Küssen erlaubt - Liebe verboten!

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Nach seiner bitteren Scheidung lebt Jace nach dem Motto: Sex ja - Beziehung nein! Nur die Festtage will er mit der schönen Cassie verbringen, danach werden sie sich nicht wiedersehen. Aber der berühmte Regisseur hat die Rechnung ohne die Magie der Christnacht gemacht …


  • Erscheinungstag 27.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715045
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wenn mein Liebesleben doch nur auch so perfekt wäre wie die Weihnachtsdekoration von Selfridges …

Cassie Fitzgerald betrachtete die überbordende Fülle von Weihnachtsglitzerzeug in der Auslage des berühmten Londoner Kaufhauses und seufzte sehnsuchtsvoll auf. Auf der Schulter einer gut gebauten männlichen Schaufensterpuppe im Smoking saß die Zuckerfee und war wie wild am Flirten. Ihre winzigen Flügel funkelten dabei im Licht der silbernen Schneeflockenlämpchen. Für einen Moment wurde es Cassie warm ums Herz. Wenigstens auf die Weihnachtsdekoration von Selfridges war noch Verlass. Hier zeigte sich das Fest der Liebe in seiner schönsten Pracht.

Sie riss sich zusammen. Okay, ihr Liebesleben war vielleicht nicht perfekt – genau genommen existierte es zurzeit gar nicht –, aber im Vergleich zum Vorjahr war das durchaus ein Fortschritt.

Beim Gedanken an das, was sie sich im Jahr zuvor an derselben Stelle zu Weihnachten gewünscht hatte, runzelte sie die Stirn. Ein Heiratsantrag von Lance, ihrem langjährigen Freund, war ihr sehnlichster Wunsch gewesen.

Cassie verzog angewidert das Gesicht, sodass ihre eiskalten Wangen schmerzten. Vor ihrem inneren Auge erschien wieder das Bild von Lance und Tracy. Auf dem Sofa in ihrer Wohnung. Als Nahaufnahme mit allen Details. Einen Monat nach dem Valentinstag, einen Monat nachdem er ihr den ersehnten Heiratsantrag gemacht und sie Ja gesagt hatte.

Der Schock von damals trieb ihr erneut die Röte ins Gesicht, gefolgt von Scham über ihre eigene Dummheit.

Welcher Teufel hatte sie damals eigentlich geritten, eine Niete wie Lance heiraten zu wollen?

Zweifelsohne war das einer der dümmsten Weihnachtswünsche gewesen, die sie je gehabt hatte. Dümmer noch als die Inlineskates, die sie sich mit acht gewünscht hatte – und die ein gebrochenes Handgelenk und vier Stunden in der Notaufnahme am ersten Weihnachtstag nach sich gezogen hatten. Die Ehe mit Lance wäre garantiert ein Fiasko geworden, aber romantisch veranlagt, wie sie nun einmal war, hatte sie über all seine Mängel hinweggesehen und sich eingeredet, dass er der Richtige sei.

Cassie zog die Schultern hoch, um sich vor dem eiskalten Wind zu schützen. Von nun an würde sie das Leben nicht mehr durch die rosa Brille sehen. Die machte sie nur blind für die Realität. Und auf einen Wunsch zu Weihnachten würde sie dieses Jahr auch verzichten – womöglich würde er sonst noch in Erfüllung gehen!

Das Dumme war nur, dass sie so am ersten Weihnachtstag allein aufwachen würde. Und davor graute ihr schon seit Tagen. Denn was gab es Schöneres, als aus dem Bett zu springen, sich eine Tasse Apfeltee mit Weihnachtsgewürzen aufzugießen und dann die Geschenke auszupacken, die liebevoll arrangiert unter dem Baum lagen? Allein machte das doch nur halb so viel Spaß.

Aber ihre beste Freundin Nessa hatte schon recht: besser allein als mit Lance dem Loser. Cassie wickelte den Mantel enger um sich und blickte verträumt auf die glitzernde Zuckerfee und ihren Schwarm. Nein, sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, Lance noch einmal entwischt zu sein. Ihr Entschluss stand fest.

„Was du brauchst, ist ein Liebhaber. Ein richtiges Sahneschnittchen, nur so zum Spaßhaben. Damit du mal wieder merkst, dass du eine Frau bist. Dann würdest du dir auch nicht gleich wieder die nächste Null als Freund anlachen.“

Cassie musste lächeln, als sie an den Ratschlag dachte, den Nessa ihr morgens am Telefon mit auf den Weg gegeben hatte: „Vernaschen und verlassen.“ Was Sex betraf, beneidete Cassie ihre Freundin um ihre pragmatische Einstellung. Sie wünschte sich, dass auch sie es etwas lockerer damit nehmen könnte. Dann würde sie vielleicht einfach mal Spaß haben, ohne gleich mit einer Flasche wie Lance in einer Beziehung zu enden.

Cassie warf der Zuckerfee einen letzten Blick zu und schob sich durchs Gedränge zur U-Bahn-Station Bond Street. Hunderte Menschen strömten hektisch durch die Türen der Läden in der Oxford Street, wild entschlossen, schnell noch die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen. An einer Querstraße blieb sie stehen. Während die Autos an ihr vorbeischossen, schloss sie fest die Augen und träumte für einen Moment von ihrem heißen Liebhaber. Muskulös und attraktiv musste er sein, und natürlich völlig verrückt nach ihr, bereit, alles für sie zu tun. Und nach Neujahr hätte er gefälligst wie von selbst aus ihrem Leben zu verschwinden. Sonst würde sie früher oder später nur wieder seine Socken im Badezimmer aufsammeln, das dreckige Geschirr abwaschen, das er stapelweise in der Spüle hinterlassen hatte, oder sich selbst davon zu überzeugen versuchen, dass sie ihn liebte.

Zum ersten Mal seit Monaten verspürte sie tief in sich wieder ein leichtes Prickeln der Erregung.

Doch ein dröhnender Automotor unterbrach den sinnlichen Genuss abrupt. Sie riss die Augen auf und kreischte erschrocken, als sie eine Flutwelle aus kaltem Wasser traf. Neben ihr zeterte ein älterer Herr: „So eine Frechheit!“, während eine Pfütze so groß wie der Atlantik zurück in die Gosse floss und ein schnittiger schwarzer Wagen an ihnen vorbeiglitt.

Cassie sog scharf die Luft ein. „Was zum …“

Dieser Mistkerl von Fahrer hatte nicht einmal angehalten!

Sie schulterte ihre Handtasche und starrte wütend auf den Wagen, der nur wenige Meter entfernt an der nächsten Kreuzung zum Stehen gekommen war. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

Normalerweise hätte sie die Angelegenheit so auf sich beruhen lassen. Sie hätte es als Pech abgeschrieben und sich gesagt, dass der Fahrer es bestimmt nicht mit Absicht getan habe. Aber wie sie jetzt so dastand, inmitten von Menschen, die einen großen Bogen um sie machten und den riesigen nassen Fleck auf ihrem Lieblingsmantel anstarrten, als habe sie eine ansteckende Krankheit, fühlte sie, wie sich etwas in ihr Bahn brach. Etwas Neues. Etwas Befreiendes.

Egal, ob mit Absicht oder ohne – sie war völlig durchnässt! Ab jetzt würde sie nicht mehr einfach tatenlos zusehen, wenn das Leben mal wieder der Meinung war, sie ärgern zu müssen.

Sie bahnte sich einen Weg durchs Gewühl zu dem Wagen und klopfte energisch ans Beifahrerfenster. „Hey, Mister!“

Die getönte Scheibe glitt surrend nach unten. Schlagartig erwachte das warme Kribbeln in ihr zu neuem Leben, als sie den Fahrer erblickte. Er beugte sich zu ihr herüber und sah sie aus dem Halbdunkel des Wageninnern an. Sie blinzelte. Dunkles, nach hinten frisiertes Haar, darunter ein attraktives, geheimnisvolles Gesicht mit kräftigem Kinn und markanten Wangenknochen. Aus dem Wagen schlug ihr der Duft von Leder entgegen. Ein vages Gefühl durchzuckte sie – kannte sie diesen Mann?

„Was ist das Problem?“, fragte er leicht genervt.

Cassie spürte, wie ihr kaltes Wasser in die Stiefel lief. Ein unangenehmes Gefühl, das sie noch wütender machte und augenblicklich ihre Zunge löste.

„Sie sind das Problem! Sehen Sie nicht, was Sie mit mir gemacht haben?“ Sie breitete die Arme aus, um ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe zu zeigen. Gleichzeitig kämpfte sie gegen das immer heißer werdende Kribbeln in sich an. Er mochte ein tolles Gesicht haben, aber seine Manieren waren unter aller Kanone.

Er fluchte leise. „Sind Sie sicher, dass ich das war?“

Hinter ihnen hupte es, und Cassie sah zur Ampel. Grün. „Klar bin ich sicher.“

Die Hupe ertönte erneut. Lauter und aggressiver dieses Mal.

„Ich kann hier nicht halten.“ Er lehnte sich zurück ins Dunkel und legte die Hand auf den Schaltknüppel.

Nicht mit mir, Freundchen! Du haust mir nicht einfach so ab und lässt mich hier in einer Pfütze stehen.

Sie riss die schwere Wagentür auf und setzte sich schwungvoll auf den Beifahrersitz.

„Hey!“, protestierte er, als sie die Tür hinter sich zuschlug. „Was zum …“

„Einfach weiterfahren, Sie Rosenkavalier.“ Sie funkelte ihn mit größtmöglicher Verachtung an. „Ihr mieses Benehmen diskutieren wir, wenn Sie irgendwo halten können.“

Seine dunklen Brauen zogen sich über dem durchdringenden Smaragdgrün seiner Augen zusammen. Ganz offensichtlich war er verärgert.

„Na toll.“ Er setzte den Blinker und schaltete in den ersten Gang. „Aber tropfen Sie mir nicht die Polster voll – das ist ein Mietwagen.“

Der Wagen fuhr an, und Cassie wurde plötzlich unerträglich heiß. Eine schwere Duftmischung aus Mann, Leder und feuchtem Samt umfing sie wie eine Wolke. Als sie aus dem Augenwinkel die glitzernden Lichterketten von Selfridges endgültig verschwinden sah, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Das Adrenalin, das sie eben noch dazu getrieben hatte, mutig in das Auto zu springen, änderte nun seine Wirkung: Sämtliche Alarmglocken in ihr begannen zu schrillen.

Was tat sie hier eigentlich? Sie saß bei einem völlig Fremden im Auto, auf dem Weg nach wer weiß wohin. Eine glatte Zehn auf der Dämlichkeitsskala!

„Wissen Sie was? Vergessen Sie’s“, sagte sie und griff nach dem Türgriff.

Der Fahrer hielt in einer Haltebucht für Lieferfahrzeuge. „Dann war ich es also doch nicht.“

Der vorwurfsvolle Ton ließ Cassies Finger auf dem Griff erstarren. Unversehens verwandelte sich ihre rationale Abgeklärtheit in glühende Wut. „Natürlich waren Sie es!“ Sie starrte ihn an. „Wissen Sie eigentlich, dass Weihnachten ist? Wie wär’s, wenn Sie sich das ein bisschen zu Herzen nehmen und sich nicht so großkotzig aufführen würden?“

Das war wieder einmal typisch. Was bekam Cassie Fitzgerald, wenn sie sich tatsächlich mal einen Mann zum Anbeißen suchte? Natürlich einen mit miesen Manieren!

Jacob Ryan zog die Handbremse an, legte den Arm über das Lenkrad und starrte die wütende Person neben sich auf dem Beifahrersitz an, deren große veilchenblaue Augen ihn mit Blicken durchbohrten.

Wie zum Teufel kommt dieser kleine durchgeknallte Weihnachtswichtel in mein Auto?

Als ob es nicht schon schlimm genug war, dass Helen ihn dazu überredet hatte, die Einladung zu ihrer „kleinen Soiree“ anzunehmen. Jetzt saß auch noch eine Geistesgestörte in seinem gemieteten Mercedes! Eine Geistesgestörte, die die teuren Ledersitze – Sonderausstattung! – volltropfte.

Er hatte Weihnachten noch nie gemocht und nie verstanden, was daran „fröhlich“ sein sollte, aber das hier war nun wirklich mehr als lächerlich.

Trotzdem fühlte er einen Anflug von schlechtem Gewissen, als er die Dreckspritzer auf ihrem Mantel sah. Vage meinte er, sich an ein Schlagloch in der Straße zu erinnern.

Jacob lehnte sich vor und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Vielleicht war er wirklich schuld. Helens beharrliches Nörgeln hatte ihn so in Rage versetzt, dass er kaum auf den Verkehr geachtet hatte.

„Wie viel?“, fragte er unwirsch. Hundert sollten genügen.

Ihre vollen, geschwungenen Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie. „Ich will Ihr Geld nicht. Darum geht’s nicht.“

Ja, sicher …

Er zählte fünf ganz neue Zwanzigpfundscheine ab und reichte sie ihr. „Bitte sehr. Fröhliche Weihnachten.“

Sie würdigte das Geld nur eines flüchtigen Blicks und lächelte spöttisch. „Ich sagte es doch schon: Ihr Geld interessiert mich nicht, Sie Weihnachtstrampel!“

Empört wollte er gegen ihren sarkastischen Tonfall protestieren, aber sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog damit seinen Blick nach unten: auf das tiefe makellose Dekolleté, das zwischen ihren Mantelaufschlägen zutage trat.

Mein Gott trägt sie etwa nichts drunter?

Der Gedanke, abwegig, wie er war, tauchte wie aus dem Nichts in seinem Kopf auf und entfachte eine glühende Hitze in ihm. Genau an der Stelle, an der er sie gerade nicht gebrauchen konnte.

„Was ich will, ist eine Entschuldigung“, erklärte sie.

Er riss seinen Blick von ihrem Ausschnitt los. „Hm?“

„Eine Entschuldigung – schon mal davon gehört?“ Sie sprach mit ihm, als läge sein IQ im einstelligen Bereich.

Er schüttelte den Kopf, bemüht, seine unreifen Fantasien zu zügeln. Natürlich war sie nicht nackt unter dem Mantel. Es sei denn, sie war eine Stripperin. Was er aber stark bezweifelte. Auch wenn sie ein perfektes Dekolleté hatte – die großen Kulleraugen und die naiven Ansichten über Weihnachten passten einfach nicht zu gefalteten speckigen Zehnpfundscheinen, die man ihr unter den Tanga schob.

Er stopfte die Scheine zurück ins Portemonnaie und warf es aufs Armaturenbrett.

Gut, sollte sie ihren Willen haben.

„Tut mir leid“, sagte er knapp.

Für gewöhnlich entschuldigte er sich nicht, schon gar nicht bei Frauen. Denn aus Erfahrung wusste er, dass Entschuldigungen eh keine Rolle spielten. Doch hier lagen besondere Umstände vor: Er musste sie aus dem Auto bekommen, bevor diese Brüste ihm noch den Verstand vernebelten und er etwas richtig Dämliches tat. Zum Beispiel, diese Wahnsinnige anzugraben.

„Ist das alles? Mehr haben Sie nicht zu bieten?“ Sie drehte sich auf dem Sitz in seine Richtung. Um ihn noch besser mit wütenden Blicken durchbohren zu können, wie er vermutete. Durch die Drehung wurden ihre Brüste noch mehr zusammengepresst, sie drängten sich ihm förmlich aus dem Mantel entgegen. Sein Mund fühlte sich wie ausgedörrt an.

„Ich muss noch eine Stunde in der U-Bahn sitzen“, klagte sie, „ganz abgesehen davon, dass ich mich auf dem Weg durch den Park mit Sicherheit verkühle. Und Sie haben nicht einmal …“

„Jetzt hören Sie mal zu, Herzchen“, unterbrach er sie. Heiße Erregung wallte in ihm auf, als er ihren Duft tief einatmete. Zimt, Nelken und Orangen. „Ich habe Ihnen Geld angeboten, aber das wollten Sie nicht. Dann habe ich mich entschuldigt, aber auch das hat Ihnen nicht gereicht. Was kann ich noch tun, um meinen Fehler wiedergutzumachen? Mir den rechten Arm absägen, in Geschenkpapier einwickeln und Ihnen schenken?“

Cassie schloss den Mund. Doch dann schossen ihre hübsch geschwungenen Augenbrauen nach oben, wo sie sich mit den braunen Locken trafen, die ihr in die Stirn hingen. Das Blau ihrer Augen verdunkelte sich, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

Nun hat es ihr also die Sprache verschlagen, dachte Jacob. Allerdings war er sich nicht sicher, was genau er gesagt hatte, dass sie ihn nun so schockiert ansah.

Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. „Jace der Ladykiller.“ Die Worte waren kaum zu hören.

„Kennen wir uns?“, fragte er erstaunt. Seit vierzehn Jahren hatte er diesen Spitznamen nicht mehr gehört, seit er damals mit siebzehn von der Schule geflogen war.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, fiel ihm noch etwas ein. Das heiße Pulsieren in seinen Lenden wurde augenblicklich stärker. Verdammt, das musste es sein.

Sie blieb stumm, also war es an ihm, die naheliegende Frage zu stellen: „Hatten wir mal was miteinander?“

Er erinnert sich nicht an mich. Gott sei Dank!

Cassie wollte etwas sagen, aber ihre Zunge war wie gelähmt. Kein Wunder, denn das unerwartete Wiedererkennen hatte sie getroffen wie ein Schlag auf den Solarplexus, der einem die Luft nimmt. Sie schüttelte den Kopf, um seine Frage zu verneinen.

„Ganz sicher?“ Die Blicke seiner smaragdgrünen Augen, die unzähligen Mädchen an der Hillsdown Road Secondary School das Herz gebrochen hatten, wanderten forschend über ihr Gesicht.

Sie nickte.

Seine Schultern entspannten sich, und sie hörte ihn murmeln: „Gut zu wissen.“

Es war nicht weiter verwunderlich, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte. Damals war Jacob Ryan noch ein Junge gewesen. Ein groß gewachsener, umwerfend gut aussehender Junge mit traurigen Augen. Für sie als dreizehnjähriges Mädchen mit blühender Fantasie und hyperaktiven Hormonen hatte der Siebzehnjährige die perfekte Mischung aus Dressman und Abenteurer verkörpert.

Natürlich hatten sie nicht miteinander geschlafen. Nicht einmal geküsst hatten sie sich. Sie war zwar nur vier Jahre jünger gewesen als er, aber als Schüler zählten vier Jahre so viel wie fünfzig. Trotzdem war ihre frühreife romantische Fantasie damals regelmäßig mit ihr durchgegangen – genauso wie die Fantasie aller anderen Mädchen ihres Jahrgangs.

Jetzt raste ihr Herz wieder wie damals.

Sie rutschte nervös auf dem Sitz herum und fühlte sich verwirrt, ja, leicht schwindelig. Ihr nasser Samtmantel engte sie plötzlich ein wie eine Zwangsjacke.

In ihrem Bauch krampfte sich etwas zusammen, so wie früher, wenn sie gesehen hatte, wie Jace mit finsterem Gesicht grübelnd in der Schulkantine saß oder an der Bushaltestelle stand und die hysterisch kichernden Mädchen um sich herum ignorierte. Oder wie an jenem Tag, der als „Tag der ultimativen Demütigung“ in die Annalen ihrer Teenagerzeit eingegangen war. Der Tag, an dem sie ihn und die Schulsprecherin Jenny Kelty beim Knutschen im hinteren Treppenhaus erwischt hatte.

Noch heute zog sich Cassies Herz in zartbitterem Schmerz zusammen, wenn sie sich an die beiden eng umschlungenen Körper im Halbdunkel des Treppenhauses erinnerte. Sie sah alles noch deutlich vor sich, als sei es erst gestern gewesen.

Wie angewurzelt hatte sie dagestanden, die Knie weich wie Butter. Jace hatte seine Hand unter Jennys Bluse geschoben, das Streicheln seiner Finger war durch den weißen Baumwollstoff deutlich zu sehen gewesen. Wie gebannt hatte Cassie zugesehen und sich dabei auf die Lippe gebissen. Dann hatte Jace mit der anderen Hand Jennys Po umfasst und sie fest an sich gezogen. Als er ihre Unterlippe zärtlich zwischen die Zähne genommen hatte, hatte es in Cassies Lippe gekribbelt wie verrückt. Und neben dem Herzschmerz war etwas ganz anderes in ihr erwacht: Lust … Ehe sie etwas dagegen tun konnte, hatte sie ungewollt leise geseufzt.

Sofort hatte sich Jaces selbstsicherer Blick auf ihr Gesicht geheftet. Doch interessanterweise hatte ihn ihre Anwesenheit gar nicht weiter gestört. Stattdessen hatte er seine sinnlichen Lippen zu einem verschwörerischen Grinsen verzogen – als ob sie ein süßes Geheimnis miteinander teilten.

Sie hatte zurückgegrinst, aber dann hatte auch Jenny sie entdeckt und sie angeschrien: „Was gibt’s denn da zu grinsen, du dumme Kuh? Verzieh dich!“

Am liebsten wäre Cassie vor Scham im Boden versunken. Eilig war sie die Treppe hinuntergestolpert, so schnell, dass sie sich um ein Haar den Hals gebrochen hätte. Dabei hatte das ohrenbetäubende Pochen ihres Pulses die Worte verschluckt, die Jace ihr noch hinterhergerufen hatte.

Jetzt trommelte Jace mit dem Daumen auf das Lenkrad und fragte: „Also, wie heißt du?“

„Cassie Fitzgerald.“

Er legte die Stirn in Falten. „Ich erinnere mich an keine …“

„Das ist auch besser so“, unterbrach sie ihn und betete, dass er sich niemals erinnern möge. „Dieser gelbgrüne Schulblazer hat mir nie besonders gut gestanden.“

Er lachte leise. Der tiefe kehlige Laut ließ sie erschauern. Dort, wo ihre Schenkel sich berührten, prickelte es mit einem Mal heiß.

„Warum fangen wir nicht noch mal von vorne an?“, schlug er vor. „Ich habe eine Suite im Chesterton. Komm doch einfach mit, und wir lassen deinen Mantel dort reinigen.“ Er lehnte sich zu ihr hinüber und strich ihr eine Locke hinters Ohr. „Das ist doch wohl das Mindeste, was ich für eine alte Schulfreundin tun kann.“

Sie waren nie Freunde gewesen, nicht einmal ansatzweise.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ist das denn erlaubt?“, murmelte sie und versuchte, das heiße Pochen ihrer Wange, das die Berührung seiner Finger dort hinterlassen hatte, nicht zu beachten.

Schon mit siebzehn war Jacob Ryan eine ernst zu nehmende Gefahr für empfindsame Frauenherzen gewesen. Jetzt war er höchstwahrscheinlich tödlich.

Er zwinkerte ihr vielsagend zu. „‚Erlaubt‘ wird meiner Meinung nach total überbewertet …“

Augenblicklich begab sich Cassies Puls auf eine wilde Achterbahnfahrt. Ihre Wange pochte stärker. „Und ‚verboten‘? Ist das besser?“

Er lächelte und musterte sie mit seinen grünen Augen eindringlich von Kopf bis Fuß. „Meiner Erfahrung nach ist ‚verboten‘ nicht nur besser, es macht auch deutlich mehr Spaß …“ Er warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ein Auto kam. „Also, wie wär’s?“, fragte er, als der Wagen schon anfuhr. „Kommst du mit ins Hotel, um die Minibar zu plündern, während wir auf deinen Mantel warten?“

„Okay“, antwortete sie schnell, bevor sie es sich womöglich anders überlegte. „Aber nur, wenn es nicht zu viele Umstände macht.“

Er grinste schelmisch. „Ganz und gar nicht.“

Cassie verschränkte die Arme. Ihre Brüste waren immer noch erregt von der Erinnerung an die Szene mit Jace im Treppenhaus, die gefühlt eine Million Jahre zurücklag. Im schwachen Licht der vorbeigleitenden Straßenlaternen studierte sie sein Profil.

Die Jahre hatten ihn reifen lassen, aber die Reife stand ihm vorzüglich: leicht gebräunte Haut, ein spätnachmittäglicher Bartschatten, volle dunkle Locken, kleine Fältchen in den Augenwinkeln. Die rote Narbe, die seine linke Augenbraue durchschnitt und die seinem Gesicht damals etwas Verwegenes verliehen hatte, war zu einer dünnen weißen Linie verblasst. Insgesamt war sein traurig-schönes Jungengesicht erwachsen geworden. Die schmalen Wangen hatten sich zu einem männlich-markanten Profil ausgewachsen. Auch sein schmächtiger Körper hatte sich gemacht, jedenfalls ließ der maßgeschneiderte Anzug kräftige Muskeln erahnen, wenn Jace schaltete.

Cassie drückte sich tiefer in den Sitz, als der PS-starke Wagen auf der Park Lane beschleunigte. Vor dem Fenster glitt der Marble Arch vorbei, darunter ein majestätischer Weihnachtsbaum mit roten und goldenen Sternen, die festlich in der frühen Winterdämmerung glitzerten.

Jace hatte sie gefragt, ob sie miteinander geschlafen hätten. Das bedeutete entweder, er litt an Amnesie, oder er hatte seit damals mit so vielen Frauen geschlafen, dass er den Überblick verloren hatte. Angesichts der endlos langen Liste von Freundinnen, die er auf der Hillsdown Road gehabt hatte, tippte Cassie auf Letzteres.

Jace Ryan war der Typ Mann, mit dem keine vernünftige Frau je eine ernsthafte Beziehung riskiert hätte. Aber wie er so neben ihr saß und mit lässiger Routine den schnittigen Wagen steuerte, entbrannte in Cassie erneut prickelnde Lust.

Was Beziehungen betraf, mochte er zwar ein Totalausfall sein – aber als Mann für gewisse Stunden? Taugte er vielleicht als der von Nessa empfohlene Liebhaber? Vielleicht war die Begegnung kein Zufall.

Sie seufzte leise auf.

Und was, wenn er tatsächlich ihr ersehntes Sahneschnittchen war? Hatte sie wirklich Lust, und vor allem: genug Courage, ihn zu vernaschen?

2. KAPITEL

Oh, dann wohl doch eher nicht, dachte Cassie, als sie durch die Windschutzscheibe von Jaces Wagen auf das blickte, was vor ihnen lag: die goldverzierte, efeuberankte Steinfassade eines Luxushotels, geschmückt mit Stechpalmengirlanden, in denen Tausende winziger Lichter funkelten.

Jace hatte zwar vom Chesterton gesprochen, aber ihr war nicht bewusst gewesen, dass er diesen Art-déco-Palast in der Park Lane meinte. Die Vorstellung, in dem verschmutzten Mantel und den dreckigen Bikerstiefeln die erlauchte Eleganz dieses Hotels zu betreten, ließ ihre ausschweifenden Liebhaber-Fantasien unversehens auf den harten Boden der Tatsachen zurückplumpsen.

Er hatte ihr angeboten, ihren Mantel reinigen zu lassen, nichts weiter. Von neckischen Bettspielchen, um ihr das Weihnachtsfest zu versüßen, war nicht die Rede gewesen. Und angesichts ihres katastrophalen Äußeren war wohl auch kaum damit zu rechnen.

Jace stieg aus, ging um die Motorhaube herum und eilte die Vordertreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Er warf dem Portier die Autoschlüssel zu. Der Anblick des Mannes in der feinen grünen Livree mit Goldborte und passendem Zylinder ließ Cassie noch nervöser werden.

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, die Einladung anzunehmen? Sie kam sich wieder wie dreizehn vor, als hätte man sie dabei erwischt, wie sie im Treppenhaus etwas sah, was nicht für ihre Augen bestimmt war.

Sie sank tiefer in den Sportsitz, während der Portier auf den Wagen zukam. Mit einer leichten Verbeugung öffnete er die Tür und lächelte sie höflich an.

„Herzlich willkommen im Chesterton, Ms. Fitzgerald.“ Er reichte ihr die Hand. „Mr. Ryan hat Anweisung gegeben, Ihre Sachen abzuholen und zu reinigen, sobald Sie sich in seiner Suite eingerichtet haben.“

Cassie stieg aus, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Mantel nicht den Portier berührte, der sicher keinen gesteigerten Wert darauf legte, sich seine tadellose Uniform zu beschmutzen. Jace wartete an der Drehtür zur Lobby auf sie. Lässig und selbstsicher stand er da. Das exklusive Ambiente schien ihn nicht im Mindesten zu tangieren.

Sie schlang die Arme um sich, als sie die Stufen zu ihm hinaufging.

Liebhaber oder nicht, Jace Ryan war einfach eine Nummer zu groß für sie. Die Kunst der Verführung hatte er mit siebzehn schon besser beherrscht, als sie es jemals tun würde. Das erotische Knistern zwischen ihnen war nichts weiter als das Echo einer alten Schwärmerei gewesen. Eine Schwärmerei, die sie längst überwunden hatte.

Sie berührte ihn flüchtig am Arm, als er ihr den Vortritt durch die Drehtür lassen wollte, und fragte: „Gibt es keinen Hintereingang?“

Sofort ließ sie die Hand wieder sinken, als sie die festen Muskeln unter der blauen Seide des Anzugs spürte.

„Keine Ahnung. Warum?“

„Ich bin völlig durchnässt!“ Hatte er denn immer noch nicht mitbekommen, dass sie aussah wie eine Vogelscheuche?

Autor

Heidi Rice
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