1. KAPITEL
Unruhe in der Medienbranche: Die in Atlanta erfolgreiche Fernsehshow „Just Between Us“ soll demnächst überregional vermarktet werden. Damit steht die Moderatorin Eve Best vor einem gewaltigen Karrieresprung. Mit ihren provokanten Themen rund um Sex hat sie innerhalb der letzten drei Jahre besonders beim weiblichen Publikum Starkult erreicht, sodass ihre Sendung auch für Werbekunden zunehmend interessant geworden ist.
Außerdem ist „Just Between Us“ in die Schlagzeilen geraten, weil fünf Mitarbeiter des Teams, einschließlich Miss Best, sich seit Kurzem mit einer ehemaligen Kollegin um einen Lottogewinn in zweistelliger Millionenhöhe streiten. Liza Skinner, früher Mitproduzentin der Show, fühlt sich von der Tippgemeinschaft ausgebootet und hat durch eine Klage vor Gericht die Auszahlung des Gewinns vorerst gestoppt.
Miss Skinner gehörte ebenfalls zur Tipprunde, bis sie das Team vor etwa einem Jahr verließ. Unklar ist, ob sie zu den Spieleinsätzen weiterhin Geld beigesteuert hat. Auf jeden Fall wurde ihre Glückszahl, die Dreizehn, gezogen. Daher pocht sie auf einen Anteil.
Liza las den Artikel nicht weiter und legte die „Atlanta Daily News“ auf den Beifahrersitz ihres alten Kleinwagens. Zu Hause würde sie die Zeitung gleich in den Müll werfen. Wozu sich unnötig quälen? Der Stein war ins Rollen gebracht. Mit etwas Glück war bald alles vorbei.
Mit zittrigen Fingern strich sie sich durchs Haar. Sie hatte hier nichts verloren. Ihr Anwalt hatte ihr geraten, sich vom Studio der Talkshow fernzuhalten. Wenigstens bis der Rechtsstreit geklärt war. Allerdings hätte sie danach auch keinen Grund mehr, auf dem Parkplatz des Fernsehsenders herumzulungern, um heimlich einen Blick auf Eve und Jane zu erhaschen. Egal wie der Prozess auch ausgehen mochte, ihre einstigen Freundinnen würden nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollen.
Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte sie den beiden nur Ärger bereitet. Hatten sie sie nicht vor Rick gewarnt? Von Anfang an hatten sie gewusst, dass er Unheil bringen würde. Seit der sechsten Klasse waren Eve und Jane ihre besten Freundinnen gewesen, die ihr näherstanden als irgendjemand sonst auf der Welt. Warum nur hatte sie nicht auf sie gehört?
Liza legte den Kopf an die Rücklehne mit dem zerschlissenen Bezug und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Rick war eben genau ihr Typ gewesen, wild, sexy und ein bisschen gefährlich. Sie hatte tatsächlich geglaubt, er sei der Richtige. Doch er hatte sich als gefährlicher entpuppt, als sie sich das je hätte vorstellen können.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Liza sah eine Frau über den Parkplatz kommen. Ihr hellblondes Haar schimmerte im Sonnenlicht. Das war Nicole Reavis, ihre Nachfolgerin. Die Frau, die auch ihren Platz in der Tippgemeinschaft eingenommen hatte.
Warum können sie mich nicht einfach auszahlen? Bei dem immens hohen Gewinn würde das doch überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Liza schloss die Augen, als Nicole in ein rotes Cabrio einstieg. Das Bild erinnerte sie schmerzlich daran, wie viel sie verloren hatte.
Wenn sie mutig wäre, könnte sie jetzt zu Eve und Jane gehen und ihnen alles gestehen. Langsam öffnete sie die Augen. Wäre das wirklich so einfach? Nachdem sie fast ein Jahr lang, wenn auch unfreiwillig, mit dem Teufel paktiert hatte?
Von wegen. Mit einem Geständnis würde sie zwar ihr Gewissen erleichtern, nicht aber ihr Problem lösen. Ihre Freundin Eve wäre nach wie vor erpressbar. Und es wäre nach wie vor ihre Schuld.
Liza ließ den Kopf hängen und starrte auf ihre angegriffenen Fingernägel. Nicht einmal eine Maniküre konnte sie sich noch leisten. Die kleine Erbschaft, die sie im vergangenen Jahr nach dem Tod ihres Vaters erhalten hatte, war beinahe verbraucht, und sie musste Miete zahlen, das Honorar für ihren Anwalt und noch einiges mehr. Doch am meisten regte sie sich darüber auf, wie viel Geld Rick für Zigaretten, Alkohol und Drogen verlangte. Geld, das sie gebrauchen könnte, um sich ein besseres Auto zu kaufen oder in einer sichereren Gegend zu wohnen.
Sobald sie dies alles hinter sich hatte, würde sie sich Arbeit suchen. So einen Traumjob wie bei „Just Between Us“ würde sie allerdings wohl nicht noch einmal finden. Sie war von der ersten Stunde an dabei gewesen und voller Leidenschaft in ihrer Aufgabe aufgegangen. Das Engagement hatte sich gelohnt. Die Show war ein riesiger Erfolg geworden. Dies hätte die beste Zeit in ihrem Leben sein können. Aber sie gehörte nicht mehr dazu. Nicht zu ihren Freunden und nicht zur Show. Und alles nur wegen ihrer Dummheit. Selbst wenn Eve und Jane ihr irgendwann verzeihen sollten, bezweifelte sie, dass sie sich je selbst verzeihen konnte.
Die Tür des roten Backsteingebäudes schwang auf und Eve kam heraus. Sie lächelte. Liza biss sich auf die Unterlippe. Sie erkannte sogleich den Grund für Eves Strahlen. Ein großer, gut aussehender dunkelhaariger Mann legte vertraut eine Hand auf Eves Rücken.
Sie hatte gehört, dass Eve einen festen Freund hatte. Er hieß Mitch Hayes und hatte bis vor Kurzem für den überregionalen Fernsehsender gearbeitet, der Eve und die Show abwerben wollte. Eve sah glücklich aus. Glücklicher als sie, Liza, sie je erlebt hatte.
Verdammt. Liza fasste einen Entschluss. Auf keinen Fall würde sie ihre Freundinnen jetzt mit in die Sache hineinziehen. Sie würde auf einen Vergleich drängen, Rick ausbezahlen und verschwinden. Ein neues Leben anfangen, irgendwo, wo niemand sie kannte.
Sie würde ihre Freundinnen niemals wiedersehen.
Liza schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Wenigstens ersparte sie Eve auf diese Weise eine Demütigung. Eine Träne lief ihr über die Wange, aber Weinen brachte nichts. Ärgerlich über ihre Schwäche rieb sie sich die Augen.
In dem Moment hörte sie etwas. Jemand klopfte an das Autofenster. Draußen stand ein Mann mit kurzem dunklen Haar und braunen Augen und schaute sie besorgt an. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn erkannte – es war der Arzt, der als Berater für die Krankenhausserie tätig war, die im Studio neben „Just Between Us“ gedreht wurde. Dr. Evan Soundso. Sie konnte sich nicht an seinen vollständigen Namen erinnern. Ruhig und konservativ. Er hatte sie einmal zum Lunch eingeladen, und sie hatte ihn abblitzen lassen. Er war definitiv nicht ihr Typ.
Sie war peinlich berührt, dass er sie womöglich hatte weinen sehen. Als er gestikulierte, sie solle die Scheibe herunterlassen, war sie versucht, ihn zu ignorieren. Doch das würde die Sache vermutlich nur noch schlimmer machen, und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war eine Szene auf dem Parkplatz des Senders.
Da ihr altes Auto nicht über den Luxus elektronischer Fensterheber verfügte, kurbelte sie die Scheibe mit der Hand hinunter. Evan beugte sich zum Fenster herein und lächelte.
„Hallo, Liza.“ Er hielt kurz inne. „Erinnerst du dich an mich?“
Sie runzelte demonstrativ die Stirn und schüttelte bedauernd den Kopf. Wenn ihn ihre Vergesslichkeit kränkte, würde er sie vielleicht in Ruhe lassen.
„Evan Gann.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Haupteingang. „Aus dem Studio neben ‚Just Between Us‘.“
„Oh, richtig. Der Berater.“
Er nickte und musterte sie forschend. „Ich habe dich hier lange nicht gesehen.“
„Ich bin hier nicht erwünscht. Du hast sicher davon gehört.“
„Ah, wegen der Klage, die du eingereicht hast.“ Er zog die Brauen zusammen. „Ich weiß keine Einzelheiten …“
„Wolltest du etwas?“
Er lächelte beinahe nachsichtig. „Ich war nur überrascht, dich zu sehen. Vielleicht treffen wir uns einmal auf einen Drink?“
„Warum?“
Er lachte leise. „Weil du attraktiv bist und ich dich mag?“
Liza war einen Moment verwirrt. War der Kerl verrückt? Schon allein dafür, dass er sich mit ihr unterhielt, würde er vermutlich aus dem Sender verbannt werden. Sie runzelte die Stirn. „Ich habe zurzeit zu viel um die Ohren.“ Sie griff nach der Kurbel für die Scheibe, und als Evan sich nicht rührte, sagte sie: „Würdest du bitte loslassen?“
„Nimm doch meine Karte mit für den Fall, dass du einmal Zeit hast. Ich lade dich zum Essen ein.“
„Hör mal, Evan, du bist ein netter Kerl, aber …“
„Ich dachte, du erinnerst dich nicht an mich?“, neckte er sie lächelnd.
Beinahe hätte sie sein Lächeln erwidert, doch sie blieb unverbindlich. „Man sieht sich.“ Als sie diesmal versuchte, die Scheibe hochzukurbeln, ließ Evan los und trat einen Schritt zurück. Sie startete den Wagen und fuhr ab, ohne sich noch einmal nach ihm umzuschauen.
Evan nahm seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche, drückte auf den Knopf der Fernsteuerung und entriegelte so per Funk die Türen. Sein silberfarbener Toyota Camry stand neben der Parkbucht, die Liza soeben mit ihrem weißen Kleinwagen verlassen hatte. Er hatte sie weinend hinter dem Steuer sitzen sehen, sie aber ganz bewusst nicht darauf angesprochen. So wie er sie einschätzte, war sie nicht der Typ Frau, der sich Tränen gestattete. Sie machte sich ihrem Ärger oder Kummer eher mit ein paar deutlichen Worten Luft.
Allerdings passte es nicht zu ihr, dass sie ihre ehemaligen Kollegen verklagte. Bis vor einem Jahr waren Liza, Eve und Jane unzertrennlich gewesen. Evan hatte ihre Loyalität und Freundschaft bewundert. Die Show wurde von Sendung zu Sendung erfolgreicher, dank Eves Charisma und Lizas Kreativität. Dann war Liza plötzlich verschwunden. Niemand schien zu wissen, warum oder wohin sie gegangen war. Das hatte ihn neugierig gemacht.
Er mochte Liza, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war. Er war auf dem Weg zum Set der Serie „Heartbeat“ mit ihr zusammengestoßen. Buchstäblich. Sie hatte über die Schulter mit jemandem gesprochen und ihn nicht um die Ecke kommen sehen. Als sie sich umdrehte, war sie prompt mit ihm zusammengerasselt. Zu seinem Pech hielt sie einen Becher Kaffee in der Hand.
Schmunzelnd erinnerte er sich daran, wie sie versucht hatte, den Schaden zu begrenzen. Sie hatte seinen Anzug mit ihrer Serviette abgetupft, überall da, wo der Kaffee gelandet war. Als sie merkte, dass es wohl eher unbedacht war, die Serviette an seinen Schritt zu drücken, hatte sie sich entschuldigt und um die Rechnung für die Reinigung gebeten.
Kein nervöses Plappern oder alberne Bemerkungen. Sie war anders als die meisten Frauen, die er kannte. Liza war geradeheraus, und genau das gefiel ihm. Normalerweise bevorzugte er kleine Blondinen. Umso sonderbarer war es, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, denn sie war groß und hatte langes, wild gelocktes braunes Haar.
Allerdings spielte es keine Rolle, ob er sie attraktiv fand oder nicht. Er hatte sie einmal zum Lunch eingeladen, und sie hatte ihm auf ihre sachliche Art einen Korb gegeben. Keine Ausreden, keine kleinen Schwindeleien, um die Abfuhr charmant zu verpacken. Nur eine klare Absage, mit der sie ihm zugleich deutlich machte, dass es keinen Zweck hatte, es noch einmal zu probieren. Danach hatten sie sich nur noch kurz gegrüßt, wenn sie sich in der Lobby oder auf dem Parkplatz begegneten.
Als ihm bewusst wurde, dass er immer noch in die Richtung starrte, in die sie verschwunden war, stieg er endlich in seinen Wagen. Was mochte Liza beim Sender gewollt haben? Und warum interessierte es ihn noch? Sie hatte ihm gerade wieder einen Korb gegeben.
Liza kam so spät nach Hause, dass auf dem Parkplatz vor dem Apartmentkomplex, in dem sie wohnte, keine Lücke mehr frei war. Genervt stellte sie ihr Auto einen Block von dem Gebäude entfernt ab und nahm eine Tüte Hamburger vom Beifahrersitz. Sie hasste es, in dieser unsicheren Gegend an der Straße zu parken. Sie konnte nur hoffen, dass etwaige Diebe sich für den schwarzen Sedan, der vor ihrem Wagen stand, entscheiden würden.
Nicht dass sie besonders an ihrem klapprigen Gebrauchten hing. Aber sollte etwas mit dem Auto passieren, würde sie sich kein anderes leisten können. Rick hatte darauf bestanden, sich eine brandneue Harley Davidson zu kaufen. Von ihrem Geld. Ein Wunder, dass er die Maschine noch nicht zu Schrott gefahren hatte.
Ihre Schritte wurden langsamer. Rick wohnte in dem Apartment direkt neben ihrem, und wenn er zufällig aus dem Fenster schaute, würde er sie die Treppe hinaufgehen sehen. Er würde ihr auflauern und versuchen, sie darüber auszuquetschen, wo sie gewesen war. Seine Wortwahl würde wie immer grob sein, und er würde sich keinen Deut darum scheren, ob jemand ihn hörte. Doch wenn sie Glück hatte, bemerkte er sie nicht.
Seufzend nahm sie die ersten paar Stufen, inständig hoffend, dass sie einen friedlichen und ruhigen Abend vor sich hatte.
„Hey, Liza, was hast du in der Tüte?“
Beim Klang der schrillen Stimme ihrer neuen Nachbarin zuckte Liza zusammen. Sie machte Mary Ellen ein Zeichen, leise zu sein, und mit einem Blick auf Ricks Tür eilte sie in den zweiten Stock.
Mary Ellen hielt gehorsam den Mund und wartete oben am Treppengeländer, das mit einer bunten Lichterkette weihnachtlich geschmückt war, bis Liza bei ihr ankam. „Ich glaube, er hat mal wieder einen Vollrausch“, meinte sie mit ihrem seltsamen Akzent.
Mary behauptete, sie und ihre Tochter stammten aus Mississippi, aber Liza hatte da ihre Zweifel. Die Bewohner dieses Komplexes gehörten nicht gerade zur ordentlichen Mittelschicht. Mindestens einmal in der Woche hörte man in der Nähe einen Schuss fallen oder konnte beobachten, wie die Polizei einen gewalttätigen Ehemann oder Freund abführte. Doch die Miete war niedrig, und da sie nicht nur ihre eigene Wohnung, sondern auch Ricks bezahlen musste, konnte Liza sich nichts Besseres leisten.
Rick fand es überflüssig, dass sie getrennte Apartments hatten, hauptsächlich weil er totale Kontrolle über sie haben wollte. Aber das war der einzige Punkt, über den sie nicht mit sich verhandeln ließ, auch wenn sie dadurch pleiteging. Schlimm genug, dass Rick versuchte, jeden ihrer Schritte zu überwachen. Sie brauchte ihn nicht auch noch ständig um sich.
Verstohlen schaute sie vom Gang aus in das offene Fenster von Ricks Wohnung. Er lag ausgestreckt auf dem abgenutzten braunen Cordsofa. Eine leere Wodkaflasche stand auf dem Tisch, allerdings war ihr klar, dass er nicht nur vom Alkohol berauscht war. Gut. Vielleicht konnte sie so wenigstens in Ruhe mit Mary Ellen und deren Tochter essen.
„Hab ich doch gesagt“. Mary Ellen deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür zu Ricks Apartment, ohne indes die Tüte aus dem Fast-Food-Restaurant aus den Augen zu lassen.
„Hungrig?“
„Und wie.“
„Ich habe Burger für dich und Freedom mitgebracht.“
Mary Ellen lächelte breit. Dabei wurde sichtbar, dass ihr ein Backenzahn fehlte, was normalerweise nicht auffiel, da sie nur selten lächelte. „Super. Ich dachte schon, wir müssten wieder Käse und Makkaroni essen.“ Sie drehte sich um, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus.
Liza zuckte zusammen. Angstvoll trat sie einen Schritt zurück und warf wieder einen Blick durchs Fenster. Rick lag immer noch regungslos da. Freedom dagegen hörte den Pfiff ihrer Mom und kam die Treppe heraufgehüpft.
„Hi, Liza.“ Die Achtjährige, ein echter Wildfang, war von oben bis unten mit Schmutz bedeckt. Sie nahm ihre rote Baseballmütze ab, und überallhin flog Staub.
„Zeit fürs Abendessen?“, fragte sie ihre Mom und schielte mit ihren blauen Augen hoffnungsvoll auf die Papiertüte.
„Liza hat uns Burger mitgebracht.“
„Juhu. Auch Pommes?“
Liza schloss ihre Wohnungstür auf. „Die wären kalt geworden.“
„Die Hamburger sind auch kalt“, erwiderte Freedom mit perfekter Logik.
„Das stimmt“, meinte Mary Ellen. Ihr leichtes Stirnrunzeln betonte die Narbe, die parallel zu ihrer Unterlippe verlief.
Seufzend ließ Liza die beiden herein und schaltete die Mikrowelle ein. Kalte Pommes frites ließen sich nicht so gut aufwärmen wie Hamburger, aber sie hatte keine Lust, sich darüber mit Mary Ellen und Freedom auseinanderzusetzen. Sie wollte, dass sie aßen und schnell wieder gingen. Vielleicht hätte sie ihnen die Burger einfach in die Hand drücken sollen, doch das mochte sie nicht tun.
So schäbig Lizas Wohnung mit der von den Wänden abblätternden Farbe und dem fleckigen olivgrünen Teppich auch war, die anderen beiden lebten in einem noch billigeren Apartment. Mary Ellen war mit ihrer Miete zwei Monate im Rückstand, da ihre Sozialhilfe nicht ausreichte, um alle Kosten zu decken. Wegen ihres auffälligen Hinkens hatte sie Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Liza hatte sie noch nie nach ihrem steifen Bein gefragt, aber sie ahnte, dass eine schlimme Geschichte dahintersteckte.
Sie nahm die aufgewärmten Burger aus der Mikrowelle. Mary Ellen hatte Servietten auf den kleinen Tisch gelegt. Es konnten nur zwei Personen daran sitzen, daher setzte Freedom sich auf das gesunde Knie ihrer Mutter. Schnell verschlang sie ihren Burger und schaute hungrig einen zweiten an. Liza schob ihn ihr hin und wünschte im Stillen, sie hätte mehr als fünf mitgebracht. Als Mary Ellen ihren aufgegessen hatte, bot Liza ihr den letzten an.
„Was ist mit Rick?“, fragte Mary Ellen.
Schon bei der Erwähnung seines Namens sträubten sich Liza die Nackenhaare. „Was soll mit ihm sein?“
„Isst er nichts?“
„Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“
Mary Ellen musterte sie verwirrt. „Warum bleibst du dann mit ihm zusammen?“
„Ich bin nicht mit ihm zusammen.“ Liza zerknüllte das Papier und stand auf. Sie wusste, dass ihre Nachbarin einige Male mitbekommen hatte, wie Rick ihr betrunken nachgrölte. Allerdings hatte sie nicht vor, ihre Probleme mit Mary Ellen oder sonst jemandem zu diskutieren.
„Okay, anders gefragt: Warum wohnst du Tür an Tür mit ihm?“, bohrte Mary Ellen weiter.
Liza warf die Verpackungsreste in den Müll. Jedem anderen hätte sie barsch geantwortet, dass es ihn nichts anginge, aber in diesem Fall brachte sie es nicht übers Herz.
„Es ist kompliziert“, meinte sie schließlich ausweichend.
„Das heißt, dass du nicht darüber reden möchtest, oder?“, mischte sich das kleine Mädchen mit vollem Mund ein.
„Freedom“, ermahnte ihre Mutter sie. „Wenn Erwachsene sich unterhalten, unterbricht man sie nicht.“
Liza unterdrückte ein Lächeln. Das arme Kind würde so aufwachsen wie sie. Sein loses Mundwerk würde es immer wieder in Schwierigkeiten bringen.
„Du warst doch auf dem College, nicht wahr?“, fragte Mary Ellen.
Liza nickte mit einem unbehaglichen Gefühl. Die Wendung des Gesprächs gefiel ihr nicht.
„Du bist so hübsch und klug. Ich verstehe nicht, warum du in so einem Loch haust.“
Richtig. Sie war wirklich klug. So klug, dass sie sich in eine ausweglose Lage manövriert hatte. „Hör mal“, sagte sie angespannt und warf dabei einen kurzen Blick auf Freedom, die sich genüsslich die Finger ableckte. „Ich glaube nicht, dass du dich auf ein Frage-und-Antwort-Spiel einlassen möchtest.“
Mary Ellen starrte grimmig auf ihre Hände. „Nein“, entgegnete sie knapp. Sie räusperte sich und stand auf. „Komm, Freedom, wir müssen gehen. Danke fürs Essen, Liza.“ Sie zog ihre Tochter zur Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Bis später.“ Liza schaute ihnen nach. Sie hätte vielleicht netter sein sollen. Mary Ellen hatte es ja nicht böse gemeint. Die Frau schien sehr einsam zu sein und hatte sich wahrscheinlich nur unterhalten wollen.
Aber Liza war dafür nicht in der Stimmung. Nicht heute. Alles war aus dem Ruder gelaufen. Ihr ganzes Leben. Sie hätte niemals zulassen dürfen, dass Rick es mit der Erpressung so weit trieb, doch sie war in Panik geraten und hatte die Kontrolle verloren. Nur wenn sie mit ihrer Klage Erfolg hatte, konnte sie ihren Hals noch aus der Schlinge ziehen.
Sie sank aufs Sofa, wobei sie sorgsam darauf achtete, sich nicht auf die kaputte Sprungfeder in der Mitte zu setzen. Herrje, würden diese Kopfschmerzen denn niemals aufhören? Sie beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und umfasste ihr Gesicht. Zum Fernsehsender zu fahren war keine gute Idee gewesen. Sie hatte es vorher gewusst. Trotzdem hatte sie es wenigstens probieren müssen. Obwohl sie es letztendlich nicht einmal geschafft hatte, aus dem Auto zu steigen. Dank Evan Gann. Wenn die Leute sich doch bloß um ihren eigenen Kram kümmern würden.
Wäre sie wie geplant ins Studio gegangen, hätte sie vielleicht erfahren, ob über ein weiteres Vergleichsangebot nachgedacht wurde, nachdem Rick das letzte einfach abgelehnt hatte. Seit sie John Haas, den neuen Mann im Produktionsteam der Show, auszuhorchen versucht hatte, musste sie allerdings damit rechnen, dass jeder, gegen den sie geklagt hatte, davor gewarnt worden war, mit ihr zu reden. Vermutlich würde der Sicherheitsdienst sie nicht einmal ins Gebäude lassen. Es sei denn …
Plötzlich hob sie den Kopf.
Evan Gann! Er könnte ihr die Türen öffnen. Niemand würde sie aufhalten, wenn sie mit ihm verabredet wäre. Verdammt, warum hatte sie seine Visitenkarte nicht angenommen? Unwillig stand sie auf und nahm ihr Handy. Sie konnte nur hofften, dass seine Nummer bei der Auskunft eingetragen war.
2. KAPITEL
Um Viertel vor vier entfernte sich Evan für ein paar Minuten vom Set und hörte telefonisch seinen Anrufbeantworter ab. Wegen seines Beraterjobs hatte er seine Praxis nur an drei Tagen die Woche geöffnet, und meistens kam ihm ein Notfall dazwischen, wenn er – selten genug – einmal etwas Zeit für sich haben wollte. Glücklicherweise hatte er an diesem Nachmittag frei, um Liza zu treffen.
Ihr Anruf am Abend zuvor hatte ihn völlig überrascht. Als Folge war er schon den ganzen Tag nervös. Ausgerechnet an diesem Tag schien jede Aufnahme zu misslingen, und wegen der vielen Wiederholungen befürchtete er, noch nicht fertig zu sein, wenn Liza um Viertel nach vier kam. Schließlich hatte er die Regieassistentin beiseitegenommen und ihr erklärt, dass er um jeden Preis um vier Uhr Schluss machen müsse.
Seine Konzentrationsfähigkeit ließ ohnehin zu wünschen übrig. Er verstand nicht, warum Liza sich auf einmal doch mit ihm verabredet hatte. Auf dem Parkplatz hatte sie ihm noch deutlich ihr Desinteresse gezeigt. Woher die plötzliche Meinungsänderung? Und warum wollte sie ihn im Studio abholen? Merkwürdig, dass sie sich überhaupt in dessen Nähe sehen lassen mochte.
Noch merkwürdiger war es, dass er sich immer noch für sie interessierte. Vor allem zu dieser Zeit des Jahres. Seit dem Debakel mit Angela war ihm die Weihnachtszeit verleidet. Also was hatte Liza an sich? Es musste wohl etwas Chemisches sein. Pheromone vielleicht. Oder vielleicht hatte er auch einfach nur eine Schwäche für weinende Frauen. Sie weckten den Beschützerinstinkt in ihm.
Evan warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Regieassistentin, die es bemerkte, nickte ihm kurz zu, und er zögerte keine Sekunde, sein Jackett zu nehmen und zu gehen. Es war noch früh, aber er hatte einen Akkurasierer im Handschuhfach seines Wagens und wollte sich vor dem Treffen mit Liza rasieren. Bei seinem starken Bartwuchs kam er selten ohne eine zweite Rasur am Tag aus.
Schon durch die Glastüren der Lobby sah er Lizas alten Wagen in eine Parklücke einbiegen. Er eilte aus dem Gebäude und winkte ihr zu. Einen Moment später kam sie ihm in Jeans und einem voluminösen roten Pullover, der leider ihre Rundungen verbarg, auf halbem Weg entgegen.
„Was machst du hier draußen?“, fragte sie, sobald sie in Hörweite war.
Evan schaute auf seine Uhr. „Sind wir nicht um Viertel nach vier verabredet?“
Unmut blitzte in ihren Augen auf. „Ist es dir peinlich, mit mir im Sender gesehen zu werden?“
„Daran habe ich nicht einmal gedacht. Ich war fertig und bin dir entgegengegangen. Ist das ein Problem?“
Liza blickte kurz zum Haupteingang. „Nein.“
„Wollen wir meinen Wagen nehmen?“
„Meinetwegen.“
Ihr gleichgültiger Ton gefiel ihm nicht. „Hör mal, wenn du deine Meinung geändert hast, sag es ruhig.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, entschuldige bitte. Ich würde wirklich gern mit dir irgendwo einen Drink nehmen.“
Evan unterdrückte ein Lächeln. Ursprünglich hatte Liza ein Kaffeetrinken vorgeschlagen, was immerhin ein netter Anfang gewesen wäre. Drinks waren allerdings besser. Vielleicht würde sogar ein gemeinsames Dinner daraus werden. „Wie wäre es mit dem ‚Sardis‘?“
„Das ist ein paar Blocks von hier entfernt, nicht wahr?“
Er nickte.
„Lass uns zu Fuß gehen.“
„Ist dir nicht kalt?“
Sie lachte. Es war ein angenehmer, heiserer Klang. „Wir haben erst Anfang Dezember. Frag mich nächsten Monat noch einmal.“
Würde sie dann noch hier sein? Natürlich sprach er sie nicht darauf an. Er ging neben ihr her, und als sie die Straße erreichten, wechselte er sofort auf die Außenseite des Bürgersteigs.
Liza schmunzelte. „Ein perfekter Gentleman, wie ich sehe.“
Er zuckte mit den Schultern. „Das hat mein Großvater mir beigebracht. Weißt du, wie es zu der Sitte gekommen ist?“
„Nein.“
Nun war es an Evan zu schmunzeln. Er merkte ihr an, dass es ihr egal war, aber er würde es ihr trotzdem erzählen. „Es begann im Wilden Westen. Ungepflasterte Straßen, Wasserpfützen – siehst du es vor dir?“
Sie nickte und schüttelte sich scheinbar vor Ekel, doch ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
„Ein Gentleman ging immer an der Außenseite des Bürgersteigs, damit die langen Röcke der Ladys nicht mit Schmutz bespritzt wurden.“
Liza lachte mit funkelnden Augen. Sie war nicht im klassischen Sinne schön, aber sie hatte ein interessantes Gesicht mit mandelförmigen Augen und einer zierlichen, wohlgeformten Nase.
„Ist die Geschichte wahr?“, fragte sie.
„Ich habe keine Ahnung.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Du hast das erfunden?“
„Nein, ich habe es von meinem Großvater. Ich vermute, er hat es irgendwo gelesen. Ich sehe ihn immer mit einem Buch oder einer Zeitung vor mir.“
Liza schaute weg. „Ich erinnere mich nicht an meine Großeltern. Ich war noch ein Baby, als sie gestorben sind.“
„Das tut mir leid.“
„Danke“, antwortete sie knapp und zeigte plötzlich übertriebenes Interesse an den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern.