Julia Winterträume Band 14

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IN EINER STÜRMISCHEN WINTERNACHT von CAROLE MORTIMER
Draußen ist es kalt, doch drinnen knistert’s heiß: In einem Sturm findet Meg Unterschlupf bei Jed Cole. Sein Anblick bringt ihr Herz zum Rasen - und als er sie küsst, schmilzt sie förmlich dahin. Aber kann ein Einzelgänger wie er Megs Wintermärchen wahr machen?

RENDEZVOUS IM WINTER von HELEN BROOKS
Als sie vor den Tannenbaum in Zak Hamiltons Villa tritt, wird Blossom warm ums Herz. Doch so sehr es zwischen ihr und dem verwegenen Unternehmer prickelt, würde sie am liebsten fliehen. Denn diese Zeit im Winter erinnert sie an alles, was sie eigentlich vergessen will …

WINTERMÄRCHEN IN NEW YORK von SANDRA MARTON
Dantes Welt steht Kopf. Kurz vor dem Fest der Liebe hat Tally ihn damals verlassen, und noch immer sehnt er sich nach ihren Berührungen. Unter einem Vorwand lockt er sie in das winterliche New York: Um es ihr heimzuzahlen … oder um ihr sein Herz zu schenken?


  • Erscheinungstag 05.11.2019
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713447
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carole Mortimer, Helen Brooks, Sandra Marton

JULIA WINTERTRÄUME BAND 14

1. KAPITEL

„Schau, Mummy, wie’s schneit!“, rief Scott aufgeregt vom Rücksitz des Autos.

Meg seufzte. Es schneite nicht, es stürmte – und wie! So wie es der Wetterbericht, dem sie seit geraumer Zeit mit wachsender Unruhe lauschte, mittlerweile für den Abend vorhersagte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

Als sie vor drei Stunden in London losgefahren waren, hatte es sich noch um zarte Flöckchen gehandelt, die auf den Straßen sofort schmolzen, Hausdächer und Vorgärten mit einer hübschen weißen Decke überzogen und der geschäftigen Großstadt ein vorweihnachtliches Aussehen verliehen. Doch je weiter Meg sich von London entfernte, umso schlimmer wurde es. Inzwischen lag der Schnee so hoch, dass sie die Straße kaum vom offenen Land unterscheiden konnte. Nur mühsam hielten die Scheibenwischer die Windschutzscheibe frei, und Meg konnte den Wagen auf der glatten Fahrbahn kaum mehr halten. Mit zunehmender Dunkelheit verringerte sich auch noch die Sicht, sodass sie im schwachen Licht der Scheinwerfer nur eine endlose weiße Wüste vor sich sah.

Für den dreieinhalb Jahre alten Scott war die Fahrt natürlich ein Abenteuer. Nachdem er die letzte Stunde fest geschlafen hatte, betrachtete er jetzt mit großen Augen die Winterlandschaft um sich herum, die ihm keineswegs gefährlich erschien.

Umso besser, dachte Meg. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel auf das kleine Gesicht und die vom Schlaf zerzausten dunklen Locken. Es genügte, wenn sie sich Sorgen machte.

„Sieht es nicht wunderschön aus?“, stimmte sie mit einem liebevollen Lächeln zu, bevor sie sich schnell wieder auf die Fahrbahn konzentrierte.

Sie hätten nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug anreisen sollen; es wäre weniger anstrengend gewesen und auch sicherer. Seit mindestens einer halben Stunde war ihnen auf der einsamen Straße kein Auto mehr begegnet – vermutlich, weil der Wetterbericht ständig wiederholte, nur im Notfall den eigenen Wagen zu nehmen. Für Meg kam diese Warnung leider erst, als sie und Scott bereits zwei Drittel der Strecke zurückgelegt hatten.

„Wenn wir bei Grandma und Grandpa sind, darf ich dann einen Schneemann bauen, Mummy?“, wollte ihr Sohn jetzt von ihr wissen.

„Natürlich darfst du das, Schätzchen“, erwiderte sie ein wenig zerstreut.

Die Frage war, ob und wann sie ihr Ziel erreichten – heute Abend, so wie geplant, bestimmt nicht. Meg hatte keine Ahnung, wo sie waren, und in dieser Schneewüste war niemand, den sie fragen konnte.

„Mummy … ich muss mal.“

Sie seufzte. Wie alle Mütter kleiner Kinder wusste sie, was das bedeutete: nicht später, in einer Viertelstunde oder fünf Minuten, sondern sofort. Wo immer man gerade war, ob in einem Supermarkt, im Bus oder auf einer verschneiten Straße, spielte dabei keine Rolle. Scott zu fragen, ob er nicht noch warten könne, war vermutlich zwecklos, trotzdem versuchte sie es.

„Kannst du es noch ein Weilchen aushalten? Wir sind bestimmt bald da“, versicherte sie, obwohl sie eigentlich nicht daran glaubte.

Wie erwartet, erhielt sie eine abschlägige Antwort. „Nein, ich muss jetzt.“

Langsam verlor Meg die Nerven. Sich aufs Fahren zu konzentrieren war schlimm genug, zusätzlichen Stress brauchte sie nicht. Scott traf natürlich keine Schuld: Er hatte über eine Stunde geschlafen, und jetzt musste er zur Toilette. Aber wo? Sie konnte doch nicht einfach am Straßenrand anhalten. Heute war der 23. Dezember, und die Temperatur lag unter null. Er würde sich den Tod holen.

Wenn doch nur irgendwo ein Gebäude zu sehen wäre! Wenigstens eine Scheune, wo sie anhalten und das Ende des Schneetreibens abwarten könnten.

Und noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, spürte sie, wie der Wagen ins Schleudern geriet. Sie umklammerte das Lenkrad, um ihn zu halten, aber sie schaffte es nicht. Im nächsten Moment ragte ein riesiger dunkler Schatten vor ihr auf. Sie rief: „Scott! Halt dich fest!“, dann krachten sie mit einem Knirschen, das ihr durch Mark und Bein ging, gegen etwas Hartes und blieben stehen.

„Mummy!“, schrie Scott und noch einmal „Mummy!“, als sie nicht antwortete.

„Es ist alles okay, Schatz“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Vorsichtig befühlte sie ihren Kopf, der beim Aufprall an die Fensterscheibe geschlagen war.

Die Scheinwerfer brannten noch, obwohl der Motor sofort ausgegangen war. Meg drehte sich zu Scott um: Er saß noch immer festgeschnallt in seinem Kindersitz und streckte ihr schreckensbleich die Arme entgegen. Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Nicht weinen, Liebling, es ist uns ja nichts passiert.“ Mit zitternden Fingern öffnete sie den Sitzgurt, um auszusteigen und zu ihm zu gehen, doch dazu kam sie nicht. Die Tür neben ihr wurde aufgerissen; eisige Luft schlug ihr ins Gesicht, und ein Riese steckte bedrohlich den Kopf durch die Öffnung. Entsetzt schrie sie auf.

„Mummy, Mummy! Ein Bär!“

Ein riesiger, haariger Grizzlybär.

Ein Bär mit blauen Augen und dichtem dunkelbraunen Haar, konstatierte Meg im nächsten Moment, als der Mann die Kapuze seines Wintermantels zurückschob.

„Sind Sie verletzt?“, fragte er brüsk, bevor er sich nach dem weinenden Kind umdrehte.

„Lassen Sie mich raus, ich muss zu ihm!“

Der Mann trat zurück, und Meg sprang aus dem Auto. Sie riss Scotts Tür auf, hob ihn aus dem Sitz und drückte ihn an sich. „Alles ist in Ordnung, Liebling. Das ist kein Bär, sondern ein freundlicher Herr, der uns nur helfen will.“

Wenigstens hoffte sie das. Bei ihrem Pech würde es sie nicht wundern, wenn sie das Haus – denn als solches erwies sich der riesige Schatten – eines menschenfeindlichen Einsiedlers gerammt hatte, der Frauen und kleine Kinder nicht mochte und nicht daran dachte, ihnen zu helfen.

Im Moment war ihr das auch egal, der Schreck steckte ihr noch zu sehr in den Gliedern. Benommen fragte sie: „Ist in dem Hotel noch etwas frei?“

Er zog die Augenbrauen hoch, dann erwiderte er spöttisch: „Sie haben Glück, es ist tatsächlich etwas frei. Kommen Sie.“

Natürlich war es kein Hotel, sondern ein Cottage, wie Meg gleich darauf zu ihrem Beschämen feststellte – der Mann musste sie für eine Idiotin halten. Nach einem kurzen Abstecher zur Toilette saß sie jetzt mit Scott auf den Knien in einem niedrigen Wohnzimmer mit Holzbalken an der Decke. Im Kamin prasselte ein Feuer, und ihr unfreiwilliger Gastgeber hatte sie mit heißer Schokolade bewirtet, bevor er wieder verschwand.

„Mummy, wo ist der Mann hingegangen?“, wollte Scott wissen, während er sich schüchtern umsah.

„Das weiß ich nicht. Nach draußen, nehme ich an.“

Die Tür ging auf, und der Hausherr kam in den Flur zurück. Er war von oben bis unten mit Schnee bedeckt und sah jetzt eher wie ein Eisbär aus.

„Mein Name ist Jed“, brummte er, während er Mantel und Stiefel auszog und zu ihnen ins Wohnzimmer trat. „Das gehört Ihnen, nehme ich an.“ Er reichte Meg ihre Handtasche, die sie im Auto vergessen hatte, und hielt Scott den kleinen Rucksack mit seinen Spielsachen hin. „Und das ist wohl deiner“, sagte er etwas freundlicher. „Hier sind die Autoschlüssel.“ Er ließ sie in ihre ausgestreckte Hand fallen. „Allerdings besteht kaum Gefahr, dass man den Wagen stiehlt“, fügte er trocken hinzu. „Er ist vorne ganz schön verbeult.“

Zwei Dinge gingen Meg durch den Kopf: Der Mann sprach mit einem amerikanischen Akzent und war auch ohne den dicken Wintermantel eher überwältigend.

Knapp zwei Meter groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, stand er vor ihr. In dem schwarzen Pullover und den verwaschenen Jeans kam seine athletische Gestalt bestens zur Geltung. Das dunkle Haar war dicht und etwas zu lang, das Gesicht mit dem eckigen Kinn tief gebräunt. Alles in allem machte er den Eindruck eines durch und durch selbstsicheren Menschen.

Jetzt musterte er Scott und sie mit kühlem Interesse. Unbewusst zog Meg ihren Sohn enger an sich. Was mochte er von ihnen denken?

Sie selbst war zierlich gebaut, maß kaum einen Meter sechzig, und die pechschwarze glatte Mähne reichte ihr fast bis zur Taille. Sie hatte ein schmales herzförmiges Gesicht mit tiefgrünen Augen und ein paar kecken Sommersprossen auf der Nase, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem ihres Sohns aufwies.

Niemand sprach, und langsam wurde das Schweigen ungemütlich. Meg räusperte sich. „Es tut mir wirklich leid, Mr. … äh … Jed, dass wir Sie und Ihre Familie auf diese Art belästigen müssen, aber …“

„Eine Familie gibt es nicht, ich wohne allein.“ Er bückte sich, um einen Holzscheit ins Feuer zu legen, bevor er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete. Unwillkürlich zog Meg sich noch tiefer in den Sessel zurück.

„Haben Sie Angst vor mir?“ Er bedachte sie mit einem kurzen Lächeln, welches sie durchaus nicht beruhigend fand. „Ich weiß, ich sollte wieder mal zum Friseur gehen – sehe ich wirklich wie ein Bär aus?“

Nervös fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sie benahm sich wie ein kleines Kind – der Mann war schließlich ihr Retter, nicht ihr Feind.

Sie stand auf und setzte Scott auf den Sessel. „Ich kann Ihnen nicht genug danken, Mr. … Jed. Wenn Sie uns nicht geholfen hätten, dann …“ Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

„Es war mir ein Vergnügen“, versicherte er trocken.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die Telefonnummer der nächsten Werkstatt zu geben? Ich möchte das Auto abschleppen lassen und … Warum schütteln Sie den Kopf?“

„Machen Sie sich keine Hoffnung. Jetzt ist es nach halb sechs, die Werkstatt im Ort ist geschlossen. Und bei dem Wetter würde sowieso niemand kommen.“

Meg sah aus dem Fenster und biss sich auf die Lippen. Der Sturm wütete mit unverminderter Gewalt. Sie warf einen Blick auf Scott, der jetzt auf dem Teppich lag und spielte. Die Unterhaltung zwischen seiner Mutter und dem fremden Mann langweilte ihn ganz offensichtlich.

Was sollte sie tun? Das Auto war kaputt und die Straße völlig zugeschneit. Zu Fuß würden sie nirgends hinkommen.

Außerdem – sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie überhaupt waren. Scott und sie saßen fest. Und das einen Tag vor Weihnachten!

Jed konnte sich gut vorstellen, was in ihr vorging. Wie jung und hilflos sie aussah! Überhaupt nicht wie eine erwachsene Frau, geschweige denn wie die Mutter eines kleinen Jungen. Sie selbst war ja noch ein halbes Kind. In dem weißen Gesicht bildeten die Sommersprossen und die riesigen Augen mit den unglaublich langen schwarzen Wimpern – die längsten, die er jemals gesehen hatte – im Moment die einzigen Farbtupfer.

Man sah ihr an, wie unglücklich sie war.

Nicht, dass er, Jed, mit den Geschehnissen besonders glücklich wäre! Er war nicht in dieses abgeschiedene englische Dorf gekommen, um seine Ruhe von einem grünäugigen weiblichen Kobold und einem kleinen Jungen stören zu lassen.

Doch was immer ihr auch durch den Kopf gehen mochte, sie wahrte die Fassung, als sie ihm ihre schmale Hand entgegenhielt. „Mein Name ist Meg Hamilton, und das ist Scott, mein Sohn.“

Typisch britisch, schoss es Jed durch den Kopf. Nichts, nicht einmal ein Schneesturm, brachte diese Nation dazu, ihre guten Manieren zu vergessen.

„Jed Cole“, erwiderte er brüsk und schüttelte die dargebotene Hand. Dabei ließ er Meg nicht aus den Augen. Sagte ihr sein Name etwas?

Es sah nicht so aus. Sie entzog ihm die Hand, offenbar zufrieden, dass das Vorstellen nun vorbei war.

Sie wusste also nicht, wer er war. Es sei denn, dachte er zynisch, sie ist eine hervorragende Schauspielerin.

Seit neun Monaten – seitdem sein Privatleben anscheinend öffentliches Besitztum war – verfolgte ihn vor allem das weibliche Geschlecht unter den fadenscheinigsten Vorwänden. Eine seiner Bewunderinnen war sogar bis in den Umkleideraum seines Sportclubs vorgedrungen, zur allgemeinen Erheiterung der übrigen Männer. Dennoch hielt er es für unwahrscheinlich, dass ihm jemand mitten in einem Schneesturm, mit einem dreijährigen Kind im Schlepptau, nachfuhr, nur um seine Bekanntschaft zu machen. Das ginge denn doch etwas zu weit. Abgesehen davon gehörte Meg Hamilton, da sie ihn nicht erkannt hatte, auch nicht zu seinen Bewunderinnen.

„Gibt es in der Nähe kein Hotel, wo Scott und ich übernachten können?“, fragte sie.

„Leider nicht.“ Es tat ihm wirklich leid, denn nun blieb ihm nichts anderes übrig, als die beiden zu beherbergen; bei dem Wetter konnte er sie schlecht vor die Tür setzen.

Warum hatte sie sich ausgerechnet sein Haus für ihren Unfall ausgesucht? Er war von Natur aus nicht sehr gesellig, und die Abgeschiedenheit der letzten zwei Monate hatte ihn nicht umgänglicher werden lassen. Außerdem irritierten ihn Unbesonnenheit und Leichtsinn – und mit einem so jungen Kind bei dem Wetter Auto zu fahren erschien ihm als der Gipfel der Unvernunft.

„Hier gibt es kein Hotel, nicht einmal einen Nachbarn“, informierte er sie. „Ich bin der Einzige weit und breit.“

Meg runzelte die Stirn. „Wir können nicht allzu weit von Winston entfernt sein. Ist es nicht möglich …“ Sie verstummte und rieb nervös die Handflächen an den Nähten der Jeans.

„Winston liegt etwa fünfzehn Kilometer von hier“, entgegnete er ungeduldig. „Aber selbst wenn es nur hundert Meter wären – wir sind von der Hauptstraße abgeschnitten. Das hier ist ein Privatweg, der nicht geräumt wird. Und in dem jetzigen Zustand ist er unbefahrbar.“

Tränen der Hilflosigkeit erschienen in ihren Augen, und Jed verwünschte im Stillen seinen barschen Ton. Musste er ihr die ausweglose Lage so brutal ins Gesicht sagen? Etwas milder fuhr er fort: „Ich vermute, Sie haben ungefähr einen Kilometer von hier die falsche Abzweigung genommen. Wo kommen Sie eigentlich her?“

„Aus London, da hat es kaum geschneit, als wir losfuhren.“

Nun, das erklärte, warum sie bei dem Wetter unterwegs war. „Ich verstehe nicht, warum Sie nicht irgendwo angehalten haben, als der Sturm stärker wurde.“ Trotz guter Vorsätze konnte er seinen Missmut nicht verbergen. Was sollte er jetzt mit den beiden anfangen?

Meg stieg das Blut in die Wangen. „Daran habe ich nicht gedacht.“ Herausfordernd hob sie das Kinn. „Jeder kann Fehler machen, oder?“

„Und jetzt sitzen Sie und er hier bei mir fest.“

Er hat einen Namen. Scott, falls Sie es vergessen haben.“ Langsam ging Jed Cole ihr auf die Nerven mit seiner Überheblichkeit. „Mir tut der Unfall ebenso leid wie Ihnen, das können Sie mir glauben. Ich bin sicher, es gibt einen Weg, um Sie von unserer unwillkommenen Gegenwart zu befreien.“

Das hoffte er auch. Dennoch spürte er so etwas wie Achtung für dieses zierliche Persönchen: Nach einer langen und mühsamen Fahrt hatte sie bei dem Unfall die Nerven behalten, und trotz ihrer misslichen Lage ließ sie sich durch ihn und seine düsteren Voraussagen nicht entmutigen.

Nichtsdestoweniger gefiel ihm die Idee, sie und den Jungen beherbergen zu müssen, kein bisschen.

Jed Cole, Retter in der Not.

Eine Rolle, die ihm nicht gerade auf den Leib geschrieben war. Seine Meinung von der Menschheit im Allgemeinen war nicht die beste – und das galt auch für grünäugige Damen mit schwarzen Haaren.

„So?“ Er ließ sich in einen Sessel fallen und legte ein Bein über die Lehne. „Was schlagen Sie vor?“

„Vielleicht könnten wir zu Fuß bis zur nächsten …“

„In einem Schneesturm und noch dazu bei Nacht?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Jungen. „Was ist, wenn er – ich meine, Scott – in einer Schneewehe verloren geht? Die sind jetzt schon über einen Meter hoch.“

Zornig fuhr sie ihn an. „Das würde er nicht – und wenn, würde ich ihn finden.“

Nachlässig hob er die Schultern. „Mit dem Auto haben Sie sich verfahren. Glauben Sie, dass Ihr Orientierungssinn zu Fuß ausgeprägter ist?“

Eine Weile antwortete sie nicht, dann fragte sie leise: „Tun Sie das mit Absicht? Ich meine – wollen Sie mir bewusst Angst machen?“

„Ist es mir gelungen?“, fragte er zurück.

Meg erblasste. „Ich finde, Sie sind grausam und gefühllos.“

So, wie sie vor ihm stand, erinnerte sie ihn an eine Löwin, die ihr Junges verteidigte – koste es, was es wolle.

„Ich verstehe sehr gut, dass unser plötzliches Erscheinen bei Ihnen …“

„Erscheinen? Sie haben die verdammte Hauswand fast zum Einsturz gebracht. Ich dachte, das Dach bricht über mir zusammen.“

„Das ist mir klar, aber … aber das geschah nicht absichtlich. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht … Würden Sie bitte in Scotts Anwesenheit nicht fluchen? Ich möchte nicht, dass er solche Wörter lernt.“

Ungläubig starrte er ihr ins Gesicht. Jetzt schrieb sie ihm auch noch vor, was er in seinem eigenen Haus sagen durfte und was nicht.

„Gibt es nicht einen Mr. Hamilton, der ungeduldig auf Sie und den Kleinen wartet?“, fragte er verdrossen. Warum musste er, Jed, sich um sie kümmern, wozu gab es schließlich Ehemänner?

Sie erschrak, als habe er sie an etwas erinnert, das sie vergessen hatte. Plötzlich sah sie wieder verloren und hilflos aus.

„Doch“, erwiderte sie nach einer Weile, „den gibt es.“

„Vielleicht zufällig in erreichbarer Nähe?“, fragte er unmutig. Der Beschützerinstinkt, den diese Frau gegen seinen Willen in ihm weckte, war ihm gar nicht recht.

„Und auch eine Mrs. Hamilton. Meine Eltern“, fügte sie hinzu, als er sie erstaunt ansah. „Wir sind auf dem Weg zu ihnen, und wahrscheinlich werden sie langsam ungeduldig. Mein Vater war krank und darf sich nicht aufregen. Könnte ich bitte Ihr Telefon benutzen, um sie kurz anzurufen?“

Jed runzelte die Stirn. Sie sagte nicht, dass sich ihre Eltern sorgen könnten, nur, dass sie „ungeduldig werden“. Seltsam. Aber das ging ihn schließlich nichts an.

„Gern.“ Er zeigte auf einen kleinen Tisch neben der Tür. „Dort steht es.“

Das Telefon war einer dieser altmodischen Apparate mit einer Wählscheibe. Wie der Rest der Einrichtung hatte es bessere Zeiten gesehen. Das ganze Haus war eher altmodisch und die Zimmer viel zu niedrig. Jed zog eine Grimasse, als er daran dachte, wie oft er in den ersten Wochen mit dem Kopf an die Deckenbalken gestoßen war.

Meg Hamilton brauchte sich deswegen allerdings keine Sorgen zu machen: Gut dreißig Zentimeter lagen zwischen ihr und der Zimmerdecke. Ihre Nervosität musste andere Gründe haben.

„Soll ich mit Scott in die Küche gehen, während Sie telefonieren?“, fragte er und stand auf.

„Danke, das ist nicht nötig.“ Sie lächelte gezwungen. „Ich will nur Bescheid geben, dass sie nicht mit dem Abendessen auf uns warten sollen.“ Sie hob den Hörer ab und wählte.

Jed setzte sich wieder in den Sessel. Diese letzte Bemerkung war höchst aufschlussreich. Er dachte daran, wie seine Mutter reagieren würde, hätte er sich bei einem Schneesturm verspätet. Nicht nur würde sie seinen Vater und seine Brüder losschicken, um nach ihm zu suchen, sie würde die gesamte örtliche Polizei mobilisieren und vermutlich auch noch das FBI. Ob das Abendessen kalt wurde oder nicht, wäre mit Sicherheit ihre geringste Sorge.

„Mutter?“, fragte Meg nervös, als jemand am anderen Ende antwortete. „Ich bin’s. Es tut mir leid, aber …“ Sie schwieg und lauschte auf die Stimme aus dem Hörer. „Ich verstehe. Wie gesagt, es tut mir sehr leid … Morgen … Nein, um wie viel Uhr weiß ich noch nicht … Ja, natürlich rufe ich an, sollten wir zum Mittagessen da sein.“ Es folgte eine längere Pause, bevor sie erwiderte: „Wirklich …?“ Ihre Stimme klang seltsam spröde. „Du hast recht, ich hätte den Zug nehmen sollen, aber … Doch, ganz bestimmt, ich rufe vorher noch einmal an … In Ordnung. Bis morgen.“ Ihre Hand zitterte, als sie den Hörer auflegte.

Nachdenklich betrachtete Jed die schmale Gestalt. Es sah so aus, als sorge sich Mrs. Hamilton mehr um die Essenszeiten als um das Wohlbefinden von Tochter und Enkel.

Er warf einen Blick auf den kleinen Jungen. Aus dem zu schließen, was er von dem Telefonat mitbekommen hatte, war es seiner Großmutter nicht eingefallen, nach ihm zu fragen.

Abrupt setzte er sich auf, als er erkannte, welche Richtung seine Gedanken einschlugen. Das kam nicht infrage! Für diese junge Frau und ihren Sohn war in seinem Leben kein Platz. Er würde sie morgen früh, wenn es nicht anders ging, selbst zu ihren Eltern fahren. Und damit hatte die Sache ein Ende.

Unter gar keinen Umständen würde er sich auf etwas anderes einlassen.

2. KAPITEL

Den Rücken zum Raum, verharrte Meg mehrere Sekunden lang regungslos vor dem Telefon. Bevor sie sich wieder Jed Cole zuwenden konnte, musste sie sich erst sammeln. Ihre Hände waren feucht, doch innerlich war ihr eiskalt.

Keine ungewöhnliche Reaktion nach einem Gespräch mit ihrer Mutter – wie schaffte sie das bloß? Vermutlich lag es eher an ihrem Ton als an dem, was sie sagte, dass Meg sich spätestens nach fünf Minuten jedes Mal wie ein dummes kleines Mädchen vorkam und nicht wie eine erwachsene Frau.

Doch diesmal gab es noch einen Grund für ihre Beklommenheit: Sonia würde über Weihnachten ebenfalls zu Hause sein – war bereits zu Hause, da sie und ihr Mann Jeremy, wie ihre Mutter ihr eben mitgeteilt hatte, vernünftigerweise mit dem Zug angereist waren. Jeremy hatte sich beim Golfspielen den Knöchel verstaucht, und somit fiel in diesem Jahr der übliche Skiurlaub ins Wasser.

Ihre Schwester Sonia, die Modellkleider trug, Karriere gemacht und den richtigen Mann geheiratet hatte. Alles Dinge, auf die ihre Mutter so stolz war und die ihre jüngere Tochter nicht vorweisen konnte.

Meg kaufte ihre Kleider von der Stange – ihr Einkommen als Raumgestalterin reichte gerade für Miete und Haushalt. Und obendrein hatte sie statt eines Ehemanns einen dreieinhalb Jahre alten Sohn.

Einen Sohn, den sie über alles liebte und den sie gegen keinen Ehemann der Welt eingetauscht hätte. Und wenn ihrer Mutter das nicht behagte, dann konnte sie es auch nicht ändern.

Sie vernahm ein Räuspern und drehte sich um.

„Ich war im Begriff, Abendessen zu kochen, als Sie … äh … angekommen sind“, sagte Jed Cole.

Meg schob den Gedanken an Sonia und ihre Eltern beiseite – damit würde sie sich morgen befassen. Sie betrachtete ihren unfreiwilligen Gastgeber.

Der Ärmste! Man konnte ihm seinen mangelnden Enthusiasmus nicht übel nehmen. Nichts Böses ahnend, verbrachte er einen ruhigen Abend, als plötzlich jemand gegen sein Haus krachte und ihn zu Tode erschreckte. Das Gesicht, das er gemacht haben musste …

Ungewollt stieg ein Lachen in Megs Kehle auf. Sie versuchte, es zu unterdrücken – umsonst. Erst leise, dann immer lauter lachte sie, bis sie keine Luft mehr bekam und ihr Tränen über die Wangen liefen.

„B…Bitte entschuldigen Sie“, stammelte sie. „Ich benehme mich unmöglich, aber …“, hilflos schüttelte sie den Kopf, „… ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich Ihr Cottage gerammt habe.“

„Warum weint Mummy?“, fragte Scott erstaunt.

„Keine Ahnung“, erwiderte Jed grimmig. Er erhob sich und kam auf sie zu. „Hören Sie sofort auf! Oder wollen Sie dem Kind Angst machen?“

Meg warf einen Blick zu Scott hinüber: Er wirkte durchaus nicht verängstigt, eher ein wenig ratlos. Demnach war es der Mann, nicht das Kind, den ihr Heiterkeitsanfall beunruhigte. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn, als überlege er, ob er sie schütteln oder ohrfeigen solle, um sie zur Besinnung zu bringen.

Weder das eine noch das andere fand Meg besonders verlockend.

Sie atmete tief durch und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie, immer noch etwas atemlos. „Sie … Sie sprachen von Abendessen, glaube ich.“

Jed Cole ließ sie nicht aus den Augen. Sein markantes Gesicht mit dem kantigen Kinn erschien noch arroganter als zuvor. „Es gibt Steaks mit Pommes frites“, erwiderte er kurz. „Für zwei Personen reicht es, aber was ich ihm vorsetzen soll …“

„Seine Name ist Scott“, korrigierte sie. „Er isst das Gleiche wie ich.“

„In dem Fall reicht es eben für drei.“ Damit verließ er das Wohnzimmer, und Meg hörte, wie draußen im Flur eine Tür geöffnet und gleich darauf geschlossen wurde.

Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, der sich wieder mit seinen Spielzeugautos vergnügte. „Scott, ich gehe Mr. Cole in der Küche helfen. Willst du mitkommen oder weiterspielen?“ Ein Schutzgitter stand vor dem Kaminfeuer, passieren konnte ihm nichts.

„Weiterspielen“, erwiderte Scott wie erwartet, dann runzelte er die Stirn. „Mummy, der Mann hat keinen Weihnachtsbaum.“

Nein, einen Weihnachtsbaum gab es hier nicht, auch keine Karten oder andere Anzeichen dafür, dass morgen Heiligabend war.

„Nicht jeder feiert Weihnachten so wie wir“, erklärte sie. „Bei Grandma und Grandpa gibt es einen Weihnachtsbaum.“

Wie immer würde er in der großen Eingangshalle stehen, mit Gold- und Silberkugeln und weißen Kerzen aufs Geschmackvollste dekoriert. Ihre Mutter hasste bunten Christbaumschmuck.

Wehmütig dachte Meg an ihre kleine Wohnung in London und an die Topfpflanze, die Scott und sie mit selbst gebastelten Figuren, Papierketten und Lametta geschmückt hatten. Sie beugte sich hinab und strich dem Kleinen über das lockige Haar. „Ruf mich, wenn du mich brauchst, okay?“

Jed Cole zu finden war nicht schwer. Im Erdgeschoss gab es nur drei Räume: das Wohnzimmer, ein Esszimmer, dessen Tür offen stand, und daneben die Küche, aus der das Klappern von Töpfen zu hören war und ein appetitlicher Bratenduft kam.

Jed Cole.

Was für ein rätselhafter Mensch! Selbst ohne den amerikanischen Akzent passte er überhaupt nicht in dieses Cottage, die Räume waren viel zu niedrig für ihn. Zwar wirkte alles bequem, aber doch ziemlich schäbig, was weder mit dem schwarzen Kaschmirpullover dieses Mannes noch mit den Designerjeans harmonierte. Auch nicht mit den Mokassins aus teurem weichen Leder …

Sie öffnete die Tür und trat in die Küche, wo Jed dabei war, zwei Steaks auf dem Grill im Ofen zu wenden.

„Was ich gern wüsste“, sagte sie betont munter, wenn auch etwas zusammenhangslos, „wollten Sie mir vorhin, als ich so gelacht habe, eigentlich eine kleben oder mich nur gut durchschütteln?“

Jed richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Weder noch, ich war am Überlegen, ob ich Sie nicht küssen sollte.“ Er musterte sie spöttisch.

Meg wurde rot. Das hatte sie davon, witzig sein zu wollen.

„Dann sagte ich mir, dass sich das bei einer jungen Mutter nicht gehört; vor allem wenn sie selbst noch ein halbes Kind ist. Allerdings gebe ich zu, die Versuchung war groß.“

Einen Moment lang brachte sie kein Wort hervor, dann erwiderte sie entrüstet: „Ich bin siebenundzwanzig, nur zu Ihrer Information. Und ich bin mir nicht bewusst, Sie in irgendeiner Weise provoziert zu haben, Mr. Cole.“

Nachlässig zuckte er mit den Schultern. „Kein Grund zur Aufregung. Warum kümmern Sie sich nicht lieber um den Salat, damit wir essen können?“ Er wandte sich wieder den Steaks zu. „Nach einer warmen Mahlzeit sieht die Welt gleich ganz anders aus.“

Meg öffnete den Kühlschrank, um nach den Zutaten zu suchen. „Gilt das für Sie oder für mich?“

„Für uns beide.“

Sie biss sich auf die Lippen. Zweifellos hatte er recht. Die Situation war alles andere als ideal, weder für ihn noch für sie.

Sie warf einen Blick durch das Fenster: Es schneite immer noch.

„Gibt es wirklich keine Möglichkeit, noch heute Abend von hier wegzukommen?“ Sie sagte es mehr zu sich selbst und erschrak, als er das Messer in seiner Hand auf den Tisch knallte.

„Wie stellen Sie sich das vor?“ Erbittert fügte er hinzu: „Wenn Sie wollen, dass wir endlich essen, dann schlage ich vor, Sie beeilen sich mit dem Salat. Und sehen Sie mich nicht so an!“

„Wie … wie meinen Sie das?“

„Als ob ich Ihnen den Kopf abreißen wollte. Ich bin schließlich kein Bär, auch wenn Ihr Sohn mich für einen gehalten hat. Wenn Sie mich besser kennen würden, wüssten Sie, dass ich im Moment das reinste Lämmchen bin.“

Meg unterdrückte ein Lächeln. Jed Cole führte sich auf wie ihr kleiner Sohn, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging.

„Soll ich eine Soße zum Salat machen?“, fragte sie beschwichtigend.

„Von mir aus.“ Er atmete mehrmals tief durch. „Warum mussten Sie ausgerechnet vor meiner Haustür landen, Meg Hamilton?“

„Genau genommen war es nicht die Haustür, sondern die Mauer“, verbesserte sie mild. „Aber darüber brauchen wir uns jetzt nicht zu unterhalten.“

„Nein, das heben wir uns für später auf, wie?“, murrte er. „Reden wir lieber von Ihrer Mutter. Es hörte sich so an, als wären ihr die Essenszeiten wichtiger als das Wohlbefinden von Tochter und Enkel, oder täusche ich mich da?“

Meg wäre am liebsten im Erdboden versunken, sie wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern. Nein, er täuschte sich nicht. Nicht ein einziges Mal hatte ihre Mutter gefragt, wie es ihr und Scott ging und wo sie waren. Nur dass Sonia pünktlich eingetroffen war, hatte sie erwähnt. Weil sie vernünftigerweise mit dem Zug gekommen war.

Meg hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr zu erklären, dass ihre Schwester und Jeremy mit bedeutend weniger Gepäck reisten. Sie hatten keinen Koffer voll mit Geschenken, die der Weihnachtsmann in der Nacht vom 24. auf den 25. an Scotts Bett hinterlassen würde. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als für teures Geld einen Leihwagen zu mieten – einen Leihwagen, der jetzt mit verbeulter Karosserie im Schnee steckte.

Morgen musste sie anrufen und den Unfall melden. Sie hoffte nur, dass die Versicherung für die Reparatur aufkommen würde.

Mit gespielter Gleichgültigkeit bemerkte sie: „So sind wir Hausfrauen nun einmal. Die Mahlzeiten kommen an erster Stelle. Bei Ihnen zu Hause ist das sicher auch nicht anders.“

Sie verschwieg, dass sich ihre Mutter nicht um das Essen kümmerte; das war seit jeher die Aufgabe von Bessie, der Köchin, die in der Küche der Hamiltons das Zepter schwang.

Ein Lächeln huschte über Jeds strenges Gesicht. „Für meine Mutter sind Essenszeiten kein Problem. Wenn jemand zu spät oder unangemeldet erscheint, wird eben ein Extrateller dazugestellt. Genug gibt es immer, egal, ob fünf oder fünfzehn Personen am Tisch sitzen.“

„Ihre Mutter ist sicher sehr nett“, murmelte Meg. Es klang ein wenig sehnsüchtig. In Gedanken sah sie eine gemütliche Küche mit einem riesigen Tisch vor sich und eine mütterliche Frau, die sich um ihre Lieben kümmerte.

„Das ist sie“, bestätigte Jed. „Und nicht nur sie, auch mein Vater, meine zwei Brüder und ihre Frauen sind nett. Sogar die Neffen und Nichten …“

„Warum sind Sie dann nicht zu Hause? Weshalb verbringen Sie Weihnachten mutterseelenallein in diesem abgelegenen englischen Cottage?“

„Vielleicht bin ich lieber allein.“

Vielleicht – vielleicht auch nicht.

Aber das stand jetzt nicht zur Debatte.

„Schluss mit den vielen Fragen“, befahl er schroff. „Jetzt wird gegessen.“

Meg verstand: Das Thema Jed und seine Familie war abgeschlossen. Allerdings hinderte sie das nicht, sich zu fragen, ob die netten Eltern, Brüder und Schwägerinnen ihn nicht vermissten. Und aus irgendeinem Grund – warum, wusste sie selbst nicht so recht – war sie davon überzeugt.

Es war ein großer Fehler gewesen, vom Küssen zu reden.

Während des Abendessens, als Meg ihm am Tisch gegenübersaß, konnte Jed an nichts anderes mehr denken. Sie hatte einen wunderschönen Mund, der aussah, als würde sie oft und gern lachen. Und die Lippen waren so weich, so einladend …

Jetzt sah sie lächelnd ihrem kleinen Sohn zu, der brav das winzige Stück Fleisch, die Pommes frites und den Salat auf seinem Teller in Angriff nahm.

Nein, ein Mädchen war Meg Hamilton nicht mehr, aber eine sehr attraktive junge Frau; das bewiesen nicht nur die sanft gerundeten Brüste, die sich unter dem dunkelgrünen Pullover abzeichneten, sondern auch die Kurve der Hüften. Und natürlich dieser sinnliche Mund …

Jed zwang sich, auf seinen Teller zu sehen. Nach zwei Monaten des Alleinseins erschien ihm die junge Frau so unwiderstehlich wie ein Eis an einem schwülen Sommertag. Ein Glas Wasser in der Wüste, ein …

„Stimmt etwas nicht?“

Er fuhr zusammen. „Warum fragen Sie?“

„Sie machen ein Gesicht, als wäre Ihr Steak aus Pappe.“

Sehr komisch, haha.

Sie hatte gut lachen, ihr gingen keine lustvollen Fantasien im Kopf herum.

„Alles ist bestens“, brummte er und schob sich gedankenlos das halbe Steak auf einmal in den Mund.

Er kaute. Und kaute. Und sah aus den Augenwinkeln, wie seine beiden Gäste ihm dabei zuschauten – Meg verstohlen, der Kleine mit unschuldiger Neugier.

„Es ist unhöflich, jemanden anzustarren, Scott“, rügte ihn seine Mutter.

Gehorsam senkte ihr Sohn den Kopf, dann sah er wieder auf. „Hast du keinen Weihnachtsbaum?“

„Scott! Man sagt Sie und Mr. Cole!“

Jed winkte ab. „Lassen Sie nur, das ist schon in Ordnung.“ Und zu dem Kleinen: „Leider nicht.“

„Auch keine Kerzen und Weihnachtskarten?“ Kritisch sah Scott sich um. „Wir haben ganz viele bei uns zu Hause. Auf einer sind zwei Rotkehlchen, die mag ich am liebsten.“ Er strahlte Jed an.

Der Junge war wirklich niedlich. Mit dem schwarzen Wuschelhaar, den grünen Augen und den Sommersprossen auf der Stupsnase sah er wie eine Miniaturausgabe seiner Mutter aus. Die beiden bildeten ein anziehendes Pärchen.

Okay, das genügte.

Meg Hamilton war ganz und gar nicht sein Typ.

Mit seinen achtunddreißig Jahren bevorzugte er große, reifere Frauen. Weltgewandt und ohne Anhang, die wie er nur eine unverbindliche Affäre suchten. Meg dagegen wirkte jung und verletzlich – wie jemand, der in seinem Leben schon genügend Enttäuschungen erlebt hat und auf weitere verzichten kann.

„Scott“, sagte sie jetzt, „ich habe dir schon erklärt, dass nicht alle Leute Weihnachten so feiern wie wir.“

„Feierst du nicht Weihnachten?“, fragte der Junge beharrlich.

„Nun, im Allgemeinen schon. Aber diesmal … Siehst du, ich wohne nicht hier, ich bin nur zu Besuch. Ich lebe in New York. Das ist in Amerika“, fügte er hinzu, um Scotts nächster Frage zuvorzukommen. „Dort liegen jetzt bestimmt jede Menge Weihnachtskarten und Geschenke für mich.“

Er verschwieg, dass er auch in seiner New Yorker Wohnung keinen Weihnachtsbaum aufgestellt hätte. Für wen auch? Er lebte allein, und zu der modernen Einrichtung aus Chrom und Leder passte seiner Meinung nach keine Weihnachtsdekoration.

„Warum bist du nicht in New York?“, wollte Scott wissen.

Eine ähnliche Frage hatte seine Mutter auch gestellt. Was sollte man darauf antworten? Scott abzukanzeln brachte er nicht übers Herz, dafür war der Junge zu nett. Andererseits verspürte er keine Lust, sich über den Grund seiner Flucht nach England näher auszulassen. Meg Hamilton wusste nicht, wer er war, und dabei sollte es auch bleiben.

Sie musste die letzten neun Monate wirklich hinter dem Mond gelebt haben, denn sein Name wie auch sein Bild waren in allen Zeitungen erschienen. Nirgends konnte er hingehen, ohne angesprochen zu werden. Um dem Albtraum zu entkommen und in Ruhe arbeiten zu können, hatte er sich in dieses abgeschiedene Nest in England zurückgezogen, nur kam er leider überhaupt nicht voran. Immerhin, man ließ ihn in Frieden – oder hatte es bis jetzt wenigstens getan.

„Ich glaube, für heute haben wir Mr. Cole genügend ausgefragt, Scott“, kam Meg ihm jetzt zu Hilfe. „Außerdem wird es Zeit für dich, ins Bett zu gehen.“

„Noch nicht, Mummy“, protestierte der Kleine. „Du weißt doch, das Christkind kommt morgen, und da …“

„Deshalb musst du heute besonders früh schlafen gehen, damit du ausgeruht bist. Jetzt helfen wir Mr. Cole beim Abräumen, und dann wird gebadet.“ Fragend sah sie Jed an. „Sie haben doch warmes Wasser, oder?“

Er nickte. „Ja, sogar eine Dusche.“ Er stand auf. „Sie brauchen Ihr Gepäck, nehme ich an.“

„Ja … das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, noch mal hinauszugehen.“

Darauf hätte Jed zwar gern verzichtet, denn es schneite und stürmte mit unverminderter Heftigkeit. Aber die beiden brauchten ihre Schlafanzüge. Es wäre nicht gut, einer Meg, wie Gott sie schuf, zufällig auf dem Gang zu begegnen, wo ihm so schon derart verlockende Bilder von ihr durch den Kopf schwirrten …

„Was brauchen Sie?“

„Nur die Reisetasche aus dem Kofferraum.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Eine Tasche, sonst nichts?“ Wenn seine Schwägerinnen mit den Kindern auf die Farm kamen, schleppten sie gewöhnlich ein halbes Dutzend Gepäckstücke mit sich.

„Wir bleiben nicht lange bei meinen Eltern, nur drei Tage.“

Drei Tage. Einen davon hatten sie durch den Unfall so gut wie verloren. Zwei Tage, um die Eltern zu sehen und Weihnachten zu feiern. Warum nicht länger?

„Wir fahren zu Grandma und Grandpa!“, verkündete Scott stolz.

Jed lächelte. Abgesehen von seinen Neffen und Nichten ging er Kindern gern aus dem Weg, doch dieser kleine Junge gefiel ihm. „Da freust du dich aber, wie?“

„Ja. Kennst du meine Grandma und meinen Grandpa?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht.“

„Ich auch nicht“, erwiderte Scott treuherzig.

Jed sah, wie Meg sich auf die Lippe biss. Eigenartig, ging es ihm durch den Kopf. Der Kleine ist mindestens drei, wenn nicht älter, und hat seine Großeltern noch nie zu sehen bekommen.

Die Hamiltons waren in der Tat eine sonderbare Familie.

3. KAPITEL

„Störe ich?“ Zögernd blieb Meg in der Wohnzimmertür stehen.

Scott lag oben im Gästezimmer und schlief. Zum Glück hatten sie ein Doppelbett, denn er war ein unruhiger Schläfer. Sie hatte der Nacht mit ihm auf einer schmalen Matratze ohne viel Begeisterung entgegengesehen. Natürlich war das bei Weitem besser, als irgendwo am Straßenrand bei einem Schneesturm im Auto übernachten zu müssen.

Als sie keine Antwort erhielt, fügte sie hinzu: „Wenn Sie beschäftigt sind, kann ich auch gern woandershin gehen.“

Jed legte das Buch, in dem er geblättert hatte, beiseite und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Das Cottage ist nicht sehr geräumig“, erwiderte er ironisch. „Die Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen, sind ziemlich beschränkt.“

Meg spürte, wie sie rot wurde. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl, allein mit ihm in diesem kleinen Raum. Bisher hatte Scotts Anwesenheit eine allzu persönliche Unterhaltung verhindert, doch das war nun nicht mehr der Fall.

Und in ein Gespräch über die Beziehung zwischen ihr und ihren Eltern – von Sonia ganz zu schweigen – wollte sie sich nicht verwickeln lassen.

Sie schnitt eine Grimasse. „Ich kann in die Küche gehen und Geschirr spülen.“

„Ist bereits erledigt“, informierte ihr Gastgeber sie knapp. „Das Haus ist nicht gerade luxuriös, aber einen Geschirrspüler gibt es, ebenso wie eine Waschmaschine. Und sogar Zentralheizung“, fügte er trocken hinzu.

Dass das Kaminfeuer mehr als Zierde denn als Wärmespender diente, war Meg bereits aufgefallen. „War die schon installiert, als Sie das Cottage gekauft haben?“, fragte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Unsicher betrat sie den Raum. Jed Cole brachte sie völlig aus dem Konzept.

Bei seinem Aussehen war das auch kein Wunder – jeder Frau musste in seiner Gegenwart das Herz höher schlagen: Seine Anziehungskraft war unverkennbar, der intensive Blick der blauen Augen mehr als verwirrend –, noch dazu in diesem abgeschiedenen Cottage, während draußen ein Schneesturm tobte. Dieser Mann brachte Meg zum Bewusstsein, dass sie in den letzten drei Jahren wie eine Nonne gelebt hatte.

Jed schüttelte den Kopf. „Das Cottage gehört mir nicht, ein … Bekannter hat es mir vorübergehend zur Verfügung gestellt.“

„Arbeiten Sie in der Gegend?“

„Nein.“

„Besuchen Sie Freunde?“

„Auch nicht.“

Gesprächig konnte man ihn wirklich nicht nennen. Meg fühlte sich immer unbehaglicher, sie wusste nicht, ob sie stehen bleiben oder sich setzen sollte. Unter den Umständen war es wohl besser, ihn allein zu lassen.

„Dann will ich Sie nicht weiter stören.“ Sie machte einen Schritt in Richtung Tür.

„Bleiben Sie! Jetzt bin ich mit dem Fragen dran.“ Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Warum kennt Scott seine Großeltern noch nicht?“

Sie hatte geahnt, dass er darauf zu sprechen kommen würde, dennoch schockierte sie seine Direktheit. Ein höflicher Mensch hätte Scotts unschuldiges Eingeständnis bei Tisch diskret überhört, aber Höflichkeit gehörte anscheinend nicht zu Jed Coles Tugenden.

Er stand auf, wobei er sich automatisch duckte, um nicht an den Deckenbalken zu stoßen. „Ich wollte mir gerade ein Glas Rotwein einschenken. Möchten Sie auch eins?“

Warum nicht? Der Tag war lang und ermüdend gewesen, und wie es den Anschein hatte, würde der Abend kaum erholsamer sein.

„Vielleicht …“, er blieb vor ihr stehen und sah sie an, „… fällt Ihnen in der Zwischenzeit eine passende Antwort auf meine Frage ein.“

Ein Kribbeln lief ihr über den Rücken, sie war sich Jeds Nähe viel zu sehr bewusst. Und das war nicht gut, denn was immer dieser Mann über alleinstehende Mütter dachte, auf sie traf es nicht zu. Sie machte sich nichts aus Männern, die nur eine flüchtige Affäre im Sinn hatten – auch nicht, wenn sie attraktiv waren und als Helfer in der Not auftraten.

Und was seine Frage anging – darauf gab es keine Antwort. Anscheinend vermutete er das auch, denn er verzog süffisant die Lippen, bevor er sich umdrehte und in der Küche verschwand.

Warum Scott seine Großeltern noch nicht gesehen hatte, konnte sie Jed nicht sagen, ohne ihre Eltern in ein schlechtes Licht zu setzen. Und das wollte sie nicht. Es war nicht so einfach, den Sohn einer unverheirateten Tochter als Enkel willkommen zu heißen.

„So, da wären wir.“ Jed kam mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück. „Warum setzen wir uns nicht und machen es uns bequem, hm?“ Er füllte die beiden Gläser und reichte ihr eins.

Widerstrebend nahm sie in einem der Sessel Platz. Jed Cole legte keinen Wert darauf, für die Bequemlichkeit anderer zu sorgen, soviel wusste sie bereits. Dafür war er zu selbstsicher, zu zynisch – und gleichzeitig viel zu attraktiv.

Meg gab sich keinen Illusionen hin: Dieses letzte Attribut verwirrte sie am meisten, und dass sie so stark auf ihn reagierte, beunruhigte sie zutiefst.

„Nun? Ist Ihnen etwas eingefallen?“

Was dem Menschen allerdings völlig abging, waren gute Manieren.

„In England stellt man gewöhnlich nicht so … so indiskrete Fragen.“ Sie musterte ihn abweisend, in der Hoffnung, ihn in seine Schranken zu verweisen, doch er ließ sich nicht einschüchtern. Schulterzuckend erwiderte er: „Das mag sein, aber die Situation ist wohl eher ungewöhnlich, finden Sie nicht?“

Womit er allerdings recht hatte. Unter normalen Umständen würde ein Mann wie er kaum mit jemandem wie ihr zusammensitzen und Rotwein trinken. Zu seinem New Yorker Bekanntenkreis gehörten mit Sicherheit keine alleinstehenden Mütter.

Was wiederum die Frage aufwarf, warum er jetzt nicht in New York war, sondern hier in dieser gottverlassenen Gegend.

Sie hob das Glas an die Lippen und trank ein Schlückchen. „Was ich gern wüsste, warum sind Sie eigentlich …“

„Oh nein, meine Liebe. Sie haben mich heute Abend bereits genug ausgefragt. Wie gesagt, jetzt bin ich an der Reihe.“ Entspannt lehnte er sich zurück. „Möchten Sie, dass ich meine Frage wiederhole?“

„Danke, das ist nicht nötig.“ Sie schwieg.

„Ich warte“, erinnerte er sie sanft.

Um sich Mut zu machen, nahm Meg noch einen Schluck. „Wie soll ich es Ihnen erklären? Um meine Eltern zu verstehen, müssten Sie die beiden kennen.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Es klang sarkastisch.

„Mein Vater war krank und …“

„Wie alt ist Scott?“

„Dreieinhalb, aber …“

„War Ihr Vater dreieinhalb Jahre krank?“

„Natürlich nicht“, erwiderte sie verstimmt. „Nur … unsere Eltern sind schon in den Sechzigern und …“

„Unsere? Sie haben Geschwister?“

„Eine Schwester.“

„Jünger oder älter?“

„Älter, aber nur eine halbe Stunde.“

Jed hob die Augenbrauen. „Sie sind ein Zwilling?“

„Weshalb tun Sie so überrascht?“, fragte sie spöttisch. „Man sagt, jeder Mensch hat irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger. Meiner ist eben meine Schwester.“

„Sie gleichen sich vollkommen?“

„Eigentlich schon …“ Früher war es so gewesen, aber Sonia hatte die Sommersprossen auf der Nase wegbleichen lassen und war jetzt das ganze Jahr über künstlich gebräunt, weil sie regelmäßig ins Sonnenstudio ging. Doch es bestand keine Veranlassung, das zu erwähnen. „Meine Schwester hat kurzes Haar, und sie …“, Meg zögerte, „… sie ist von Beruf Rechtsanwältin, unser Stil ist unterschiedlich. Ich bin Raumgestalterin“, erklärte sie und inspizierte dabei ihre Hände, als erwarte sie, Farbspuren unter den Fingernägeln vorzufinden.

„Wow!“ Ein wenig schmunzelnd blickte er um sich. „Wahrscheinlich brennen Sie darauf, hier einiges zu ändern.“

Nicht unbedingt, dachte sie. Sicher, die Möbel waren nicht der letzte Schrei und auch schon ziemlich abgenutzt, doch der Raum besaß Atmosphäre. Vielleicht ein bisschen überladen, das eine oder andere könnte man …

„Das sollte ein Witz sein, Meg. Wie ich schon sagte, ist das nicht mein Cottage. Solange ich einen Sessel zum Sitzen und ein Bett zum Schlafen habe, bin ich zufrieden.“ Das Weinglas in der Hand, lehnte er sich ein wenig vor. „So langsam mache ich mir ein Bild von Ihrer Familie.“

„Wirklich?“, fragte sie überrascht.

„Ja. Ein nicht mehr junges Ehepaar bekommt Zwillinge – zwei Töchter. Die eine ist ehrgeizig und praktisch veranlagt, die andere sensibel und verträumt. Die ältere wird eine erfolgreiche Rechtsanwältin und heiratet einen ebenfalls erfolgreichen Mann – Ihre Schwester ist doch verheiratet, oder?“

Meg nickte.

„Das dachte ich mir. Kinder haben sie keine, nehme ich an. Dafür ist später noch genügend Zeit. Oder vielleicht wollen sie auch keine. Die jüngere ist künstlerisch begabt und absolviert eine Kunsthochschule. Dann verliebt sie sich und wird schwanger …“

„Das genügt, Mr. Cole.“ Meg wandte sich ab, um den verräterischen Glanz in ihren Augen zu verbergen. „Es gehört sich nicht, derart in die Intimsphäre anderer einzudringen.“

„Wenn Sie damit die berühmte britische Zurückhaltung meinen – die gibt es auch bei uns in Amerika.“ Er musterte sie ironisch. „Man steckt seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, stimmt’s? Wenn ich mich jedoch richtig erinnere, hat sich ein gewisser Jemand vor dem Abendessen ausgiebig über meine Familie informiert.“

„Das war nicht das Gleiche.“ Zornig funkelte sie ihn an und hielt seinem Blick stand: Die Blöße, vor diesem Mann in Tränen auszubrechen, würde sie sich nicht geben.

Jed betrachtete sie nachdenklich. „Ich habe wohl einen wunden Punkt berührt, wie?“

Alte Wunden neu aufgerissen kam der Wahrheit näher, auch wenn Jed nicht in allem recht hatte. Nein, alles hatte er nicht richtig erraten.

Er versuchte, sie aufzumuntern. „Tragen Sie es mit Fassung, jede Familie hat ihr schwarzes Schaf. In meiner bin ich es. Mein Großvater war Farmer, mein Vater wurde Farmer, und jetzt sind meine zwei Brüder auch Farmer.“

„Und Sie, Mr. Cole? Was sind Sie?“, fragte sie kühl.

„Kein Farmer, das können Sie mir glauben“, versicherte er fest.

Das war offensichtlich – Hände wie seine führten weder einen Pflug, noch hatten sie mit Viehzucht zu tun. Vielleicht früher einmal, aber nicht in den letzten zwanzig Jahren.

„Davon ganz abgesehen ist jetzt nicht von mir die Rede, sondern von Ihnen“, fügte er hinzu.

„Da muss ich Sie leider enttäuschen.“ Sie stellte das fast leere Weinglas auf den Couchtisch. „Dass Sie Scott und mir in einer Notlage geholfen haben, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mein Privatleben zu diskutieren. Oder das meiner Angehörigen.“

„So?“ Er stellte sein Glas ebenfalls ab und stand auf. „Zu was berechtigt es mich dann?“ Sein Blick wanderte über ihren anziehenden Körper und blieb an ihrem Mund haften.

Meg hatte das Gefühl, dass er sie mit Absicht aus der Fassung bringen wollte – was ihm auch gelang. Es war, als erwarte er etwas von ihr, die Atmosphäre erschien ihr plötzlich wie elektrisch aufgeladen.

Er spielt mit mir wie die Katze mit der Maus, ging es ihr durch den Kopf.

„Sie haben Anspruch auf Dankbarkeit, das ist alles.“

„Die haben Sie mir bereits mehrfach ausgedrückt.“

Ihre Augen blitzten aufgebracht. „Richtig. Und jetzt gehe ich schlafen, es war ein langer Tag. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …“

„Aber natürlich. Welcher Mann würde einer Bitte von Ihnen nicht nachkommen?“

„Gute Nacht, Mr. Cole.“

„Gute Nacht, Meg. Angenehme Träume!“, rief er ihr nach, als sie die Wohnzimmertür hinter sich zuzog.

An der Treppe blieb sie stehen und atmete tief durch. Was für ein ungehobelter Mensch! Dazu provokant und sarkastisch – mit einem Wort: unerträglich.

Und der attraktivste Mann, dem sie jemals begegnet war. Viel zu sexy, wenn sie ehrlich sein sollte.

„Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“, fragte Jed, als Meg am nächsten Morgen mit funkelnden Augen und hochroten Wangen durch den Schnee auf ihn zustapfte. Warum sah sie ihn so wütend an? Er war sich keiner Schuld bewusst.

„Scott und ich sind dabei, einen Schneemann zu bauen“, informierte er sie, für den Fall, dass es ihr entgangen war.

„Das sehe ich, ich bin nicht blind. Finden Sie nicht, Sie hätten mich wecken sollen, um mir Bescheid zu geben?“

„Wieso? Wollten Sie uns dabei helfen?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie spöttisch.

„Natürlich nicht, aber …“ Frustriert verstummte sie und holte tief Luft. „Sie hätten …“

Sie hätten sich wärmer anziehen sollen“, unterbrach er sie mit einem Blick auf ihren roten Pullover und die schwarzen Jeans. „Wo ist Ihr Mantel?“

„Ich …“

„Mummy! Gefällt dir der Schneemann?“ Strahlend kam Scott auf sie zugelaufen. Er war von Kopf bis Fuß eingemummelt und sah selbst wie ein Schneemann aus. „Jed hat gesagt, wenn er fertig ist, dann kriegt er noch einen alten Hut und einen Schal, damit ihm nicht kalt ist.“

Meg wischte ihrem Sohn den Schnee von der Kapuze. „Man sagt Mr. Cole, Liebling, nicht Jed.“

Schmollend verzog der Kleine den Mund. „Er hat aber gesagt, ich darf, Mummy“, informierte er seine Mutter. „Der Schneemann bekommt auch Augen und eine Nase. Jed sagt, wir brauchen zwei Stück Kohle und eine Mohrrübe.“

Belustigt stellte der so Angeredete fest, dass Meg verärgert die Lippen aufeinanderpresste, als Scott ihre Mahnung nicht beachtete. Er beschloss einzugreifen, bevor sich die Fronten verhärteten. „Pass auf, Scott, deine Mummy und ich gehen jetzt in die Küche und holen die Kohlestückchen und die Mohrrübe, und du suchst in der Zwischenzeit in dem Holzstapel dort drüben zwei Stöcke für die Arme. Einverstanden?“

„Super!“ Aufgeregt eilte der Junge davon. Vor Kälte zitternd sah Meg ihm nach: Die eisige Luft machte ihm ganz offensichtlich nicht das Geringste aus.

„Was ist – kommen Sie?“, fragte Jed mit einer Kopfbewegung.

„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, murrte sie und stapfte auf das Cottage zu. Jed folgte, wobei er mit Kennermiene den wohlgeformten Po in den eng anliegenden Jeans bewunderte. Kein Zweifel, Meg Hamilton war eine sehr attraktive Frau – und Scott ein nettes Kind.

Aber in seinem Leben war kein Platz für sie. Komplikationen dieser Art brauchte er nicht, das hatte er schon seit Langem entschieden – und dabei würde es auch bleiben.

Im Haus angelangt, drehte Meg sich um und sagte steif: „Ich möchte nicht, dass Scott sich Erwachsenen gegenüber so zwanglos benimmt, Mr. Cole.“

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Sehr vernünftig. Ich halte auch nichts davon, mit Erwachsenen zu zwanglos umzugehen.“

Es wäre gut, das nicht zu vergessen, denn zornig sah Meg Hamilton noch verlockender aus als sonst. Ihre Augen funkelten wie Smaragde, die blassen Wangen hatten Farbe bekommen, und ihr Mund erschien ihm noch sinnlicher und einladender.

„Sie wissen genau, was ich meine!“ Frustriert stemmte sie die Hände in die Hüften. „Sie und Scott verschwinden einfach …“

„Ist das ein Problem?“

„Allerdings. Ich wache in einem fremden Bett auf, und mein Sohn ist weg. Das Haus ist leer, weder von ihm noch von Ihnen die geringste Spur. Hätte ich ihn nicht lachen gehört und Sie schließlich beide im Garten entdeckt, dann …“

„Dann was?“, unterbrach er sie mit eisiger Stimme. „Hatten Sie Angst, ich wollte ihn entführen oder …“

„Nein, nein, natürlich nicht!“ Ihr schockiertes Gesicht bewies, dass ihr dieser Gedanke nicht gekommen war. „Nur als ich aufwachte und sah, dass das Bett neben mir leer ist …“

„Ja, das ist allerdings eine arge Enttäuschung“, erwiderte er sarkastisch.

„Für Sie vielleicht, nicht für mich.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“

„Wie dem auch sei … Als ich aufwachte und weder Scott noch seine Sachen finden konnte, da … da bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich dachte, er hat vielleicht vergessen, wo wir sind, und wandert jetzt irgendwo umher. Und dass Sie sich auf die Suche nach ihm gemacht haben und … und Ihnen etwas passiert ist.“

Mühsam schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter. „Dann hörte ich ihn lachen, und als ich aus dem Fenster schaute, da sah ich Sie beim Schneemannbauen, als wäre nichts geschehen. Und da wurde ich eben wütend.“

„Und sind aus dem Haus gestürzt, um mich in Stücke zu reißen.“ Er beäugte sie misstrauisch. „Werden Sie nicht gleich wieder hysterisch, sonst mache ich meine Drohung von gestern noch wahr.“

Meg wurde dunkelrot, als sie sich an seine Worte in der Küche erinnerte. „Reden Sie keinen Unsinn!“, wies sie ihn kühl zurecht.

Etwas zu kühl für seinen Geschmack – es tat seinem Ego nicht sonderlich gut, wenn man ihn abwies. Im Allgemeinen hatten Frauen nichts dagegen, von ihm geküsst zu werden.

Wo blieb seine Logik? Erst beschloss er, Meg Hamilton unter keinen Umständen zu nahe zu treten, und jetzt regte er sich auf, weil sie nicht von ihm geküsst werden wollte.

„Sind Sie sicher?“

„Was meinen Sie?“

„Dass Sie nicht hysterisch werden.“

„Ganz sicher. Diesen Luxus kann ich mir nicht leisten, außerdem bin ich … He, was soll das? Lassen Sie mich los!“

Zu spät. Er nahm sie in die Arme und tat, woran er seit gestern Abend ununterbrochen gedacht hatte: Er küsste sie auf den Mund.

Ihre Lippen waren weich und ein wenig kühl, doch das hatte wohl mehr mit der Außentemperatur zu tun. Es dauerte auch nicht lange, bis sie warm und einladend wurden und Meg seinen Kuss erwiderte.

Jed brauchte keine zusätzliche Ermutigung. Er schlang die Arme um ihre Taille, und als er keinen Widerstand spürte, presste er ihren Körper eng an seinen. Sie legte beide Hände auf seine Schultern und klammerte sich zitternd an ihn. Ein heißes Verlangen überkam sie und …

„Mummy, hast du die Mohrrübe und die …“

Innerhalb einer Sekunde kam Meg zur Besinnung. Sie befreite sich aus Jeds Umarmung und wandte sich ihrem Sohn zu, der vor ihnen stand und sie erwartungsvoll betrachtete.

„Noch nicht, Schatz. Ich … hatte etwas im Auge, und Mr. Cole – ich meine, Jed – war so nett nachzuschauen.“ Ihre Stimme bebte ein wenig, aber die Worte klangen ganz natürlich.

Jed starrte sie an, dann dankte er dem Himmel für ihre Geistesgegenwart. Wie hätte er dem kleinen Jungen erklären sollen, warum er seine Mummy an sich presste, als wolle er sie nie mehr loslassen?

Dabei war er so entschlossen, sich auf nichts einzulassen.

Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht?

Das Problem war, dass er nicht gedacht, sondern nur gefühlt hatte. Und Meg in den Armen zu halten und zu küssen war ein wundervolles Gefühl …

„Die Mohrrüben sind im Kühlschrank, unten im Gemüsefach. Und der Kohleeimer steht im Wohnzimmer, neben dem Kamin“, sagte er heiser, während Meg noch vor ihrem Sohn kniete, um ihm zu zeigen, dass ihr Auge wieder in Ordnung war. Sie hob den Kopf und sah Jed an. Ihr Gesicht war bleich.

„Wohin gehen Sie?“, fragte sie, als er die Haustür öffnete.

„Raus.“

Die Tür hinter sich zuschlagend, trat er ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was er hier wollte, und es war ihm auch gleichgültig. Er wusste lediglich, dass er jetzt wegmusste – um zu vergessen, wie sich ihr Körper anfühlte und wie süß ihre Lippen schmeckten.

4. KAPITEL

„Wenn Sie packen wollen – die Straße ist geräumt.“

Überrascht sah Meg vom Tisch auf, wo sie und Scott Karten spielten. Sie hatte Jed nicht kommen hören.

Über eine Stunde war er unterwegs gewesen, lang genug, damit sie und Scott den Schneemann fertig bauen und frühstücken konnten. Danach waren sie ins Wohnzimmer gegangen, um sich mit einer Runde Schwarzer Peter die Zeit zu vertreiben.

Das hatte sie nicht davon abgehalten, immer wieder mit einem Ohr auf Jed Coles Rückkehr zu lauschen. Nach dem, was sich ereignet hatte, war sie nicht sicher, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Der Kuss ging ihr nicht aus dem Sinn, doch was sie am meisten überraschte, war die Empfindung, sich nicht mehr so allein zu fühlen.

Wie idiotisch von ihr! Natürlich war sie nicht allein, wenn noch jemand da war. Aber es war mehr als das – Jed strahlte eine Sicherheit aus, die fast schon an Arroganz grenzte. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, dass ihr in seiner Anwesenheit nichts passieren konnte.

Höchstens dass er sie noch einmal küsste.

Als er sie in die Arme genommen hatte, war sie so überrumpelt, dass sie seine Liebkosung instinktiv erwiderte und dann, nach der ersten Überraschung, nicht mehr aufhören wollte. Weil es so schön war, von ihm geküsst zu werden.

Meg verstand sich selbst nicht mehr, denn schließlich kannte sie diesen Mann nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Kein Wunder, dass sie seiner Rückkehr mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte.

Und jetzt, wo er hier war, teilte er ihr mit, dass es Zeit zum Abreisen sei.

Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. „Spiel ein Weilchen allein weiter, Scott. Ich muss nur kurz mit Mr. Cole – ich meine, Jed – etwas besprechen.“

Sie folgte ihm auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Sie wusste, dass es klüger wäre, das Geschehene schlicht zu vergessen, doch das war nicht so einfach. Als sie sich gegenüberstanden, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Blick wie von selbst an Jeds sinnlichem Mund haften blieb und die Erinnerung an das Gefühl seiner Lippen auf ihren zurückkehrte …

„Nun?“, fragte er sarkastisch. „Was haben Sie mir zu sagen? Dass ich mich vorhin danebenbenommen und die Gelegenheit schamlos ausgenutzt habe? Das weiß ich selber, Sie können es sich also sparen.“

Meg machte eine wegwerfende Handbewegung. „Darum geht es nicht. Was geschehen ist, hat keine Bedeutung, es war nichts weiter als … als das Resultat überhitzter Emotionen“, erwiderte sie ungeduldig und, wie sie hoffte, voll Überzeugung. Was immer der Anlass gewesen sein mochte, sie würde sich ihr Leben lang an diesen Kuss erinnern. „Sie sagen, wir können weiterfahren. Heißt das, ich kann das Auto abschleppen lassen?“

„Davon war nicht die Rede. Ich sagte nur, die Landstraße ist schneefrei. Der Weg von hier bis dort ist immer noch arg vereist, aber mit meinem Landrover müssten wir es schaffen, es sind nur circa siebenhundert Meter bis zur Straße, und die ist befahrbar. Das bedeutet, ich kann Sie und Scott zu Ihren Eltern bringen.“

Meg erschrak. „Das geht nicht!“, rief sie, ohne zu überlegen. Sie wurde rot, als er erstaunt die Brauen hochzog. „Ich meine, das kann ich nicht von Ihnen verlangen.“

„Glauben Sie, es ist einfacher, wenn Sie und Scott noch länger hierbleiben?“

Wirklich, er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube; er brachte die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt.

„Das beabsichtigen wir sicher nicht“, entgegnete sie pikiert. Anscheinend konnte er sie nicht schnell genug loswerden, obwohl er sich mit Scott heute früh so gut verstanden hatte. Aber das war vor dem Kuss gewesen, den er jetzt ganz offensichtlich zutiefst bedauerte. „Wenn die Straßen schneefrei sind, kann ich doch auch ein Taxi bestellen, dann brauche ich Sie nicht zu belästigen.“

„Hören Sie mir eigentlich zu? Ein PKW schafft es nie und nimmer bis hier zum Cottage, dafür ist der Weg noch viel zu vereist. Und für heute Nachmittag ist erneut Schneefall angesagt.“

Meg stöhnte.

„Wenn Sie Weihnachten mit Ihrer Familie verbringen wollen, dann müssen wir jetzt losfahren, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

Was blieb ihr anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen? Seit sie wusste, dass Sonia und Jeremy die Feiertage ebenfalls bei ihren Eltern verbringen würden, hatte sie es nicht mehr eilig, nach Winston zu kommen, doch das konnte sie Jed Cole natürlich nicht gestehen.

Sie schluckte. „Ich möchte nur nicht, dass uns auf der Fahrt etwas passiert. Vielleicht wäre es doch besser, wenn wir noch etwas warten.“

„Glauben Sie mir, für Sie ist die Fahrt im Landrover weniger gefährlich als eine zweite Nacht hier bei mir.“

Einen Moment lang dachte sie, sich verhört zu haben. Wollte er damit andeuten, dass … Nein, das war unmöglich. Ein Blick in seine blauen Augen belehrte sie eines Besseren.

Sie wandte sich ab. „Dann gehe ich jetzt packen. Wenn Sie vielleicht den Koffer mit Scotts Weihnachtsgeschenken unauffällig von meinem in Ihr Auto verladen könnten …“

Er lachte. „Bekommen Sie es mit der Angst zu tun, Meg?“

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie auf ihr Zimmer. Wenn er sie verspotten wollte – bitte. Sie hatte sich noch nie den Anschein gegeben, cool oder weltgewandt zu sein, es lag nicht in ihrer Natur. Und seit es Scott in ihrem Leben gab, hatte sie für Männer und irgendwelche Eskapaden keine Zeit mehr. Abgesehen von ihrer Arbeit und einer gelegentlichen Tasse Kaffee mit einer anderen jungen Mutter aus ihrem Bekanntenkreis verbrachte sie jede freie Minute mit ihrem Sohn. Natürlich war sie als Studentin öfter ausgegangen, doch keiner ihrer Freunde von damals ließ sich auch nur entfernt mit Jed Cole vergleichen. Er war so viel älter und erfahrener, einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet.

Nicht, dass ihr etwas an ihm lag. Er weckte ihre Leidenschaft, ihre Reaktion auf seinen Kuss bewies das ganz deutlich. Und wer weiß, was sonst noch passiert wäre, hätte Scott sie nicht rechtzeitig unterbrochen …

Und nun wollte Jed sie nach Winston fahren. Das bedeutete, sie musste ihn mit ihrer Familie bekannt machen – etwas, das sie lieber vermieden hätte. Nach dem gestrigen Abend wusste er schon zu viel über die Hamiltons und ihre Probleme. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte nicht erwarten, dass er Scott und sie an der Haustür absetzte und sofort umdrehte und zurückfuhr. Zumindest musste sie ihm eine Tasse Kaffee anbieten.

Wenn sie es sich recht überlegte, so war es ein geringer Preis dafür, dass sie und ihr Sohn ans Ziel kamen.

Eine halbe Stunde später war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Auf dem vereisten Weg vom Cottage zur Landstraße hatte Jed alle Mühe, dass der Landrover nicht ins Schleudern geriet und in einer der meterhohen Schneewehen landete. Grimmig konzentrierte er sich aufs Fahren, während Meg mit geballten Fäusten kerzengerade auf dem Beifahrersitz saß. Keiner sprach. Scott lag auf dem Rücksitz. Er schlief und merkte nichts von der Gefahr – das Schneemannbauen hatte ihn müde gemacht.

Als sie endlich die Straße erreichten, atmete Meg erleichtert auf und lehnte sich zurück. Jetzt verstand sie, warum Jed darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu bringen: Ohne ihn und den Landrover hätten sie es nie geschafft. Als sie die Fäuste entspannte, entdeckte sie rote Halbmonde, die ihre Fingernägel auf den Handflächen hinterlassen hatten. „Uff, das wäre geschafft.“

Für sie, aber nicht für ihn. Er hatte die Rückfahrt noch vor sich.

„Jetzt sieht es schon besser aus“, meinte sie.

„Etwas.“

Nach plaudern war ihm offensichtlich nicht zumute, und das war ihr nur recht, denn je mehr sie sich ihrem Elternhaus näherten, umso nervöser wurde sie.

Wäre sie doch nur in London geblieben! Sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass sie und Scott nie eingeladen worden wären, hätte ihr Vater nicht vor zwei Wochen einen Herzinfarkt erlitten.

Ein Herzinfarkt!

Angeblich handelte es sich nur um einen leichten Anfall. Meg erfuhr es erst, als ihre Mutter letzten Sonntag anrief, um Scott und sie nach Winston zu bitten. Auf ihre erregte Frage, warum man ihr das erst jetzt mitteilte, erwiderte ihre Mutter lediglich: „Warum sollte ich dich beunruhigen – du hättest doch nichts tun können.“

Ihre Mutter … Meg hatte sie noch nie verstanden. Sie war so kalt, so distanziert, ganz anders als ihr Vater, mit dem sie seit ihrer Kindheit eine tiefe Zuneigung verband, obwohl er damals fast nur am Wochenende zu Hause war: Aufgrund seiner Tätigkeit als Regierungsbeamter verbrachte er die meiste Zeit in London. Als Sonia und sie dann mit dreizehn ins Internat kamen, sah sie ihn nur noch während der Ferien.

Das änderte nichts an der Tatsache, dass er ihr schon immer, auch heute noch, viel näherstand als ihre Mutter. Umso mehr kränkte es Meg, dass diese es nicht für nötig befunden hatte, sie über die Krankheit ihres Vaters zu informieren.

Jed täuschte sich nicht – sie war, damals wie heute, das schwarze Schaf der Familie. Als Kind hatte sie oft überlegt, dass man sie bei der Geburt vertauscht haben musste, dass ihre Mutter nicht wirklich ihre Mutter war. Und gäbe es nicht Sonia, ihre Zwillingsschwester, so würde sie das auch jetzt noch vermuten …

„Dort vorn ist Winston“, riss Jed sie aus ihren Erinnerungen. „Sie müssen mir sagen, wie ich zu fahren habe.“

Meg richtete sich auf. „An der ersten Kreuzung biegen Sie rechts ab und dann immer geradeaus.“

Sie spürte ein Ziehen in der Magengegend, als sie daran dachte, was ihr bevorstand. Scott zuliebe musste der Besuch positiv verlaufen. Sie war fest entschlossen, ihren Teil dazu beizutragen, und hoffte, dass ihre Familie das auch tun würde. Sonst, dachte sie grimmig, wird das ein sehr kurzer Aufenthalt.

„Hier?“, fragte Jed überrascht, als sie ihn kurz anwies, in eine Einfahrt auf der linken Straßenseite einzubiegen.

„Ja“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Sie konnte sich sein ungläubiges Gesicht auch so vorstellen, als sie den gepflegten Weg zu dem imposanten Herrenhaus inmitten des weitläufigen Parks hinauffuhren. Ebenso, was ihm durch den Kopf ging: Wenn sie so steinreiche Eltern hatte, warum fuhr sie dann mit einer abgenutzten Reisetasche in einem billigen Mietwagen durch die Gegend? Es war geradezu lachhaft, und unter anderen Umständen hätte sie sich köstlich amüsiert. Doch der Gedanke an die bevorstehende Begegnung verdrängte jeden Sinn für Komik.

Seit fast vier Jahren hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen. Mit Sonia telefonierte sie ab und zu, schließlich lebten sie beide in London. Aber die Gespräche verliefen gewöhnlich steif und nichtssagend. Einmal verabredeten sie sich in einem Café, doch weder ihr noch Sonia machte das Zusammensein Freude, und danach vermieden sie jede weitere Begegnung. Zu viel Ungesagtes stand zwischen ihnen.

Da sie sich in völlig unterschiedlichen Kreisen bewegten, bestand auch keine Gefahr, dass sie zufällig aufeinandertrafen. Sonias Superhaus und ihre noblen Bekannten waren Lichtjahre von Megs kleinem Apartment und ihren Freundinnen – junge Mütter wie sie – entfernt.

Als Jed immer noch nichts sagte, wandte sie sich ihm zu. „Was ist?“, fragte sie gereizt.

Das ist Ihr Elternhaus?“

Meg nickte und betrachtete die dreistöckige Villa, die größer war als das Gebäude mit den acht Mietwohnungen, in dem sie lebte.

„Der Mädchenname meiner Mutter ist Winston“, erklärte sie widerstrebend. „Ihre Familie hat seit Generationen hier gelebt, das Dorf ist nach ihnen benannt. Das jetzige Haus wurde vor hundert Jahren gebaut, und da Mutter keine Geschwister hat, war sie die alleinige Erbin.“ Sein Schweigen ging ihr langsam auf die Nerven.

„War es nicht einsam, so weit entfernt von den übrigen Dorfbewohnern zu leben?“

„Doch“, bestätigte sie bedrückt. „Außer Sonia hatte ich keine Spielkameraden.“

Nichts entging ihm. Er sah nicht das Kind reicher Eltern, sondern das einsame kleine Mädchen, das sie damals war.

Tränen schimmerten in ihren Augen, und sie blinzelte. „War es bei Ihnen auf der Farm nicht einsam?“

„Mit zwei Brüdern und den Cousins und Cousinen? Kaum.“

In Megs Ohren klang das wundervoll. So wünschte sie sich Scotts Kindheit – und wusste doch, dass es nie dazu kommen würde.

Vor dem Haus brachte Jed den Landrover zum Stehen und schaltete den Motor ab. „Kein Wunder, dass Sie nicht wollen, dass Ihr Sohn hier aufwächst.“

Meg lachte freudlos. „Selbst wenn ich es wollte – diese Aussicht bestand nie.“ Ihre Mutter erinnerte sich nicht einmal an seinen Geburtstag, und wenn sie ihn ausnahmsweise einmal nicht vergaß, schickte sie ihm eine Glückwunschkarte und einen Scheck.

Jed presste die Lippen zusammen. „Ich glaube nicht, dass mir Ihre Mutter sehr sympathisch ist.“

Das, ging es Meg durch den Kopf, wird höchstwahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhen. In diesem Haus galt nur eine Meinung – die ihrer Mutter.

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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