

Jessica freute sich. „Darf ich morgen wieder hin?“

Annie lachte nachsichtig. Ursprünglich hatte das Mädchen sich nur zu gerne auf die verordnete Bettruhe eingelassen, da dies eine Woche schulfrei bedeutete. Jessica besuchte eine Privatschule, die etwa zwanzig Meilen entfernt lag. Es hatte allerdings nicht lange gedauert, bis sie anfing, ihre Schulfreundinnen zu vermissen.

„Ich denke, das wäre vielleicht noch ein bisschen zu früh.“ Bedauernd schüttelte Annie den Kopf. „Außerdem kannst du auf diese Weise doch mehr Zeit mit deinem Vater verbringen.“ Hoffentlich bedeutete das jedoch nicht, dass sie selbst ebenfalls mit ihm zusammen sein musste. „Jetzt gehe ich lieber, um mich zum Dinner umzuziehen, damit ich dir nachher helfen kann.“

„Kommt Daddy bald wieder rauf?“

„Bestimmt.“ Besänftigend drückte Annie die Hand des Mädchens. „Er hat gerade deiner Großmutter Hallo gesagt, als ich hochkam.“

Jessica schnitt eine Grimasse. „Oh.“

Die Spannungen zwischen ihrem Vater und Celia waren scheinbar kein Geheimnis.

„Versuch dich noch ein bisschen auszuruhen. Dann bist du beim Dinner nicht müde.“

2. KAPITEL

Langsam ging Annie den Flur zu ihrem Zimmer entlang.

„Annie!“

Abrupt drehte sie sich um, und die Farbe stieg ihr in die Wangen, als sie Anthony sah, der auf sie zueilte. Bei seinem bloßen Anblick tat ihr Herz den gewohnten Sprung, denn Anthonys perfekt gestylte Erscheinung war wie immer atemberaubend. Vom ersten Moment an war Annie von ihm hingerissen gewesen.

„Es tut mir so leid wegen vorhin“, stieß er atemlos hervor, als er sie erreicht hatte, das Haar windzerzaust, der Blick aus den hellen blauen Augen besorgt. „Davina hat sich urplötzlich in den Kopf gesetzt, sie müsste in die Stadt und ich müsste sie fahren, weil das Wetter so schlecht ist. Ich hoffe, du hast nicht allzu lange unten am Anleger auf mich gewartet“, meinte er entschuldigend und nahm ihre Hand.

Wieder einmal war Annie von ihm völlig in den Bann geschlagen, die Knie wurden ihr schwach, und ihre Hand zitterte bei der Berührung.

Wie hatte Rufus erraten können, dass sie am Bootssteg auf seinen Bruder wartete? Beziehungsweise, woher konnte er wissen, dass sie sich überhaupt mit seinem Bruder eingelassen hatte? Denn genauso war es, und erst zu spät hatte Annie gemerkt, dass Anthony mit einer anderen verlobt war.

„Nicht sehr lang“, antwortete sie leichthin, wenngleich sie fast eine Dreiviertelstunde gewartet hatte, als sie von Rufus angesprochen worden war.

„Es tut mir wirklich leid.“ Lächelnd drückte Anthony ihr die Hand. „Ich weiß, dass wir miteinander reden müssen.“

Annie spürte erneut dieses seltsam erregende Gefühl. Ob er mich wieder küssen wird, wie am Sonntag?

Seine Mutter und Davina waren an dem Vormittag zu Freunden gefahren, aber Anthony war zurückgeblieben, da er noch einen Fall für die folgende Woche vorzubereiten hatte. Und dass er zu Hause geblieben war, hatte sich im Nachhinein als Glücksfall herausgestellt, da er nach Jessicas Sturz vom Pferd eine große Hilfe war. Er hatte sie ins Krankenhaus gebracht, wo ihr Knöchel geröntgt wurde, das Mädchen danach in ihr Zimmer hinaufgetragen und war so lange mit Annie am Bett sitzen geblieben, bis Jessica eingeschlafen war.

Und dann hatte er sie geküsst …!

Annie war vollkommen überwältigt gewesen, weil die Anziehung, die sie ihm gegenüber empfand, erwidert wurde. Doch dann fühlte sie sich niedergeschmettert, peinlich berührt, denn schließlich war er mit Davina verlobt.

Anthony hatte erklärt, dass er Davina nicht mehr liebte, dass es für ihn jedoch so gut wie unmöglich sei, ihr dies zu sagen, da ihr Vater der Seniorpartner der Rechtsanwaltskanzlei war, in der Anthony arbeitete.

„Ach, das macht nichts“, sagte Annie jetzt, der wegen Davina noch immer unbehaglich zumute war. „Übrigens, dein Bruder ist da.“

Unvermittelt trat Anthony zurück und ließ ihre Hand fallen. „Rufus ist hier?“, fragte er ungläubig.

„Ja, momentan ist er unten bei deiner Mutter.“ Die Einzige, die sich über Rufus Diamonds Rückkehr zu freuen schien, war offenbar Jessica! „Es wundert mich, dass du ihm nicht begegnet bist.“

„Ich bin gleich nach oben gekommen, um dich zu suchen. Weißt du, wie lange er bleibt?“

„Er ist doch gerade erst angekommen!“

„Sein letztes Gastspiel als Vater hat, so viel ich mich erinnere, volle vierundzwanzig Stunden gedauert“, meinte Anthony verächtlich. „Hast du ihn gesehen oder mit ihm gesprochen?“ Forschend schaute er Annie an. „Ja, nicht wahr? Ich sehe es dir an. Er hat wohl wie üblich den großen Mann markiert, stimmt’s?“

Sie befeuchtete sich die Lippen. „Er schien nicht sonderlich erfreut über Margarets Weggang.“

Anthony zog die dunkelblonden Brauen empor. „Wieso das denn? Ich meine, ein Kindermädchen ist doch bloß ein Kindermädchen … Oh, du natürlich nicht, Darling“, entschuldigte er sich rasch, als er ihren konsternierten Ausdruck bemerkte. „Aber Jessica hat schon eine ganze Reihe von Kindermädchen gehabt. Ich wundere mich, dass Rufus überhaupt in der Lage ist, sie voneinander zu unterscheiden.“

„Margaret war blond; Annie ist ein Rotschopf“, meinte da eine gedehnte Stimme hinter ihnen. „Ich denke, selbst ich kann da den Unterschied erkennen“, erklärte Rufus sarkastisch, während er den Flur entlang mit langen Schritten näher kam.

Erneut war Annie verblüfft über den Mangel an Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Rufus war mindestens fünf Zentimeter größer als sein Bruder, von kraftvollerem Körperbau, und auch in der Art der Freizeitkleidung, die sie trugen, waren sie völlig verschieden. Rufus trug Jeans, Anthony hingegen maßgeschneiderte, legere Hosen. Und obwohl beide Männer sehr attraktiv waren, so doch auf höchst unterschiedliche Weise: Anthony sah jungenhaft hübsch aus, Rufus seinerseits besaß ausgeprägt männliche Gesichtszüge.

Wenn er die Äußerung über Jessicas Kindermädchen mitbekommen hatte, ob er dann auch gehört hatte, dass Anthony sie Darling genannt hatte?

Prüfend betrachtete Rufus Annie und seinen Bruder. „Davina scheint sich zu wundern, wo du abgeblieben bist.“ Sein Tonfall war anzüglich. „Ich hab ihr gesagt, sie soll nach dem ersten hübschen Gesicht Ausschau halten, da würde sie dich mit Sicherheit finden! Und ich hatte recht“, fügte er mit einem nachdenklichen Blick auf Annie sanft hinzu.

„Ich habe Anthony lediglich gefragt, ob er wüsste, wann Sie wieder zu Jessica hinaufkämen“, gab sie scharf zurück. „Sie schien nämlich davon auszugehen.“

„Das stimmte auch. Und hier bin ich.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt sie seinem amüsierten Blick stand. „Jessica wird sicher begeistert sein.“

Zu Annies Überraschung warf Rufus den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. „Ich habe mich schon gefragt, ob diese ungewöhnliche Farbe echt ist oder aus der Flasche stammt.“ Er fuhr ihr leicht mit den Fingern durch die tiefroten kurzen Locken. „Jetzt weiß ich, dass es rot ist! An deiner Stelle wäre ich bei der hier auf der Hut, Anthony. Sie könnte plötzlich zubeißen.“ Damit ließ er sie stehen und ging zum Zimmer seiner Tochter, deren entzücktes Quieken gleich darauf zu hören war.

„Was sollte diese letzte Bemerkung bedeuten?“, fragte Anthony ungehalten. „Worüber genau habt ihr beide euch vorhin unterhalten?“

Verärgert strich Annie ihr Haar glatt. Ehrlich, Rufus Diamond behandelt mich, als sei ich kein bisschen älter als Jessica!

„Annie!“, fuhr Anthony sie ungeduldig an. „Ich hab dich was gefragt.“

Da sie wenig Lust verspürte, über die peinliche Begegnung am Strand zu sprechen, antwortete sie unbestimmt: „Über nichts Besonderes. Allerdings hat er mich vor dem Strand gewarnt. Er hat gesagt, dort wäre einmal jemand ums Leben gekommen.“

Anthony schürzte die Lippen. „So, hat er das?“, meinte er langsam. „Hat er auch gesagt, wer es war?“

„Nein.“ Annie zuckte die Achseln. „Wir haben nicht lange miteinander geredet.“

„Hm. Es ist interessant, dass er dir überhaupt davon erzählt hat.“

Allmählich wurde sie neugierig. „Ja?“

„Aber das ist unwichtig“, tat er das Ganze kurzerhand ab. „Aber du bist dir darüber im Klaren, dass wir mit Rufus im Haus noch vorsichtiger sein müssen, wenn wir uns treffen wollen, nicht wahr?“

Sie holte tief Luft. „Vielleicht sollten wir uns gar nicht …“

„Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest!“ Anthony drückte sie an sich und lächelte sie dann an. „Es wird ja nicht für lange sein. Wahrscheinlich wird Rufus kaum länger als ein oder zwei Tage hierbleiben. Danach können wir uns wieder treffen, ohne uns seinetwegen Sorgen machen zu müssen.“

Das war ganz und gar nicht das, was Annie hatte sagen wollen. So sehr es sie auch schmerzte, die einzige Lösung, die sie in Bezug auf ihre Beziehung mit Anthony sah – wenn es denn eine war –, hieß, diese zu beenden. Zumindest so lange, bis er sich entschieden hatte, was mit seiner Verlobung geschehen sollte. Doch Anthony schien Annie gründlich missverstanden zu haben.

„Du bist wirklich wunderbar, Annie“, sagte er rau und mit leuchtenden blauen Augen. „Ich werde schon alles in Ordnung bringen, du wirst sehen. In der Zwischenzeit werde ich zusehen, dass ich Rufus nach Möglichkeit aus dem Weg gehe. Und dir rate ich das auch.“

Leichter gesagt als getan!

Wie Jessica gehofft hatte, trug ihr Daddy sie zum Essen hinunter. Und da Annie dem Mädchen half, sich ihr schönstes Kleid anzuziehen, aus rotem Samt und an den Ärmeln und am Kragen mit feinen weißen Spitzen besetzt, begegnete sie Rufus nur etwa eine Stunde später in Jessicas Zimmer erneut.

In der Familie der Diamonds zog man sich zum Dinner um, und so überraschte Rufus’ schwarzer Abendanzug mit weißem Hemd und Fliege keineswegs.

„Brüllt unsere kleine Maus immer noch?“, neckte er. „Oder ist es Anthony gelungen, Sie zu zähmen?“

Erstaunt sah Jessica ihn an. „Aber wir haben doch keine Mäuse, Daddy.“

„Der jüngere Mr Diamond redet jedenfalls nicht von oben herab mit mir“, erwiderte sie abweisend.

Der Humor wich aus Rufus’ Miene. „Ich habe auch nicht von oben herab mit Ihnen geredet“, erklärte er bestimmt. „Jessica hat vorhin nichts anderes getan, als Sie in den höchsten Tönen gepriesen.“ Liebevoll strich er seiner Tochter übers Haar und wurde mit einem erfreuten Kichern belohnt. Dann wandte er sich wieder Annie zu. „Kinder lassen sich nicht leicht täuschen.“

Das ist wahr, dachte sie. Im Kinderheim hatte Annie problemlos diejenigen mit einem echten Interesse an ihr von denen unterscheiden können, deren Freundlichkeit nur äußerlich war.

„Daddy …“ Jessica zog verwirrt das Näschen kraus. „Was heißt in den höchsten Tönen gepriesen?“

„Das, junge Dame, bedeutet …“ Mit Leichtigkeit hob Rufus seine Tochter hoch und grinste auf sie hinunter. „… dass du Annie toll findest!“

„Das ist sie ja auch“, bestätigte Jessica ohne auch nur den Schatten eines Zweifels.

„Ganz sicher ist sie das, Püppchen.“ Er kitzelte sie, während er sie feierlich die breite Treppe hinuntertrug.

Annie, die den beiden folgte, freute sich über das gute Einvernehmen zwischen Vater und Tochter, trotz der langen Abwesenheit von Rufus.

„Weißt du was?“, flüsterte dieser Jessica verschwörerisch ins Ohr. „Als ich Annie heute Nachmittag kennengelernt habe, dachte ich, sie ist kaum älter als du.“ Diese scherzhafte Bemerkung wurde begleitet von einem raschen Blick zurück auf die hochrot gewordene Annie. „Sie sieht aber viel … älter aus in diesem schwarzen Kleid“, setzte er hinzu.

„Ich habe ihr dabei geholfen, es auszusuchen“, berichtete Jessica stolz.

Dies entsprach der Wahrheit. Da Annie bisher kaum formelle Kleidung gebraucht hatte, war sie am ersten Samstag nach Antritt ihrer neuen Stellung mit Jessica zusammen in die Stadt gefahren und hatte drei neue Kleider erstanden, sodass sie nun für jede Gelegenheit gewappnet war.

Sie hatte ein schwarzes, ein königsblaues sowie ein weißes Kleid gekauft, und heute Abend hatte sie sich für das schwarze entschieden, das zwar ihre Figur nicht zu sehr betonte, sie allerdings auch nicht verbarg. Kürzer als Knielänge, zeigte es auch Annies wohlgeformte Beine. Zu einigen anderen Dinners hatte sie dazu einen langen Blumenschal um den Hals geschlungen gehabt oder es mit einer pastellblauen, kurzen Jacke getragen. An diesem Abend jedoch hatte sie als einziges Accessoire eine Silberbrosche über der linken Brust befestigt.

„Außerdem ist Annie viel älter als ich“, fuhr Jessica entrüstet fort. „Sie ist nämlich zweiundzwanzig. Das hat sie mir selbst gesagt.“

„Oh, das ist natürlich viel älter!“, stimmte Rufus zu, und nur ein leichtes Zucken um seine Mundwinkel verriet seine Belustigung, einmal mehr auf Annies Kosten!

„Also wirklich, Daddy.“ Jessicas Tonfall hörte sich fast so an wie der ihrer Großmutter. „Manchmal bist du ja so dumm.“ Und ähnlich wie Celia schüttelte das Mädchen den Kopf.

Annie bezweifelte, dass das Wort dumm auf Rufus zutraf. Jedenfalls hatte sie bisher keineswegs diesen Eindruck.

Das Dinner in den nächsten beiden Stunden war das merkwürdigste Essen, das Annie je erlebt hatte. Wie immer hatte Mrs Wilson, die Köchin, ein ausgezeichnetes Menü zusammengestellt – selbstgemachte Pastete, gefolgt von Ente in einer köstlichen Orangensauce und zum Abschluss frisches Obst in Portwein. Aber die Diamond-Familie schenkte dem Mahl kaum Beachtung.

Die Spannung am Tisch war kaum zu ertragen, und außer Jessica, glücklich an der Seite ihres Vaters, schienen alle sie zu spüren, dessen war Annie sich sicher. Da das Mädchen zwischen ihr und ihrem Vater saß, musste Rufus sich vorbeugen, um Annie anzusprechen.

„Na, gefällt es Ihnen?“, erkundigte er sich, wobei unterdrückter Humor in seinem Ton mitschwang.

Annie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich möglichst bald mit Jessica zurückziehen zu können.

Celia war die Hochmut in Person, während Davina, eine große, elegante Blondine, bei jeder sich bietenden Gelegenheit geradezu schamlos mit Rufus flirtete. Und Anthony, der in seine eigenen Gedankengänge versunken schien, widmete keinem der Anwesenden auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Darüber empfand Annie große Erleichterung, denn Rufus noch mehr Munition im Hinblick auf Anthony und sie zu liefern, war das Letzte, was sie wollte.

„Ja, sehr. Vielen Dank“, antwortete sie knapp.

Ihre Höflichkeit veranlasste ihn zu einem Grinsen. „Lügnerin!“, gab er leise zurück.

Ungerührt begegnete sie seinem Blick. „Ich habe selbstverständlich das Essen gemeint.“

Wieder einmal war sie verblüfft, als er zu einem herzhaften Auflachen den Kopf zurückwarf. Die feinen Linien um seine Mund- und Augenwinkel, die sie vorhin bemerkt hatte, waren also ganz offensichtlich Lachfältchen – ein Beweis dafür, dass er oft und gerne lachte. Und vermutlich nicht nur über andere, dachte Annie. Irgendwie spürte sie, dass er auch die Fähigkeit besaß, über sich selbst zu lachen. Dieser Mann war ihr ein Rätsel. Wie ein Chamäleon konnte er sich von einer Sekunde zur andern verändern, einmal unfreundlich und distanziert, und dann wieder voller Humor.

„Hätten Sie vielleicht die Güte, uns an dem Scherz teilhaben zu lassen, Annie?“, meinte Celia Diamond. „Ich bin sicher, wir könnten alle etwas Heiterkeit gebrauchen“, ergänzte sie trocken.

Annie warf Rufus einen hilfesuchenden Blick zu.

„Es war bloß eine kleine Anekdote über Jessica, die Annie mir erzählt hat“, sprang dieser ihr dankenswerterweise bei. „Und wo wir schon dabei sind“, meinte er mit einem liebevollen Zwinkern zu seiner Tochter hin, „ich glaube, es ist Zeit für Jessica, schlafen zu gehen. Keine Diskussion, junge Dame“, kam er ihrem Protest zuvor. „Wenn du mich morgen beim Schach schlagen willst, musst du gut ausgeschlafen sein.“

Annie hatte keine Ahnung gehabt, dass die Kleine Schach spielen konnte. Sie schien ihr noch ziemlich jung dafür zu sein. Dennoch war Annie sofort aufgestanden, um Rufus’ Aufforderung zu entsprechen. Was sie betraf, konnte der Abend gar nicht früh genug zu Ende sein! Allerdings hatte sie sich anscheinend zu früh gefreut.

„Trinkt den Kaffee ruhig schon ohne mich“, erklärte Rufus jetzt nämlich an die anderen gewandt und hob Jessica zu sich empor. „Sobald wir Jessica zu Bett gebracht haben, möchte ich mich eine Weile mit Annie unterhalten.“

Worüber will er sich mit mir unterhalten? dachte Annie unbehaglich. Über meine Arbeit als Jessicas Betreuerin oder vielleicht doch über etwas anderes …?

„Das hier sind ausgezeichnete Zeugnisse.“ Rufus legte die beiden Papierbögen, die er gerade gelesen hatte, vor sich auf den Schreibtisch, die Brauen nachdenklich zusammengezogen. „Im Kindergarten hat man es sicher sehr bedauert, Sie zu verlieren.“

Sie saßen in seinem Arbeitszimmer, einem großen Raum, ausgestattet mit schweren Mahagoni-Möbeln, der an die Bibliothek angrenzte. Annie hatte nicht einmal gewusst, dass er existierte, was sie jedoch nicht sonderlich überraschte. Clifftop House war ein ungeheurer Bau und besaß vom Haupthaus abgehend zwei völlig voneinander unabhängige Flügel. In dem einen waren die Bediensteten untergebracht, der andere schien ungenutzt zu sein, und es gab Dutzende von Räumen, die Annie noch nie betreten hatte.

Nachdem Rufus seiner Tochter einen Gutenachtkuss gegeben hatte, hatte er es Annie überlassen, das Mädchen zu Bett zu bringen, und ihr mitgeteilt, dass er sie unten in seinem Arbeitszimmer erwarten würde, sobald ihre Arbeit beendet war. Annie hatte sich bei Jessica nach dem Weg dorthin erkundigen müssen.

Und nun, da sie Rufus gegenübersaß, war es, als seien die scherzhaften Momente von vorhin wie weggewischt.

„Ganz ausgezeichnete Zeugnisse“, wiederholte Rufus langsam, der sich inzwischen seiner Anzugjacke und der Fliege entledigt hatte. „Aber sie sagen nur sehr wenig über Sie als Person aus. Wer sind Sie? Wo ist Ihre Familie? Neigen Sie auch dazu, Hals über Kopf zu verschwinden? Ich denke, ich habe das Recht, diese Fragen zu stellen. Schließlich ist meine Tochter täglich Ihrer Fürsorge anvertraut.“

„Ich heiße Annie Fletcher … Und ich bin die typische Waisenhaus-Annie“, setzte sie selbstironisch hinzu. „Ich habe keine Familie, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Und ich würde nie von hier oder von Jessica weggehen, ohne Ihnen einen triftigen Grund anzugeben und Ihnen genügend Zeit zu lassen, um einen Ersatz zu finden.“

Er verzog den Mund. „Soviel ich weiß, hat Margaret mir das Gleiche gesagt.“

Achselzuckend erwiderte sie: „Das müssen Sie schon mit ihr ausmachen. Ich habe sie nie kennengelernt.“ Jessica war fast eine Woche lang ohne Kindermädchen ausgekommen, als Annie vor zwei Monaten hier ankam. „Ich kann nur sagen, ich werde das nicht tun.“

„Geben Sie sich damit zufrieden, oder lassen Sie’s bleiben, hm?“

„So habe ich das nicht gemeint“, verteidigte sich Annie mit glühenden Wangen. „Sie sind mein Arbeitgeber, und natürlich haben Sie das Recht, gewisse Sicherheiten zu verlangen. Aber ich bezweifle ernsthaft, ob ich Jessica jemals aus freien Stücken verlassen würde.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde weich, während sie von dem Kind sprach.

Fragend musterte Rufus sie. „Sie mögen meine Tochter?“

„Sehr.“

„Und wie sehr mögen Sie meinen Bruder?“

Allzu überraschend traf sie diese Frage nicht. Annie hatte nach dem Vorfall auf dem Korridor am frühen Abend etwas in der Art erwartet.

„Ich mag die ganze Familie“, wich sie aus.

Rufus’ Lippen wurden schmal. „Celia auch?“

Zwar war Celia arrogant, doch im Großen und Ganzen hatte sie Annie immer recht fair behandelt.

„Sogar Celia“, bestätigte sie daher.

„Mir scheint, die Lady übertreibt ein wenig …“

„Nein, gar nicht“, widersprach Annie. „Mrs Diamond ist sehr freundlich zu mir gewesen, auf ihre eigene Art.“

Rufus lächelte freudlos. „Ich kenne Celia seit meinem zweiten Lebensjahr, und ich habe noch nie gesehen, dass sie zu irgendjemand freundlich gewesen wäre. Jedenfalls nicht ohne guten Grund!“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Und die Kindermädchen meiner Tochter fallen nicht in diese Kategorie.“

Annie war verwirrt. Was wollte er damit sagen, dass er Celia seit seinem zweiten Lebensjahr kannte?

Rufus beobachtete sie genau, ihm schien nichts zu entgehen.

„Sie wissen wirklich nicht viel über diese Familie, nicht wahr?“, sagte er langsam. „Nun, vielleicht sollte ich zu meiner ursprünglichen Frage zurückkehren. Wie gut kennen Sie Anthony?“

Offenbar längst nicht gut genug. Bis zum letzten Wochenende hatte Annie noch nicht einmal gewusst, dass er verlobt war. Sonst war er an den Wochenenden jedes Mal allein gekommen, wodurch sie mehr und mehr seinem Charme und seinem guten Aussehen erlegen war. Als er am Samstag mit Davina gekommen war, um eine Woche zu bleiben, war dies für Annie ein Schock gewesen, und eine große Enttäuschung. Dann, am Sonntag, hatte er sie geküsst … Und nun war sie wegen dieser ganzen Sache einfach nur durcheinander.

„Gar nicht“, gab sie deshalb zur Antwort. Musste man jemanden gut kennen, um sich von ihm angezogen zu fühlen?

Unter Rufus’ scharfsinnigem Blick fühlte sie sich zunehmend unwohl.

„In diesem Fall“, sagte er schließlich schroff, „würde ich Ihnen dringend anraten, sich von ihm fernzuhalten!“

Schon wieder redet er mit mir wie mit einer Zwölfjährigen, dachte Annie unwillig. „Ein väterlicher Ratschlag, Mr Diamond?“, entgegnete sie spitz.

Er presste die Lippen zusammen. „Ich habe vorhin mit Jessica lediglich einen Scherz bezüglich Ihres Alters gemacht.“ Ohne weiteres hatte er durchschaut, was der Anlass für Annies Ärger gewesen war. „Und ich nehme auch zurück, was ich unten am Bootssteg gesagt habe … Ich meine, dass Sie jung und leicht zu beeindrucken seien“, fuhr er fort. „Sie mögen jung sein, aber Sie lassen sich nicht zum Narren halten.“

Nun, da war Annie nicht so sicher. War es nicht ausgesprochen töricht gewesen, Anthony einen Kuss zu gestatten, obwohl sie zu dem Zeitpunkt bereits von seiner Verlobten erfahren hatte?

„Danke“, meinte sie, war aber außerstande, Rufus direkt in die Augen zu sehen.

„Und ob mein Rat nun väterlich war oder nicht“, fuhr er rasch fort, „täten Sie dennoch gut daran, ihn zu beherzigen.“

Sie reagierte gereizt. Rufus war erst vor wenigen Stunden eingetroffen und schien doch in all der Zeit nichts anderes getan zu haben, als ständig irgendwelche Befehle zu erteilen und Leute aufzuregen, und zwar meistens Annie! Wenngleich es sein gutes Recht war, ihr zu sagen, was er in Bezug auf Jessica von ihr verlangte, verwahrte sie sich jedoch energisch gegen seine Einmischung in ihr Privatleben.

Dennoch versuchte sie, ihre Worte behutsam zu wählen. „Sie sind sehr freundlich, Mr Diamond …“

„Ich bin genauso wenig freundlich wie Celia“, fiel er ihr ins Wort. „Und Anthony auch nicht. Wir sind in der Tat keine besonders freundliche Familie.“

„Wenn das so ist, wundert es mich, dass Sie Jessica …“ Annie brach ab, da sie den unvermittelt aufflammenden Ärger in seinen Augen sah.

Er erhob sich, und sie blickte besorgt zu ihm auf.

„Überhaupt nicht jung und beeindruckbar“, stellte er fest. „Und hören Sie um Himmels willen auf, mich mit diesem furchtsamen Kaninchenausdruck anzuschauen.“ Er hockte sich vor sie auf den Rand des Schreibtischs. „Ich bin zwar nicht freundlich, Annie, aber ebenso wenig habe ich in meinem Leben je die Hand gegen eine Frau erhoben. Ich lasse Jessica hier wohnen, weil sie nirgendwo anders hingehen kann. Ihre Mutter ist tot, und ich kann sie ja wohl schlecht auf meine Reisen mitnehmen!“

Annie wusste, dass es Jessica im Grunde genommen gut ging, viel besser als es ihr selbst ergangen war. Annies Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben, und ihren Vater hatte sie nie gekannt. Jessica dagegen schien ihren Vater anzubeten, obwohl er oft so lange fort war.

„Es tut mir leid. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kritisieren …“

„Doch, die hatten Sie“, gab Rufus ohne Groll zurück. „Und ich hab’s wahrscheinlich auch verdient.“ Er streckte die Hand aus und hob ihr Kinn, sodass sie ihm wohl oder übel in die Augen sehen musste. Sein Ärger schien verflogen, und er lächelte. „Sie sind schon die Richtige, Annie Fletcher“, meinte er ein wenig rau. „Sie lieben meine Tochter. Mehr Referenzen sind nicht nötig.“

Reglos und kaum atmend, war sie sich der Nähe zwischen ihnen mehr als bewusst, seine tiefblauen Augen so klar, während ihr Blick wie gebannt in dem seinen ruhte, seine Finger warm auf ihrer weichen Haut.

Annie fuhr sich schnell mit der Zunge über die Lippen, und die Farbe stieg ihr in die Wangen, als sie merkte, dass Rufus die winzige Bewegung verfolgte. Rasch entzog sie sich ihm und holte dabei tief Luft. Was um alles in der Welt geschieht hier mit mir? fragte sie sich. Wie konnte sie sich trotz ihrer Gefühle für Anthony ebenfalls zu dessen Bruder hingezogen fühlen? Annie kannte sich selbst nicht mehr. Eines jedoch wusste sie ganz sicher: Die Diamond-Männer besaßen eine Anziehungskraft, ohne die sie zweifellos besser dran wäre!

3. KAPITEL

„Kann ich jetzt gehen?“, erkundigte Annie sich abrupt, die wünschte, Rufus würde sich endlich von ihr entfernen.

Zum Glück tat er dies auch, indem er hinter den Schreibtisch zurückkehrte. Anstatt sich zu setzen, betrachtete er sie jedoch nur unter seinen halbgeschlossenen Lidern hervor.

„Nein“, antwortete er nachdrücklich. „Wir haben noch nicht über Jessicas Unfall gesprochen.“

„Meine Reitkünste gehörten nicht zu den Themen, die während meines Vorstellungsgesprächs zur Sprache kamen“, erklärte sie in verteidigendem Ton. „Aber Jessica reitet schrecklich gerne, und da sie unmöglich alleine ausreiten kann …“

„Mussten Sie sie notgedrungen begleiten“, mutmaßte Rufus, seine Miene plötzlich wieder erheitert. „Sie haben wohl noch nicht allzu oft auf einem Pferderücken gesessen, Annie, habe ich recht?“

Schon wieder macht er sich über mich lustig, dachte sie.

„In dem Kinderheim in der Innenstadt von London, in dem ich aufgewachsen bin, bestand dazu kaum die Gelegenheit!“, entgegnete sie scharf.

„Sie haben es also wörtlich gemeint, als Sie sich als die typische Waisenhaus-Annie bezeichneten?“, sagte Rufus.

„Ja.“

Rufus ließ sich Zeit, während er auf seinem Schreibtischsessel Platz nahm, und sein Ausdruck wurde ein wenig sanfter. „In dem Fall würde ich die Diamond-Familie nicht als das typische Beispiel dieser Gattung ansehen“, bemerkte er trocken. „Bis vor sechs Jahren, als mein Vater starb, besaß sie zumindest noch den Anschein von Normalität. Seitdem ist sie in den Zustand der Anarchie verfallen.“ Sein Tonfall war nüchtern. „Eine Gruppe von Leuten, die dasselbe Haus miteinander teilen, aber kaum imstande sind, sich gegenseitig zu ertragen!“

„Das kann doch nicht sein“, rief Annie bestürzt aus. Aber hatte sie es heute Abend nicht mit eigenen Augen gesehen, diese nur mühsam aufrechterhaltene Höflichkeitsfassade während des Dinners?

„Oh, doch“, bestätigte Rufus bedauernd. „Und da Sie bisher niemand in die Familiengeschichte eingeweiht zu haben scheint, sollte ich das vielleicht tun.“ Er klang müde.

„Ist es in Bezug auf Jessica von Bedeutung, dass ich es weiß?“, erkundigte sie sich, denn besonders scharf darauf war sie nicht.

Seine Lippen wurden schmal. „Vor dem Wochenende hätte ich vermutlich Nein gesagt. Jetzt bin ich da nicht mehr so sicher …“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht, doch dann schüttelte er diese finstere Stimmung ab und lächelte Annie zu. „Schauen Sie nicht so beunruhigt drein“, schalt er. „Nach meiner Kenntnis gibt es in unserer Familie weder eine Geschichte von Axtmördern noch von Serienkillern. Jedenfalls keine, über die Celia es einem zu sprechen gestatten würde! Der äußere Schein bedeutet meiner lieben Stiefmama alles. Auch wenn sie es damit nicht immer so genau genommen hat“, ergänzte er schroff.

Celia war also seine Stiefmutter …

Auf einmal schien vieles zusammenzupassen. Anthony und Rufus waren Halbbrüder; das erklärte, warum sie so verschieden waren. Und es erklärte auch den Mangel an Zuneigung zwischen Rufus und Celia. Allerdings musste er doch noch sehr klein gewesen sein, als Celia seinen Vater geheiratet hatte …

Rufus beobachtete Annie amüsiert. „Ihre Berechnungen sind völlig korrekt. Ich war kaum zwei, als meine eigene Mutter starb. Und Celia, die damalige Sekretärin meines Vaters, trat an ihre Stelle, um ihn über den Verlust hinwegzutrösten. Sie hat ihren Job so gut erledigt, dass Anthony genau sechs Monate nach der überstürzten Hochzeit der beiden geboren wurde!“ Auf Annies Stirnrunzeln hin fuhr er fort: „Ich verurteile nicht ihre Moral, Annie, sondern lediglich die fehlende Trauer um meine eigene Mutter.“

„Aber das bedeutet nicht, dass Ihr Vater nicht getrauert hat“, sagte sie leise. „Manchmal, wenn man jemanden sehr geliebt hat, ist es bei dessen Tod so, als wäre ein Teil von einem selbst gestorben. Und jemand anderen zu lieben ist die einzige Möglichkeit, dass man sich wieder ganz fühlen kann.“

Aufmerksam und mit einem leichten Kopfschütteln sah Rufus sie an. „Für jemand, der so jung ist, Annie, sind Sie sehr klug. Und das meine ich überhaupt nicht herablassend“, fügte er schnell hinzu. „Mein Vater sagte etwas sehr Ähnliches, als ich alt genug war, um ihn danach zu fragen. Nur leider war es ein großer Fehler von ihm, Celia als seine zweite Liebe zu erwählen“, meinte er voller Bitterkeit.

Also war Rufus mit einer Stiefmutter aufgewachsen, die er nicht mochte, und einem Bruder, den er zutiefst verachtete.

Jahrelang hatte Annie sich gewünscht, dass ihre Mutter nicht gestorben wäre, als sie noch ein Baby war, und sich nach einer eigenen Familie gesehnt. Aber wenn man dagegen von den Diamonds hörte …

„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten uns nicht als typische Familie betrachten“, erinnerte Rufus sie, der einmal mehr ihre Gedanken gelesen zu haben schien. „Und? Wollen Sie immer noch mit Jessica arbeiten?“

„Selbstverständlich“, kam ihre Antwort ohne jegliches Zögern. „Und der Unfall tut mir aufrichtig leid. In der einen Sekunde saß sie noch im Sattel, und gleich darauf lagen alle beide auf der Erde, und Jessica hat geweint.“

„Alle beide?“, wiederholte Rufus verwundert.

„Jessica und der Sattel“, nickte Annie. „Hat sie Ihnen nicht erzählt, dass er auch mit heruntergefallen ist?“

„Nein“, stieß er barsch hervor. „Wer hat das Pferd für sie gesattelt?“

„James, nehme ich an …“, erwiderte sie langsam.

Rufus’ düstere Miene verhieß nichts Gutes für den Mann, der für die Pferdeställe hinter dem großen Haus verantwortlich war.

Jessica mochte den schweigsamen alten Mann sehr, und es gelang ihr immer, ein Lächeln auf sein wettergegerbtes Gesicht zu zaubern. Vermutlich war dies der Grund, weshalb sie ihrem Vater verschwiegen hatte, dass bei ihrem Sturz auch der Sattel von ihrem Pferd gerutscht war. Oje!

„Der Gurt muss irgendwie aufgegangen sein. Bestimmt konnte James nichts dafür“, versuchte Annie, ihren Fauxpas wiedergutzumachen.

Rufus tat einen tiefen, beherrschten Atemzug. Seine Kieferpartie war hart. „Wahrscheinlich nicht“, murmelte er gepresst.

An seiner Miene jedoch konnte Annie ablesen, dass er dieser Sache auf jeden Fall noch nachgehen würde. Auf der Suche nach etwas, das ihn ablenken würde, fiel ihr Blick auf das Schachspiel, das in der Ecke des holzgetäfelten Raumes auf einem Tischchen stand.

„Ich hatte keine Ahnung, dass Jessica Schach spielen kann“, meinte sie. „Sie scheint mir noch sehr jung zu sein, um ein solch kompliziertes Spiel zu meistern.“

„Sie hat mich gebeten, es ihr beizubringen, als sie fünf war.“ Diese Leistung seiner Tochter erfüllte ihn mit sichtlichem Stolz. „Und sie ist sogar ziemlich gut. Mich zu schlagen hat sie allerdings bisher noch nicht geschafft.“

Annie vermutete, dass nur wenige Menschen in der Lage waren, diesen Mann bei irgendetwas zu übertreffen.

„Noch nicht“, wiederholte sie schalkhaft. „Ich weiß genau, wie entschlossen Jessica ein Ziel verfolgen kann.“

Er schmunzelte. „Glauben Sie, das ist eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hat?“

Unschuldig erwiderte sie seinen Blick. „Das könnte ich nicht beurteilen.“ In ihren Augen funkelte es belustigt, und sie unterdrückte ein Lächeln.

Sein Schmunzeln wurde zu einem Lachen. „Jede Wette dagegen! Sie …“ Abrupt schaute er auf, als ohne jede Vorwarnung die Tür hinter Annies Rücken geöffnet wurde. „Was zum Teufel willst du denn hier?“, fuhr Rufus über deren Schulter hinweg den Eindringling an. „Klopft man nicht normalerweise an, bevor man einen Raum betritt?“

Anthony machte einen völlig ungerührten Eindruck, wie Annie, die sich halb herumgedreht hatte, unschwer erkennen konnte. Vorwurfsvoll sah er sie an, und sie fühlte sich sogleich schuldbewusst, denn er hatte sicherlich gehört, dass Rufus und sie zusammen gelacht hatten. Dann jedoch tadelte sie sich selbst, denn schließlich gab es von ihrer Seite aus nicht den geringsten Grund für ein schlechtes Gewissen.

„Ich bin gerade an Jessicas Zimmer vorbeigegangen“, teilte Anthony ihnen missbilligend mit. „Und sie hat gesagt, dass ihr Knöchel zu sehr schmerzt, als dass sie schlafen kann. Ich habe ihr eine der Tabletten gegeben, die ihr der Arzt verschrieben hat, aber ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich nur will, dass du noch mal zu ihr hochgehst.“

Annie war sofort aufgestanden, als Anthony gesagt hatte, dass Jessica Schmerzen hatte, aber nun blickte sie ein wenig unsicher zu Rufus hin.

Dieser erhob sich. „Ich gehe zu ihr. Unser Gespräch war sowieso fast zu Ende.“ Er warf seinem Bruder einen ungeduldigen Blick zu.

Anthony aber schien sich daran nicht zu stören. Er grinste unbekümmert und hob die Schultern. „Kann ich was dafür, wenn deine Tochter dich liebt?“

Rufus durchmaß den Raum mit wenigen langen Schritten, und als er dicht an seinem Bruder vorbeiging, wurde der Unterschied zwischen den beiden besonders deutlich, und zwar nicht nur, was Teint und Haarfarbe betraf. Anthonys Körper war wohlgeformt durch regelmäßige Besuche im Fitnessstudio, während Rufus’ Lebensstil ihn schlank und kraftvoll erhielt. Und sein leicht verächtlicher Blick schien zu sagen, dass er für Schnickschnack wie Fitnessstudios keine Zeit übrig hatte und dass er allein durch den Lebenskampf an sich sowohl physisch als auch emotional stark geworden war.

„Gut, dass wenigstens einer das tut“, brummte er nun und wandte sich dann noch einmal kurz Annie zu. „Sagen Sie, Annie, spielen Sie auch Schach?“

Etwas verblüfft, dass er den Gesprächsfaden von eben so unvermittelt wieder aufnahm, erwiderte sie: „Ja.“

„Das habe ich mir beinahe gedacht“, nickte er befriedigt. „Wir müssen an einem Abend mal gegeneinander spielen. Aber ich muss Sie warnen, ich lasse nie jemanden freiwillig gewinnen!“

Das, so vermutete sie, traf wohl auf die meisten Aspekte seines Lebens zu. Rufus Diamond war ein Mann, der keinerlei Zugeständnisse machte, weder sich noch anderen gegenüber.

„Das hätte ich auch nie angenommen“, sagte sie daher.

„Gut.“ Er trat hinaus auf den Korridor, ehe er sich erneut zu ihr umwandte. „Oh, und Annie …?“

„Ja?“

„Sie sehen in diesem schwarzen Kleid wirklich bezaubernd aus“, sagte er, ein triumphierendes Glitzern in den Augen, sobald er ihre sich rötenden Wangen bemerkte. Dann erst ging er davon, ein leises Pfeifen auf den Lippen.

Annie starrte ihm nach; sie wusste, dass seine letzte Bemerkung dazu gedacht war, Unruhe zu stiften. Anthonys verärgert zusammengepresster Mund zeigte ihr, dass Rufus’ Seitenhieb getroffen hatte.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Diese beiden ausgewachsenen Männer verhielten sich wie kleine Jungen, die sich gegenseitig übertrumpfen wollten.

Finster sah Anthony sie an. „Du und Rufus, ihr scheint euch ja blendend zu verstehen.“ Statt einer Feststellung hörte sich das eher nach einer Anklage an!

„Er scheint zumindest damit einverstanden zu sein, dass ich Jessica auch weiterhin betreue.“ Annie ging auf seinen Köder überhaupt nicht ein, da sie nicht die Absicht hatte, zum Zankapfel zwischen den Brüdern zu werden. Die zwei hegten ohnehin schon genug feindselige Gefühle füreinander, ohne dass sie auch noch dazu beitrug!

Anthonys Miene hellte sich auf. „Na, das ist ja schön, stimmt’s? Für uns, meine ich“, ergänzte er und kam zu ihr herüber. „Das bedeutet, dass wir mehr Zeit haben, um uns besser kennenzulernen.“

Annie schaute zu ihm auf, wieder einmal geblendet von seinem charmanten guten Aussehen. „Ja, wahrscheinlich“, sagte sie langsam.

Er legte ihr die Arme um die Taille und zog sie dicht an sich.

„Jemand könnte uns sehen“, protestierte Annie.

„Und wenn schon“, meinte er wegwerfend. „Außerdem sind meine Mutter und Davina gerade in irgendeine langweilige Diskussion vertieft. Da bin ich doch viel lieber bei dir.“

Aber Davina ist seine Verlobte. Das hier kann nicht richtig sein, da war Annie sich sicher. Sanft aber bestimmt versuchte sie, sich aus seinen Armen zu lösen. „Anthony …“

„Ach, zum Geier!“ Er stieß sie von sich fort, als er merkte, dass sie Widerstand leistete, und mit geröteten Wangen sah er auf sie hinab. „Am Sonntag, als ich dich geküsst habe, da warst du nicht so verdammt empfindlich.“ Argwöhnisch verengten sich seine Augen. „Oder glaubst du vielleicht, jetzt, da du meinen älteren Bruder kennengelernt hast, dass er dir was Besseres bieten könnte?“

Annie schnappte nach Luft bei dieser ungerechtfertigten Anschuldigung. Sie hatte den Kuss nicht gewollt und war seitdem von Schuldgefühlen geplagt. Doch für Rufus Diamond empfand sie mit Sicherheit keine romantischen Gefühle! Denn das wäre vollkommen verrückt, schlimmer noch, als sich zu Anthony hingezogen zu fühlen.

„Entschuldige, Annie.“ Anthony reagierte augenblicklich zerknirscht, als er Tränen in ihren Augen sah, und drückte sie erneut an sich. „Ich sollte meine Eifersucht nicht an dir auslassen.“ Voller Selbstabscheu schüttelte er den Kopf. „Verzeihst du mir?“, fragte er leise, die Stirn leicht an der ihren ruhend, während er tief in die Augen blickte.

Wie konnte sie ihm widerstehen, wenn er so sehr wie ein kleiner Junge aussah?

„Natürlich verzeihe ich dir“, antwortete sie mit belegter Stimme. „Aber Rufus ist mein Arbeitgeber, sonst nichts.“

„Ich bin froh, dass du das sagst.“ Anthony nickte zufrieden. „Ich möchte nämlich nicht, dass Rufus dir wehtut, nur weil er mit mir noch eine alte Rechnung zu begleichen hat.“

Beunruhigt sah sie ihn an.

„Ich habe Joanna zuerst gekannt, musst du wissen“, seufzte er. „Rufus’ Frau. Wir sind uns in London begegnet, als ich dort zur Universität ging, und hatten dort eine Art … Beziehung. Aber das war zu Ende, als ich hierher zurückkam. Jedenfalls für mich.“ Achselzuckend fuhr er fort: „Dummerweise hatte Joanna unsere Affäre nicht so leichtgenommen wie ich. Sie ist mir gefolgt, hat sich einen Job in der Gegend gesucht, und als ich sie davon überzeugt habe, dass ich unser Verhältnis nicht fortzusetzen wünschte, hat sie sich an Rufus herangemacht. Ursprünglich, da bin ich sicher, um mein Interesse neu zu wecken, was ihr jedoch nicht gelang.“ Er schnitt ein Gesicht. „Aber das schien Joanna nur noch mehr in ihrem Bestreben zu bestärken, was Rufus anging, und ehe ich wusste, wie mir geschah, waren die beiden verheiratet.“ Anthony machte eine Pause. „Doch dass ich vor ihm Joannas Liebhaber gewesen bin, ich glaube, das hat er mir nie verziehen.“

Dennoch hatte die Ehe gehalten, und das Paar hatte Jessica bekommen …

Was für eine komplizierte Familie, dachte Annie im Stillen. Die erste der Diamond-Frauen tot, Celia die böse Stiefmutter, Rufus’ Ehefrau mit einem Vorleben, über das er sicher nicht besonders glücklich gewesen war, und auch sie eine der Diamond-Frauen, die zu früh gestorben war.

Ob es wohl eine dieser beiden Frauen gewesen war, die unten in der felsigen Bucht unterhalb von Clifftop House Selbstmord begangen hatte?

„Ihr Gespräch mit meinem Stiefsohn ist also gut verlaufen?“, erkundigte sich Celia Diamond, die sich vorbeugte, um den Kaffee einzuschenken, der gerade in ihren Privatsalon gebracht worden war.

Zwar war Annie der Einladung zum Morgenkaffee nur zögernd nachgekommen, da jedoch Jessica im Augenblick mit ihrem Vater in dessen Arbeitszimmer die angekündigte Schachpartie spielte, hatte sie eigentlich keine rechte Entschuldigung gehabt, Celia nicht Gesellschaft zu leisten.

Annie wusste nicht recht, wie sie die Unterhaltung mit Rufus einschätzen sollte: „Er schien mit meinen Referenzen zufrieden zu sein“, erwiderte sie daher unverbindlich.

„Sie bleiben also?“ Celia hatte die blassblauen Augen auf Annie gerichtet.

„Es scheint so“, meinte diese langsam.

„Gut.“ Celia seufzte voller Befriedigung und begann dann, nachdenklich an ihrem Kaffee zu nippen. „Ich bezweifle ohnehin, dass Rufus lange bleiben wird“, sagte sie nach einer Weile. „Das tut er nie.“

Nun, um Jessicas willen hoffte Annie, dass er es dieses Mal doch tun würde. Allerdings konnte sie gut nachvollziehen, warum er gewöhnlich seine Besuche nicht besonders ausdehnte. Die Spannungen seit seiner Ankunft gestern waren so stark, dass sie beinahe greifbar schienen.

„Ich bin froh, dass Sie bei uns bleiben“, fuhr Celia fort. „Gestern Abend nach dem Essen haben Davina und ich die Hochzeit besprochen, und es wird für alle Beteiligten wesentlich einfacher, wenn wir nicht noch zusätzlich durch die Betreuung von Jessica belastet sind.“

„Die Hochzeit?“, wiederholte Annie wie betäubt. Sie konnte sich nur eine Hochzeit vorstellen, für die Davina sich interessierte, nämlich ihre eigene! War dies etwa die langweilige Diskussion gewesen, von der Anthony gestern Abend gesprochen hatte?

„Wir haben die Hochzeit auf Weihnachten vorgezogen“, erklärte Celia. „Da sie in London stattfinden soll, bedeutet das eine Menge Umplanung. Natürlich könnte der Empfang zu einem Problem werden, denn so kurzfristig wäre es möglich, dass wir nur noch irgendein furchtbares Restaurant bekommen, und … Aber sicherlich interessiert Sie das alles nicht sonderlich“, unterbrach sie sich dann. „Ich wollte mich lediglich vergewissern, dass Sie da sein werden, um sich um Jessica zu kümmern.“

Annie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse, dankbar, sich damit etwas ablenken zu können. Armer Anthony, es sah aus, als würde er von allen Seiten zu dieser Heirat gedrängt!

Nachdem der Kaffee getrunken und alles zu Celias Zufriedenheit geregelt war, entschuldigte diese sich mit der Begründung, sie müsste noch ein paar Blumen arrangieren, da zum Dinner heute Gäste erwartet würden.

Annie verließ den Salon gleich nach Celia, und wie das Unglück es so wollte, kam genau in dem Moment Anthony die Treppe herunter. Gestern Abend hatten sie sich in Rufus’ Arbeitszimmer getrennt, nachdem er Annie einen flüchtigen Kuss auf den Mund gedrückt hatte, ehe er wieder zu seiner Mutter und Davina zurückgekehrt war. Zu einer Mutter und einer Verlobten, die seine bevorstehende Hochzeit diskutierten. Dass Annie verwirrt war, war noch milde ausgedrückt!

Anthony musterte sie aufmerksam. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

Allerdings! Er würde Weihnachten heiraten, in wenigen Monaten! Und gestern hatte er sie wieder geküsst. Selbstverständlich war etwas nicht in Ordnung! Aber Annie wusste genauso wenig, was sie nun tun sollte, wie gestern unten am Bootsanleger.

„Anthony, wir müssen miteinander reden“, fing sie an. „Deine Mutter hat mir gerade erzählt …“

„Sie hat dir von der Hochzeit erzählt!“ Seine Grimasse verriet, was er von dem Thema hielt. „Mach dir keine Sorgen, Annie. Die wird nicht stattfinden.“

Mit ihren dunkelbraunen Augen sah sie unter langen, seidigen Wimpern hervor zu ihm auf. „Und wann hast du vor, Davina davon in Kenntnis zu setzen?“, fragte sie herausfordernd. „Wenn ihr beide vorm Altar steht?“

Anthony presste unwillig den Mund zusammen. „Ich denke doch, dass das meine Sache ist, oder?“, entgegnete er barsch.

Heute registrierte Annie Dinge an ihm, die ihr früher entgangen waren, weil sie von seinem Charme und seinem guten Aussehen zu sehr geblendet gewesen war. Sein Ärger wurde begleitet von einem leicht grausamen Zug um den Mund, einer Kälte in seinen Augen und …

„He, schau nicht so besorgt“, lächelte er jetzt. „Ich bin doch nicht wirklich böse auf dich.“ Er nahm ihren Arm. „Nur ein bisschen frustriert über die Situation. Komm schon, Annie“, schmeichelte er. „Schenk mir ein Lächeln.“

Sie fühlte sich noch immer verwirrt, und mit dieser Situation war ihr ganz und gar nicht wohl zumute. „Ich …“

„Probleme im Paradies?“, spottete da eine Stimme hinter ihnen, und Annie fuhr herum.

Rufus kam durch die Eingangshalle auf sie zu, ein ironisches Lächeln in den Mundwinkeln.

Heute sah er größer aus denn je, beinahe raubtierhaft in seinem schwarzen Seidenhemd und den schwarzen Jeans. Seine Augen ruhten auf Annie, als er die beiden erreichte, die Brauen fragend emporgezogen. Dann wurde sein Blick hart, während er sich an seinen Bruder wandte. „Du bist ein Jahrhundert zu spät geboren, Anthony. Deine Faszination im Hinblick auf die weiblichen Mitglieder dieses Haushalts – nicht als Kränkung gemeint, Annie“, meinte er gespielt entschuldigend, „wäre vor hundert Jahren verständlicher gewesen, wenn auch keineswegs akzeptabler!“

Sobald sein Bruder sie angesprochen hatte, hatte Anthony Annies Arm losgelassen. Sein Gesicht war rot geworden. „Wenigstens bin ich imstande, einer schönen Frau Tribut zu zollen, wenn ich eine sehe!“, gab er die Beleidigung zurück.

Die offene Rachsucht in seiner Stimme ließ Rufus völlig unberührt. „Du bist mit einer schönen Frau verlobt“, entgegnete er. „Und ich schlage vor, dass du dich in Zukunft ihr widmest.“ Mit festem Griff umschloss er Annies Arm. „Und lass unschuldige Frauen wie Annie in Frieden!“

Sie fühlte sich wie ein Knochen, um den sich zwei gleichermaßen knurrende Hunde balgten. Abgesehen davon missfiel es Annie, von Rufus, wann immer es ihm passte, so behandelt zu werden, als sei sie nicht älter als Jessica.

„Das ist aber eine ziemlich gewagte Annahme, dafür, dass Sie mich erst so kurz kennen“, sagte sie liebenswürdig und löste sich dabei ruhig, aber bestimmt aus seinem Griff, während sie seinem Blick offen und gerade begegnete.

„Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie nicht unschuldig sind?“

Es war, als seien sie die beiden einzigen Menschen auf der Welt, und nur mit Blicken trugen sie ihren Kampf aus.

„Anthony, Darling.“ Davina Adams stöckelte hinter ihnen die Treppe hinunter, hochgewachsen, sehr schlank, blond und, wie Rufus bereits gesagt hatte, eine Schönheit. „Meine Kopfschmerzen sind schon fast weg.“ Ihren Verlobten anlächelnd, schien sie die angespannte Atmosphäre zu erfassen, die die Dreiergruppe am Fuße der Treppe umgab, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. „Sollen wir jetzt in die Stadt fahren, wie wir es eigentlich vorhatten? Wir könnten unterwegs auch essen gehen. Rufus, Annie“, nickte sie den beiden knapp zu, bevor sie sich fragend wieder an Anthony wandte.

Annie hatte Davina am Wochenende das erste Mal gesehen, und die wahre Persönlichkeit, die hinter der charmanten äußeren Fassade verborgen war, war ihr auch jetzt noch ebenso fremd wie zu Anfang. Möglicherweise war es nicht nur bloße Fassade, aber wenn nicht, dann musste Davina eine unglaublich oberflächliche Person sein, deren einzige Interessen sich aufs Einkaufen und ihre eigene Erscheinung beschränkten. Aber trotz allem war sie unbestreitbar eine schöne Frau.

„Ja, gut“, erklärte Anthony sich sogleich einverstanden. „Ihr entschuldigt uns?“, warf er Rufus und Annie nachlässig zu, und mit Davina an seinem Arm verließen die beiden das Haus.

„Wenn Davina sagt: spring, dann springt er“, sagte Rufus in das plötzlich eingetretene Schweigen hinein.

Stirnrunzelnd schaute Annie ihn an. Was genau wollte er damit sagen?

„Aber sie ist sehr schön“, fügte Rufus hinzu.

„Ja“, stimmte Annie zu.

„Und reich.“

„Ja …“

„Es ist eine Tatsache, Annie“, meinte Rufus achselzuckend, „dass mein Bruder den größten Teil seines Erbes bereits verschleudert hat, und er hat einen exklusiven Geschmack. Und es führt kein Weg daran vorbei, dass Davina eine ausgesprochen wohlhabende junge Frau ist.“

Zwischen Annies Brauen entstand eine steile Falte. „Und ich nicht, ja?“

Nun runzelte auch Rufus die Stirn. „Ich glaube, wir haben gar nicht über Sie gesprochen. Oder doch …?“

Dieser Mann war Nachrichtenjournalist, und in diesem Moment war ihr klar, wie gut er in seinem Job sein musste. Sie hatte ihm eine Information gegeben, ohne dass er es ausdrücklich verlangt hatte. Sie hatte ihr Interesse an Anthony zugegeben, auch wenn sie sich dessen mittlerweile gar nicht mehr so sicher war …

„Nein“, sagte sie schnell. „Soll ich jetzt zu Jessica gehen?“ Mit voller Absicht schlüpfte sie wieder in die Rolle der Angestellten. „Sie haben doch sicherlich zu tun.“

„Ja.“ Er nickte, sah sie dabei aber weiterhin eindringlich an. „Es scheint, dass ich Sie beide zum Lunch ausführe. Jessica hat sich das so gewünscht“, kam er ihrer Ablehnung zuvor.

„Sehr wohl“, antwortete Annie kühl. „Ich laufe nur rasch nach oben und hole Jessicas Mantel.“

„Annie …?“

Beinahe hatte sie die oberste Stufe erreicht, froh, ihm entronnen zu sein. In Rufus Diamonds Gesellschaft war sie niemals entspannt. Im Gegenteil, bei ihm hatte sie immer das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen.

Widerstrebend blickte sie zurück. Er stand genau da, wo sie ihn verlassen hatte, hochgewachsen und unendlich gebieterisch, selbst im Vergleich zu der Großartigkeit der Eingangshalle und des weiten geschwungenen Treppenaufgangs – Herr über sein gesamtes Reich!

„Ja?“ Das Misstrauen in Annies Stimme war nicht zu überhören.

Rufus grinste zu ihr empor, mit diesem lausbubenhaften Grinsen, das so entwaffnend charmant wirkte. „Ich werde die Löwin in ihrer Höhle aufsuchen und Celia mitteilen, dass wir zum Lunch alle ausgeflogen sind!“

Erleichtert über die Harmlosigkeit seiner Bemerkung stieß Annie den Atem aus, wobei ihr erst dadurch überhaupt bewusst wurde, dass sie ihn unwillkürlich angehalten hatte. „Gut.“ Sie nickte.

„Oh, und Annie …?“

Nun war sie auf der obersten Stufe angelangt. Ungeduldig drehte sie sich noch einmal zu ihm um.

„Ja, Rufus?“

Sein Grinsen wurde breiter, und um seine Nase und den Mund erschienen jetzt Lachfalten. „Machen Sie sich keine Mühe, sich extra umzuziehen. Sie sehen auch in Jeans gut aus.“

Der anerkennende Ausdruck in seiner Miene verriet ihr, dass er sie beim Hinaufsteigen beobachtet hatte. Und plötzlich war ihr ungeheuer befangen zumute, dass sich in den enganliegenden Jeans die Rundung ihres Pos und die langen schlanken Beine so deutlich abzeichneten.

„Das hatte ich auch gar nicht vor“, erklärte sie schnippisch und flüchtete dann endgültig. Doch sie hörte, wie sein Lachen ihr folgte, als sie den Gang hinuntereilte, um Jessicas und ihren eigenen Mantel zu holen. Die Wangen brannten ihr vor Verlegenheit.

4. KAPITEL

Und jetzt musste sie die nächsten Stunden auch noch mit diesem Mann zusammen verbringen, wunderbar! Annie bereute bereits, dass sie gestern noch gewünscht hatte, Rufus möge dieses Mal länger bleiben als sonst. Inzwischen hoffte sie, dass er möglichst bald wieder abreiste.

Später jedoch tat ihr dieser Wunsch leid, als sie sah, wie sehr Jessica sich freute, ihren Vater ein paar Stunden für sich zu haben. Die Kleine liebte ihn heiß und innig, und ihre Zuneigung wurde ebenso bedingungslos erwidert. Was immer in seiner Ehe schiefgegangen sein mochte, seine Tochter liebte Rufus Diamond jedoch über alles.

Annie fühlte sich fast ein bisschen überflüssig, da Jessica sich bei allem, was sie wollte, an ihren Vater wandte.

„Sie sehen ein wenig bedrückt aus“, hörte sie Rufus da sanft zu ihr sagen, der sie offensichtlich ohne ihr Wissen beobachtet hatte. „Doch hoffentlich nicht wegen irgendetwas, das ich gesagt oder getan habe?“ Forschend hob er die Brauen.

Sie hatten zunächst einen kleinen Autoausflug gemacht und waren dann zum Lunch in einem Pub eingekehrt, wo Jessica, die zwischen den beiden Erwachsenen saß, sich ganz in ihrem Element fühlte. Ihre gute Laune war geradezu ansteckend.

Autor

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Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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