Küsse gestohlen, Liebe gefunden

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Nur Freundschaft, darauf hat Cherry sich mit ihrem Gastgeber Vittorio geeinigt. Der beunruhigend attraktive Millionär soll gar nicht erst die Chance bekommen, ihr das Herz zu brechen. Denn mehr als ein paar gestohlene Küsse kann so ein toller Mann wie er ja nicht von ihr wollen, oder?


  • Erscheinungstag 29.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520614
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wie war sie nur in eine derart lächerliche Lage geraten? Das passte gar nicht zu ihrer sonst so vernünftigen Art!

Die Augen mit der Hand vor dem gleißenden Sonnenlicht schützend, ließ Cherry Gibbs den Blick über die schmale, von Trockenmauern begrenzte Landstraße schweifen. Nichts, keine Menschenseele, kein Zeichen von Zivilisation, nur Olivenbäume, so weit man sehen konnte!

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf und ging wieder zu ihrem kleinen Mietwagen, der mit offener Fahrertür in der brütenden Hitze des strahlenden Maitags mitten auf der Straße stand. Wieder versuchte sie, was sie während der letzten Stunde bestimmt schon ein Dutzend Mal getan hatte. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und versuchte, den Motor zu starten. Nichts. Nicht das geringste Geräusch war zu hören.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, schimpfte Cherry laut und strich sich eine Strähne ihres langen braunen Haars aus dem erhitzten Gesicht.

Sie war in dieser einsamen Gegend gelandet, weil sie von der Hauptverkehrsstraße abgebogen war, um einen kleinen Abstecher ins Landesinnere zu unternehmen. Das hatte sie nun davon! In dieser einsamen Gegend würde so schnell niemand vorbeikommen, den sie um Hilfe bitten konnte.

In Italien war wirklich alles ganz anders als in England.

Vor fünf Tagen war sie in Brindisi gelandet und seitdem mit ihrem kleinen Mietwagen in Apulien, dem „Stiefelabsatz“ Italiens, unterwegs. Den Verkehr in den Städten hatte sie als ebenso nervenaufreibend und stressig empfunden wie den in London und sich deshalb schnell für eine Tour abseits der großen Straßen entschieden.

Cherry hatte die mittelalterliche Altstadt Lecces mit ihren berühmten barocken Kirchen, Palästen und Bogengängen durchstreift. Sie hatte die Halbinsel Salento erkundet, war durch eine wunderschöne Landschaft bis zum äußersten Zipfel Italiens gefahren, um vom Kap Santa Maria di Leuca über die Adria bis zu den Bergen Albaniens zu blicken.

Und das Wichtigste: Sie hatte ihren festen Vorsatz verwirklicht, nicht ständig an Angela und Liam zu denken – die meiste Zeit jedenfalls.

Cherry schloss kurz die Augen, nahm dann die Karte vom Beifahrersitz und stieg wieder aus. Nur kein Selbstmitleid! Geweint hatte sie die letzten Monate genug, ein Neuanfang war angesagt, und diese Reise war der erste Schritt dazu.

Sie breitete die Karte auf der Motorhaube aus und versuchte, ihre genaue Position zu bestimmen.

Am Morgen, nach dem landesüblichen einfachen Frühstück mit süßem Gebäck und Cappuccino, war sie von ihrer kleinen Pension aufgebrochen. Nach ungefähr fünfzig Kilometern hatte sie die Küstenstraße verlassen und war landeinwärts gefahren. In Alberobello hatte sie Zwischenstation gemacht und das Auto vollgetankt. Sie hatte sich die berühmten Trulli angesehen, wunderschöne, weiß getünchte alte Rundhäuser aus Trockenmauerwerk. Anschließend war sie auf dem Markt gewesen und hatte Feigen und italienischen Kuchen eingekauft – verhungern musste sie also nicht.

Kurz vor Beginn der Siesta hatte sie die Stadt wieder verlassen, um mehr von dieser Gegend zu sehen, die noch so stark vom traditionellen süditalienischen Lebensstil geprägt war. Es war eine Landschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert zu haben schien: endlose Weinfelder und Olivenhaine, dazwischen Pinien und Mandelbäume.

Da Cherry die letzten Kilometer nur unbefestigte Straßen und Feldwege gefahren war, wusste sie nicht genau, wo sie war und wo sich das nächste Dorf befand.

Sie hatte zwar ihr Handy dabei, aber wen hätte sie zu Hilfe rufen sollen? Etwa die Botschaft in Rom oder den britischen Honorarkonsul in Bari? Andere nützliche Nummern hatte sie nicht gespeichert.

Süditalien war für Touristen kein wirklich sicheres Pflaster. Der nette junge Mann vom Autoverleih hatte Cherry eindringlich geraten, niemals Wertgegenstände im Auto liegen zu lassen, es über Nacht nicht auf unbeleuchteten Straßen zu parken und im Dunkeln keinesfalls allein spazieren zu gehen.

Aber das galt doch sicher vor allem für Städte. Was sollte ihr hier auf dem Land zwischen Olivenbäumen und Weinstöcken schon passieren? Wenn sie bloß gewusst hätte, wo genau sie sich befand und wie weit es bis zur nächsten Ortschaft war. Ihr Gepäck, ein großer Koffer und eine vollgestopfte Schultertasche, war zu schwer, um damit einen Ausflug ins Blaue zu wagen. Die Sachen einfach im Auto zurücklassen wollte sie jedoch auch nicht.

Abwarten und sich in Geduld fassen war daher das Vernünftigste. Cherry versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, setzte sich im Schatten eines Olivenbaumes auf die Trockenmauer und aß etwas von ihrem Kuchen.

Wäre die Ungewissheit nicht gewesen, hätte sie die schläfrige Mittagsstimmung, die Wärme, das Summen der Insekten und das gelegentliche Zwitschern eines Vogels durchaus genießen können.

Plötzlich hob sie den Kopf. Nein, ihre Ohren hatten sie nicht getäuscht, was sich da in einer dichten Staubwolke näherte, war wirklich ein Auto.

Sollte das der Bauer auf dem Weg zu seinen Feldern sein, würde er nicht gerade begeistert reagieren, wenn ihm ein Fahrzeug den Weg blockierte. Andererseits war er vielleicht ein väterlicher Typ und würde ihr helfen. Cherry wusste, wie unerfahren und hilflos sie auf Fremde wirkte.

Sie war klein und zierlich und wirkte wie siebzehn, obwohl sie bereits vierundzwanzig war. Sie war es gewohnt, ihren Ausweis zeigen zu müssen, wenn sie in die Disco ging …

Erstaunt kniff sie die Augen zusammen. Was sich da näherte, war ein mitternachtsblauer Ferrari!

Cherry sprang von der Mauer, klopfte sich die Kuchenkrümel von der Hose und ging zu ihrem Mietwagen. Sie hielt sich betont aufrecht und wappnete sich für die bevorstehende Begegnung mit einem typisch italienischen Macho. Alles, was sie je über vergewaltigte oder ermordete Touristinnen gehört hatte, schoss ihr plötzlich durch den Sinn.

Mit angehaltenem Atem sah sie zu, wie der Fahrer anhielt, die Tür öffnete und ausstieg. Als Erstes nahm sie seine Größe wahr, der Mann war bestimmt einen Meter neunzig groß. Dann fielen ihr seine breiten Schultern auf, sein markantes Gesicht, der südländische Teint …

Der Fremde sprach sie auf Italienisch an, doch das einzige Wort, das Cherry verstand, war das signorina am Ende.

„Ich spreche kein Italienisch“, radebrechte sie mühsam. Sie meinte, ihn seufzen zu hören. Schon wieder so eine blöde Touristin, schien er zu denken.

„Sie sind Engländerin?“, erkundigte er sich jedoch höflich. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Auto ist liegen geblieben“, erklärte sie und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen.

„Wohin möchten Sie denn?“ Er musterte sie durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille.

„Das weiß ich nicht.“ Sie merkte sofort, wie kindisch das klang, und versuchte, die Sache richtigzustellen. „Ich habe kein bestimmtes Ziel, ich möchte die Gegend erkunden.“ Klang das besser?

„Und wo kommen Sie her?“

„Ich habe in Lecce übernachtet und bin heute Morgen aufgebrochen, um mir die Küste anzusehen.“

„Dies ist nicht die Küstenstraße, signorina.“

Überheblicher Kerl! „Das weiß ich auch. Ich habe einen Abstecher gemacht, weil ich das Castel del Monte besichtigen und mir einen Eindruck von der Landschaft im Landesinneren verschaffen wollte.“

„Ich verstehe.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr Verhalten für abenteuerlich und unverantwortlich hielt. „Und jetzt blockieren Sie meine Straße.“

Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie musste sich beherrschen, nicht zurückzuweichen. „Ihre Straße?“ Cherry verschlug es fast die Stimme.

„Ja, signorina. Meine Straße. Sie befinden sich nämlich auf meinem Gut. Wo dieser Weg von der Hauptstraße abzweigt, steht ein großes Hinweisschild. Haben Sie das vielleicht übersehen?“

Na super! Ein Schild war ihr wirklich nicht aufgefallen. „Ich habe kein Tor gesehen“, versuchte sie, sich aus der Affäre zu ziehen.

„Wir Italiener können auf Tore verzichten. Wir respektieren fremdes Eigentum auch ohne Zäune.“

Wie konnte er es nur wagen, sie derart zu beleidigen? Dieser Typ war wirklich unerträglich! „Es tut mir ausgesprochen leid. Ihr Eigentum hätte ich absichtlich bestimmt nicht betreten, darauf können Sie sich verlassen.“

Täuschte sie sich, oder lächelte er belustigt?

„Dann lassen Sie uns mal sehen, ob wir Ihren Wagen wieder zum Laufen bringen können!“, sagte er dann aber ganz höflich. „Wo sind die Schlüssel?“

„Die stecken.“

Trotz ihrer misslichen Lage hoffte Cherry fast, dass der Wagen nicht sofort anspringen würde – sie wollte sich nicht noch mehr blamieren!

Doch sie hätte sich keine Sorgen machen müssen! Der Fremde versuchte mehrmals erfolglos, das Auto zu starten. Er stieg aus, öffnete die Haube, betrachtete den Motor und probierte es noch einmal, wiederum vergeblich.

„Wann haben Sie das letzte Mal getankt, signorina?“ Erwartungsvoll sah er sie an.

Für wie dumm hielt er sie eigentlich? „Vorhin in Alberobello – und zwar randvoll!“ Sie lächelte triumphierend.

„Und haben Sie danach Alberobello sofort verlassen?“

Worauf wollte er nur hinaus? „Nein, ich habe mir die Stadt noch angesehen.“

„Zu Fuß, signorina?“ Er ließ sie nicht aus den Augen.

„Ja, zu Fuß.“ Ist das ein Verbrechen? Trotzig erwiderte sie seinen Blick.

Dabei machte die Nähe des attraktiven Fremden Cherry zunehmend nervös. Seine scharf geschnittenen Gesichtszüge, sein glänzend schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar und die noble Designerkleidung verliehen ihm eine raubtierhaft arrogante Ausstrahlung … Unter den gegebenen Umständen hatte der Fremde eine ziemlich einschüchternde Wirkung auf Cherry.

„Wahrscheinlich sind Sie das Opfer eines Diebstahls geworden.“

„Diebstahl?“ Cherry war fassungslos.

Si, signorina. Es gehört nicht viel dazu, einen Tank anzustechen und das Benzin in einen Kanister laufen zu lassen – leider.“ Lässig zuckte er die Achseln, als handle es sich um ein leidiges, aber unvermeidbares Übel.

Cherry lächelte zynisch. „Aha, das ist also der Respekt vor fremdem Eigentum, auf den die Italiener so stolz sind, Signor …?“

„Carella, Vittorio Carella.“ Er strahlte sie an, als habe sie ihm gerade ein Kompliment gemacht. „Und wer sind Sie?“

„Cherry Gibbs.“ Wie banal, langweilig und englisch das klang!

„Cherry?“ Er runzelte die Stirn, und sie fragte sich, welche Farbe seine Augen wohl haben mochten, wenn er die dunkle Brille abnahm. Braun wahrscheinlich, schließlich war er Südeuropäer.

„Cherry – wie Kirsche?“, fragte er nach.

Sie nickte. „Meine Mutter hatte während der gesamten Schwangerschaft einen unbändigen Appetit auf diese Früchte“, erklärte sie und war wieder einmal dankbar dafür, dass es nicht Erdbeeren oder Bananen gewesen waren.

„Sie mögen Ihren Namen nicht? Ich finde ihn bezaubernd.“

Er nahm die Brille ab, und Cherry erkannte ihren Irrtum. Seine Augen waren nicht braun, sondern rauchig grau. Zusammen mit den dichten schwarzen Wimpern, um die ihn jede Frau beneidet hätte, war die Wirkung einfach faszinierend.

„Also, Cherry, was sollen wir jetzt tun? Möchten Sie Ihre Eltern anrufen und sich abholen lassen?“

„Ich bin allein hier“, antworte sie spontan, bereute aber sofort, ihm das verraten zu haben.

Vittorio Carella zog die Brauen hoch. „Allein? Dazu sind Sie doch noch viel zu jung!“

Immer diese Probleme mit ihrem kindlichen Aussehen! „Ich bin fast fünfundzwanzig und damit längst alt genug, mein Leben selbst zu gestalten.“

Zufrieden stellte sie fest, ihn überrascht zu haben. Ein Wunder war das allerdings nicht, denn mit ihrem offenen und leicht zerzausten Haar, den lässigen Chinos und dem einfachen T-Shirt musste sie heute noch jünger als gewöhnlich wirken.

Vittorio Carella hatte sich jedoch schnell wieder gefasst. „Sie scheinen gute Gene zu besitzen“, erwiderte er glatt. „Meine Großmutter ist auch so ein Typ.“

Cherry schluckte. Irgendwie ärgerte sie sich darüber, mit seiner Oma verglichen zu werden.

„Ich schlage vor, Sie rufen als Erstes in der Agentur an, in der Sie den Wagen gemietet haben“, empfahl er dann ruhig.

Cherry nickte, kramte ihr Handy und den Vertrag aus der übervollen Reisetasche hervor und befolgte den Ratschlag. Sie versuchte es etliche Male, doch erhielt stets das Besetztzeichen.

„Das ist reine Zeitverschwendung“, meinte er schließlich ungeduldig. „Besser, Sie probieren es später von mir zu Hause noch einmal. Was möchten Sie mitnehmen?“

„Von Ihnen zu Hause?“ Sie schien sich verhört zu haben.

„Ja natürlich. Meinen Sie, ich würde Sie hier allein an der Straße zurücklassen?“

Das schien immer noch ungefährlicher, als mit ihm zusammen in seinen Ferrari zu steigen!

„Es tut mir wirklich leid, Ihnen mit meinem Wagen im Weg zu stehen“, sagte Cherry schnell. „Aber irgendwann wird sich ja jemand melden und mir Hilfe schicken. Können Sie nicht wenden und Ihr Haus über eine andere Straße erreichen?“

Statt darauf einzugehen, behandelte er sie wie ein begriffsstutziges Kleinkind. „Cherry, Sie sitzen hier fest. Selbst wenn die Agentur einen freien Wagen zur Verfügung hat und sofort schicken kann, dauert das Stunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssten Sie hier bis morgen warten. Wollen Sie wirklich die Nacht im Auto verbringen?“

Lieber im Auto als in seinem Haus, da war sich Cherry ganz sicher. „Ich möchte mich Ihnen nicht aufdrängen“, antwortete sie steif. „Sicherlich finde ich einen Gasthof oder eine Pension irgendwo in der Nähe.“

Bedeutungsvoll blickte er auf den Rücksitz mit dem großen Koffer und der sperrigen Reisetasche. „Ich befürchte, der Weg würde Ihnen sehr lang werden. Außerdem ist es eher unwahrscheinlich, dass Sie hier in der Nähe eine Übernachtungsmöglichkeit finden. Warum wollen Sie sich diesen Strapazen und drohenden Gefahren ohne Veranlassung aussetzen?“

Vittorio Carella hatte wirklich keine Ahnung, was in ihr vorging.

Für sie war er die größte Gefahr! Sie fühlte sich wie magisch von ihm angezogen, und unter seinen Blicken schmolz ihre Vernunft dahin. Dennoch war es keine gute Idee, allein und ziellos durch diese äußerst dünn besiedelte Gegend zu irren, noch dazu mit schwerem Gepäck.

„Vielleicht erreiche ich ja jetzt jemanden“, meinte sie ausweichend und aktivierte die Rufwiederholung ihres Handys. Immer noch besetzt!

Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte Vittorio Carella an der Motorhaube. Cherry ärgerte sich über diese Pose, die ihr affektiert erschien. Schließlich musste ihm die Situation mindestens ebenso unangenehm sein wie ihr. Trotzdem bemühte sie sich um eine ähnlich gelassene Haltung.

„Also gut, ich würde mich freuen, wenn ich Ihre Gastfreundschaft für kurze Zeit in Anspruch nehmen dürfte, dann könnte ich die Sache mit der Agentur in aller Ruhe regeln.“

„Selbstverständlich.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lud er das Gepäck um, schloss den Mietwagen ab und reichte ihr die Schlüssel. Dann hielt er ihr höflich die Beifahrertür auf.

Sie ließ sich in den cremefarbenen Ledersitz sinken und genoss es, zum ersten – und bestimmt auch letzten – Mal in ihrem Leben in einem Ferrari zu sitzen. Als Vittorio Carella ebenfalls einstieg, bekam sie Herzklopfen. Sie spürte seine Nähe, als würde er sie berühren. Der herbe Duft seines exklusiven Aftershaves und die goldene Rolex an seinem Handgelenk – alles an diesem Mann zeugte von Macht und Reichtum. Cherry war sich noch sie so unbedeutend und nichtssagend vorgekommen.

Da Vittorio Platz zum Wenden fehlte, musste er zurücksetzen. Dies tat er in einer derartigen Geschwindigkeit, dass sich Cherry unwillkürlich am Türgriff festhielt. Erst am Ende der Straße ließ sie ihn wieder los.

„Sie … Sie fahren gerne Auto?“, fragte sie noch ganz benommen.

„Si.“ Er gab Gas. „Es ist für mich eine der wenigen ungetrübten Freuden, die das Leben zu bieten hat.“

Cherry wollte gerade fragen, was er damit meinte, als sie ein typisch italienisches Gutsgebäude sah, dessen Anblick ihr die Sprache verschlug. Waren die Häuser in dieser Gegend meist verputzt und weiß gestrichen, war diese Hofanlage aus ockerfarbenem Naturstein errichtet, der in der Nachmittagssonne golden glänzte.

Hohe Pinien und die knorrigen Olivenbäume der umgebenden Felder bildeten einen perfekten Hintergrund, und das graue Schieferdach und die bunt bepflanzten Balkonkästen sorgten für malerische Kontraste.

„Casa Carella“, meinte Vittorio nach einem Seitenblick auf Cherry, die staunend auf dem Beifahrersitz saß, die Hände im Schoß gefaltet. „Einer meiner Vorfahren baute das Haupthaus im siebzehnten Jahrhundert, nachfolgende Generationen haben es immer mehr erweitert.“

Das Ergebnis erinnerte Cherry mehr an ein Märchenschloss als an einen Gutshof. „Wie wunderschön!“, war alles, was sie über die Lippen brachte.

„Grazie.“ Langsam ließ er den Blick von ihrem Gesicht zur Casa Carella schweifen. Seine Züge wurden weich. „Auch ich finde mein Zuhause wunderschön. Ich möchte nirgendwo anders leben.“

„Und die Olivenhaine werden immer noch bestellt?“ Fragend sah Cherry ihn an.

„Aber sicher! Apulien ist berühmt für sein Olivenöl, und die Carellas liefern schon seit jeher das beste. Mein Urgroßvater war aber nicht nur ein ausgezeichneter Bauer, sondern auch ein weitsichtiger Geschäftsmann. Er sorgte dafür, dass sich der Reichtum der Carellas heutzutage nicht allein auf Olivenplantagen gründet.“

Cherry nickte nur. Vittorio Carella war offensichtlich steinreich.

„Mein Urgroßvater war in seinen Methoden nicht zimperlich, aber mit seiner Rücksichtslosigkeit legte er den Grundstein für ein Vermögen, auf das die folgenden Generationen bauen konnten.“

„Sie finden Rücksichtslosigkeit also gut?“ Empört sah sie ihn an.

Er wich ihrem Blick nicht aus. „Manchmal schon, Cherry.“

Bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte Vittorio bereits seinen Platz verlassen, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

„Sie möchten sich bestimmt zuerst etwas frisch machen“, bemerkte er. „Eins der Mädchen wird Ihnen ein Gästezimmer zeigen. Wenn Sie fertig sind, lade ich Sie zu einem Kaffee ein.“

Kaum hatte er ausgeredet, öffnete eine junge Frau in adretter Uniform die Haustür.

„Ah, Rosa“, begrüßte Vittorio sie, hakte Cherry ein, die wie angewurzelt auf der Stelle gestanden hatte, und führte sie mit sanftem Druck die Freitreppe zum Eingang hoch. „Rosa, würden Sie bitte die signorina in ein Gästezimmer führen und sich um sie kümmern?“

Er ließ Cherry los. „Wenn Sie erlauben, werde ich mich in der Zwischenzeit mit der Autovermietung in Verbindung setzen und versuchen, die Dinge zu regeln.“

Sie bedankte sich, ohne recht zu wissen, was sie sagte. Die Pracht der Halle, die sie an Vittorios Seite betreten hatte, verschlug ihr einfach den Atem. Sie war hoch wie eine Kirche, kühl und hell. Der Boden war mit hellgrünem Marmor gefliest, an den Wänden hingen alte Gemälde, und Sofas und Polsterstühle luden zum Sitzen ein.

Die Blumen, die geschmackvoll auf Tischen und Kommoden arrangiert waren, verbreiteten einen frischen Duft. Die breite Freitreppe zu den oberen beiden Stockwerken und die umlaufenden Galerien ließen Cherry glauben, im Innenhof einer Burg zu stehen.

Wortlos folgte sie dem Mädchen die hellgrünen Marmorstufen hinauf. Rosa öffnete die Tür zu einem riesigen Schlafzimmer und führte Cherry ins Bad, das mit allen Utensilien, die sich eine Frau nur wünschen konnte, ausgestattet war: flauschige Frotteetücher, Parfümflakons, noch in Folie eingeschweißte Pflegeartikel und Make-up.

Nachdem Rosa gegangen war, sah sich Cherry erst einmal im Schlafzimmer um. Auch hier kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Die Schränke und das breite Bett waren aus Pinienholz, und die Wände waren in darauf abgestimmten Pastelltönen gestrichen. Wenn dies lediglich ein Gästezimmer war, wie mochten dann erst die Privaträume Vittorio Carellas aussehen?

Durch eine breite Glastür betrat Cherry den Balkon. Neben einer Sitzgruppe aus Teakholz standen große Terrakottakübel mit Gräsern – die üppig bepflanzten Balkonkästen hatte sie ja bereits von unten bewundert. Neugierig beugte sie sich über die Balustrade, um in den Garten zu blicken.

Ein solches Meer von Farben hatte sie noch nie gesehen! Vor der alten Trockenmauer blühten Mandelbäume, Feigen und exotische Sträucher, davor wuchsen farblich aufeinander abgestimmte Blumen in riesigen Beeten.

Und erst der Swimmingpool! Er war größer als so manch englisches Schwimmbad, und der türkisfarbene Mosaikboden ließ das Wasser beeindruckend klar und blau erscheinen.

Was für eine Pracht hier herrschte! So lebten also die oberen Zehntausend! Eines war klar: Dieser Vittorio Carella musste tatsächlich mehr sein als ein normaler Olivenbauer. Und wenn sie schon irgendwo ein paar Stunden überbrücken musste, so war seine Casa Carella nicht der schlechteste Ort!

Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie sich ja zurechtmachen wollte. Eilig betrat Cherry das umwerfende Badezimmer. In all dem Luxus aus Marmor und vergoldeten Spiegeln wirkte sie deplatziert wie ein kleines, leicht zerzaustes Schulmädchen. Cherry stöhnte.

Es gab einiges zu tun! Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, bürstete Cherry ihr Haar, bis es seidig glänzte. Dann bediente sich an Mascara und Lidschatten.

Autor

Helen Brooks

Bereits seit über 20 Jahren veröffentlicht die britische Autorin unter dem Pseudonym Helen Brooks Liebesromane, unter ihrem richtigen Namen Rita Bradshaw schreibt sie seit 1998 historische Romane. Weit über 40 Bücher sowie einige andere Werke sind bisher unter dem Namen Helen Brooks erschienen, von Rita Bradshaw gibt es 14 Romane....

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