Julia Weihnachtsband Band 38

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

MAGISCHE KÜSSE UNTERM MISTELZWEIG von KANDY SHEPHERD

Kerzenlicht und Tannenduft? Damit hat Eventplanerin Marissa nichts im Sinn! Trotzdem nimmt sie den Auftrag an, das Landgut von Oliver Pierce festlich auszustatten. Doch als der attraktive Unternehmer sie bittet, über Weihnachten seine Freundin zu spielen, gerät ihr Herz in Gefahr …

FEST DER LIEBE – FEST DER HOFFNUNG? von CARA COLTER

Bittere Tränen, während andere feiern? Auch dieses Jahr wird Witwer Brad das Weihnachtsfest allein mit seiner Tochter verbringen. Doch dann rettet er die schöne Faith, die in einen zugefrorenen See eingebrochen ist. Und auf einmal wäre ihre Liebe für ihn das schönste Geschenk …

MIT DIR IM WINTERWUNDERLAND von HEIDI RICE

Um ihr kleines Reich vor dem Ruin zu retten, geht Königin Isabelle von Androvia eine Vernunftehe mit Milliardär Travis Lord ein. Doch zu ihrem Erstaunen besteht Travis auf Flitterwochen. In einer Blockhütte in den verschneiten Bergen – vierzehn sinnliche Nächte im Winterwunderland?

EIN WEIHNACHTSBALL FÜR CINDERELLA von PENNY ROBERTS

Überraschend bekommt Zimmermädchen Ginger eine Einladung zu dem schillerndsten Weihnachtsball in Manhattan. Wie Cinderella fühlt sie sich, als sie mit Millionär Douglas Channing tanzt und er sie um Mitternacht küsst! Aber am nächsten Morgen scheint der Zauber vorbei ...


  • Erscheinungstag 04.10.2025
  • Bandnummer 38
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533577
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kandy Shepherd, Cara Colter, Heidi Rice, Penny Roberts

JULIA WEIHNACHTEN BAND 38

Kandy Shepherd

1. KAPITEL

Marissa hasste Weihnachten.

Sie ging die Kensington High Street in London entlang und fühlte sich, gut eine Woche vor dem Fest, von der allgemeinen Vorfreude regelrecht attackiert. Alles, was mit Lichterketten versehen werden konnte, funkelte in der Abenddämmerung: Bäume, Laternen, Schaufenster, sogar ein Buswartehäuschen. So etwas sollte verboten sein! Und überall übermäßig geschmückte Weihnachtsbäume. Dazu erschallte ein misstönendes Durcheinander verschiedenster Weihnachtslieder aus diversen Eingängen, eins lauter und kitschiger als das nächste.

Missmutig runzelte Marissa die Brauen. Aus allen Richtungen wurde sie aufgefordert, froh und munter zu sein. Aber davon fühlte sie nichts. Gar nichts.

Nicht mehr.

Sie wusste, dass man sie hinter ihrem Rücken mit dem Grinch verglich. Das tat weh. Aber sie konnte einfach niemandem anvertrauen, warum sie das Fest nicht länger feierte. Das hätte sie zu sehr an die schmerzlichen Ereignisse erinnert, die ausgerechnet an Weihnachten passiert waren.

Vor fünf Jahren waren ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen, gerade als sie den Weihnachtsbaum holten. Ihr Bruder war danach ans andere Ende der Welt gezogen. Zwei Jahre später hatte man ihr ausgerechnet an Heiligabend gekündigt, völlig überraschend. Der Job war ihr absoluter Traumjob gewesen. Und dann, im vorigen Jahr, hatte sie ihren Freund dabei erwischt, wie er unter dem Mistelzweig eine andere küsste …

Marissa hatte sich schon oft gefragt, ob auf ihr ein Fluch lastete, der ihr zu Weihnachten Katastrophen bescherte. Und obwohl sie wusste, wie abergläubisch es war, dachte sie manchmal, ihr würden womöglich noch weitere schreckliche Dinge zustoßen, wenn sie sich erlaubte, das Fest zu genießen.

Als sie von den anderen Passanten plötzlich erfreute Ausrufe vernahm, blickte sie hoch und stellte fest, dass es zu schneien angefangen hatte. Dicke weiche Flocken tanzten vom Himmel. Sie widerstand der Verlockung, einige davon mit der Zunge aufzufangen. Wie als Kind. Wie damals, als Weihnachten noch voller Zauber gewesen war.

Im gleichen Moment fing ein Mann an zu singen – völlig schief –, dass er von weißen Weihnachten träume.

Wohl eher nasskalte, graue und rutschige Weihnachten, dachte Marissa missmutig. In London gab es im Dezember selten anständigen Schnee. Zum Glück würde sie in fünf Tagen zu einer kleinen Insel nahe Bali aufbrechen, wo Weihnachten nicht zur Kultur gehörte. Wenn sie dann zurückkam, wäre der ganze Spuk mit den Dekorationen vorbei … und damit auch die Erinnerungen an die traurigen Ereignisse, die ihr diese Zeit des Jahres verleideten.

Sie machte einen Abstecher in den Supermarkt – in dem sie mit weiteren abscheulichen Weihnachtsliedern beschallt wurde –, um sich ein Fertiggericht fürs Abendessen zu besorgen. Als Single war es ihr oft zu aufwendig, richtig zu kochen. Ganz bewusst vermied sie die Regale mit den Mince Pies, diesen kleinen, süßen, gewürzten Früchtetörtchen, die es traditionell nur zu Weihnachten gab. Die hatte ihr Vater so geliebt, dass er sechs davon verspeisen konnte. Sie und ihr Bruder hatten ihn dann lachend angefeuert, ihre Mutter hatte schockiert getan.

Vor fünf Jahren dann waren die Törtchen unangerührt geblieben, während ihr Vater im Krankenhaus um sein Leben gekämpft hatte. Vergeblich. Es tat Marissa noch immer weh, Mince Pies zu sehen und sich zu erinnern, mit welchem Genuss ihr Vater sie gegessen hatte … In dem Moment rief ihre Freundin Caity auf dem Handy an. Marissa musste erst einmal den Kloß im Hals hinunterschlucken, bevor sie sich melden konnte.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie. Caity erwartete Zwillinge, die Mitte Januar zur Welt kommen sollten.

„Ehrlich gesagt, nein.“ Caitys Stimme klang ängstlich.

„Ist was mit den Babys?“, erkundigte Marissa sich besorgt.

„Denen geht es gut. Aber ich muss ins Krankenhaus und dort im Bett bleiben bis zur Geburt“, erklärte Caity bedrückt.

„Oh, du Arme! Wie kann ich dir helfen?“

„Könntest du … jetzt gleich zu mir kommen?“

„Bin schon unterwegs.“

Zum Glück bekam Marissa sofort ein Taxi, aber die Fahrt in den Vorort Ealing zu Caity kam ihr wie eine Weltreise vor. Ihre Freundin hatte so verängstigt geklungen! Sie hatte zwei Jahre zuvor im sechsten Monat eine Fehlgeburt erlitten. Das durfte nicht wieder passieren.

Marissa würde alles tun, um Caity zu helfen, das stand außer Frage!

Als sie endlich ihr Ziel erreichte, wurde sie schon sehnsüchtig erwartet. Caity sah blass und ängstlich aus, in der Diele stand eine prall gefüllte Reisetasche.

„Was ist denn passiert?“, erkundigte Marissa sich und umarmte ihre zierliche Freundin sanft.

„Ich habe dir erzählt, dass die Zwillinge sich eine Plazenta teilen. Das kann ein Risiko bedeuten, also wollen die Ärzte mich unter Beobachtung haben, was heißt, dass ich und mein dicker Bauch in den nächsten Wochen an Monitore angeschlossen werden.“

„Oh nein!“, rief Marissa, nahm sich aber sofort zurück, um mit ihrer Sorge nicht Caitys Ängste weiter zu schüren. „Ich meine … Es ist doch gut, dass die Ärzte so wachsam sind.“

„Ja. Nur ist es unwahrscheinlich, dass ich vor der Geburt noch mal aus der Klinik komme.“

„Dort bist du in guten Händen. Möchtest du, dass ich dich in die Klinik begleite?“

Caity schüttelte den Kopf. „Lieb von dir, aber Tom hat sich freigenommen und ist schon unterwegs, um das Auto aus der Tiefgarage zu holen. Es gibt etwas anderes, womit du mir helfen könntest.“

„Ich tue alles für dich“, versicherte Marissa nachdrücklich.

Sie und Caity kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit als Praktikantinnen in einer PR-Firma, wo sie gleich nach der Uni angefangen hatten. Sie hatten sich beide auf Eventplanung spezialisiert und ihren Job geliebt, bis es einen großen Rückgang bei Aufträgen gab und sie gekündigt wurden. Direkt vor Weihnachten.

Caity hatte sich schnell gefangen und eine eigene kleine Firma gegründet, während Marissa erst einmal freiberuflich arbeitete, immer auf der Suche nach der Firma, in die sie am besten passte. Mit mittlerweile dreißig Jahren war sie sich allerdings nicht mehr sicher, welche Richtung sie ihrer Karriere geben sollte. Sie wusste nur eins: Sie wollte sich nicht an einen Arbeitgeber binden. Noch nicht. Es war, wie sie aus bitterer Erfahrung wusste, zu riskant, sein Schicksal in die Hände anderer zu legen.

„Ich hasse es, dich darum bitten zu müssen, weil ich ja weiß, dass du kein Fan von Weihnachten bist …“, begann Caity und sah ihr nicht in die Augen.

Marissa wurde es mulmig zumute. Ihre Freundin war einer der wenigen Menschen, die ihre Abneigung gegen das Fest verstanden. Warum also erwähnte sie das jetzt?

„Ja, und?“, drängte sie.

Caity seufzte, dann brach es förmlich aus ihr heraus. „Ich arbeite gerade an diesem Weihnachtsevent in Longfield Manor. Das ist ein exklusives Hotel in einem wunderschönen alten Herrenhaus in Dorset, von einer Familie geführt, nicht Teil einer großen Hotelkette. Weihnachten ist für sie eine große Sache, denn viele Gäste kommen jedes Jahr wieder, um dort das Fest zu feiern. Sie lassen das Ereignis zum ersten Mal planen, von mir, und jetzt muss ich so knapp vorher ins Krankenhaus und kann mich nicht mehr um den wichtigsten Auftrag meiner Karriere kümmern!“

„Du möchtest also, dass ich dich vertrete?“ Marissa versuchte, nicht völlig bestürzt zu klingen. „Du weißt doch, wie …“

„… die Weihnachtszeit für dich ist. Ja, das weiß ich. Und ich würde dich nicht bitten, wenn ich eine andere Wahl hätte. Aber es ist so: Der Enkel der Besitzer von Longfield Manor ist Oliver Pierce, CEO der Hotelkette Pierce Group, und die sind …“

„Die exklusivsten und angesagtesten Hotels in London“, fiel Marissa ihr ins Wort. „Von denen habe ich gehört.“ Ich müsste einen Kredit aufnehmen, nur um mir dort einen Cocktail leisten zu können, fügte sie im Stillen hinzu.

„Ich habe schon einige Projekte für ihn gemacht, und es ist immer gut gelaufen. Ich muss mir die Pierce Group als Klienten warmhalten. Oliver selbst hatte mich wegen Longfield Manor kontaktiert. Marissa, dieser Auftrag könnte meine Firma in eine neue Umlaufbahn katapultieren. Es ist meine große Chance, mein Durchbruch! Ich kann es wirklich nicht riskieren, Oliver Pierce als Geschäftspartner zu verlieren.“

„Könnte nicht jemand anderes …“, begann Marissa hoffnungsvoll.

„Nein, er ist ein sehr anspruchsvoller Mann“, unterbrach die Freundin sie. „Ich könnte niemand anderem vertrauen, diesen Job zu übernehmen.“

„Es muss aber doch andere Planer geben, die …“

Wieder ließ Caity sie nicht zu Wort kommen. „Du bist die Einzige, die gut genug ist. Und ich weiß, dass du mich nie im Stich lassen würdest. Oder mir den Klienten klauen.“

Marissa wusste, wie wichtig das persönliche Verhältnis zwischen Klienten und Planern war. Zufriedene Kunden empfahlen einen weiter, was das Geschäft förderte. Und Caitys kleine Firma steckte, so erfolgreich sie war, noch in den Kinderschuhen. Sie konnte den Verlust eines Kunden nicht riskieren.

Also was blieb Marissa anderes übrig, als ihren Widerstand aufzugeben?

„Bitte, Marissa“, sagte Caity flehentlich. „Du weißt, wie sehr ich mir meine Zwillinge wünsche. Aber ich kann meinen Job nicht vom Krankenhausbett aus erledigen.“

„Das sollst du auch nicht, Caity, sondern deine ganze Kraft in das Wohlergehen deiner Babys stecken. Und in deine eigene Gesundheit.“

Marissa dachte kurz an ihre eigentlichen Pläne: warmes, türkisfarbenes Wasser, goldener Sand, Palmen … weit weg von dem konsumverrückten Weihnachtswahnsinn in London. Der Urlaub in den Tropen war seit Monaten gebucht und bezahlt. Sie hatte sich schon so darauf gefreut. Aber ihre Freundin brauchte sie, und das wog schwerer.

„Gut … Ich bin bereit, den Job für dich zu erledigen“, versicherte sie nun.

„Ich wusste, dass du mich nicht hängen lässt!“ Caity sah erleichtert aus. „Vielen, vielen Dank! Das Herrenhaus liegt in Dorset, ganz nah am Meer. Es ist sehr traditionell, ganz anders als die ultramodernen Hotels der Pierce Group. Es gehört Olivers Großeltern, aber der Großvater ist dieses Jahr verstorben, also hilft Oliver seiner Großmutter beim Führen des Hotels. Weihnachten war dort immer ein großes Thema, und dieses Jahr soll das Fest schöner werden als jemals zuvor.“

„Ja, verstehe“, sagte Marissa und unterdrückte einen Schauder beim Gedanken an die Weihnachtsvorbereitungen – jeden Tag, rund um die Uhr.

„Alles, was bestellt werden musste, ist bereits bestellt, zusätzliches Personal ist engagiert und eingeschult worden. Die entsprechenden Unterlagen und Infos findest du in deinen Mails, also kannst du gleich loslegen. Ich habe dir alles geschickt, sobald ich wusste, dass du zu mir unterwegs bist.“

Marissa lächelte. „Du warst dir also ganz sicher, dass ich Ja sage.“

„Klar“, erwiderte Caity schlicht. „Ich vertraue dir doch. Du kannst mich natürlich jederzeit anrufen, falls Fragen auftauchen.“

„Ich weiß, aber ich verspreche dir, dich nicht zu belästigen.“

Sie hörten einen Schlüssel in der Tür. „Oh, das ist Tom!“, rief Caity.

Marissa begrüßte ihn kurz, dann nahm sie ihre eigene Tasche und den Einkaufsbeutel mit dem Abendessen.

„So, und jetzt los, ihr beiden. Je eher Caity ins Krankenhaus und ins Bett kommt, umso besser.“

„Ach, bevor ich’s vergesse“, fiel Caity rechtzeitig ein. „Oliver erwartet, dass du während des Jobs in Longfield Manor wohnst.“

„Wie bitte?“

„Na ja, es ist ein Hotel. Weshalb solltest du anderswo unterkommen?“

Marissa hätte lieber Distanz zum Klienten gewahrt, aber es war ja nicht wirklich ihrer …

„Na gut“, sagte sie also. „Gern nicht, aber ich mach’s.“

„Und … da ist noch was“, meinte Caity und lächelte verhalten. „Oliver Pierce ist ein heißer Typ. Heiß wie ein Filmstar. Ich weiß, du machst Pause mit dem Daten – eine sehr lange Pause meiner Meinung nach. Trotzdem dachte ich, du solltest wissen, wie toll dein Klient ist. Und er ist, glaube ich, Single. Single, sexy und solvent.“

Marissa verdrehte kurz die Augen. „Nein, danke. Ich werde mich nie wieder mit einem Kunden einlassen. Ich bin inzwischen immun gegen tolle Männer. Beim nächsten Mal – wenn es denn ein nächstes Mal geben sollte – nehme ich einen gewöhnlichen, durchschnittlichen, sicheren.“

Caity lachte. „Durchschnittlich? Das ist Oliver Pierce bestimmt nicht. Kein bisschen.“

Könnte das mein letztes Weihnachten auf Longfield sein? dachte Oliver bedrückt. Ungewissheit konnte er nicht ausstehen, aber die Zukunft des herrschaftlichen Guts, das seit fünf Generationen im Besitz der Familie war, lag ganz und gar im Ungewissen.

Er rieb sich die kalten Hände, während er an der Fassade des Hauses hochsah, das vom milden Licht der Morgensonne bestrahlt wurde. Nie wurde er müde, das Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert zu bewundern, mit seinen Mauern aus lokalem Sandstein, den vielen Giebeln, den unterteilten Fenstern und den perfekten Proportionen.

Die umgebende Gartenanlage war im Moment natürlich kahl, aber winterlich schön. Die einzigen Farbflecke kamen von den Urnen mit den violetten Stiefmütterchen, die der ganze Stolz seiner Großmutter waren.

Oliver lebte seit Jahren nicht mehr hier, aber er betrachtete das Herrenhaus immer noch als sein Zuhause. Seine Großeltern hatten die Elternrolle häufiger und besser ausgefüllt als seine richtigen Eltern. Er hatte einen Großteil seiner Kindheit hier verbracht, ein Einzelkind, vom Hin und Her der katastrophalen Beziehung seiner Eltern schwer betroffen. Dann war es sein Zufluchtsort geworden, als seine Mutter ihn einfach zurückgelassen hatte, als er fünfzehn war und sie – natürlich wegen eines Manns – nach Australien gezogen war. Ja, Longfield Manor bedeutete ihm unendlich viel, aber wenn er den letzten Wunsch seines verstorbenen Großvaters erfüllen wollte, musste er das Haus zum Verkauf anbieten. Darum also die Unsicherheit, wie es weitergehen würde.

Kurz vor seinem Tod – mit immerhin siebenundachtzig Jahren – hatte sein Großvater zu einem Gespräch unter vier Augen gebeten. Er wusste, dass er im Sterben lag, und hatte ihm gestanden, dass er sich um seine geliebte Frau sorgte, die auch schon zweiundachtzig war. Er befürchtete, dass sie erste Anzeichen von Demenz zeigte: Gedächtnislücken, verlegte Gegenstände, Verwirrung bei gut etablierten Alltagsroutinen. Wie sollte sie ohne Ehemann an der Seite fertigwerden?

Oliver hatte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihm das in der Seele wehtat. Ein weiteres Problem bestand darin, dass der langjährige Hotelmanager in den Ruhestand gehen wollte, und allein würde die Großmutter das Hotel nicht führen können. Der Großvater meinte, es wäre am besten, das Hotel zu verkaufen und ein Heim für die Großmutter zu finden, vielleicht in London, damit er, Oliver, sie ohne Umstände besuchen konnte. Er befürchtete, dass sie womöglich schon bald rund um die Uhr betreut werden müsste.

Das alles war ein Schock für Oliver gewesen. Die Großmutter dement? Das Hotel verkaufen? Er hatte immer erwartet, dass er es erben würde – seine Mutter war enterbt worden – und nach ihm seine Kinder. Bis jetzt, mit zweiunddreißig Jahren, war ihm allerdings noch keine Frau begegnet, die ihn ans Heiraten und an Elternschaft denken ließ. Seinen Freundinnen hatte er immer von Anfang an klargemacht, dass er nicht bereit war, sich zu binden.

Oliver hatte seinem Großvater versichert, dass er das Hotel übernehmen und zusammen mit der Großmutter führen würde, Hotels waren schließlich sein Beruf. Tatsächlich hatte er die Liebe zur Gastfreundschaft hier gelernt, hatte förmlich von Jugend an aufgesaugt, was funktionierte und was nicht.

Sein Großvater hatte ihn gebeten, gründlich nachzudenken, bevor er Longfield Manor in sein Portfolio aufnahm, womöglich nur aus sentimentalen Gründen oder weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Das Hotel sollte keine Bürde sein, da Oliver doch genug mit seinen ultramodernen Boutique-Hotels in London zu tun hatte und dazu noch nach New York expandieren wollte. Longfield Manor brauchte Management vor Ort, bei dem alten Gebäude fielen ständig irgendwelche Reparaturen an.

Oliver hatte das natürlich eingesehen, aber er kämpfte gegen die Idee an, Longfield zu verlieren. Sein Großvater hatte ihn wiederholt gebeten, dem Verkauf zuzustimmen. Um ihn zu beruhigen, hatte Oliver schließlich zugesagt, darüber nachzudenken, und nun fühlte er sich verpflichtet, dieses Versprechen einzulösen. Auch wenn er die Finger hinter dem Rücken gekreuzt hatte, was ja, wie jeder wusste, ein Versprechen null und nichtig werden ließ.

Seit dem Tod des Großvaters im August hatte Oliver tatsächlich ungewohntes Verhalten bei seiner Großmutter beobachtet, aber nichts wirklich Erschreckendes. Vieles davon konnte der Trauer um den Ehemann entspringen, mit dem sie so viele Jahre verbunden gewesen war. Er selber wollte seine ebenso tiefe Trauer nicht zeigen, um sie nicht noch mehr zu belasten. Das Einzige, was sie aufmunterte, waren die Diskussionen über die Pläne zur Gestaltung des Weihnachtsfestes.

Das war immer ein Höhepunkt des Jahres gewesen. Gäste aus dem ganzen Land, ja der ganzen Welt, kamen nach Longfield, um an den Festivitäten teilzunehmen. Das erste Weihnachten ohne den Großvater sollte nun ganz besonders gestaltet werden, um dessen Fehlen weniger spürbar zu machen.

Also hatte Oliver eine Eventplanerin engagiert, mit der er schon mehrfach erfolgreich gearbeitet hatte. Caity Johnston war klein, blond, dynamisch und lag ganz auf seiner Wellenlänge. Sie hatte enthusiastisch auf seine Vorschläge reagiert und den Job angenommen, musste nun aber wegen der Probleme mit ihrer Schwangerschaft ins Krankenhaus. Doch sie hatte ihm versichert, einen vollwertigen Ersatz gefunden zu haben: Marissa Gracey, die Beste in diesem Metier.

Leider hatte es keine Gelegenheit mehr gegeben, diese Frau kennenzulernen. Er musste sie also unbesehen akzeptieren, was ihm nicht behagte. Hoffentlich hatte Caity mit ihrem Lob nicht übertrieben. Oliver war sich darüber im Klaren, dass die Planung des Fests seine Kenntnisse und Fähigkeiten überstieg, also brauchte er ihre Hilfe. In einer Woche war Heiligabend, der Countdown lief. Von dem Fest hing diesmal so viel ab: die seelische Verfassung der Großmutter, und dass die Gäste erkannten, wie auch ohne den Großvater alles wunderbar ablief. Außerdem musste er sich und allen anderen beweisen, dass Longfields Zukunft bei ihm in guten Händen war. So oder so.

Marissa Gracey würde in einer halben Stunde eintreffen. Oliver hoffte sehr, dass ihre Arbeit seinen Ansprüchen genügen würde.

Marissa steuerte ihren Kastenwagen durch das schmiedeeiserne Gittertor in der hohen Mauer und fuhr auf einer kiesbestreuten Auffahrt durch die gepflegte Gartenanlage. Sogar jetzt im Winter wirkte sie beeindruckend, trotz der kahlen Bäume und leeren Rabatten. Wäre es nicht um Weihnachten gegangen, hätte Marissa eine gewisse erwartungsvolle Aufregung gespürt.

Wenn es doch Sommer wäre! Oder Herbst. Jede Jahreszeit wäre ihr recht, nur eben Weihnachten nicht. Aber Caity zuliebe musste sie da durch.

Ich schaffe das, sagte Marissa sich. Der Wagen war beladen mit Kartons voller Weihnachtsschmuck, sowohl dem extravaganten eines bekannten Londoner Designers als auch traditionellem und trendigem.

Oliver Pierce, der Enkel der Besitzer, wollte dem Fest anscheinend seinen eigenen Stempel aufdrücken. Warum das, wenn das alte Rezept eindeutig funktioniert hatte, wie die begeisterten Rezensionen der Gäste auf der Website des Hotels bewiesen?

Als das Haus schließlich vor ihr auftauchte, hielt sie kurz den Atem an. Es war stattlich und eindrucksvoll, aber nicht so weitläufig, dass es die Landschaft völlig beherrschte. Vielmehr fügte es sich harmonisch in die Umgebung ein, flankiert von zwei riesigen alten Eichen. Seit Hunderten Jahren waren sie hier verwurzelt, das Haus und die Bäume.

Wie es wohl war, an einem Ort wie diesem aufzuwachsen? Wie fühlte es sich an, so reich zu sein wie Oliver Pierce? Sie selbst war in bodenständigen und behüteten Verhältnissen aufgewachsen, das hier war ein ganz anderes Kaliber. Und genau das machte den Reiz für die Gäste aus. Für einige Tage konnten sie sich fühlen wie Gäste einer exklusiven Hausparty, die extravagant und persönlich zugleich war. Gäste bei einem Weihnachtsfest, das absolut großartig war … und stressfrei, weil man selber keinen Finger rühren musste.

Marissa fuhr direkt vors Haus, wo man sich einbilden konnte, dass man auf seinem eigenen Landgut eintraf, denn nur ein ganz unauffälliges Schild am Eingang verriet, dass es sich hier um ein Hotel handelte. Man hatte sie gebeten, sich gleich bei der Rezeption zu melden, also parkte sie vorn, statt auf dem Parkplatz im Hof hinter dem Gebäude.

Sie stieg aus und ging hinein. Die Eingangshalle war überwältigend: eine stuckverzierte, sehr hohe Decke, holzverkleidete Wände, eine elegant geschwungene Treppe, altes Parkett, Gemälde in schweren, vergoldeten Rahmen. Ein kunstvolles Gesteck aus kahlen Zweigen und leuchtend roten und orangefarbenen Beeren stand in einer Vase auf einem Piedestal. Es war alles vollendet, aber nicht zu perfekt, ganz wie es sich für ein altehrwürdiges Haus gehörte. Natürlich hatten gewisse Veränderungen vorgenommen werden müssen, um das Herrenhaus in ein Hotel zu verwandeln, aber es wirkte immer noch wie ein Zuhause für Angehörige der Oberschicht.

Eine charmante junge Frau am Empfangstresen grüßte freundlich. Marissa stellte ihren kleinen Koffer ab und fragte sich, wann sie ihren Klienten treffen würde.

Die Antwort folgte auf dem Fuß: Oliver Pierce kam ins Foyer. Er war größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte, dazu breitschultrig, und er trug einen perfekt geschnittenen dunklen Anzug. Schwarze Haare rahmten ein gut aussehendes, sehr attraktives Gesicht ein. Caity hatte recht: Dieser Mann war heiß. So heiß, dass sie ihn einfach anstarren musste, während er näher kam.

„Marissa Gracey?“, fragte er. „Ich bin Oliver Pierce.“

Seine Stimme war tief, gut moduliert und so attraktiv wie sein Aussehen.

Marissa konnte bloß nicken.

„Sie sind pünktlich, Ms. Gracey. Das freut mich.“

Anscheinend hatte er keine Erwiderung erwartet, und das war gut, denn ihre Stimme schien versagt zu haben – und ihr wurde heiß und kalt, als ihr bewusst wurde: Sie kannte diesen Mann von früher!

Damals hatte er sich allerdings Oliver Hughes genannt. Damals, als sie beide Teenager gewesen waren und sie ihn für den unerträglichsten, arrogantesten, unhöflichsten Schnösel gehalten hatte, der ihr jemals begegnet war.

Als er ihr jetzt die Hand hinhielt, wusste Marissa nicht, was sie tun sollte.

2. KAPITEL

Marissas Gedanken wurden förmlich zurückkatapultiert zu der Zeit, als sie vierzehn gewesen war … und zutiefst verzweifelt und vor allem heimlich verliebt in einen Sechzehnjährigen, den sie als Oliver Hughes kannte.

War dieser Mann wirklich derselbe?

Doch er sah aus wie der Oliver von früher, natürlich jetzt erwachsen. Hatte er einen Zwillingsbruder? Dann hätten sie aber denselben Nachnamen. Und ganz sicher nicht denselben Vornamen.

Oliver Hughes war der Freund des Bruders ihrer Schulfreundin Samantha gewesen. Toby und Oliver besuchten dasselbe Internat, und er war während der Semesterferien zu Besuch.

Marissa hatte sofort für den großen, höflichen Oliver zu schwärmen angefangen, wie es nur ein unerfahrenes Mädchen tun konnte. Sie hatte jede Chance genutzt, bei Samantha zu Hause zu erscheinen.

Doch mit dem Schwärmen war es auf einen Schlag vorbei, als sie zufällig hörte, wie Toby und Oliver über sie herzogen. Ja, Oliver hatte eine rüde Bemerkung über ihr Aussehen gemacht, beide Jungen hatten dann rau gelacht, gemein und herablassend.

Marissa war geschockt, entsetzt und zutiefst gekränkt gewesen. Es war eine schmerzlich gelernte Lektion: Männer waren nicht immer so, wie sie zu sein schienen.

Aber nun konnte sie nicht länger zögern und schüttelte Oliver Pierce kurz und geschäftsmäßig die Hand. Oliver Hughes hatte sie damals nicht mal die Hand gegeben, sie hatte ihn aus der Distanz angehimmelt. Nun blickte sie prüfend zu dem Mann vor sich hoch: schwarze Haare, grüne Augen, auffallend groß und attraktiv. Ja, sie war sich sicher: Es musste derselbe Oliver sein.

Warum bloß hatte sie sich nicht über ihn informiert, als sie zugestimmt hatte, den Job zu übernehmen? Sie hatte nur Longfield Manor gegoogelt und sich ansonsten auf Caitys Notizen zur Planung des Fests verlassen. Und sie hatte sich damit gebrüstet, gegen umwerfend gut aussehende Männer immun zu sein.

Also war es ihr egal, wie sexy ihr jetziger Klient war!

„Herzlich willkommen“, sagte der nun mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme. „Danke, dass Sie Caity vertreten.“

„Es freut mich, aushelfen zu können, Mr. Pierce“, behauptete sie zögernd, obwohl es nicht stimmte.

Als wäre es nicht schlimm genug, so tun zu müssen, als würde sie Weihnachten lieben, nein, nun hatte der Zufall sie auch noch mit einem Mann zusammengebracht, den sie nie vergessen hatte. Nicht, weil er ihr Herz damals zum Rasen gebracht hatte, sondern weil er sie tief verletzt hatte. Sie hatte lange gebraucht, um ihr lädiertes Selbstbewusstsein wieder herzustellen, das unter seinen spöttischen Worten arg gelitten hatte.

„Nennen Sie mich doch bitte Oliver“, forderte er sie auf.

„Ja, gern. Oliver.“ Ihr blieb der Name fast im Hals stecken.

„Es gibt viel zu tun“, sagte er und lächelte strahlend. „Caity hat Sie ja informiert, dass das diesjährige Fest noch besser werden soll denn je.“

Marissa wurde nun klar, dass er sich überhaupt nicht an sie erinnerte. Sein Blick verriet nicht die Spur einer Ahnung, dass sie sich schon mal begegnet waren.

Falls es überhaupt stimmte und sie sich nicht gewaltig irrte. Vielleicht war es ja ein verrückter Zufall, dass dieser Oliver ihrem Jugendschwarm so sehr ähnelte? Nein, sie war sich ganz sicher. Dass er sie jetzt nicht erkannte, war genauso kränkend wie seine Bemerkung damals. Also würde sie nichts sagen. Kein Wort! Es würde nur die damalige Demütigung neu aufleben lassen.

„Ja. Caity hat mich umfassend informiert“, bestätigte Marissa kühl und professionell trotz ihres inneren Aufruhrs. „Ich freue mich darauf, mit Ihnen den Zeitplan zu besprechen und das Personal kennenzulernen, das Caity ja schon eingestellt hat. Es gibt noch einige Fragen, die ich stellen muss, um gewisse Lücken zu füllen.“

„Natürlich. Wie wäre es mit einer Besprechung in einer halben Stunde? Im Arbeitszimmer meines Großvaters.“ Bei diesen Worten wirkte er sehr bekümmert. „Ich meine, mein Arbeitszimmer“, korrigierte er sich. „Grandpa starb im August. Ich vergesse manchmal, dass er nicht mehr hier ist.“

„Verstehe“, versicherte sie ihm und kämpfte dagegen an, Mitgefühl für ihn zu empfinden. Sie wusste, wie es war, geliebte Menschen zu verlieren. „Es wird mit der Zeit leichter, auch wenn man den Verlust niemals ganz verschmerzt.“

Er sah ihr in die Augen, in seinem Blick spiegelte sich Kummer. „Ach, Sie … haben auch?“

Ihr wurde die Kehle eng. „Ja. Meine Eltern. Vor fünf Jahren. Autounfall.“

Dass es an Heiligabend passiert war, verschwieg Marissa.

„Oh! Das tut mir leid.“

„Danke. Und mir tut es leid wegen Ihres Großvaters, Oliver.“

Ein peinliches Schweigen entstand plötzlich zwischen ihnen. Wie hatte dieses Gespräch nur so schnell persönlich werden können?

Schließlich räusperte Oliver sich und fragte: „Sind Sie direkt von London hierhergekommen?“

Sie ging auf den Themenwechsel gern ein. „Ja. Der Verkehr war zum Glück nicht allzu schlimm.“

Straßenverkehr war immer ein sicheres Thema für Gespräche zwischen Fremden. Tatsächlich hatte sie mit ihrem Wagen – einem alten Citroën, der vorher als Kaffeebude fungiert hatte – drei Stunden gebraucht, denn er war bei Weitem nicht so schnell wie ein modernes Gefährt. Aber sie liebte ihren Wagen, der zum einen ein ausgefallenes Modell war und zum anderen ausgesprochen praktisch.

„Ich zeige Ihnen dann mal Ihr Zimmer“, bot Oliver an und nahm ihren kleinen Koffer.

Der andere mit ihrer Garderobe war noch im Wagen. „Wo kann ich meinen Wagen parken?“, erkundigte Marissa sich.

„Wenn Sie die Autoschlüssel an der Rezeption abgeben, kümmert sich jemand darum und bringt ihn in die Garage hinter dem Haus.“

„Steht er dort sicher? Ich habe einige wertvolle Dinge darin verstaut.“

Dumme Frage, tadelte sie sich sofort. Sie befanden sich auf einem ausgedehnten, von einer Mauer umgebenen privaten Grundstück in einer abgelegenen Gegend. Wer sollte denn hier ihren Wagen aufbrechen und Weihnachtsschmuck stehlen?

„Absolut sicher“, versicherte er ihr. „Aber wenn Sie möchten, lasse ich die Sachen von meinen Leuten in einen Lagerraum bringen.“

„Oh, das wäre toll. Danke.“

Marissa folgte Oliver die prachtvolle Treppe hinauf und ließ die Hand über das Geländer gleiten, das reich mit Schnitzereien verziert war. Wie viele Hände waren hier wohl im Lauf der Jahrhunderte entlanggeglitten? Welche Geschichten könnten die vertäfelten Wände erzählen, wenn sie nur reden könnten?

Die drängendste Frage war aber, wie sie mit Oliver klarkommen sollte, von dem sie noch immer nicht absolut sicher wusste, ob er denn nun ihr Jugendschwarm war.

„Auf diesem Stockwerk gibt es zehn Zimmer, alle mit eigenem Bad, auf dem nächsten ebenfalls“, erklärte er im ersten Stock. „Weitere zwölf Zimmer befinden sich in der umgebauten Scheune. Die Familie lebt in einem eigenen Flügel.“

„Ein wirklich beeindruckendes Gebäude“, sagte sie.

„Es ist seit Langem in der Familie. Meine Großeltern haben es vor dreißig Jahren in ein Hotel umgewandelt.“

Während er vor ihr herging, bewunderte sie seinen geschmeidigen Gang, seine breiten Schultern, die langen, kräftigen Beine. Er war einer dieser Männer, die in Anzügen wirklich gut aussahen. Am Ende des Flurs blieb er stehen.

„Das ist Ihr Zimmer“, verkündete Oliver und öffnete die Tür. „Ich fand es besser, dass Sie vor Ort sind und nicht wie das Personal im Dorf untergebracht.“

„Ja, das ist sinnvoll“, stimmte sie zu.

Das Zimmer war groß und hell, elegant eingerichtet mit Stilmöbeln und dezent gemusterten Vorhängen und Möbelbezügen. Es war modern und ließ doch den Zauber vergangener Zeiten durchschimmern. Auf schwere Möbel, dunkelroten Plüsch und Schusterpalmen war verzichtet worden, das Ambiente bot zeitgemäßen Luxus, der sich gut mit dem geschichtsträchtigen Haus vertrug. Offensichtlich hatte man einen erstklassigen Innenarchitekten mit der Gestaltung betraut, der eine perfekte Balance von Alt und Neu geschaffen hatte.

„Ein wunderschöner Raum“, sagte Marissa aufrichtig. „Zeitlos elegant.“

„Danke. Meine Großmutter, die das Haus eingerichtet hat, hört gern solches Lob. Sie war in jungen Jahren Innenarchitektin und hat viel Herzblut in die Gestaltung investiert.“

„Das hat sie wirklich großartig gemacht! Aber was ich unbedingt fragen muss: Ihre Großeltern haben das Weihnachtsfest bisher immer selbst organisiert. Gerate ich Mrs. Pierce jetzt nicht ins Gehege?“

„Darüber habe ich mit Granny schon gesprochen“, antwortete er. „Sie sagt, sie ist froh, dass sie nicht alles allein machen muss. Selbst mit Grandpas Hilfe ist es ihr in den letzten Jahren allmählich doch zu viel geworden.“

„Dann ist es gut. Caity hatte mir gesagt, dass Sie gewisse Änderungen vornehmen wollen, und ich habe mich gefragt, wie Mrs. Pierce dazu steht.“

„Granny ist zweiundachtzig Jahre jung, wie sie gern sagt. Sie hat nicht prinzipiell etwas gegen Änderungen, und wenn ihr an den neuen Plänen etwas nicht passen sollte, dann gibt sie Ihnen Bescheid, Marissa, da bin ich sicher.“

Man hörte ihm an, wie gern er seine Großmutter hatte, und das gefiel ihr. Es war schön, wenn jemand seiner Verwandtschaft nahestand. Sie hatte ja niemanden mehr.

„Granny und Grandpa waren ein gutes Team, echte Partner“, erzählte Oliver weiter. „Es ist schwer für sie ohne ihn, aber zum Glück kann ich ihr einiges abnehmen und seine Aufgaben ausführen. Sie möchte Sie bestimmt so bald wie möglich kennenlernen, ich werde Granny bitten, an der Besprechung teilzunehmen.“

„Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen!“ Und das meinte Marissa so, denn auch Caity hatte schon gesagt, wie sehr sie die alte Dame gemocht hatte.

„Dann lasse ich Sie jetzt auspacken, und wir sehen uns in einer halben Stunde.“

„Einverstanden. Bis gleich.“

Sobald er draußen war, warf Marissa ihren Mantel aufs Bett und nahm ihr Telefon, um im Internet Informationen über Oliver Pierce zu suchen. Sie musste einfach herausfinden, ob dieser Oliver nun derselbe war wie ihr Jugendschwarm.

Sie brauchte nicht lang: Oliver Pierce war zwar ein sehr zurückhaltender Mensch, dem nichts an Medienpräsenz lag, aber man berichtete doch über ihn in den Klatschspalten. Er hatte den Nachnamen seines Vaters gegen den seiner Mutter getauscht, als er vierundzwanzig war. Seine Mutter war ein berühmtes Model gewesen, sein Vater ein Rockstar. Die Ehe war stürmisch gewesen und hatte mit einer Scheidung geendet.

Aber deswegen den Namen ändern? Da steckte sicher eine Geschichte hinter, möglicherweise eine traurige, was aber ihre Meinung über ihn nicht ändern würde. In ihren geheimen Gedanken hatte sie ihn lange nur „abscheulicher Oliver“ genannt.

Heute hatte er freundlich und charmant gewirkt. Sie hatte ihn durchaus als angenehm empfunden, abgesehen von ihren Erinnerungen an sein früheres Verhalten. Plötzlich schauderte sie. Seine boshaften Worte hatten sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis gegraben. Trotzdem würde sie ihn als Klienten selbstredend mit professioneller Höflichkeit behandeln … und ihn ansonsten meiden, wo es ging.

Marissa Gracey ist umwerfend, dachte Oliver und empfand es fast als Schock. Caity hatte betont, wie smart, effizient und fähig ihre Freundin war, da hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, wie dieses Wunderwesen wohl aussehen mochte.

Hinreißend also. Doch das war völlig unerheblich. Er datete nie Frauen, die für ihn arbeiteten, nicht mal, wenn es nur für eine so kurze Zeitspanne war wie jetzt. Eine frühere Katastrophe mit einer Assistenzmanagerin hatte dafür gesorgt, dass er einen großen Bogen um solche Affären machte. Ihm war nur wichtig, dass diese Marissa so kompetent war, wie Caity behauptet hatte, und somit gesichert war, dass ein großartiges Fest ins Haus stand.

Trotzdem ließ es ihn nicht kalt, dass Marissa eine klassische Schönheit war: groß, schlank, anmutig, mit schulterlangen dunklen Haaren, intensiv blauen Augen, vollen Lippen und einem klaren Teint, vorhin rosig überhaucht von der Kälte draußen. Und elegant war sie! Schmale schwarze Hose, schwarze Stiefel mit hohen Absätzen, ein auffallender, dunkelroter Mantel. Unter dem trug sie, wie er dann in ihrem Zimmer gesehen hatte, eine langärmelige Seidenbluse mit einem abstrakten, schwarz-weißen Muster, die ihre Kurven dezent betonte.

Marissa Gracey war nicht nur eine Augenweide, sondern auch pünktlich, wie Oliver erfreut feststellte, als sie fünf Minuten vor der verabredeten Zeit in seinem Arbeitszimmer erschien. Pünktlichkeit und Ordnung waren ihm deshalb sehr wichtig, weil seine Kindheit und Jugend von Verrücktheit und Chaos geprägt gewesen waren. Er war laut seiner Mutter ein „Unfall“, denn sie war auf dem Höhepunkt ihrer Modelkarriere gewesen, als sie schwanger wurde, und sie hatte seinen Vater nur geheiratet, weil man das damals angeblich noch so machte.

Ob diese Ehe jemals glücklich gewesen war, konnte er nicht sagen. Seine frühesten Erinnerungen an seine Eltern waren solche an Auseinandersetzungen, laut und aufgebracht, brüllend und wütend, wenn sie getrunken hatten. Wenn sie ihn bei den Großeltern abgesetzt hatten, war das Haus hier ein friedlicher Hafen gewesen, in dem man ihn bedingungslos liebte.

Hatte seine Mutter ihn geliebt? Sie hatte es behauptet, aber er bezweifelte es, weil sie ihn so oft im Stich gelassen hatte. Granny hatte ihm erklärt, seine Mutter müsse nun mal arbeiten und deshalb viel reisen als Model. Sein Vater war in einer Rockband gewesen, die nie den ganz großen Durchbruch geschafft hatte und häufig auf Tournee ging. Die grundlegende Wahrheit war natürlich nicht die Arbeit, sondern einfach, dass ein Kind ihnen im Weg stand und sie es anderen aufhalsten, um sich nicht selber kümmern zu müssen.

Manchmal fragte er sich, ob sie jemals überlegt hatten, wie es sich auf ein Kind auswirkte, wenn man es ständig als „Unfall“ bezeichnete. Und ihm das sogar ins Gesicht sagte …

Als er acht Jahre alt war, steckten seine Eltern ihn in ein Internat. Dann hatten sie sich mehrmals getrennt und wieder versöhnt und sich schließlich scheiden lassen, als er dreizehn war. Zwei Jahre später hatte seine Mutter einen Neuseeländer kennengelernt, war ihm in seine Heimat gefolgt und dort geblieben.

Oliver hatte erwartet, dass sie ihn mitnahm, aber sie meinte nur, es wäre nicht gut für ihn, so kurz vor dem ersten wichtigeren Abschluss die Schule zu wechseln. Also ließ sie ihn zurück wie ein unerwünschtes Gepäckstück.

Wieder einmal …

Aber jetzt gibt es Wichtigeres zu bedenken, rief er sich zur Ordnung.

Marissa setzte sich auf den Besucherstuhl am Schreibtisch und legte einen Ordner auf die Platte, daneben stellte sie ihr Tablet.

„Caity hat ja schon all die mühsamen Arbeiten erledigt“, begann sie. „Sie hat Lieferanten organisiert, die Menüs mit Ihrem Chefkoch besprochen, Musiker engagiert, die Floristin gebrieft, Leute angeheuert, die die Dekorationen anbringen. Ihrer Anweisung gemäß, Oliver, hat sie dabei Leute aus der näheren Umgebung bevorzugt. Nun ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alles reibungslos funktioniert und Ihre Gäste das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten erleben können.“

„Das klingt für mich, als wäre alles so weit geregelt“, kommentierte Oliver.

„Es gibt einen Punkt, bei dem ich mir nicht sicher bin, und das ist das Verteilen der Geschenke nach dem Mittagessen am Weihnachtstag selbst – überreicht vom Weihnachtsmann und seiner Frau, also Santa Claus und Mrs. Claus, wie die beiden bei Ihnen heißen. Bekommt jeder Gast ein Geschenk?“

„Ja, es ist eine Familientradition, die zu einer des Hotels geworden ist.“ Oliver lächelte, erfüllt von schönen Erinnerungen aus vielen Jahren. „Grandpa und Granny haben sich am Weihnachtsmorgen für mich als Santa Claus und Mrs. Claus verkleidet, als ich Kind war. Ich habe das sehr geliebt. Als sie das Hotel eröffneten, blieben sie dabei, und es stellte sich heraus, dass die Gäste Santa und seine Frau ebenfalls mögen. Also hat das Paar immer noch seinen Auftritt nach dem Mittagessen.“

„Verstehe“, sagte Marissa.

Er fragte sich, warum ein Schatten über ihr Gesicht geflogen war, als er ihr die Tradition schilderte. Hatte sie ebenfalls schöne Erinnerungen an das Fest, die sie jetzt wehmütig machten, oder genau das Gegenteil, nämlich unglückliche?

Im Hotel gab es immer etliche Gäste, die hier Weihnachten feierten, weil sie problematischen Familienverhältnissen entgehen wollten. Gäste, die gar keine Familie hatten, solche, die nicht zu Hause sein konnten, und dann zum Glück auch genügend, die sich einfach keine Arbeit antun wollten.

Nun fragte er sich, wo Marissa Weihnachten gefeiert hätte, wenn sie nicht hier arbeiten würde. Und mit wem? Jedenfalls schien sie den Job, ohne zu zögern, angenommen zu haben, also hatte sie wohl keine anderen Pläne gehabt, überlegte er.

„Das klingt echt nett“, meinte sie nun. „Nur wie soll es dieses Jahr ablaufen?“

„Ohne meinen Großvater, meinen Sie?“, hakte er nach und spürte einen brennenden Schmerz beim Gedanken an den alten Mann, der nie wieder Santa spielen würde. „Die Rolle werde ich übernehmen. Ich kann ziemlich gut ho-ho-ho rufen.“

„Und Ihre Großmutter?“, wollte sie wissen und sah ihn mitfühlend an.

„Sie wird Mrs. Claus spielen wie immer. Ja klar, ich müsste sozusagen einen Weihnachtsenkel abgeben, aber ich bin ja kostümiert mit weißem Bart und weißer Perücke, da wird der Altersunterschied nicht ganz so auffallen“, sagte er.

„Richtig“, stimmte Marissa zu.

Oliver vermutete, dass sie merkte, wie sehr dieses Gespräch ihn bedrückte. Dabei war er doch von klein auf gut darin, seine Gefühle zu verbergen. Wie konnte diese Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte, hinter seine Fassade blicken?

Es wurde laut an die Tür geklopft, im gleichen Moment geöffnet, und seine Großmutter erschien. Sie wartete nie auf ein „herein“, bevor sie ein Zimmer betrat.

Er freute sich, dass sie sich ihnen anschloss, und das hier in diesem Zimmer. Sicher war es jedes Mal ein Schock für sie, ihn am Schreibtisch sitzen zu sehen statt ihren Mann. Für ihn war es ja auch immer noch ein Schock, dass es seinen Grandpa nicht mehr gab. Er hätte so gern noch mehr Zeit mit ihm verbracht.

Oliver stand auf und ging zu seiner Großmutter, um sie zu begrüßen. „Da reden wir gerade von Granny, und hier ist sie schon.“

Marissa stand ebenfalls auf. Granny kam weiter ins Zimmer, energisch wie üblich. Kurz musterte sie Marissa, dann lächelte sie. So wie sie seit dem Tod des Großvaters nicht mehr gelächelt hatte.

„Granny, das ist Marissa Gracey, die uns mit der Gestaltung des Weihnachtsfests helfen wird“, stellte er sie vor. „Marissa, meine Großmutter Edith Pierce.“

„Ich weiß doch, warum Marissa hier ist“, sagte Granny und strahlte die junge Frau an. „Sehr freundlich von Ihnen, extra aus London zu kommen, um uns zu unterstützen.“

„Es freut mich, dass ich es so einrichten konnte“, erwiderte Marissa höflich.

„Aber Oliver, warum hast du Marissa in Zimmer acht untergebracht?“, wollte Granny dann wissen.

„Es ist ein sehr schönes Zimmer“, lobte Marissa.

„Aber bestimmt sollten Sie doch mit Oliver in einem Zimmer sein?“

Marissa holte tief Luft, Oliver sah seine Großmutter ungläubig an.

„Ich bin alt, aber nicht engstirnig“, meinte diese. „Es ist nicht nötig, dass ihr nachts hinter meinem Rücken durch die Gänge zum anderen ins Zimmer schleicht. Also schlage ich vor, Marissa übersiedelt gleich zu dir, Oliver.“

3. KAPITEL

Sprachlos starrte Marissa die alte Dame an. Warum sagte sie denn so etwas? Fragend blickte sie zu Oliver, der auch völlig verdutzt wirkte.

Mrs. Pierce war eine elegante Frau, sehr gepflegt, mit einem Kurzhaarschnitt und dezentem Schmuck, dem man trotzdem ansah, wie kostbar er war. Ein Lächeln umspielte ihre perfekt geschminkten Lippen.

„Habe ich euch jetzt schockiert?“, fragte sie schelmisch. „Eure Generation hat den Sex nicht erst erfunden, wisst ihr!“

Oliver sah peinlich berührt aus und blickte Hilfe suchend zu Marissa. Was konnte sie denn tun? Das war seine Großmutter, für sie eine völlig Fremde.

Der Gedanke an Sex mit Oliver ließ Marissa erröten, und ihre heißen Teenagerfantasien gingen ihr blitzartig durch den Kopf.

„Ich weiß das, Granny, aber …“, begann Oliver.

„Ich bin nicht seine …“, sagte Marissa gleichzeitig.

„Marissa ist die neue Eventplanerin. Caity, die du so gernhattest. musste ins Krankenhaus. Du erinnerst dich an Caity?“

„Natürlich“, erwiderte Mrs. Pierce pikiert. „Mein Gedächtnis lässt mich zwar manchmal ein bisschen im Stich, aber nicht bei etwas so Wichtigem wie unserem Weihnachtsfest.“

„Also: Marissa springt für Caity ein, denn sie ist nicht nur deren Freundin, sondern selber eine erfahrene, kompetente Eventplanerin.“

„Vor mir brauchst du es nicht verheimlichen, dass sie auch deine Freundin ist, mein Lieber.“ Mrs. Pierce lächelte. „Sie ist wunderschön.“

„Ja, das ist sie, Granny. Wunderschön, meine ich. Aber sie ist nicht meine Freundin, und …“

Ach ja? Damals hat er mich ganz anders beschrieben, dachte Marissa pikiert.

„Ich weiß, dass du dein Privatleben lieber für dich behältst“, fiel seine Großmutter ihm ins Wort. „Aber lass mich sagen, wie sehr es mich freut, dass sie Weihnachten mit dir verbringt und ich so die Gelegenheit habe, sie kennenzulernen. Es macht mich glücklich, dich mit einer so schönen Frau zu sehen. Die noch dazu kompetent ist, wie du sagst.“

Marissa fand, dass die alte Dame aufrichtig klang, nur völlig fehlgeleitet mit ihrer Vermutung. Jedenfalls war die Situation unendlich peinlich. Warum sagte Oliver denn nicht noch mehr, um den unsinnigen Irrtum zu stoppen? Sie selber konnte als Fremde und momentan Angestellte ja nicht der Besitzerin des Hauses widersprechen.

Doch sie sprach auch schon weiter. „Du weißt doch, Oliver, wie traurig ich seit Charles’ Tod bin. Manchmal fühle ich mich so elend, dass ich überlege, ob das Weiterleben überhaupt Sinn hat. Wenn man nichts mehr hat, auf das man sich freuen kann.“

Oliver trat zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. „Sag nicht so was, Granny!“

„Es ist doch wahr!“, konterte sie. „Leider. Ich weiß, du trauerst auch um ihn, aber einen Ehemann zu verlieren ist doch noch etwas anderes als einen Großvater. Charles und ich waren seelenverwandt, auch wenn wir das damals nicht so genannt haben.“

„Ja, man hat euch das Glück angesehen“, bestätigte Oliver wehmütig.

Marissa war es peinlich, als Fremde Zeugin von so viel Kummer zu sein. Vielleicht konnte sie sich ja unauffällig aus dem Zimmer stehlen?

Das ließ Mrs. Pierce aber nicht zu. „Wissen Sie, Marissa, ich will Ihnen nicht die Pistole auf die Brust setzen, aber … Nun ja, die Aussicht, dass mein Enkel endlich sesshaft wird, dass neues Leben ins Haus kommt mit einer neuen Generation … Ja, das macht mich glücklicher, als ich jemals erwartet hätte in meiner tristen Lage.“

Oliver war offensichtlich sprachlos. Genauso offensichtlich liebte und respektierte er seine Großmutter und wollte sie glücklich sehen. Glaubte sie denn wirklich, er hätte jetzt sie, Marissa, als Freundin? Oder bildete die alte Dame sich das nur ein, vom Alter schon leicht wirr?

Mrs. Pierce seufzte tief und wirkte plötzlich sehr zart, ja gebrechlich. „Mein erstes Weihnachtsfest ohne meinen lieben Charles. Seit sechzig Jahren! Wie soll ich das bloß schaffen.“

Oliver legte den Arm um sie. „Ich bin hier. Du bist nicht allein.“

„Du bist es auch nicht, mein Lieber. Du hast ja jetzt Marissa“, erwiderte seine Großmutter.

„Granny, du hast dir da etwas Falsches in den Kopf …“, begann er gepresst.

Sie fiel ihm ins Wort und wandte sich an Marissa. „Sie haben eine alte Frau sehr glücklich gemacht mit Ihrem Kommen. Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie Oliver besuchen. Er hat noch keine seiner Freundinnen hierhergebracht, also müssen Sie eine ganz besondere Frau für ihn sein. Ich freue mich schon darauf, Sie näher kennenzulernen.“

Jetzt kam Marissa um eine Erwiderung nicht herum. Denn von Oliver kam keine Hilfe. Er wirkte genauso verdutzt wie sie. „Ja, äh, ich mich auch“, brachte sie heraus. „Ich meine, ich freue mich, Sie näher kennenzulernen, Mrs. Pierce.“

„Wollen wir jetzt die Pläne fürs Fest besprechen?“, schlug Mrs. Pierce nun ganz sachlich vor.

Oliver zuckte mit den Schultern, Marissa nickte.

Sie setzten sich an den runden Konferenztisch in der einen Ecke des geräumigen Arbeitszimmers. Marissa fragte sich, warum Oliver nicht vehementer bestritten hatte, dass sie seine Freundin war.

Seine Großmutter kehrte jetzt jedenfalls die Geschäftsfrau heraus, aufmerksam und sachkundig, während sie die Pläne durchgingen. Sie war ganz und gar auf dem Laufenden, auch was die Finanzen betraf. Ihr gefiel, dass es bei traditionellem Weihnachten bleiben sollte, aber mit einem moderneren Dreh. Ihr gefiel auch die Idee mit dem Designerschmuck. Dass es vegetarische und vegane Optionen auf der Speisekarte geben sollte, fand ebenfalls ihre Zustimmung. Es verzichteten ja immer mehr Gäste auf traditionelles schweres Essen.

„Gut gemacht, Marissa“, lobte sie, als sie die letzte Präsentation begutachtete.

Ja, jetzt wirkte sie wie eine kompetente Hoteleignerin. Das eben war wohl eine kurze geistige Verwirrung gewesen.

„Es freut mich, dass Sie mit allem einverstanden sind“, dankte Marissa und kam sich vor, als hätte sie gerade eine Prüfung bestanden.

Edith – sie hatte Marissa inzwischen gebeten, sie beim Vornamen zu nennen – wandte sich Oliver zu. „Wo, hattest du doch gleich gesagt, hast du Marissa kennengelernt?“

„Das habe ich gar nicht gesagt. Wir kennen uns … äh … durch eine gemeinsame Freundin.“

Das stimmte in Bezug auf Caity, und es traf im Grunde auch auf ihr erstes Kennenlernen damals zu, da er der beste Freund des Bruders ihrer besten Freundin gewesen war. Doch Oliver schien sich gar nicht zu erinnern, und sie, Marissa, würde ihm diese Zeit ganz sicher nicht in Erinnerung rufen. Ob er Toby manchmal noch traf? Sie selber hatte den Kontakt mit Samantha verloren, als diese die Schule wechselte.

„Das ist die beste Art, einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben zu finden“, meinte Edith. „Von diesen Dating Apps halte ich gar nichts.“

Oliver murmelte etwas Unverständliches, und Marissa wäre beinah der Mund offen geblieben. Insgeheim fand sie es amüsant, dass dieser heiße, hypererfolgreiche Geschäftsmann – der vor Jahren so gemein zu ihr gewesen war – von seiner zarten kleinen Großmutter dermaßen schockiert wurde, dass ihm die Worte fehlten.

Aber sie war auch erleichtert, als die Besprechung schließlich zu Ende war und Edith das Zimmer verließ. Als Marissa sicher sein konnte, dass die alte Dame außer Hörweite war, stand sie auf und wandte sich Oliver zu, der sie bis zur Tür begleitet hatte.

„Was sollte das? Warum haben Sie Ihre Großmutter glauben lassen, ich wäre Ihre Freundin?“

„Das habe ich doch gar nicht! Ich habe ihr erklärt, wer Sie sind“, entgegnete er, scheinbar selbstsicher, aber merklich betroffen von der Konfrontation mit seiner Granny.

„Sie haben es nicht sofort und eindeutig bestritten“, warf Marissa ihm vor. „Und ich kenne Edith nicht gut genug, um ihr zu widersprechen. Obwohl ich es ja versucht habe. Was Sie auch bemerkt haben. Das alles war so peinlich für mich.“

„Tut mir leid, Marissa. Granny hat mich sozusagen aus dem Hinterhalt erwischt. Ich hätte eindringlicher versuchen sollen, alles richtigzustellen. Ich war so überrascht, dass mir die Worte gefehlt haben.“

„Wie kommt Ihre Granny bloß auf den Gedanken, ich wäre Ihre Freundin? Was haben Sie ihr denn von mir erzählt?“

Oliver zuckte die Schultern. Breite Schultern, deren Muskeln sich unter seinem maßgeschneiderten Leinenhemd deutlich abzeichneten. Der schlaksige Teenager hatte sich zu einem auffallend gut gebauten Mann entwickelt.

Aber ich bin ja immun gegen umwerfend attraktive Männer, rief sie sich rasch ins Gedächtnis.

Oder machte sie sich da etwas vor?

„Ich habe ihr nur gesagt, Sie würden Caity bei der Planung des Festes vertreten. Mehr nicht. Aber sie ist alt und hat seit einiger Zeit ein paar Gedächtnisprobleme. Geringfügige, nichts so hochgradig Verwirrtes wie das eben.“

„Verstehe.“ Marissa überlegte kurz. „Sie hängen sehr an Ihrer Großmutter, oder?“

„Ja. Sie war mehr Mutter für mich als meine richtige Mutter, die übrigens Ediths Tochter ist.“

Interessant. Sie hätte gern nach Einzelheiten gefragt, aber sein Ausdruck wurde verschlossen und sie hakte lieber nicht weiter nach. Es ging sie ja auch nichts an.

Was sie allerdings etwas anging, war die Annahme seiner Granny, sie, Marissa, könnte Olivers Freundin, nein, Lebenspartnerin sein. Das war für Oliver sichtlich unangenehm gewesen, aber nicht halb so unangenehm wie für sie. Schließlich musste sie hier die ganze nächste Woche arbeiten.

„Können Sie das Missverständnis bitte möglichst zeitnah aufklären?“, fragte sie. „Es wäre sonst sehr peinlich für mich, wenn ich mit Ihrer Großmutter Kontakt habe und sie glaubt, ich wäre schon fast so etwas wie ein Familienmitglied.“

„Verstehe“, erwiderte Oliver. „Danke für Ihre Geduld und Freundlichkeit gegenüber Granny.“ Er kam zu ihr. „Aber … Ich habe sie schon lange nicht mehr so lächeln sehen wie eben. Nicht mehr seit Grandpa krank wurde.“

„Was meinen Sie?“

„Die Art, wie Granny Sie angelächelt hat. Ihr Ausdruck, als sie sagte, wie glücklich der Gedanke sie macht, dass wir …“, er räusperte sich, „dass Sie und ich ein Paar sind.“

„Schön, aber das ist eine irrige Annahme. Richtig?“

„Ja, ganz richtig.“ Oliver sah sie eindringlich an. „Aber was, wenn wir die Annahme wahr werden lassen?“

„Wie meinen Sie das denn nun?“ Marissa wich einen Schritt zurück.

„Wäre es vermessen, Sie zu bitten, meine Freundin zu spielen? In der einen Woche, die Sie hier im Haus sind.“

„Was?“

„Ich möchte, dass Sie meine Freundin spielen, um meine Großmutter glücklich zu machen und ihr ein schönes Fest zu schenken. Ihr erstes Weihnachten nach dem Tod meines Großvaters.“

Ungläubig schüttelte Marissa den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das können Sie unmöglich ernst meinen, Oliver.“

„Ich weiß, es klingt völlig verrückt. Aber Sie sehen doch selber, wie gebrechlich und zutiefst unglücklich Granny ist. Sie hat Sie sofort ins Herz geschlossen! Obwohl ich keine Ahnung habe, warum sie so überzeugt davon ist, dass Sie meine Partnerin sind.“

„Meine Großmutter wurde ein bisschen, nun ja, exzentrisch auf ihre alten Tage, um es nett auszudrücken. Ist Edith denn …“ Sie sprach nicht weiter.

„Dement, meine...

Autor

Heidi Rice
<p>Heidi Rice wurde in London geboren, wo sie auch heute lebt – mit ihren beiden Söhnen, die sich gern mal streiten, und ihrem glücklicherweise sehr geduldigen Ehemann, der sie unterstützt, wo er kann. Heidi liebt zwar England, verbringt aber auch alle zwei Jahre ein paar Wochen in den Staaten: Sie...
Mehr erfahren
Penny Roberts
<p>Hinter Penny Roberts steht eigentlich ein Ehepaar, das eines ganz gewiss gemeinsam hat: die Liebe zum Schreiben. Schon früh hatten beide immer nur Bücher im Kopf, und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Und auch wenn der Pfad nicht immer ohne Stolpersteine und Hindernisse war – bereut haben...
Mehr erfahren
Kandy Shepherd
<p>Kandy Shepherd liebte das Schreiben schon immer. Um ihrer Leidenschaft auch beruflich nachzukommen, wandte sie sich dem Journalismus zu, arbeitete für angesehene Frauenmagazine und machte sich in dieser Branche als Redakteurin schnell einen Namen. Sie mochte ihren Job – doch noch lieber wollte sie Geschichten schreiben! Also ließ sie den...
Mehr erfahren

Gefahren

  • Dieses Produkt enthält keine bekannten Gefahren.

Kontakt zum Herausgeber für weitere Informationen zur Barrierefreiheit

  • Weitere Informationen zur Barrierefreiheit unserer Produkte erhalten Sie unter info@cora.de.

Navigation

  • Dieses E-Book enthält ein Inhaltsverzeichnis mit Hyperlinks, um die Navigation zu allen Abschnitten und Kapiteln innerhalb dieses E-Books zu erleichtern.