Liebeserwachen in Schottland

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Klopfenden Herzens sitzt Esme in der Kutsche, neben ihr Quintus MacLachlann - arrogant und ohne jeden Respekt vor Frauen. Doch wenn sie ihrem Bruder helfen will, muss sie die liebende Gattin des attraktiven Schotten spielen. Plötzlich merkt Esme, dass ihr das immer leichter fällt - hat sie sich etwa in den Lebemann verliebt?


  • Erscheinungstag 03.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746223
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, März 1817

Esme McCallan ging ungeduldig im Anwaltsbüro in Staple Inn auf und ab. Hinter der geschlossenen Tür hörte sie die gedämpften Stimmen und Schritte der Klienten anderer Anwälte. Einige dieser Schritte klangen genauso schnell wie ihre eigenen, andere langsam und schlurfend und mutlos.

Ihr Bruder war nicht gekommen.

Esme hasste es, zu warten, was Jamie sehr wohl wusste. Und doch war es jetzt bereits fast halb vier an einem nassen, kühlen Nachmittag, und Jamie war nicht zu ihrem Treffen erschienen, obwohl er selbst diese Zeit festgelegt hatte. Es gab nur eins, was sie noch mehr aufbringen konnte, und …

Ausgerechnet das geschah jetzt auch.

Quintus MacLachlann kam in das Büro geschlendert, ohne auch nur höflichkeitshalber an die Tür zu klopfen. Natürlich hatte Esme ihn nicht gehört. Der Mann bewegte sich so lautlos wie eine Raubkatze.

Mit einer braunen Wolljacke, indigoblauer Weste, einem weißen Hemd, das er am Hals offen trug, und weiter heller Hose angetan, konnte man leicht denken, er sei ein Bauernsohn und verdiene sich seinen Lebensunterhalt mit dem Faustkampf. Nur seine Stimme und feudalherrschaftliche Selbstgefälligkeit ließen darauf schließen, er sei etwas anderes. In Wahrheit war er der in Ungnade gefallene, lasterhafte Sohn eines schottischen Edelmannes, der jedes Privileg vertan hatte, das ihm das Vermögen und die Stellung seiner Familie verschafften.

„Wo ist Jamie?“, fragte er mit jener Mischung aus Arroganz und Vertrautheit, die sie besonders ärgerlich fand.

„Ich weiß es nicht.“ Sie setzte sich auf den Rand des kleinen Stuhls mit der ovalen Rückenlehne, den ihr Bruder seinen Klienten zur Verfügung stellte. Esme glättete eine Falte ihrer dunkelbraunen Pelisse und schob ihren schlichten Hut um einen Hauch zur Seite, damit er genau in der Mitte ihres glatt gescheitelten braunen Haars lag.

„Das sieht ihm nicht ähnlich“, bemerkte MacLachlann unnötigerweise, während er sich an die Regale lehnte, die Jamies Gesetzbücher enthielten. „Hatte er einen Termin mit jemandem?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte sie und schalt sich insgeheim für ihre Unwissenheit. „Ich bin nicht über jeden Termin meines Bruders informiert.“

MacLachlanns sinnliche Lippen verzogen sich zu einem vermessenen Grinsen. Seine blauen Augen funkelten spöttisch. „Was denn, die Mutterhenne weiß nicht über jede einzelne Bewegung ihres Kükens Bescheid?“

„Ich bin nicht Jamies Mutter, und da Jamie ein erwachsener Mann ist und über einen klugen Verstand und Bildung verfügt, die er nicht verschwendet hat, führe ich nicht über jede seiner Bewegungen Buch.“

Ihre Worte hatten offensichtlich nicht die geringste Wirkung auf ihn, da er weiterhin lächelte. „Nein? Nun, jedenfalls ist er bei keiner Frau, es sei denn, sie wäre seine Klientin. Tagsüber gibt er sich niemals derlei Dingen hin.“

Esme presste die Lippen zusammen.

„Noch etwas also, das die Mutterhenne nicht weiß, was?“, zog er sie auf.

„Das Privatleben meines Bruders geht mich nichts an.“ Sie straffte die Schultern und bedachte MacLachlann mit einem verächtlichen Blick. „Wenn ich mich in all seine Angelegenheiten einmischen wollte, würde ich auch wissen, warum er es sich je hat einfallen lassen, einen Galgenstrick wie Sie einzustellen.“

In MacLachlanns blauen Augen erschien ein Leuchten ganz anderer Art. „Soll mich das verletzen, mein kleiner Honigkuchen?“ Er verstärkte seinen schottischen Akzent ein wenig und benutzte einen Kosenamen, den Esme von ganzem Herzen verabscheute. „Wenn ja, dann haben Sie Ihr Ziel völlig verfehlt. Ich bin schon auf eine Weise beleidigt worden, bei der Ihnen die Haare zu Berge stehen würden.“

Unbewusst ihr Haar berührend, wandte Esme sich von ihm ab und sah angestrengt aus dem Fenster, das auf den matschigen Hausgarten blickte, in dem noch wenig auf den Frühling hindeutete, ließ sich aber nicht dazu herab, MacLachlann zu antworten.

Sie musste unbedingt mit Jamie über MacLachlanns Unverschämtheit reden. Sollte er nicht bereit sein, sie mit dem gebührenden Respekt zu behandeln, so gab es gewiss noch andere Männer in London, die ebenso in der Lage waren, an Informationen zu kommen. Ihr Bruder brauchte nicht MacLachlann damit zu beauftragen, selbst wenn er auf dieselbe Schule gegangen war wie er.

Selbstzufrieden grinsend ging MacLachlann gelassenen Schrittes zum Schreibtisch und tippte mit dem Finger auf die Dokumente, die Esme dort hingelegt hatte. „Ich frage mich, was die Klienten Ihres Bruders sagen würden, wenn sie wüssten, dass seine Schwester im Grunde auch seine Partnerin in der Kanzlei ist? Dass es eine Frau ist, die die Verträge, Testamente und Überschreibungen aufsetzt und den größten Teil der Recherche für ihn erledigt?“

Esme sprang empört auf. „Ich helfe ihm lediglich dabei, den ersten Entwurf der Dokumente abzufassen und rechtliche Präzedenzfälle zu suchen. Jamie verfasst immer selbst die endgültigen Dokumente und überprüft alles, was ich tue. Wenn Sie es wagen sollten, etwas anderes zu sagen oder auch nur anzudeuten, werden wir Sie wegen übler Nachrede anzeigen. Nicht, dass Sie in der Lage sein würden, Schadensersatz zu zahlen.“

„Beruhigen Sie sich, Miss McCallan. Sie brauchen Ihr Gesetzbuch nicht zu bemühen“, erwiderte MacLachlann auf seine höchst herablassende Weise. „Ich werde niemandem von der Arbeit erzählen, die Sie für Ihren Bruder tun.“ Sein gewohnt spöttisches Lächeln verschwand für einen Moment. „Dafür schulde ich ihm zu viel.“

Aber was?, hätte sie ihn am liebsten gefragt. Jamie hatte ihr nie genau erklärt, wo er MacLachlann in London begegnet war. Er hatte damals einfach nur den offensichtlich betrunkenen Mann nach Hause gebracht, ihn im Gästezimmer untergebracht und ihm Arbeit als eine Art ermittelnden Partner gegeben. Selbstverständlich hatte Esme Fragen an ihn gehabt, von denen Jamie die meisten nicht hatte beantworten wollen. Er hatte nur zugegeben, dass MacLachlann schwere Zeiten durchgemacht und sich von seiner Familie entfremdet hatte. Erst später erfuhr sie aus zufällig belauschten Gesprächsfetzen zwischen den beiden Männern, dass MacLachlann seiner Familie durch seine nichtsnutzige Lebensweise Schande gemacht hatte.

Ebenso hatte sie herausgefunden, dieses Mal durch eigene Beobachtung, wie charmant er sein konnte, wenn er wollte, besonders zu Frauen, die sich daraufhin benahmen, als hätte er ihnen auf irgendeine Art den Verstand benebelt.

Auf sie selbst traf das natürlich nicht zu. Sie war viel zu wachsam und skeptisch, um sich von seinem seichten Charme einlullen zu lassen – wenn er je versucht hätte, das zu tun.

Sie blickte auf die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims und sah, dass es nun bereits fast vier Uhr war.

„Wir sind recht ungeduldig, was?“, erkundigte er sich.

„Sie mögen ja nichts Besseres zu tun haben, als hier Ihre Zeit zu vertrödeln“, erwiderte sie und machte sich auf den Weg zur Tür, „ich hingegen sehr wohl. Guten Tag.“

„Was, Sie wollen mich hier ganz allein zurücklassen?“, fragte MacLachlann in gespielter Betroffenheit.

„Ja, und zwar mit Vergnügen“, fuhr sie ihn an, öffnete die Tür und stieß fast mit Jamie zusammen.

„Ah, hier seid ihr beide ja. Und noch nicht einander an die Kehle gegangen“, sagte ihr unpünktlicher Bruder lächelnd. Sein schottischer Akzent war heute etwas deutlicher, was Esme verriet, dass er trotz seiner offensichtlich guten Laune wegen etwas aufgebracht sein musste.

„Ich habe die Dokumente gebracht, die du wolltest“, sagte sie neugierig, aber nicht bereit, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen, solange MacLachlann mit ihnen in einem Raum war. „Ich habe einen interessanten Präzedenzfall aus dem Jahr 1602 gefunden, in dem es um ein Schaf ging, dessen Besitzer …“

Jamie hängte seinen Hut an einen Haken neben der Tür. „Um Mrs Allens Klage kümmere ich mich morgen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze braune Haar, während er um den zerkratzten uralten Schreibtisch herumging, den sie gebraucht gekauft hatten. „Ich danke dir natürlich, dass du mir die Papiere gebracht hast, aber es gibt da eine andere Angelegenheit, bei der ich sehr hoffe, dass ihr beide mir helfen werdet.“

Ein hastiger Blick in MacLachlanns Richtung zeigte ihr, dass er ebenso wenig darauf erpicht war, etwas mit ihr zu tun zu haben wie sie mit ihm.

„Setz dich, Esme, und lass mich erklären. Du auch, Quinn, wenn du so freundlich wärst.“

Hin und her gerissen zwischen Neugier und Furcht, tat Esme ihm den Gefallen. Wieder saß sie nur auf dem äußersten Rand des Stuhls, während MacLachlann auf einem nicht weniger kleinen ihr gegenüber Platz nahm und sich nach hinten lehnte, sodass das ganze Gewicht auf den beiden Hinterbeinen lag.

„Sie werden den Stuhl noch zerbrechen, wenn Sie sich weiter auf diese Weise nach hinten lehnen“, warf Esme ihm vor.

„Wollen wir wetten?“ Wieder dieses spöttische Lächeln, das sie so hasste.

Esme antwortete nicht.

„Ich habe euch hergebeten“, begann Jamie, als hätte keiner von beiden etwas gesagt, „weil ich eure Hilfe brauche in einer Sache, die juristischen Sachverstand und Diskretion verlangt … sowie die Notwendigkeit zur Täuschung.“

„Täuschung?“, wiederholte Esme beunruhigt.

„Sie werden doch wohl nicht so naiv sein und glauben, das Gesetz nähme nicht gelegentlich Zuflucht zu dem einen oder anderen Winkelzug“, warf MacLachlann ein. „Zumindest wenn es darum geht, Tatsachen herauszufinden, die einige Leute vorziehen würden, für sich zu behalten.“

„Ich verstehe sehr wohl, dass es Dinge geben kann, die aufgespürt werden müssen, aber Täuschung klingt illegal“, protestierte sie.

MacLachlann verdrehte die Augen und sah aus, als wollte er etwas hinzufügen, doch Jamie kam ihm zuvor. „Es ist nicht die Methode, die ich bevorzugen würde, Esme. Leider fürchte ich, dass in diesem Fall Täuschung der einzige Weg ist, das herauszufinden, was ich wissen muss. Gewiss ist es die schnellste Methode, und je schneller die Sache zu Ende gebracht ist, desto besser.“

Esme zwang sich, ihre Bedenken und ihre Abneigung gegen MacLachlann zu verdrängen und ihrem Bruder zuzuhören.

„Ich bekam heute Morgen einen Brief aus Edinburgh. Catriona McNare braucht meine Hilfe.“

Esme war fassungslos. „Lady Catriona McNare bittet dich um deine Hilfe? Nach allem, was sie dir angetan hat?“

Kaum merklich zuckte Jamie zusammen. Obwohl Esme ihre Entrüstung für mehr als gerechtfertigt hielt, tat es ihr doch leid, dass sie nicht behutsamer gewesen war.

„Sie braucht die Hilfe von jemandem, dem sie vertrauen kann, und das Urteil eines Anwalts“, erklärte er. „An wen hätte sie sich sonst wenden sollen?“

An jeden außer dich, dachte Esme trotzig und dachte an den Abend, als Catriona McNare ihre Verlobung mit Jamie gelöst hatte.

Der arme Jamie war leichenblass gewesen, am Boden zerstört. Esme hatte die ganze Nacht vor seiner Schlafzimmertür verbracht, aus Angst, er könnte sich etwas antun.

„Es gibt genügend Anwälte in Edinburgh“, sagte sie.

Die sonst so mild blickenden braunen Augen ihres Bruders nahmen einen ungewohnt entschlossenen Ausdruck an. „Catriona hat um meine Hilfe gebeten, und sie wird sie bekommen.“

„Hilfe wobei?“ MacLachlanns Frage erinnerte Esme wieder an seine Anwesenheit.

Ein nachdenklicher Ausdruck hatte sein spöttisches Lächeln ersetzt, und die Veränderung war bemerkenswert. Sie bedeutete nicht direkt eine Verbesserung, denn MacLachlann war in jedem Fall – ob nun spöttisch grinsend oder nicht – ein gut aussehender Mann. Allerdings wies sie darauf hin, dass doch ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit in ihm steckte.

Wahrscheinlich etwa ein Teelöffel voll.

„Wie es aussieht, hat ihr Vater finanzielle Verluste erlitten“, erklärte Jamie. „Leider weigert sich der Earl, sich ihr anzuvertrauen oder zu enthüllen, was er mit seinem Geld getan hat oder was für Dokumente er unterschrieben hat. Sie fürchtet, die Situation könnte sich verschlimmern, wenn nicht etwas unternommen wird. Ich würde selbst nach Edinburgh reisen. Aber wenn ich dort erscheine und Nachforschungen betreibe, wird man sich fragen, warum ich es tue. Dich allerdings kennt niemand, Esme. Bisher war nie die Gelegenheit, dich jemandem vorzustellen, bevor …“ Er hielt kaum merklich inne. „Bevor wir nach London abreisten.“

Um ein neues Leben zu beginnen, dachte Esme bedrückt, weit entfernt von Lady Catriona McNare.

„Ich traue niemandem mehr zu, juristische Dokumente richtig einzuschätzen, als dir, Esme“, fuhr er fort. „Du wirst in der Lage sein zu erkennen, ob irgendetwas nicht stimmt mit den Papieren, die der Earl unterschrieben hat.“

„Und wie ich annehme, willst du, dass ich die Papiere an mich nehme?“, fragte MacLachlann.

„Ich will nicht, dass du sie stiehlst“, machte Jamie klar – sehr zu Esmes Erleichterung. „Du sollst nur Esme in das Haus des Earls einschleusen, damit sie sich die Papiere ansehen kann.“

Ihre Erleichterung war leider sehr kurzlebig gewesen.

„Was genau meinst du damit, ‚in das Haus des Earls einschleusen‘?“, verlangte sie zu wissen. „Einbruch ist gegen das Gesetz und wird bestraft mit …“

„Ich sagte nichts von Einbruch“, unterbrach Jamie sie. „Ich möchte lediglich, dass Quinn dir hilft, an die Dokumente zu kommen, sodass du sie lesen kannst.“

„Deswegen auch der Ausdruck Täuschung“, warf MacLachlann ein.

„Aber was für eine Art von Täuschung?“, beharrte Esme.

„Wir brauchen einen Vorwand, um dich in das Haus des Earls zu bekommen, ohne dass du Verdacht erweckst. Wenn ich dort nicht gern gesehen bin – und das bin ich gewiss nicht –, ist es meine Schwester auch nicht“, sagte Jamie. „Quinn, du hast mal erwähnt, dass dein älterer Bruder seit zehn Jahren auf den Westindischen Inseln lebt. Aber er besitzt noch ein Stadthaus in Edinburgh. Mir kam der Gedanke, wenn er jemals nach Edinburgh zurückkehren würde, würde er doch bestimmt als Earl of Dubhagen zu allen Festen und Abendveranstaltungen und so weiter eingeladen werden, die Catriona und ihr Vater geben. Wie ich hörte, sehen sich alle Söhne des Earl of Dubhagen ausnehmend ähnlich, also dachte ich …“

MacLachlann zuckte zusammen, als hätte Jamie ihn geschlagen. „Du willst, dass ich mich für Augustus ausgebe?“

„Kurz gesagt, ja. Und da dein Bruder verheiratet ist, brauchst du eine Frau.“

Was das bedeutete, entsetzte Esme zutiefst.

„Nein!“, rief sie und sprang auf die Füße. Die Vorstellung, sich als MacLachlanns Frau ausgeben zu müssen, war aberwitzig. „Das ist lächerlich! Und ungesetzlich! Es muss doch einen anderen Weg geben. Irgendeinen legalen Weg, um …“

„Vielleicht. Wenn wir wüssten, was genau sich abspielt, wer dahintersteckt und ob es überhaupt ungesetzlich ist“, erwiderte Jamie mit bemerkenswerter Gelassenheit. „Es könnte sein, dass Catriona sich irrt und die Verluste ihres Vaters einfach auf falsche Geschäftsentscheidungen zurückzuführen sind. Wenn er gesetzlich dazu berechtigt ist, diese Entscheidungen zu treffen, kann sie nichts dagegen unternehmen. Aber sie muss es wissen, so oder so. Und diese Hilfe gedenke ich ihr zu geben – oder vielmehr hoffe ich, sie von euch zu bekommen.“

„Aber warum müssen wir uns als jemand anders ausgeben?“, protestierte Esme. „MacLachlann gehört doch noch immer zum Adel, oder etwa nicht? Würden sie ihn denn nicht einladen? Können wir nicht sagen, ich sei eine Freundin der Familie auf Besuch? Warum müssen wir lügen?“

„Ich bin ein in Ungnade gefallener, von seiner Familie verstoßener Adliger“, sagte MacLachlann ohne einen Hauch von Scham oder Reue. „Ich kann mich nicht mehr in denselben gesellschaftlichen Kreisen bewegen wie früher. Augustus und seine Frau allerdings schon.“

Zu ihrem Entsetzen schien diese unglaubliche Intrige ihn nicht besonders zu verärgern.

„Und wenn wir erwischt werden?“, wandte sie ein. „Ich gehe nicht für Catriona McNare ins Gefängnis!“

„Die Absicht habe ich auch nicht“, stimmte MacLachlann ihr mit gewohnter Ruhe bei. „Da ich mich allerdings nur für meinen Bruder ausgeben werde, gibt es nichts zu befürchten. Jamie wird bedacht haben, als er sich diesen Plan einfallen ließ, wie sehr mein Bruder Skandale verabscheut. Er würde nie seinen eigenen Bruder anzeigen und viel eher behaupten, dass ich mir bei dieser Sache einen meiner geschmacklosen Scherze erlaubt habe.“

Esme war nicht zufrieden. „Ihr Bruder mag Sie ja nicht ins Gefängnis werfen wollen, aber in meinem Fall hat er vielleicht keine solchen Skrupel.“

„Keine Sorge, mein kleiner Honigkuchen“, sagte MacLachlann. „Ich weiß einige Dinge aus der Vergangenheit meines lieben Bruders, die er gewiss nicht veröffentlicht sehen möchte. Das wird auch Sie vor jeder Strafverfolgung schützen.“

„Die Leute werden aber doch gewiss sehen, dass ich nicht die Frau des Earls bin.“

„Keiner in Edinburgh hat sie je zu Gesicht bekommen. Sie begegneten sich und heirateten auf den Westindischen Inseln.“

MacLachlann klang, als könnte es keine weiteren Einwände mehr geben. Doch gab es andere Dinge zu bedenken – und zwar sehr wichtige, wenn sie zusammenleben sollten wie Mann und Frau. Sie würden im selben Haus wohnen, dieselben Räume teilen. Die Menschen würden sogar annehmen, dass sie sehr viel mehr als das teilten. Wer konnte denn ahnen, ob ein anziehender Frauenheld wie MacLachlann das nicht ebenfalls annehmen würde? Dass er das Recht hätte … Dass sie womöglich sogar erpicht darauf wäre?

Der Gedanke war erschreckend. Ja, entsetzlich und fürchterlich, abgesehen davon, dass sie sich nie von ihm oder irgendeinem anderen Mann verführen lassen würde, wie attraktiv und charmant er auch sein mochte. „Ich habe nicht den Wunsch, mich als Ihre Frau auszugeben!“, erklärte sie entschieden.

MacLachlann hob kühl eine Augenbraue. „Nicht einmal, da Ihr Bruder Sie bittet?“

Gegen dieses Argument war sie machtlos, und das wusste er.

„Esme“, sagte Jamie leise. „Lass gut sein. Ich sehe, mein Plan würde nicht funktionieren.“

Er kam zu ihr und nahm ihre Hände. Nur ein einziges Mal vorher hatte sie diesen Ausdruck der Niedergeschlagenheit in Jamies Augen gesehen, doch dieses Mal war sie schuld daran. „Ich weiß, ich verlange zu viel, wenn du dich also weigerst, nehme ich es dir nicht übel. Quinn und ich werden uns etwas anderes einfallen lassen, um die Information zu bekommen, die wir suchen.“

Das stimmte vielleicht sogar. Aber es könnte dazu führen, dass Jamie wieder nach Edinburgh zurückkehren musste – und in die Nähe von Lady Catriona, die ihm erneut das Herz brechen oder die alte Wunde aufreißen würde.

Esme machte sich nichts vor: Jamies Plan war riskant, und sie wollte Lady Catriona nicht helfen. Doch wie konnte sie ihrem Bruder eine Bitte abschlagen, wenn er bisher noch nie etwas von ihr verlangt hatte? Er war ihr einziger Verwandter. Ihre Mutter war an einem Fieber nur zwei Tage nach Esmes Geburt gestorben und ihr Vater an einem Herzleiden, als Esme zwölf und Jamie achtzehn Jahre alt gewesen waren. Jamie hatte damals als Gehilfe in einem Anwaltsbüro gearbeitet. Seitdem war er ihr ein liebevoller Bruder gewesen, der ihr Freiheiten erlaubte, die nur wenige Männer gebilligt hätten. Was war dieses Risiko schon im Vergleich zu allem, was er für sie getan hatte, und die Art, wie er sie praktisch als Anwalt praktizieren ließ? „Na schön, Jamie, ich tu’s.“

MacLachlann zupfte einen unsichtbaren Fussel von seinem Ärmel. „Nachdem das geklärt ist, schreibe ich dem Anwalt meines Bruders und lasse ihn wissen, dass der Earl of Dubhagen beschlossen hat, nach Edinburgh zurückzukehren. Ich werde ihn anweisen, Personal einzustellen und das Haus für unsere Ankunft vorbereiten zu lassen.“

Er wandte sich an Jamie, als wäre Esme nicht anwesend: „Deine Schwester wird eine neue Garderobe brauchen. Ihre eigene ist kaum angemessen für die Frau eines Earls.“

So gern Esme ihm widersprochen hätte, sah sie ein, dass ihre bescheidene Kleidung weder modisch noch kostspielig genug war, um die Gesellschaft in Edinburgh zu täuschen.

„Esme wird neu eingekleidet werden“, versicherte Jamie MacLachlann, während er zu seinem Schreibtisch ging. „Du solltest dir ebenfalls eine neue Garderobe zulegen. Ich bezahle die Mietkutsche, die euch nach Edinburgh bringen soll. Und ihr werdet natürlich auch Haushaltsausgaben haben.“

Er schrieb den Scheck auf eine Summe aus, die Esme nach Luft schnappen ließ. Jamie hatte sich bisher allein um ihre Finanzen gekümmert, also wusste sie nur wenig über diesen Teil seiner Arbeit. Sie bekam ein mehr als großzügiges Nadelgeld und hatte immer genug für die Bedürfnisse des Haushalts zur Verfügung gehabt, aber sie versuchte trotz allem, so sparsam wie möglich zu wirtschaften. Und jetzt musste sie mit ansehen, wie er einem Mann wie MacLachlann so viel Geld überreichte!

Noch ärgerlicher fand sie, dass MacLachlann den Scheck an sich nahm, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Danke, Sir“, meinte er nur salopp. „Wann sollen wir abreisen?“

„Meinst du, du könntest in einer Woche so weit sein?“

„Ich schon, die Frage ist, ob meine reizende Gattin es kann.“

Esme knirschte insgeheim mit den Zähnen, sagte sich aber, dass sie MacLachlanns Frechheit Jamie zuliebe erdulden musste. „Ich werde bereit sein.“

„Die Kutsche wird in einer Woche vor unserem Haus stehen“, teilte Jamie ihm mit. „Komm so früh wie möglich, damit ihr einen guten Teil des Wegs hinter euch legen könnt.“

„Dein Wunsch sei mir Befehl“, entgegnete MacLachlann, schon auf dem Weg zur Tür. Dort blieb er kurz stehen und verbeugte sich dramatisch vor ihnen. „Und somit, mein kleiner Honigkuchen und liebster Scheinschwager, sage ich bis zu unserer Abreise Adieu. Ich wünschte nur, ich könnte meine liebreizende Braut auf unseren Ahnensitz in den Highlands entführen. Im Frühling ist es dort sehr schön. Doch ich fürchte, die knappe Zeit wird es nicht erlauben.“

Der Schurke genoss das Ganze viel zu sehr!

„Vorsicht, mein Liebes.“ MacLachlann richtete sich wieder auf. „Wir wollen doch nicht, dass dir dieser höchst unschmeichelhafte Ausdruck auf deinem hübschen Gesicht noch zur Gewohnheit wird.“

Und damit verließ er unbekümmert den Raum.

Esme drehte sich sofort zu ihrem Bruder um, doch er kam ihr mit der für ihn so charakteristischen Aufrichtigkeit zuvor. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dieses Risiko für mich eingehst, Esme. Und ich bin dankbarer, als ich es ausdrücken kann.“

Ihr Ärger ließ nach, aber sie musste ihre Befürchtungen aussprechen. „Das war eine große Summe, die du diesem Mann einfach so übergeben hast, Jamie.“

„Sie wird sorgsam ausgegeben werden. Und was übrig bleibt, wird er mir ordnungsgemäß zurückerstatten“, entgegnete ihr Bruder.

Er trat an seinen Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade und holte einen Ordner heraus, den Esme noch nie gesehen hatte. „Quinn führt sorgfältig Buch über alle seine Ausgaben, wenn er einen Auftrag für mich ausführt. Ich weiß immer, wo jeder Penny geblieben ist. Hier, sieh selbst.“

Er öffnete das in Leder gebundene Buch und drehte es zu ihr herum. Auf den mit Lineal gezogenen Linien waren in einer sogar noch saubereren Handschrift als ihrer die Ausgaben aufgeführt.

Oberflächlich betrachtet sah die Liste ausgesprochen umfassend aus. Selbst ein Laib Brot und ein Glas Bier zum Abendessen waren aufgeschrieben worden. Und dennoch … „Wie kannst du sicher sein, dass er das Geld wirklich auf diese Weise verwendet hat?“, fragte Esme.

„Belege. Er gibt mir für alles Belege. Ich habe sie hier.“ Jamie öffnete eine weitere Schublade und wies auf einen noch größeren Ordner.

„Nun gut, er mag ja verantwortungsbewusst sein, was seine Ausgaben angeht“, räumte sie ein, „aber andere Elemente seines Charakters, seiner Vergangenheit sind bei Weitem nicht so mustergültig.“

„Ich kann nicht leugnen, dass er Fehler begangen hat. Auch er gibt es offen zu. Aber er hat kein Verbrechen begangen, und der einzige Mensch, dem er mit seinem Tun geschadet hat, ist er selbst.“

„Und doch hat seine eigene Familie ihn verstoßen, oder?“

„Für die es ein größerer Verlust ist als für ihn. Er hatte eine sehr unglückliche Kindheit, Esme.“

„Seine Familie ist reich und vornehm. Viele Menschen wachsen unter sehr viel schlimmeren Umständen auf, entscheiden sich aber nicht dafür, ihr Geld zu verspielen oder ihre Tage beim Nichtstun und Trinken zu vergeuden.“

„Ein Junge, der in Reichtum aufwächst, kann dennoch einsam und unglücklich sein“, wandte ihr Bruder ein. „Er benutzt seine Kindheit auch nie als Entschuldigung. Tatsächlich spricht er nur sehr selten davon. Ich habe darüber eher von Freunden in der Schule erfahren als von ihm.“

Jamie legte den Ordner zurück und heftete den Blick ernst auf Esme. „Er mag viel getrunken und gespielt haben, aber das war in der Vergangenheit. Jetzt halte ich ihn für absolut vertrauenswürdig. Was immer ich ihm aufgetragen habe, hat er zu meiner größten Zufriedenheit erledigt.“ Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. „Er empfindet sogar Reue, selbst wenn er es nur selten zeigt. Weißt du, wo ich ihn fand in jener Nacht, als ich ihn nach Hause brachte?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Auf der Tower Bridge. Er hat mir nie erzählt, was er da tat, aber die Art, wie er dort stand und auf das Wasser hinabblickte …“ Jamie wandte den Kopf und sah nachdenklich aus dem Fenster. „Wenn ich nicht nach ihm gesucht und ihn gefunden hätte …“

Quintus MacLachlann war im Begriff gewesen, sich das Leben zu nehmen? Dass ein Mann von solcher Lebendigkeit dazu in der Lage sein könnte, konnte Esme sich nur schwer vorstellen.

„Dem Himmel sei Dank, dass ich ihn fand. Es vergeht kein Tag, da ich nicht unglaublich froh darüber wäre.“ Jamie erhob sich, den Blick wieder forschend auf Esme gerichtet. „Ist das aber alles, was dir Sorge macht? Oder glaubst du, er könnte sich Freiheiten bei dir herausnehmen? Wenn ja, dann kannst du dich beruhigen. Es hat viele Frauen in seinem Leben gegeben, ich weiß. Aber bei keiner hat er sich grausam oder rücksichtslos verhalten. Wäre das auch nur im Entferntesten möglich, würde ich dich nie mit ihm gehen lassen, ganz besonders in der Rolle seiner Gattin. Außerdem, sollte es eine Frau auf dieser Welt geben, die gegen jede Verführung immun sein dürfte, dann doch du.“

Ja, sie würde immun gegen jede versuchte Verführung sein, besonders von einem Mann, der sie ständig ärgerte und verspottete.

Jamie legte ihr die Hände auf die Schultern. „Du kannst ihm vertrauen, Esme. Bitte glaube mir, wenn ich sage, dass hinter Quinns nachlässiger Fassade ein guter, ehrlicher Mann steckt. Sonst würde ich dich nie mit ihm nach Edinburgh reisen lassen.“

Esme nickte. Sie wollte Jamie ja glauben. Sie wollte glauben, dass sie mit einem vertrauenswürdigen Mann und für einen guten Zweck nach Edinburgh gehen würde.

Aber insgeheim wünschte sie, Catriona McNare und Quintus MacLachlann wären niemals geboren worden.

2. KAPITEL

Eine Woche später ging Quinn, ehemals als der Honourable Quintus Aloysius Hamish MacLachlann bekannt, auf dem Weg zu Jamie McCallans Stadthaus lässig die Straße entlang. In seiner neuen Kleidung – Pantalons, einem strahlend weißen Leinenhemd, schwarzer Seidenkrawatte, einer schwarzgrau gestreiften Satinweste und schwarzem Gehrock – wirkte er wie der modische Gentleman par excellence. In der Hand trug er eine Reisetasche, die beim Gehen gegen seinen Oberschenkel stieß.

Jamies gepflegtes Zuhause befand sich am Rand von Mayfair, nicht zu weit entfernt, um beim ton als unmodisch zu gelten, und weit genug, dass ein Mann von Jamies offensichtlich guten Einkünften es sich leisten konnte.

Als Quinn die Stufen zur Haustür hinaufstieg und den glänzend polierten Klopfer anhob, bewegte sich der Vorhang im vorderen Erkerfenster – völlig unauffällig, doch Quinn bemerkte es. Offenbar hielt jemand Ausschau.

Esme, zweifellos. Die Frau war wie ein Gefängniswärter. Ganz abgesehen davon, dass sie voller Vorurteile steckte und immer bereit war, das Schlimmste von ihm zu denken, trotz all seiner Bemühungen und trotz der wichtigen Aufträge, die er für ihren geliebten Bruder erledigte.

Da sie ihn also so gering einschätzte, wen wunderte es, dass er versucht war, sie mit den ungeheuerlichsten Bemerkungen zu reizen?

Jamies Butler, ein hochgewachsener, schlanker Mann unbestimmten Alters, öffnete die Tür und nahm ihm Hut und Koffer ab. „Man erwartet Sie im Salon, Sir.“

„Danke.“ Flüchtig warf Quinn einen Blick in den Spiegel, an dem er auf dem Weg zum Salon vorbeikam. In diesem Aufzug sah er tatsächlich aus wie sein Bruder, zumindest war er ihm ähnlich genug, um die List gelingen zu lassen.

Der Salon war genauso sauber und ordentlich wie die Vorhalle und schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet, kaum ein Porzellanfigürchen oder sonstiger Schnickschnack nahm hier Platz fort. Quinn fiel auf, dass er noch nie Staub oder gar Schmutz in Jamies Haus oder Büro bemerkt hatte. Wahrscheinlich waren sogar Staub und Schmutz zu eingeschüchtert von Jamies Schwester, um länger zu verweilen. Bücher gab es allerdings in Hülle und Fülle, und die wenigen Möbel waren von guter Qualität. Das Sofa und die Sessel wirkten bequem, und der Kaminsims …

Esme stand am Kamin, aber eine Esme, wie er sie noch nie gesehen oder sich auch nur vorgestellt hatte. Sie hatte den Blick gesenkt, sodass die langen Wimpern ihre rosigen Wangen berührten. Gekleidet war sie in ein eng anliegendes Reisekostüm aus weicher blassblauer Wolle, das ihre schlanke, wohlgeformte Figur besonders zur Geltung brachte. Das Mieder, eingefasst mit einem scharlachroten Band, betonte vollkommene Brüste. Unter einem reizenden, mit kleinen Rosen geschmückten Hütchen schauten schimmernde kastanienbraune Locken hervor, von denen einige ihre Wangen und ihren Nacken berührten.

Esme sah jung, hübsch, frisch und bescheiden aus – ein wahres Bild jugendlicher Weiblichkeit –, bis sie den Blick hob und ihn aus braunen Augen wütend betrachtete.

„Wenigstens haben Sie daran gedacht, sich zu rasieren, wie ich sehe, aber Sie kommen sehr spät“, fuhr sie ihn an.

Lässig kam er herein, entschlossen, sie nicht merken zu lassen, dass ihre Missbilligung ihn störte. „Ich war bei einem Barbier. Meine Wangen sind so weich wie Seide. Möchten Sie mal fühlen?“

„Gewiss nicht!“, rief Esme und wandte sich abrupt ab.

Aber sie errötete, und sie senkte wieder den Blick, als wäre sie versucht gewesen, ihn zu berühren und wagte es nur nicht.

Lieber Himmel, konnte es sein, dass Esme McCallan sich heimlich wünschte, ihn zu berühren? Eine sehr interessante Entwicklung. Er nahm sich vor, sie recht bald näher zu untersuchen. „Sie sehen bezaubernd aus, Esme.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre unerwünschten Bemerkungen für sich behalten könnten!“

„Dann wären Sie die erste Frau, die mir je begegnet ist, die sich nicht über ein Kompliment freut.“

„Wenn ich glaubte, Ihre Bemerkung wäre ehrlich gemeint, könnte ich mich vielleicht geschmeichelt fühlen.“

Trotz ihres verachtungsvollen Tons versuchte er es erneut. „Ich meine es ehrlich. Sie sehen wirklich sehr hübsch aus. Mir war nie bewusst, wie sehr eine neue Kleidung den Menschen verändern kann.“

Sie drehte sich wieder zu ihm um.

Und dann geschah ein Wunder. Sie lächelte. Und es war ein warmes, echtes Lächeln. Sein Herz machte einen Sprung vor Freude, wie er annahm, allerdings war es lange her, seit er so etwas wie Glück empfunden hatte, also konnte er sich auch irren.

„Jamie“, sagte sie und ging an Quinn vorbei. Sie hatte ihrem Bruder zugelächelt, der soeben eingetreten war.

Natürlich. Er musste einen Moment den Verstand verloren haben, sich vorzustellen, Esme könnte ihn auf diese Weise anlächeln. Und er durfte nicht enttäuscht sein. Schließlich gab es viele Frauen, die nach seiner Aufmerksamkeit verlangten.

„Tut mir leid, dass ich spät komme, Jamie“, sagte er, bevor Esme ihn verdammen konnte. „Der Schneider hat mich aufgehalten.“

„Das macht nichts. Es ist noch genügend Zeit für euch, London hinter euch zu lassen, bevor es dunkel wird“, erwiderte Jamie. „Die Ausgabe hat sich gelohnt, wie ich sehe.“

„Deine Ausgaben auch. Ich gebe zu, ich hatte so meine Zweifel, dass wir deine Schwester als eine vornehme junge Dame ausgeben könnten, aber in dieser Kleidung wird es uns gelingen.“

Esme achtete nicht auf ihn. „Dürfte ich jetzt vorschlagen, dass wir uns auf den Weg machen? Je eher wir Edinburgh erreichen, desto schneller können wir unseren Auftrag hinter uns bringen und zurückkehren.“

Da war Quinn ganz ihrer Meinung.

Während die Mietkutsche die Straße in Richtung Norden entlangratterte, machte Quinn sich nicht die Mühe, seine finstere Miene zu verbergen oder ein Gespräch in Gang zu bringen. Warum sollte er sich für eine Frau anstrengen, die so offensichtlich entschlossen war, ihn zu verabscheuen?

Aus den vom gestrigen heftigen Regen entstandenen Pfützen spritzte das Wasser bis fast zu den Fenstern der Kutsche, und der Himmel war düster und wolkenverhangen. Die frische Brise trug nicht besonders zur Gemütlichkeit in der Chaise bei. Nicht unbedingt das Wetter, das man im Frühling erwartete, aber auch nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit.

„Wenn Sie noch einmal auf den Saum Ihres Mantels treten, werden Sie das gute Stück noch verderben“, bemerkte Esme missmutig. „Er muss meinen Bruder eine schöne Summe gekostet haben.“

„Ich bezweifle sehr, dass er mehr gekostet hat als Ihre Pelisse“, erwiderte er und stellte den Stiefel erneut auf den Saum, um sie zu ärgern. „Ich wette, meine ganze Garderobe kostete weniger als eins Ihrer Kleider. Und ich habe die Belege, um es zu beweisen.“

Sie hob hochmütig die Brauen. „Ich weiß, wie man einen guten Preis erzielt.“

„Ich kann mir gut vorstellen, wie eine arme Schneiderin bei Ihrem eisigen Blick so bis ins Mark erschrecken könnte, dass sie sogar bereit wäre, ein Verlustgeschäft mit Ihnen zu machen. Aber ich denke, gute Arbeit sollte anständig bezahlt werden.“

„Ich verlange nur, den Gegenwert für mein Geld zu bekommen.“

„Das Geld Ihres Bruders“, verbesserte er.

Esme errötete heftig. „Wenn Frauen einen Beruf ausüben dürften, wäre ich auch Anwalt und nur zu gern bereit, mein eigenes Einkommen zu verdienen.“

Sie würde wahrscheinlich wirklich einen guten Anwalt abgeben, musste Quinn insgeheim zugeben. Zwar mochte sie eine der unangenehmsten Frauen auf dieser Erde sein, aber juristischen Sachverstand konnte man ihr nicht absprechen.

„Ich glaube, Sie würden als Verteidiger vor Gericht sogar noch besser sein“, sagte er aufrichtig. „Ich kann mir leicht vorstellen, wie Sie einen Zeugen ins Kreuzverhör nehmen.“

Sie rümpfte die Nase, eindeutig nicht erfreut über seine Bemerkung. „Anwälte wie mein Bruder erledigen aber die wichtige Vorarbeit, die Vorbereitung und Recherche, während die Verteidiger vor Gericht ganz unfairerweise den ganzen Ruhm dafür einheimsen. In etwa so, wie adlige Grundbesitzer den Ertrag aus der Arbeit ihrer Pächter einstecken, selbst wenn besagte Grundbesitzer verschwenderische, trunksüchtige Spieler sind.“

Der Himmel schenke ihm Geduld! „Wenn Sie die Dienerschaft nicht Verdacht schöpfen lassen wollen, was unsere angebliche Ehe angeht, müssen Sie wenigstens so tun, als würden Sie mich mögen.“

„Ich sehe nicht ein, wieso. Es gibt unzählige unglückliche Ehen in unserem Land. Unsere wäre ganz einfach eine weitere.“

„Nicht, wenn wir zu Bällen und Tanzabenden eingeladen werden wollen.“

Esme schüttelte trotzig den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Ein sich streitendes Paar erregt Neugier, und sollten die Leute glauben, wir könnten ihnen Stoff für ihren Klatsch liefern, werden wir gewiss eingeladen werden.“

„Wenn dem so sein sollte, ist es in der Tat günstig, dass Sie so großen Hass für mich empfinden. Wir werden das beliebteste Paar in ganz Edinburgh sein.“

„Ich hasse Sie nicht, MacLachlann“, widersprach sie ihm kühl. „Dazu müsste ich etwas für Sie empfinden.“

Es war wie ein Schlag ins Gesicht für ihn, aber er würde lieber sterben, bevor er sich anmerken ließ, dass sie oder irgendjemand sonst ihn verletzen konnte.

„Was Sie auch von mir halten mögen, Miss McCallan“, sagte er mit ebenso eisiger Stimme, „Ihr Bruder hat um meine Hilfe gebeten, und er wird sie bekommen. Es würde uns beiden lediglich die Aufgabe erleichtern, wenn Sie aufhören wollten mich anzugreifen, jedes Mal, sobald Sie den Mund aufmachen. Ich rechne zwar nicht damit, dass Sie mich respektieren, aber könnten Sie nicht wenigstens kooperieren? Denn wenn nicht, kehren wir besser sofort nach London zurück.“

„Ich kooperiere mit Ihnen, MacLachlann. Sonst wäre ich nicht hier.“ Sie atmete tief ein und strich ihren Rock glatt. „Allerdings stimme ich zu, dass ständige Feindseligkeit nur schaden könnte. Also lassen Sie uns von vorn beginnen.“

Er verbarg seine Erleichterung, fragte sich aber, was sie damit wohl meinte.

„Wenn ich Ihre Frau sein soll, muss ich mehr über Ihre Familie erfahren. Bisher weiß ich nur, dass Ihr Vater ein Earl und Ihr älterer Bruder der Erbe war. Haben Sie andere Geschwister?“

Von allen möglichen Themen war seine Familie das Letzte, was er diskutieren wollte. Leider hatte Esme recht. Sie musste mehr über seine Familiengeschichte erfahren. „Ich hatte drei Brüder. Marcus war der Zweitälteste, dann kamen Claudius und Julius. Marcus starb im Krieg mit Frankreich, Claudius starb an einem Fieber, während er in Kanada war, und Julius fiel als Junge vom Pferd und brach sich das Genick. Ich hatte auch eine Schwester, aber sie starb als kleines Kind, noch bevor ich geboren wurde.“

Wenn es nicht Esme wäre, die ihm gegenübersaß, hätte er fast annehmen können, dass ihre Miene Mitleid ausdrückte. Da es aber Esme war, bedeutete ihr ernster Blick wohl nur, dass sie versuchte, sich alle Einzelheiten einzuprägen.

„Und Ihr ältester Bruder heißt Augustus?“

„Mein Vater besaß eine bedauerliche Vorliebe für die lateinische Sprache und römische Geschichte.“

„Also nannte er seinen fünften Sohn Quintus.“

„Ja.“

„Ein Name, den Sie von ganzem Herzen verabscheuen.“

„Nicht nur den Namen. Auch für meinen Vater hatte ich nicht viel übrig – ebenso wenig wie er für mich.“

„Das tut mir leid.“

Autor

Margaret Moore
Margaret Moore ist ein echtes Multitalent. Sie versuchte sich u.a. als Synchronschwimmerin, als Bogenschützin und lernte fechten und tanzen, bevor sie schließlich zum Schreiben kam. Seitdem hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre gefühlvollen historischen Romane erhalten, die überwiegend im Mittelalter spielen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit...
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