Küsse meine Tränen fort

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Abby wurde von ihrem Ex hintergangen und musste einen hohen Preis zahlen! Nun will sie von Männern nichts mehr wissen! Die Kühle ihres Chefs ist Abby da nur recht – und ausschlaggebend, dass sie einwilligt, mit ihm zu verreisen. Doch Amor hat seinen Bogen längst gespannt.


  • Erscheinungstag 19.10.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786779
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Was heißt das, du fährst nicht hin? Ach, Stephen, du hast es versprochen! Du arbeitest jetzt seit fast zwei Jahren ununterbrochen ohne jeden Urlaub. Wenn du nicht bald einmal ausspannst, wirst du noch zusammenbrechen.“

„Bezeichnest du eine medizinische Fachkonferenz als Ausspannen?“, lautete die trockene Antwort. „Von den Teilnehmern wird erwartet, dass sie sich den halben Tag Vorträge anhören, um dann in der zweiten Tageshälfte aus dem Koma zu erwachen, in das sie vor lauter Langeweile gesunken sind, und sich in den gesellschaftlichen Trubel zu stürzen.“

„Das ist genau das, was du brauchst.“

„Was? Langeweile?“

„Das auch, aber ich meinte den gesellschaftlichen Trubel. Was, um alles in der Welt, wird Evelyn sagen, wenn du ihr davon erzählst?“

„Evelyn ist der Grund, weshalb ich nicht zu dem Kongress fahre.“

Abby verzog hinter dem Empfangstresen, an dem sie saß, das Gesicht und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Aber es war unmöglich, die private Unterhaltung zu ignorieren, die laut und deutlich aus Dr. Grants Behandlungszimmer herüberdrang.

Wenn Sylvia die Tür richtig hinter sich geschlossen hätte, wäre ich jetzt nicht in dieser peinlichen Lage, dachte Abby verärgert.

„Das musst du mir erklären, Stephen“, ertönte Sylvias Stimme energisch.

„Da gibt es nichts zu erklären. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich Evelyn nicht mitnehmen möchte. Da derartige Konferenzen jedoch immer auf Paare abgestimmt sind und ich keine Lust habe, allein herumzustehen, habe ich mich entschieden, gar nicht erst zu erscheinen.“

„Warum willst du Evelyn denn nicht mitnehmen?“

„Evelyn ist genau wie alle anderen Frauen, mit denen ich in den letzten Jahren liiert war. Nach ein paar Monaten fangen sie an, davon zu träumen, dass unsere Beziehung – sofern man es überhaupt als solche bezeichnen kann – sich zu einer festeren Bindung entwickeln sollte.“

„Wie rücksichtslos von ihnen.“

Abby zuckte bei Sylvias ironischem Ton zusammen. Nicht dass Abby auf Dr. Grants Seite gewesen wäre. Sylvias Bruder war an seinen besten Tagen ein eiskalter Teufel – und das wusste seine ältere Schwester vermutlich nur zu gut.

„Erspar mir deinen Sarkasmus, Schwesterchen“, erwiderte er. „Ich habe Evelyn nie mehr versprochen als dann und wann eine gemeinsame Nacht. Sie hat behauptet, nach ihrer Scheidung vor einem Jahr nicht mehr zu wollen, aber sie hat gelogen. Ich hätte wissen müssen, dass meine Einladung, drei Tage und Nächte miteinander zu verbringen, in ihr die Vermutung wecken könnte, meine Gefühle für sie hätten sich wundersamerweise in Liebe verwandelt, die unweigerlich zu einem Heiratsantrag führen würde.“

„Dummes Ding“, meinte Sylvia spöttisch. „Allerdings wäre es fairer gewesen, wenn du dir die Worte ‚allergisch gegen Liebe und Ehe‘ auf die Stirn hättest tätowieren lassen.“

„Nicht allergisch, Sylvia. Überdrüssig. Genau wegen all der schönen Frauen wie Evelyn. Die meisten haben bei einer Ehe nicht Liebe im Sinn, sondern Geld und gesellschaftliche Stellung.“

Sylvias Seufzer war unüberhörbar. „Du hast sie noch immer nicht vergessen, oder?“

„Wen?“

„Du weißt ganz genau, wen. Vanessa Soundso.“

„Ich möchte nicht über die Vergangenheit reden. Und ich will auch nicht mit dir über meine Entscheidung diskutieren, die Konferenz nicht zu besuchen. Falls du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern noch ein paar Briefe diktieren, die Miss Richmond tippen soll, bevor sie Feierabend macht.“

Abby zog ergeben die Brauen hoch. Sie arbeitete jetzt seit sechs Monaten für Stephen Grant, und er nannte sie noch immer „Miss Richmond“. Nicht dass es ihr wichtig war. Es kam ihr sogar sehr gelegen, den umwerfend attraktiven Chirurgen und Orthopäden auf Distanz zu halten. Verliebtheit stand in diesem Jahr nicht auf ihrem Terminplan.

Oder in irgendeinem anderen Jahr fügte sie in Gedanken bitter hinzu. Sie hatte für den Rest ihres Lebens genug von Romantik!

Trotzdem kränkte sie mitunter seine Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber zeigte. In den letzten sechs Monaten hatte er ihr nicht eine einzige persönliche Frage gestellt.

Reumütig dachte Abby an die erste Begegnung mit Dr. Grant. Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen, vertieft in seine Unterlagen, als Sylvia sie ihm vorgestellt hatte.

Anscheinend hatte er seiner Schwester bei der Wahl der Aushilfe freie Hand gelassen, die freitags die Vertretung übernehmen sollte. Sylvia hatte nämlich beschlossen, dass sie nach all den Jahren der Sklaverei, in denen sie als Stephens Haushälterin und Empfangsdame fungiert hatte, die Freitage für sich haben wollte. Ihr lieber Bruder hatte sich nur ausbedungen, dass die neue Kraft gründlich eingearbeitet wurde, damit es keine Probleme gab.

Abby war sich nicht sicher, was sie eigentlich erwartet hatte, nachdem sie Sylvia kennengelernt hatte. Vermutlich jemand, der älter war. Sylvia war um die fünfzig, untersetzt, blass und ziemlich unscheinbar. Als Stephen Grant jedoch seinen dunklen Kopf erhoben und den Blick seiner unglaublich blauen Augen auf sie gerichtet hatte, war ihr fast das Herz stehen geblieben.

Ihre Verblüffung über sein attraktives Äußeres und sein Alter – er war bestenfalls Ende dreißig – war ihm nicht verborgen geblieben. Seine markanten Züge hatten sogleich einen abweisenden, kühlen Ausdruck angenommen.

„Wie geht es Ihnen, Miss Richmond?“, hatte er mit einer höflichen Zurückhaltung gefragt, an der sich seither nichts geändert hatte.

Mitunter fand Abby seine frostige Art sogar amüsant. Was mochte er in den ersten Momenten ihres Kennenlernens gedacht haben? Dass sie von seinem unterschwelligen Sex-Appeal hingerissen war? Glaubte er etwa, dass sie eine heimliche Leidenschaft für ihn hegte und er sie nicht ermutigen durfte?

Gütiger Himmel, um sie zu bezaubern, bedurfte es mehr als eines großen, dunkelhaarigen, gut aussehenden Mannes! Ihre Erfahrungen mit Dillon hatten sie kuriert. Gewiss, der liebe Dr. Grant hatte ihr Herz für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Gleichgewicht gebracht, aber mehr nicht. Sie hatte rasch gelernt, alle unerwünschten Träume zu unterdrücken, wenn sie ihn anschaute – genauso schnell, wie sie erkannt hatte, was für ein Charakter sich hinter seinem atemberaubenden Aussehen verbarg.

Er war eine Maschine und kein Mensch. Ein kaltblütiger, herzloser Roboter, der achtzehn Stunden am Tag arbeitete und nicht in einem oder zwei, sondern gleich drei Krankenhäusern operierte. Gelegentlich operierte er sogar samstags, falls sein Terminplan es nicht anders erlaubte.

Abby fragte sich manchmal, warum seine Patienten so große Hoffnungen in ihn setzten. Es musste an seinen Fähigkeiten liegen, nicht an seinen Manieren. Da er jeden Freitag, wenn sie in der Praxis war, Sprechstunde hielt, hatte sie reichlich Gelegenheit gehabt, seine Persönlichkeit zu studieren. Niemals hatte er einen Patienten angelächelt. Er kam stets mit undurchdringlicher Miene aus dem Behandlungszimmer und rief den nächsten auf.

Sie waren alle nur Fälle für ihn und keine Menschen, das hatte Abby inzwischen begriffen. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass er sich bei keinem seiner Patienten gefühlsmäßig engagierte.

Und nach dem zu urteilen, was sie gerade gehört hatte, engagierte er sich bei niemandem gefühlsmäßig.

„Es hat keinen Sinn, weiter auf mich einzureden, Sylvia“, sagte er gerade gelangweilt. „Ich werde nicht fahren und damit Schluss.“

„Du bist ein Dummkopf! Jeder andere Mann hätte eine andere Begleiterin gefunden.“

„Und wen?“

„Ach, ich weiß nicht.“ Sylvia klang allmählich ein wenig irritiert. „Du könntest doch eine dieser Hostessen mitnehmen.“

„Mach dich nicht lächerlich! Meine engsten Kollegen werden dort mit ihren Frauen erscheinen. Glaubst du wirklich, ich würde mich mit einem Callgirl in der Öffentlichkeit zeigen?“

„Es würde doch niemand merken.“

„Ich würde es wissen“, konterte er.

„Willst du etwa behaupten, du hättest plötzlich Skrupel, was Sex und Frauen betrifft? Ich persönlich finde meine Idee fabelhaft und wie geschaffen für deine Bedürfnisse. Gegen das entsprechende Honorar bekommst du genau das, was du von einer Frau willst, und nicht mehr“, erklärte Sylvia boshaft. „Und du brauchst dir später keine Sorgen zu machen, dass sie irgendwelche Ansprüche an dich stellen könnte. Du wüsstest von Anfang an, dass sie nur hinter deinem Geld her ist.“

Abby traute ihren Ohren kaum. Sylvia musste den Verstand verloren haben. Trotzdem freute es sie, dass Sylvia ihrem Quälgeist von Bruder einmal die Meinung sagte. Der plötzlichen Stille nach zu urteilen, hatte ihm ihr bissiger Kommentar die Sprache verschlagen.

„Nun, Stephen?“, fragte Sylvia nach einer Weile herausfordernd. „Willst du mir nicht antworten? Wage es nicht, mich zu ignorieren – das werde ich nicht dulden.“

„Und ich dulde nicht, dass du dich in mein Privatleben mischst“, entgegnete ihr Bruder kalt. „Und jetzt geh nach Hause, und lass mich in Ruhe. Ich muss arbeiten.“

Abby kannte diesen Tonfall – und Sylvia ebenfalls. Niedergeschlagen verließ Dr. Grants Schwester das Zimmer. Nachdem sie die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, durchquerte sie mit besorgter Miene das Büro. Sie schien Abbys Anwesenheit völlig vergessen zu haben, so tief war sie in Gedanken ver­sunken.

Erst als Abby sich verlegen räusperte, hob Sylvia den Kopf. „Du lieber Himmel, Abby! Ich hatte ganz vergessen, dass Sie hier sind.“

„Möchten Sie eine Tasse Tee, Sylvia?“, erkundigte Abby sich. „Sie wirken ein bisschen … durcheinander.“

Sylvia seufzte. „Nein, aber trotzdem vielen Dank für das Angebot. Sie sind ein nettes Mädchen. Ich fahre lieber nach Hause und bereite das Abendessen vor. Haben Sie nicht auch schon Feierabend? Es ist bereits nach fünf.“

„Dr. Grant hat noch nicht alle Briefe für heute diktiert. Ich werde länger bleiben müssen, um sie zu schreiben. Sie wissen doch, wie eigen er in solchen Dingen ist.“

„Dieser Mann ist ein Sklaventreiber! Schreiben Sie die Überstunden auf.“

„Keine Sorge, das werde ich.“

Sylvia warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Haben Sie finanzielle Probleme, Abby?“

„Ich bin immer knapp bei Kasse.“ Das Geld, das sie hier sowie bei ihrem Wochenendjob als Kellnerin verdiente, reichte gerade aus, um das Notwendigste zu bezahlen, für Luxus blieb nichts übrig.

„Haben Sie noch immer keine feste Stellung gefunden?“

„Leider nicht.“ Obwohl sie sich auf jedes infrage kommende Inserat in der Zeitung bewarb. Die hiesige Arbeitsvermittlung konnte ihr auch nichts Passendes bieten.

„Das verstehe ich nicht. Ich hätte gedacht, dass sich die renommiertesten Firmen darum reißen müssten, ein so hübsches Mädchen wie Sie als Empfangsdame zu gewinnen.“

Abby zuckte wortlos die Schultern. Sie wollte Sylvia nicht erzählen, weshalb ihre Bewerbungen abgelehnt wurden. Sobald die Personalchefs gelesen hatten, wo sie ihre Sekretärinnenausbildung absolviert hatte, legten sie den Lebenslauf sofort beiseite.

Sylvia hatte nie eine ausführliche Bewerbung von Abby verlangt, sondern sie ganz naiv nach einem Telefongespräch engagiert. Sie hatte Abbys Geschichte von dem mehrjährigen Auslandsaufenthalt und dem daraus resultierenden Fehlen aktueller Zeugnisse aus Australien vorbehaltlos geglaubt.

Abby hatte sie nicht gern belogen, denn sie hatte Sylvia auf Anhieb gemocht, aber Armut machte verzweifelt. Sie tröstete sich mit der Gewissheit, dass das überschwängliche persönliche Empfehlungsschreiben – die einzige Referenz, die sie hatte vorlegen können – echt und keine Fälschung war. Die liebe Miss Blanchford … Abby war ihr so dankbar.

„Anfang der Woche hatte ich einen Vorstellungstermin“, berichtete sie zögernd. Voller Widerwillen dachte sie an das aufdringliche Verhalten des Chefs. Auf gar keinen Fall würde sie diesen Job annehmen, selbst wenn er ihr angeboten wurde.

„Ach ja? Und wo?“

„Eine kleine Autoreparaturwerkstatt in Alexandria.“

Sylvia rümpfte die Nase. „Sie könnten bestimmt etwas Besseres finden.“

„Das hatte ich auch gehofft, aber die Zeiten sind hart.“

„Ich werde Stephen fragen, ob einer seiner Kollegen eine Empfangsdame sucht“, versprach Sylvia freundlich. „Nicht dass ich möchte, dass Sie uns verlassen. Ich würde Sie wirklich vermissen. Stephen übrigens auch. Er weiß nur nicht, was für ein Juwel wir in Ihnen gefunden haben. Sie sind immer bereit, Überstunden zu machen. Die meisten hübschen jungen Dinger würden am Freitagnachmittag wie der Blitz verschwinden.“

„So jung bin ich nicht mehr, Sylvia.“

„Das ist auch etwas, das ich nicht verstehe – dass Sie mit fünfundzwanzig Jahren noch kein Mann weggeschnappt hat.“

„Vermutlich bin ich nicht der Typ, den Männer wegschnappen.“ Abby sah Sylvia lächelnd an. Sie wurde jedoch sogleich wieder ernst, als sie Stephen bemerkte, der von den Frauen unbemerkt sein Zimmer verlassen hatte und nun mitten im Büro stand. Seine Augen funkelten spöttisch.

Du hast recht, Schätzchen, schienen sie zu sagen. Du bist der Typ, den Männer ins Bett mitnehmen, aber nicht zum Altar.

Angesichts seiner ungerechtfertigten Einschätzung ihres Charakters beschleunigte sich ihr Herzschlag vor Wut. Für wen hielt er sich eigentlich? Wie kam er dazu, sie nur nach ihrem Äußeren zu beurteilen – und zu verdammen?

Abby wusste, dass sie gut aussah. Aber sie hatte niemals mit ihren weiblichen Reizen kokettiert oder sie zum Flirten eingesetzt. Und sie hatte in ihrem ganzen Leben nur einen einzigen Liebhaber gehabt!

Zugegeben, als sie noch mit Dillon zusammen gewesen war, hatte sie sich ein bisschen provozierender gekleidet als sonst. Er hatte sie gern in engen Tops, kurzen Röcken und knappen Bikinis gesehen, und sie war viel zu verliebt gewesen, um ihm einen Wunsch abzuschlagen. Es hatte ihn auch nicht gestört, wenn andere Männer sie angeschaut hatten, im Gegenteil, er schien es zu genießen, etwas zu besitzen, worum andere ihn beneideten.

Jetzt jedoch verbarg sie ihren Sex-Appeal, verzichtete auf jegliches Make-up und trug ihr langes honigblondes Haar meist im Nacken zusammengebunden. Sie betonte niemals ihren wohlgeformten Mund mit Lippenstift und bemühte sich, so selten wie möglich zu lächeln, nachdem ein aufdringlicher Vermieter ihr einmal gesagt hatte, dass ihre grauen Augen aufreizend funkeln würden, sobald sie lächelte.

„Kann ich etwas für Sie tun, Doktor?“, fragte Abby betont sachlich.

„Sie brauchen nur noch drei Briefe zu tippen, Miss Richmond. Danach können Sie nach Hause gehen.“

Sylvia seufzte. „Wann werdet ihr beide euch endlich mit dem Vornamen anreden?“

Wenn es in der Hölle friert, dachte Abby sarkastisch.

„Miss Richmond würde es nicht schätzen, wenn ich zu persönlich würde – nicht wahr, Miss Richmond?“

Ihre Blicke trafen sich. Unverhohlener Spott sprach aus seinen Augen. Nun, dieses Spiel konnten auch zwei spielen.

„Ich finde, während der Sprechstunden sollte man auf die Formen achten. Falls Dr. Grant natürlich wünschen sollte, dass ich ihn mit Stephen anspreche, braucht er es nur zu sagen.“

Er ließ sich von ihrem herausfordernden Blick nicht beeindrucken. „Ich glaube, wir belassen alles so, wie es ist“, meinte er ungerührt. „Wolltest du nicht schon längst fort sein, Sylvia? Du bist spät dran.“

Resigniert schüttelte seine Schwester den Kopf. „Eines Tages, Stephen, eines Tages …“, murmelte sie, während sie hinauseilte und die Tür hinter sich zuwarf.

Abby hoffte, dass sie bei diesem großen Ereignis dabei sein könnte. Allerdings bezweifelte sie das. Stephen Grant konnte man emotional nicht verletzen, weil er nämlich überhaupt nichts empfand.

Oder vielleicht doch?

Sylvias Bemerkung von vorhin über eine Frau namens Vanessa kam Abby wieder in den Sinn. Sie musterte verstohlen ihren Arbeitgeber und fragte sich dabei, ob dies wohl die Erklärung für seine Haltung ihr gegenüber sein könnte. War er irgendwann einmal von einer hübschen jungen Frau verlassen worden? War er auch Jahre danach deshalb noch immer verbittert?

Abby hätte dafür Verständnis gehabt. Schließlich würde es noch Jahre dauern, bevor sie das verkraftet haben würde, was Dillon ihr angetan hatte. Allerdings hätte sie keinem Mann eine derartige Verletzlichkeit zugetraut – ganz besonders nicht jemandem wie Stephen Grant, der nicht einen Funken Gefühl im Leib zu haben schien.

„Habe ich einen Tintenfleck auf der Nase, Miss Richmond?“, erkundigte er sich eisig. „Sie starren mich an.“

„Entschuldigen Sie, Doktor. Ich habe Sie nicht angestarrt, sondern war mit meinen Gedanken in einer anderen Welt.“

„Keiner besonders schönen, nach Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen.“

„Nein“, räumte sie leise ein. Die Erinnerung an Dillon und seine Taten war auch nicht gerade zum Lachen.

„Sie sind keine sehr gesprächige Frau, oder?“ Seine sonst so undurchdringliche Miene wirkte ein wenig irritiert. „Hier. Tippen Sie die Briefe noch ab, und werfen Sie sie auf dem Heimweg in den Briefkasten.“ Er reichte ihr eine Kassette und kehrte in sein Zimmer zurück.

Verwundert blickte Abby ihm nach. Sie hatte soeben einen ganz neuen Dr. Stephen Grant erlebt.

Was mochte ihn aus seiner gewohnten Fassung gebracht haben? Sein Streit mit Sylvia? Die Entdeckung, dass seine derzeitige Freundin mehr von ihm wollte als eine gelegentliche Einladung zum Dinner, war jedenfalls nicht schuld daran. Darüber hatte er nur mit kühler Verachtung gesprochen.

Nein, es hatte etwas mit ihr zu tun. Wahrscheinlich, weil sie ihn angestarrt hatte. Das hatte ihm nicht gefallen. Es hatte ihm auch nicht gefallen, dass sie sich geweigert hatte, ihm zu verraten, worüber sie nachgegrübelt hatte.

Armer Dr. Grant, dachte Abby zynisch, während sie begann, die Briefe auf dem Computer zu schreiben.

Sie hatte gerade die erste Anschrift getippt, als ein bitteres Lächeln ihre Lippen umspielte. Gütiger Himmel, sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Stephen Grant reagiert hätte, wenn sie ihm von ihrem Exfreund, diesem Schuft, erzählt hätte und davon, dass sie für sein Verbrechen im Gefängnis gelandet war – vier lange, harte Jahre.

Abby bezweifelte, dass das, was der arme Doktor durch die zarten Hände dieser Vanessa erlitten hatte, sich mit dem messen konnte, was Dillon ihr angetan hatte. Wenn also jemand einen Grund hatte, das andere Geschlecht zu verachten, dann war es Abigail Rose-Maree Richmond!

2. KAPITEL

Abby fing gerade den zweiten Brief an, als ihr der andere Brief einfiel – der, den sie vergessen hatte, Stephen zu geben.

Die Post war heute erst nach Beginn der Sprechstunde eingetroffen. Nicht dass Dr. Grant seine Post selbst öffnete, das tat er nur, wenn sie mit dem Vermerk „Vertraulich“ oder „Persönlich“ versehen war.

Das war allerdings nur selten der Fall. Die meisten Sendungen, die in der Praxis eintrafen, enthielten entweder Schecks, mit denen noch offene Rechnungen beglichen werden sollten, oder Anfragen anderer Ärzte. Der Rest war Werbung der diversen Pharmaunternehmen. Aber diesen besonderen Brief würde der Doktor, nach Abbys Einschätzung, vielleicht gern sehen.

Absender war das Bungarla-Hotel, wo die Konferenz stattfinden sollte. Wie es schien, war einer der Referenten aus Sydney verhindert. Ihn sollte der weltberühmte Neurochirurg Dr. Philip Balistrat vertreten.

Abby vermutete zwar, dass Stephen sich nicht für diese Nachricht interessieren würde, da er sich inzwischen entschlossen hatte, die Reise abzusagen, aber trotzdem durfte sie ihm die Information nicht vorenthalten.

Seufzend drückte sie die Pausentaste auf dem Kassettenrekorder, nahm den Umschlag und erhob sich. Vor der Tür blieb sie stehen und blickte an sich herab, um sich zu vergewissern, dass alle Knöpfe an ihrer weißen Bluse ordnungsgemäß geschlossen waren. Dann strich sie sich den schlichten schwarzen Rock glatt.

Abby wünschte keine Wiederholung jenes unseligen Zwischenfalls, der ein paar Wochen zurücklag. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war einer der winzigen Kugelknöpfe ihrer Bluse aufgesprungen und hatte einen freizügigen Blick auf ihren Spitzen-BH ermöglicht.

„Offensichtlich hat einer der Knöpfe den Kampf gegen Ihre weiblichen Formen verloren, Miss Richmond“, hatte Stephen spöttisch festgestellt, bevor er die nächste Patientenakte aufschlug. „Vielleicht sollten Sie künftig auf größere Knöpfe achten – oder eine größere Bluse.“

Zu ihrer maßlosen Erleichterung hatte er sich abgewandt, bevor ihre Wangen vor Verlegenheit feuerrot wurden. Während sie hastig versucht hatte, den widerspenstigen Knopf zu schließen, war sie sich des verräterischen Prickelns in ihren Brüsten nur allzu bewusst gewesen.

Dies war das einzige Mal gewesen, dass es Stephen Grant gelungen war, ihr unter die Haut zu gehen, und sie war nicht gewillt, das noch einmal geschehen zu lassen. Warum zitterte dann ihre Hand, als sie an die Tür klopfte? Tausend Schmetterlinge schienen sich in ihrem Magen auszubreiten.

Stirnrunzelnd registrierte sie, dass Dr. Stephen Grant sie nervös machte.

„Kommen Sie herein, Miss Richmond“, rief er.

Abby atmete tief durch, bevor sie die Tür öffnete und eintrat. Es tröstete sie ein wenig, dass sie sich nach außen hin stets gut in der Gewalt hatte. Angesichts ihrer gelassenen Haltung und ihres kühlen Blicks musste der Mann am Schreibtisch annehmen, dass sie an ihm keineswegs interessiert war.

„Was gibt es?“, fragte er unwillig.

Sie legte den Umschlag auf die lederne Schreibtischauflage. „Ein Brief für Sie, Doktor. Er kommt von der Organisationsleitung der Konferenz. Man teilt Ihnen mit, dass in letzter Minute eine Änderung bei den Referenten vorgenommen wurde. Ich dachte, Sie würden vielleicht gern einen Blick darauf werfen. Leider habe ich vorhin vergessen, Ihnen das Schreiben zu geben. Entschuldigen Sie bitte.“

Er nahm den Brief und ließ ihn ungelesen in den Papierkorb fallen. „Ich habe beschlossen, nicht hinzufahren“, erklärte er schroff.

Das Spiel von Licht und Schatten auf seinem Gesicht betonte die dunklen Ringe unter seinen schönen blauen Augen, und obwohl Abby genau wusste, dass er an seiner Erschöpfung selbst schuld war, empfand sie flüchtig Mitleid für ihn.

„Wie schade“, meinte sie, fest entschlossen, diesen Narren zu der Reise zu überreden. Ob man ihn nun mochte oder nicht, er war ein guter Arzt und brauchte dringend eine Pause. „Es ist ihnen gelungen, einen der unbedeutenderen Redner durch Dr. Philip Ballistrat zu ersetzen. Ich dachte, Sie würden ihn gern hören. Er ist doch sehr berühmt, oder?“

Stephens Reaktion auf diese Neuigkeit verblüffte Abby. Einige Sekunden lang wirkte er wie erstarrt, der Blick seiner sonst so unbeteiligten Augen verriet … ja, was eigentlich? Überraschung? Erstaunen? Nein, es war Schock. Was, um alles in der Welt, war so schockierend an dem, was sie gerade gesagt hatte?

Noch verblüffter war Abby jedoch, als seine Verwunderung einem frostigen Lächeln wich, das ihr einen sonderbar erregenden Schauer über den Rücken jagte.

„So, so“, erwiderte er leise. „Wer hätte das gedacht? Sie haben recht, Miss Richmond. Auf gar keinen Fall möchte ich den Vortrag eines derart berühmten Chirurgen verpassen.“ Er schob seinen schwarzen Ledersessel zurück und holte das Kuvert wieder aus dem Papierkorb. „Vielen Dank, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Sie ahnen ja nicht, wie enttäuscht ich gewesen wäre, wenn ich zu spät herausgefunden hätte, dass er dort war.“

„Also werden Sie zu dem Treffen fahren?“, fragte sie hoffnungsvoll. Sylvia würde überglücklich sein.

„Auf jeden Fall.“

Vor Freude hätte Abby fast in die Hände geklatscht.

„Was für ein Lächeln, Miss Richmond. Sie hätten demnach nichts dagegen, wenn ich nächsten Freitag der Praxis fernbleiben würde?“

War es seine ironische Bemerkung oder sein Blick, der unverwandt auf ihren Lippen ruhte, was sie so verwirrte? Wie auch immer, ihr Lächeln verschwand sofort. Allerdings klopfte ihr Herz, als wollte es zerspringen, während sie auf seinen Mund schaute und überlegte, wie er sich wohl auf ihrem anfühlen mochte.

Abby konnte selbst kaum fassen, welche Richtung ihre Gedanken einschlugen. Gütiger Himmel, sie konnte diesen Mann überhaupt nicht leiden! Und trotzdem träumte sie davon, mit ihm zu schlafen.

Empört über ihre Schamlosigkeit, straffte sie die Schultern. „Es ist mir egal, ob Sie hier sind oder nicht, Dr. Grant.“

Sein Lachen war so kalt wie sein Blick. „Das ist mir klar. Andererseits ist es auch von Vorteil, denn Sie können auf diese Weise völlig nüchtern über meinen Vorschlag nachdenken.“

„Welchen Vorschlag?“

„Sehen Sie mich nicht so erschrocken an, Miss Richmond. Ich will Sie um nichts Unmoralisches oder Kriminelles bitten. Allerdings bin ich in einer etwas peinlichen Situation, was diesen sogenannten Arbeitsurlaub betrifft. Er ist für Paare gedacht, und die Bekannte, die ich mitnehmen wollte, ist leider verhindert.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der ihm diese Lüge über die Lippen kam, erstaunte Abby. Seltsam. Obwohl sie Stephen Grant nicht mochte, hatte sie ihn nie für einen Lügner gehalten. Ein Beweis mehr, dass sie die Gerissenheit des männlichen Geschlechts nicht unterschätzen durfte.

„Das ist der eigentlich Grund, weshalb ich nicht fahren wollte“, fügte er hinzu. „Es wäre mir unangenehm gewesen, allein dort zu erscheinen. Meine liebe Schwester hat mir sogar vorgeschlagen, ich solle stattdessen eine professionelle Hostess engagieren, aber das ist nicht mein Stil. Jedenfalls ist mir der Gedanken gekommen, dass ich Sie vielleicht überreden könnte, mich zu begleiten – gegen Bezahlung natürlich“, fuhr er fort, ehe Abby den Schock überwunden hatte. „Ich erwarte nicht, dass Sie es umsonst tun. Sylvia erwähnte, dass Sie an den Wochenenden als Kellnerin jobben. Selbstverständlich würde ich Ihnen die Trinkgelder ersetzen, die Ihnen entgehen würden, plus einem Bonus. Also, was meinen Sie, Miss Richmond? Könnten Sie sich dafür interessieren?“

Was sollte sie sagen?

Nur mit Mühe gelang es ihr, die aufkeimende Wut zu unterdrücken. Nicht für alles Geld der Welt, du überheblicher Schuft, dachte sie. Ich würde nicht eine Stunde in deiner Gesellschaft verbringen, geschweige denn drei Tage und drei Nächte!

„Tut mir leid, ich kann nicht.“ Insgeheim war sie stolz darauf, wie gelassen ihre Stimme klang.

„Ihr Freund hätte etwas dagegen, oder?“

„Ich habe keinen Freund.“

„Erstaunlich“, erwiderte er. „Warum dann?“

„Am letzten Wochenende konnte ich wegen einer Magenverstimmung nicht arbeiten. Wenn ich meinen Chef auch an diesem Wochenende im Stich lasse, werde ich den Job verlieren, und das kann ich mir nicht leisten.“ Allerdings konnte sie es sich auch nicht leisten, diesen Job zu verlieren, deshalb musste sie diplomatisch vorgehen. Am liebsten hätte sie dem lieben Doktor rundheraus erklärt, was er mit seinem Angebot machen könnte.

„Wie viel verdienen Sie an einem Wochenende?“

Autor

Miranda Lee
Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney.

Miranda ging auf eine Klosterschule. Später...
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Miranda Lee
Miranda Lee und ihre drei älteren Geschwister wuchsen in Port Macquarie auf, einem beliebten Badeort in New South Wales, Australien. Ihr Vater war Dorfschullehrer und ihre Mutter eine sehr talentierte Schneiderin. Als Miranda zehn war, zog die Familie nach Gosford, in die Nähe von Sydney.

Miranda ging auf eine Klosterschule. Später...
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