Liebessommer in Italien - 4-teilige Serie

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Eine italienische Villa, vier Schwestern und das große Liebesglück

NUR EINE EINZIGE SÜßE NACHT?

Villa Rosa - für Miranda ist das der friedlichste Ort der Welt. Hierhin zieht sie sich zurück, nachdem sie mit ihrem Boss Cleve eine sinnliche Nacht verbracht hat. Mit süßen Folgen und wenig Hoffnung! Denn das Herz ihres heimlichen Traummannes scheint noch immer seiner verstorbenen Frau zu gehören. Zum Glück schenken die romantische Villa auf der malerischen Isola dei Fiori und der weite Blick auf das azurblaue Mittelmeer Miranda die ersehnte Ruhe. Bis unvermittelt der Mann vor ihr steht, vor dessen Anziehungskraft sie geflohen ist …

AMORE IST MEHR ALS EIN WORT

Will sie wirklich weiterhin mit Skandalgeschichten ihr Geld verdienen? Um sich darüber klar zu werden, nimmt Portia sich eine Auszeit auf der romantischen Isola dei Fiori, wo ihre Schwester eine Villa geerbt hat. Doch ihre Einsamkeit wird gestört, als plötzlich der unverschämt attraktive Hollywoodstar Javier Russo auftaucht! Ein Artikel über ihn würde Portias Karriere vorantreiben. Aber was wird dann aus den zärtlichen Gefühlen, die zwischen ihr und dem sexy Italiener erwachen? Dem die Frauen zu Füßen liegen - und der nur sie küsst …

ICH SCHENK DIR MEINE TRÄUME

Eigentlich wollte Imogen auf der herrlichen Mittelmeerinsel Isola dei Fiori nur ihren Liebeskummer vergessen. Nirgendwo heilt ihre Seele schneller als in der romantischen Villa Rosa! Aber dann lernt sie den charmanten Matthew kennen. Ein Selfmade-Millionär, der trotz allem das Träumen nicht verlernt hat, der ihr die Sterne am italienischen Nachthimmel erklärt und ihr seine Reisesehnsucht gesteht: Immi verliebt sich neu! Als Matt sie küsst, müsste sie ihm dringend etwas gestehen. Doch sie schweigt - bis es zu spät ist …

DER ITALIENISCHE PRINZ UND DIE TÄNZERIN

Ihr fehlt Leidenschaft beim Tanzen? Getroffen von der Kritik des Balletmeisters flieht die zarte Posy auf die Isola dei Fiori. Hier hat sie von ihrer Tante die Villa Rosa geerbt. Auch eine Bucht gehört dazu - wo Posy bei einem abendlichen Bad auf einen unverschämt attraktiven Mann trifft. Zum ersten Mal erfährt sie, was das wirklich ist: atemberaubende, berauschende Hingabe. Sie ahnt nicht, wer ihr geheimer Liebhaber ist: Kronprinz Nico Del Castro, der so schnell wie möglich eine Zweckehe eingehen muss - und seine Braut gefunden hat!


  • Erscheinungstag 16.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737610
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Liz Fielding, Scarlet Wilson, Kate Hardy, Jessica Gilmore

Liebessommer in Italien - 4-teilige Serie

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2017 by Liz Fielding
Originaltitel: „Her Pregnancy Bombshell“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 092018 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Gudrun Bothe

Abbildungen: Harlequin Books S. A., leightrail, mikolajn, 54674a33_134, kateen2528 / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733710118

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Sei ohne Angst! Die Insel ist reich an Lärm, Ton und süßen Liedern, die ergötzen und niemand Schaden tun …

William Shakespeare

„Miranda …“

Andie Marlowe nahm ihren Mantel vom Haken, atmete tief ein und setzte ein neutrales Lächeln auf, bevor sie sich Cleve Finch zuwandte, dem CEO von Goldfinch Air Services.

Fast ein Jahr war es her, dass seine Frau ums Leben gekommen war, als der kleine Sechs-Sitzer, den sie flog, in einen Vogelschwarm geraten und abgestürzt war. Seine Trauer war unverändert tief und für Andie nur schwer auszuhalten. Cleve hatte dramatisch an Gewicht verloren. Die Wangenknochen traten scharf hervor, und die fahle Blässe unter dem dunklen Teint ließ ihn elend aussehen.

„Cleve?“

„Du hast heute Nachmittag frei?“

„Ich bin schon letztes Wochenende für Kevin eingesprungen.“

„Das sollte nicht …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte nur fragen, ob du heute ein paar Stunden für mich erübrigen könntest.“

Miranda rief ihr verräterisches Herz zur Ordnung, das bei der Vorstellung, Cleve könne sie brauchen, plötzlich wie verrückt schlug. Verdammt, er ist mein Chef und will mir wahrscheinlich nur einen Last-Minute-Job aufdrücken.

„Kein Problem. Das Bügeln kann warten.“

„Bügeln?“, echote er ungläubig. „Es ist Freitag. Solltest du dich da nicht für ein romantisches Date fertig machen?“, fragte er mit einem halben Lächeln, das sie erwiderte.

„Männer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie wollen kein Date, sondern dich gleich abschleppen.“

„Männer sind Idioten.“

„In dem Punkt werde ich dir nicht widersprechen.“ Sogar zu Internet-Dates hatte sie sich hinreißen lassen, um sich den einzigen Mann aus dem Kopf zu schlagen, mit dem sie je ins Bett gewollt hatte. Gebracht hatte es nichts.

„Mir steht heute Abend nichts Aufregenderes bevor als ein Dart-Turnier im Pub. Sollte jemand von der Gastmannschaft unter fünfzig sein, wäre ich ein echter Glückspilz.“ Sie schaute auf die Tafel mit den Flugplänen, konnte aber keine offensichtliche Lücke ausmachen. „Ist jemand krank geworden?“

„Nein … Imogen hat angerufen.“

„Meine Schwester?“ Allein ihren Namen zu hören, krampfte Andies Magen zusammen und ließ sie an eine Zeit denken, in der sie sich schreckliche Sorgen um ihren Zwilling gemacht hatte. Aber jetzt war Immi glücklich und wollte bald heiraten.

„Ist meinen Eltern etwas passiert?“, fragte sie scharf. Wenigstens hatte sie sich jetzt wieder unter Kontrolle, was ihr nur selten gelang, wenn Cleve in ihrer Nähe war.

„Nein, keine Sorge.“ Er streckte die Hand aus, ließ sie aber nach kurzem Zögern wieder sinken. „Verzeih, ich wollte dich nicht beunruhigen. Sie rief an, um mir zu sagen, dass der neue Flieger …“ Er brach ab, als hätte ihm das Wort den Hals zugeschnürt.

Jetzt war sie es, die instinktiv nach seiner Hand greifen wollte, um ihm den Trost zu spenden, den er offenkundig nötig hatte. Doch bevor sie so etwas Dummes und Unüberlegtes tun konnte, fuhr Cleve sich mit beiden Händen durch sein dichtes braunes Haar, das neuerdings von silbernen Fäden durchwirkt war.

Das Trauerjahr nach dem tödlichen Absturz seiner Frau war nicht nur für ihn qualvoll und belastend gewesen. Die Mayfly, den Sechs-Sitzer, mit dem Rachel verunglückt war, hatte Marlowe Aviation gebaut, die Konstruktionsfirma, die quasi seit Beginn der Luftfahrt Andies Familie gehörte. Nach dem Unglück schien zunächst die Existenz beider Firmen bedroht zu sein.

Doch das Versicherungsunternehmen sprach beide Parteien von jeder Schuld frei. Denn es konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die unglückliche Kollision mit einem Vogelschwarm den Absturz verursacht hatte. Die schockierende Nachricht, dass Rachel kurz zuvor festgestellt hatte, dass sie schwanger war, behielt Cleve bis zur Verhandlung für sich. Die Mutmaßung des Gerichtsmediziners, dass sie dadurch möglicherweise von Übelkeit oder einer Ohnmacht beeinträchtigt gewesen sein könnte, machte ihren Tod zu einer doppelten Tragödie.

Nachdem der Prozess endlich abgeschlossen war, bestand Andies Mutter darauf, dass ihr Mann sich eine Auszeit nahm. Sie befürchtete, er könnte sonst wegen des enormen Stresses seinem eigenen Vater ins frühe Grab folgen. Marlowe Aviation überließen die beiden den fähigen Händen von Immi und ihrem Verlobten, um sich nach Indien zu verabschieden. Ihre Eltern wollten das Land wie alte Hippies mit dem Bus durchqueren.

Cleve hingegen hatte sich seit der Beerdigung keinen Tag Auszeit gegönnt, um der Verantwortung für seine Mitarbeiter und der Firma, die er aus dem Nichts aufgebaut hatte, gerecht werden zu können.

Sobald das Untersuchungsverfahren abgeschlossen war, verhielt er sich unglaublich fair und selbstlos, da er als Ersatz für die abgestürzte Maschine wieder exakt dasselbe Modell von Marlowe Aviation bestellte. Und jetzt hatte ihre Schwester angerufen, um ihm mitzuteilen, dass es fertig war.

„Ich kann es holen“, versicherte Andie schnell. „Ich nehme den Zug, bleibe über Nacht und fliege morgen zurück.“

„Nein.“ Cleve schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, es gibt noch etliche Formalien zu erledigen, technische Abnahmeprotokolle zu unterzeichnen und die Anmeldung …“

„Alles kein Problem“, unterbrach Andie ihn. Immerhin hatte sie ihren Abschluss in Flugzeugtechnik mit Auszeichnung absolviert und würde längst im Designbüro des elterlichen Betriebes arbeiten, hätte ihr damals nicht ein gut aussehender Pilot einen Job versprochen. Und zwar, sobald sie ihre Commercial Pilot Licence, also ihre Berufspilotenlizenz, in Händen hielt. Dieses Versprechen hatte er mit einem Kuss besiegelt. Sie spürte ihn immer noch auf ihren Lippen, als sie nach ihrem Studium, mit dem Diplom in der Tasche, in Cleves Büro auftauchte.

Doch an seinem Finger steckte inzwischen ein Ehering, und anstatt eines Kusses bekam sie nur eine kurze Glückwunsch-Umarmung. Aber sein Versprechen hielt er.

Seine attraktive Frau, hellsichtig genug, um die Situation richtig einzuschätzen, und offenbar versiert darin, ihren Gatten vor allzu schwärmerischen Geschlechtsgenossinnen abzuschirmen, hatte nur nachsichtig gelächelt und Andie im Team willkommen geheißen. Keine Gefahr für ihre Ehe, lautete Rachels Urteil offenbar. Jedenfalls nicht, solange sie selbst in Cleves Bett lag, wenn er nach Hause kam.

„Ich brauche dich nur, um mich dorthin zu fliegen, Miranda“, unterbrach Cleve ihre Tagträume. „Sollte es dir nicht passen, sag es frei heraus, dann nehme ich den Zug.“

„Ich dachte nur …“ Offensichtlich wollte er den Transfer unbedingt selbst vornehmen. Ihr widerstrebte es zutiefst, ihn dabei allein zu lassen. „Wann willst du los?“

„Am liebsten jetzt gleich. Oscar Tango ist heute Nachmittag frei … falls das Dart-Team dich so lange entbehren kann“, setzte er in dem schwachen Versuch zu scherzen hinzu.

„Wahrscheinlich werden sie sogar erleichtert sein“, ging sie auf seinen Ton ein. „Und morgen wollte ich ohnehin nach Hause fliegen. Immi nervt mich schon die ganze Zeit über wegen …“ Wegen der Anprobe des Brautjungfernkleides, hatte sie sagen wollen, es aber einfach nicht über die Lippen gebracht. „Wenn es dir nichts ausmacht, nehmen wir meinen kleinen Zweisitzer.“

„Was dir lieber ist.“ Er hielt die Tür für sie auf, als sie ihr Handy aus der Tasche nahm und eine Textnachricht tippte, um ihre Schwester zu informieren, dass sie morgen pünktlich für die Anprobe zur Verfügung stehen würde.

„Ist es rosa oder pink?“, fragte Cleve, als sie zum Kontrolltower gingen, um den Flugplan reinzureichen.

„Rosa?“

„Das Kleid.“

„Du hast meine SMS gelesen?“

„Das musste ich nicht. Ich habe eine Einladung zur Hochzeit bekommen und gehe davon aus, dass sich die Braut ihre Schwester als Brautjungfer wünscht. Allein die Vorstellung, dich in einem Kleid zu sehen, führt mich schon in Versuchung, die Einladung anzunehmen.“

Da war es endlich wieder, dieses neckende Lächeln, das ihr Teenagerherz damals verzaubert hatte. Heute war es so selten wie die Chance, sie in einem Kleid zu überraschen!

„Wenn es rosa und mit Rüschen besetzt ist, muss ich es auf jeden Fall sehen.“

„Bitte … sag das nicht einmal im Scherz!“

„Ich hoffe, Imogens Verlobter hat seine Pflicht getan und einen tollen Brautführer als deinen Begleiter engagiert, um den Tag auch für dich unvergesslich zu machen.“

„Der steht nicht mir, sondern Portia zu. Sie ist die älteste von uns vier Schwestern.“ Und ganz nebenbei auch die glamouröseste! dachte Andie. Diejenige, nach der sich nicht nur die Junggesellen, sondern auch Männer umdrehten, die längst in festen Händen waren. „Sie genießt das Vorrecht der ersten Wahl. Posy und ich werden uns hintenanstellen müssen.“

„Du scheinst kein großer Fan von deinem zukünftigen Schwager zu sein.“

„Das habe ich nie gesagt.“ Oder habe ich das?

„Du hast eine Grimasse geschnitten.“

Andie zuckte mit den Schultern. „Die Tochter des Chefs zu heiraten, ist so ein Klischee, oder? Aber solange Immi mit ihm glücklich ist … das allein zählt.“ Sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie bisher noch nicht wirklich warm mit dem Zukünftigen ihrer Schwester geworden war. „Dad scheint ihn jedenfalls zu mögen.“

„Na, dann kann man ihm gratulieren. Dein Vater hat ziemlich hohe Ansprüche.“

„Er … ja …“ Mit Cleve über eine Hochzeit zu sprechen, fühlte sich seltsam an, weshalb Andie froh war, als sie endlich das Kontrollbüro erreichten. „Kannst du schon mal meinen Flieger auftanken, während ich mich um den Papierkram kümmere?“, fragte sie.

Cleve stutzte und hob die Brauen. „Was ist los? Normalerweise darf doch niemand ‚dein Baby‘ anfassen?“, wunderte er sich. „Du machst schließlich sogar den Service selbst.“

„Ist billiger“, konterte sie flapsig. Immer noch besser, wenn er sie für geizig hielt, als ihm zu gestehen, dass er der Einzige war, dem sie erlaubte, ihren kleinen Zweisitzer anzufassen. Ihr Vater hatte ihn ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt.

An dem Tag, als sie ihre PPL ausgehändigt bekam … und Cleve sie geküsst hatte.

„Pass auf, dass kein Tropfen Benzin auf den Rumpf kommt“, brummte sie, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und zog die Schlüssel zum Sicherheitsschloss aus ihrer Tasche. Sie hätte Cleve das Bund zugeworfen, doch er streckte die Hand aus, umfasste ihr Handgelenk und hielt es fest. Ihre Blicke trafen sich, und Andies Atem stockte.

„Ich fühle mich geehrt.“

„Was? Dass ich dich reingelegt habe?“ Er sollte bloß nicht denken, dass er sie so leicht weichkochen konnte. „Ich erwarte natürlich, dass du deine Scheckkarte benutzt.“

Damit wollte sie sich abwenden, doch Cleve hielt ihre Hand noch einen Moment länger fest, bevor er nickte, ihr die Schlüssel abnahm und ging.

Andie schaute ihm nach und starrte dann auf ihre Finger, die eigentlich immer warm, aber jetzt durch das kurze Intermezzo zwischen ihnen eiskalt waren.

„Willst du den Steuerknüppel?“, fragte sie mehr aus Höflichkeit als in der Erwartung, dass Cleve Ja sagen würde. Er war kein ängstlicher Typ und hatte auch keine Vorurteile gegenüber Pilotinnen, immerhin hatte er sogar eine geheiratet. Aber Tatsache war auch, dass er seit ihrem Absturz nur wenig geflogen war.

Er fände einfach keine Gelegenheit dazu, behauptete Cleve, weil seine gesamte Zeit davon in Anspruch genommen wurde, sein neues Büro in Zypern aufzubauen. Und wenn er schon gezwungen war, seinen Schreibtisch zu verlassen, nahm er gerüchteweise lieber den Sitz des Co-Piloten ein und überließ den Steuerknüppel seinem Ersten Offizier.

Es wurde gemunkelt, dass er selbst nicht mehr die Nerven fürs Fliegen aufbrachte.

Auch jetzt schüttelte er nur den Kopf, kletterte an Bord, lehnte sich zurück und schloss die Augen, während sie den kleinen Flieger in Richtung Startbahn lenkte.

Seine humorvolle Einlage, ihr Brautjungfernkleid betreffend, hatte ihn offenbar so erschöpft, dass ihr jeder Smalltalk unangebracht erschien. Und noch viel mehr, Freude oder Aufregung wegen des neuen Flugzeugs zu zeigen, das sie überführen wollten.

Vierzig schweigsame Minuten später ging ihr Zweisitzer in den Sinkflug, und Andie steuerte ihren privaten Parkplatz auf dem Marlowe Aviation Airport an.

Sie wartete weder auf ein Dankeschön oder sonst eine Bemerkung von ihm, sondern stellte einfach den Motor aus und kletterte aus dem Cockpit, ehe Cleve sie aufhalten konnte. Andie steuerte auf den Chefingenieur zu, der sie bereits erwartete. Ohne Zweifel hatte der Tower ihn von ihrer Ankunft unterrichtet.

„Hallo, Jack.“

„Andie …“ Er nahm ihre Hand, küsste sie auf die Wange und schaute auf, als Cleve sich zu ihnen gesellte. „Cleve … schön dich zu sehen“, sagte er, allerdings nicht schnell genug, um den Schock wegen der Leichenblässe des anderen verbergen zu können.

„Jack.“ Das knappe Nicken forderte nicht gerade zum Plaudern auf.

„Tja, okay … es ist alles vorbereitet.“ Jack räusperte sich. „Andie, du wirst sicher die Updates sehen wollen, die wir in das neueste Modell der Mayfly integriert haben.“ Es war ein kaum verhohlenes Hilfegesuch, ihn nicht mit Cleve allein zu lassen. Aber angesichts der Anspannung, die ihr in Riesenwellen entgegenkam, wäre sie ohnehin nicht auf die Idee gekommen.

„Ich kann es kaum abwarten“, versicherte sie lächelnd, berührte sacht Cleves Ellenbogen, als sanfte Aufforderung, weiterzugehen, und fuhr selbst fast aus der Haut, weil er unerwartet heftig zusammenzuckte. Noch heftiger war ihre eigene Reaktion auf seine unmittelbare Nähe. Denn selbst nachdem Cleve sich längst von ihr zurückgezogen hatte, rannen immer noch heiße Schauer über ihren Rücken. Nur mit Mühe hielt sie ihr Lächeln auf den Lippen.

„Der neue Heckflügel lehnt sich weitgehend an Andies Entwurf an“, erklärte der Chefingenieur Cleve, während sie zum Hangar hinübergingen. „Je eher sie das Fliegen satthat und an ihren Zeichentisch im Designbüro zurückkehrt, umso besser.“

„Miranda ist zum Fliegen geboren“, erwiderte Cleve, bevor sie antworten konnte.

„Kein Zweifel, aber die Zeit arbeitet für mich.“ Jack grinste zuversichtlich. „Irgendein Glückspilz wird ihr Herz erobern, und sie wird nicht ständig unterwegs sein wollen, wenn sie erst mal eine Familie gegründet hat.“

Mit brennenden Wangen stürmte Andie geradezu vorwärts, um dem tödlichen Schweigen zu entkommen, das auf Jacks Zukunftsvisionen folgte. Und da stand sie: schlank, elegant in strahlendem Weiß und mit dem stilisierten Stieglitz in Rot/Gold/Schwarz auf der neu gestylten Heckflosse, dem Erkennungszeichen der stetig wachsenden Goldfinch-Air-Services-Flotte.

„Sie ist eine echte Schönheit, Jack.“ Lächelnd wandte sie sich Cleve zu, um seine Reaktion zu sehen. Er wirkte so ausdruckslos, dass sie nicht zum ersten Mal dachte, dass sein öffentlichkeitswirksamer Auftrag an Marlowe Aviation, ihm einen neuen Flieger zu konstruieren, ein großer Fehler gewesen war.

„Warum kümmern wir uns nicht zuerst um den Papierkram?“, schlug sie vor. „Falls Immi bei Laune ist und etwas Zeit hat, könnte sie …“

„Lass uns das so schnell wie möglich hinter uns bringen“, platzte Cleve dazwischen, ehe sie eine verspätete Teepause vorschlagen konnte.

Und während Jacks Erläuterungen war es dann auch sie, die die passenden Geräusche und Bemerkungen machte und die richtigen Fragen stellte.

Die Erleichterung des Chefingenieurs, als er über Lautsprecher ausgerufen und wegbeordert wurde, war nicht zu übersehen. „Tut mir leid, aber das ist wichtig“, entschuldigte er sich und übergab Andie die Papiere. „Aber wir haben ja auch alles Notwendige besprochen. Warum fahrt ihr sie nicht aus dem Hangar, versucht euch an der neuen Schaltung und entwickelt ein Gefühl für das ‚neue Baby‘?“

„Danke, Jack“, sagte Andie, da Cleve nicht reagierte. „Wir sehen uns später.“

„Ich werde im Büro sein …“

Sie nickte und lächelte ihm beruhigend zu, als er zögerte. Dann kehrte sie zu Cleve zurück, der das Flugzeug anstarrte, als sähe er einen Geist. Sein Gesicht war aschgrau und wirkte wie aus Stein gemeißelt. Sie streckte eine Hand aus, zog sie aber wieder zurück, aus Angst, Cleve würde zusammenbrechen, wenn sie ihn noch einmal berührte.

Es war, als spüre er ihre Unsicherheit. „Geh, such deine Schwester und probier dein Kleid an“, forderte er sie auf. „Ich komme allein zurecht.“

„Das glaube ich nicht“, widersprach sie und wappnete sich innerlich, als er zu ihr herumfuhr wie von der Tarantel gestochen. „Du bist momentan nicht in der Verfassung, dich hinter den Steuerknüppel zu setzen.“

Wie lange sie dastanden und sich anstarrten, wusste Andie nicht. Und ganz plötzlich war es, als lüfte sich ein Schleier, um all den Schmerz und die maßlose Trauer zu enthüllen, die Cleve in den letzten Monaten durchlitten hatte. Aber bevor sie reagieren und auch nur die Hand nach ihm ausstrecken konnte, hatte er sich bereits abgewandt und stolperte aus dem Hangar.

Der Flugplatz wurde auf einer Seite von einem bewaldeten Steilhang begrenzt. In den Schrecksekunden, die sie brauchte, um sich zu sammeln, hatte Cleve fast die Kante erreicht.

„Stopp!“ Sie griff nach seinem Arm, und er schwang zu ihr herum. Einen Augenblick dachte sie, er würde sie wegstoßen, stattdessen zog er sie an sich.

„Hilf mir, Andie …“ Seine Stimme war nicht mehr als ein raues Krächzen.

So hatte er sie zuletzt als Teenager genannt … sie geneckt, ermutigt und in den dunklen Ecken des Flugzeughangars ihres Vaters heimlich geküsst. Und ihr dummes Herz hatte davon geträumt, er würde eines Tages mit ihr zu den Sternen fliegen.

Cleve bebte am ganzen Leib und drohte zu straucheln. Andie schlang ihre Arme um seinen Brustkorb und hielt ihn an sich gepresst, bis das Zittern nachließ und er zur Ruhe kam.

„Es tut mir leid …“

Sie hob eine Hand, legte sie auf seine Wange und fühlte, dass sie tränennass war.

„Ich kann nicht …“

„Schhhh.“ Sie verschloss seinen Mund mit ihren Lippen, um die heiseren Worte zu ersticken. Als er ihr nicht mit süßen, heißen Küssen antwortete, wie sie immer noch durch ihre Träume geisterten, sondern fordernder und härter, schloss sie die Augen. Cleve küsste sie mit einem Hunger und unverhüllten Begehren, die den Schutzpanzer, den sie um ihr Herz errichtet hatte, brutal zerschmetterten. Und sie antwortete ihm mit all dem sehnsüchtigen, schmerzlichen Verlangen, das sie seit Jahren durchs Fliegen zu kompensieren versucht hatte, da sie Cleve nicht haben konnte.

„Andie …“ In dem einen Wort lag eine so unverhüllte Verzweiflung, dass sie spontan seine eisigen Hände umfasste und gegen ihre warme Brust drückte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der nichts geschah, fasste Andie sich ein Herz. „Du bist ganz kalt“, sagte sie rau, hakte sich bei Cleve unter und führte ihn entlang der Landebahn bis zu dem Tor, durch das man zum Haus ihrer Eltern gelangte.

Sobald sie dort waren, schloss sie stumm die Tür auf und stieg mit Cleve die Treppe nach oben in ihr Zimmer mit ihren Büchern, ihrem alten Spielzeug und ihren romantischen Teenagerträumen.

Sie zog erst Cleve, dann sich aus, tröstete ihn mit ihren Lippen, ihren Händen, ihrem Körper und wärmte ihn mit all der Liebe, die sie in sich spürte.

2. KAPITEL

Müde, erschöpft und ein wenig zittrig von der rauen Fahrt auf der Fähre händigte Andie dem Grenzkontrollbeamten ihren Pass aus.

„Buongiorno, signora.“ Er begutachtete die Rückseite des Dokuments und musterte sie mit einem prüfenden Blick, der auch einem römischen Reisenden, der vor zweitausend Jahren im antiken Hafen von Sant’Angelo gelandet wäre, kalten Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. „Was ist der Zweck Ihres Besuchs auf der Isola dei Fiori?“

„Ich bin auf der Flucht …“, murmelte Andie. Vor ihrem Job, vor ihrem Leben, vor dem Mann, den sie liebte, seit er in einem unvergesslichen Moment spontan applaudiert hatte, als sie in einer tückischen Starkwindsituation nach einem waghalsigen Flugmanöver eine perfekte Landung hingelegt hatte. Und um ihr süßes Geheimnis zu wahren, das sie in sich trug.

„Scusi?“

Andie schluckte heftig. „Ich mache Urlaub.“

Der Beamte wirkte nicht überzeugt, was sie ihm nicht übel nahm. Doch das ihr T-Shirt schweißnass an ihrem Rücken klebte, hatte nichts mit Schuldbewusstsein zu tun.

„Sie reisen allein?“

Sie nickte. „Ja, ich bin allein.“ Was allerdings von der genauen Definition des Wörtchens „allein“ abhing.

„Und wo werden Sie unterkommen?“

„In der Villa Rosa. Sie liegt in einer Bucht gleichen Namens … Baia di Rose. Meine Schwester hat die Villa von ihrer Patentante geerbt“, erklärte sie, als die Brauen des skeptischen Beamten nach oben wanderten. „Sofia Romana.“

Dass der Mann für einen Moment die Fassung zu verlieren drohte, war wohl der Namensnennung geschuldet. Wahrscheinlich wäre die Geliebte des verstorbenen Königs Ludano nicht jedermanns erste Wahl als Patin gewesen, aber Sofia und Andies Großmutter kannten sich von klein auf und hatten zusammen die Schule besucht. Ihre Freundschaft hielt ein Leben lang, und bei der Geburt ihrer vierten Tochter waren ihren Eltern möglicherweise passendere Paten ausgegangen.

Der Beamte räusperte sich, begutachtete erneut ihren Pass und blätterte ihn durch. „Sie reisen viel?“

„Ja, ich bin Berufspilotin.“ Und als solche nahezu täglich überall in Europa und im Nahen Osten unterwegs, aber ihm das zu erläutern, fühlte sie sich nicht bemüßigt.

„Verstehe …“, behauptete er nach einem weiteren eindringlichen Blick. Aber es war nicht sein offenkundiges Misstrauen, das ihre Knie so weich werden ließ, dass Andie sich vorsichtshalber an der Kante des Tresens festklammerte. „Ist Ihnen nicht wohl, signora Marlowe? Sie sehen sehr blass aus.“

„Es geht mir tatsächlich nicht besonders …“, gestand sie schwach. Ihre Haut fühlte sich klebrig an, ihr Haar, das sie mit einem Seidenschal zusammengebunden hatte, hing feucht an den bleichen Wangen und im Nacken. Sie wusste genau, was er mutmaßte. An seiner Stelle hätte sie vielleicht ähnlich gedacht.

„Ich muss Sie fragen, ob Sie etwas bei sich tragen …“

„Ein Baby“, platzte sie heraus und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Es war das erste Mal, dass sie es laut sagte.

Ihrer Schwester hatte sie erzählt, dass sie müde und erschöpft sei und eine Pause brauche. Und Posy, die selbst keine Zeit hatte zu verreisen, war so froh darüber, dass jemand in der Villa nach dem Rechten schaute, dass sie gar nicht auf die Idee kam, Andie zu fragen, warum sie dann nicht in ein Hotel ging, wo sie sich zurücklehnen und bedienen lassen konnte.

Jetzt war der Erste, dem sie von dem Baby erzählte, ein Grenzbeamter, der sie offenbar in Verdacht hatte, illegale Substanzen zu schmuggeln. „Ich bin schwanger“, fügte Andie hinzu und legte in einer instinktiven Geste schützend eine Hand über ihren noch flachen Bauch. „Und möglicherweise muss ich mich gleich übergeben.“

Die Fährfahrt nach Italien war ziemlich turbulent verlaufen, und das Sandwich, zu dem sie sich am Morgen gezwungen hatte, bereits zehn Minuten nach Verlassen des Hafens über Bord gegangen. Ganz leer schien ihr Magen jedoch immer noch nicht zu sein.

Es war einige Jahre her seit ihrem letzten Besuch, doch im Hafengebäude hatte sich nichts verändert, sodass sie es noch rechtzeitig zur Toilette schaffte. Sobald das Würgegefühl nachließ, spritzte Andie sich kaltes Wasser ins Gesicht und ließ es über ihre Handgelenke laufen. Dann richtete sie ihr Haar so gut wie möglich und verließ den Toilettenraum.

Gleich vor der Tür wurde sie von dem Beamten in Empfang genommen, der ihr mit strahlendem Lächeln ihren Pass reichte.

„Complimenti, signora!“, gratulierte er ihr nahezu enthusiastisch zu ihrer Schwangerschaft. Dazu zeigte er größtes Verständnis für ihre körperlichen Beeinträchtigungen. „Meine Frau hat auch in den ersten Wochen unter extremer Übelkeit gelitten, aber das geht vorbei und ist schnell vergessen“, beruhigte er sie. „Entspannen Sie sich, legen Sie die Füße hoch und tanken Sie ein wenig Sonne, dann werden Sie sich rasch besser fühlen. Erwartet Sie jemand?“

„Nein, ich nehme mir ein Taxi.“

Er nickte, begleitete sie zum Taxistand und sprach kurz mit dem Fahrer, der ihr sofort die Reisetasche abnahm und verstaute. „Ich habe ihn angewiesen, langsam und ruhig zu fahren, Signora.“

Dem lauten Ankunftsterminal entflohen, stand Andie im strahlenden Nachmittagssonnenschein und brachte sogar ein Lächeln zustande. „Könnten Sie ihn bitten, kurz bei einem Laden, einem supermercato anzuhalten, damit ich noch ein paar Lebensmittel einkaufen kann?“

„Er wird Sie hinfahren, auf Sie warten und selbstverständlich auch Ihre Tüten tragen, signora“, versicherte der Beamte galant, nach einem italienischen Stakkato zwischen ihm und dem Taxifahrer.

„Grazie.“

Prego, signora e buona fortuna. Genießen Sie Ihren Urlaub.“

Erleichtert nahm Andie im klimatisierten Taxi Platz, lehnte sich zurück und schloss erschöpft die Augen, während der Fahrer seinen Wagen behutsam aus der Parkbucht lenkte und dann zügig losfuhr. Sie hob erst die Lider, als er nur Minuten später direkt vor einem kleinen Lebensmittelladen anhielt.

Da neben dem Magen auch ihre Nase durch die Schwangerschaft empfindlich reagierte, beeilte Andie sich beim Einkaufen und überließ es dem freundlichen Taxifahrer, ihre mit dem Nötigsten bestückte Falttasche zum Wagen zu tragen.

„Baia di Rose?“, vergewisserte sich ihr Chauffeur noch einmal.

Sì, ma lentamente …“, bat sie um eine langsame Fahrweise mit demselben Wort, das schon der Passkontrolleur gebraucht und Sofia ihnen immer nachgerufen hatte, wenn sie wie die Wilden hinunter zum Strand gerannt waren.

„Sì, signora“, versprach der Mann und fädelte sich geschickt in den fließenden Verkehr ein. Halten konnte er sein Versprechen allerdings nicht, was eindeutig am Gen-Cocktail aus griechischem, karthagischem und romanischem Blut lag, das immer kurz vor dem Siedepunkt zu stehen schien und ihn dazu verleitete, sich immer und überall auf der Überholspur zu wähnen.

Sein Taxi war sein Streitwagen und das Hupen der anderen Fahrer, die ihn überholten, ein Frontalangriff auf seine Männlichkeit. Andie hing in ihrem Sicherheitsgurt wie in einer Rettungsleine, während der Taxifahrer das Gaspedal durchdrückte und die Haarnadelkurven im Power-Slide nahm. Der einzige Lichtblick waren die kurzen Aussichten aufs azurblaue Meer, seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und quer über die Insel jagten, in Richtung Villa Rosa, die oberhalb der Bucht auf einem Felsplateau thronte.

Andie hatte London an einem kalten, grauen Tag verlassen, der das Prädikat „frühlingshaft“ absolut nicht verdiente, und war hier mitten im prallen Frühling gelandet. Wie oft hatten sie und ihre Schwestern das in der Vergangenheit genossen, wenn ihre Großmutter die vier Mädchen in den Osterferien von England nach Italien expedierte, um ihrer geplagten Mutter eine wohlverdiente Pause zu gönnen?

Wie aufgeregt sie immer gewesen waren, wenn Alberto sie in seinem schicken italienischen Schlitten abgeholt hatte. Zusammen mit seiner Frau Elena kümmerte er sich um die Villa Rosa, betreute den riesigen Garten, fungierte als Chauffeur für Sofia und behandelte Andie und ihre Schwestern wie kleine Prinzessinnen. Alles hier wirkte einladend: die exotischen Blumen und Bäume, Häuser, die in weichen Pastellfarben gestrichen waren oder in verblasstem Terrakotta schimmerten, dazu das türkisfarbene Meer im Hintergrund.

Die Villa lag auf einem Felsen oberhalb des Dorfes. Von der Küste aus erstreckte sich ein schroff zerklüftetes, bewaldetes Gebiet bis zum Gipfel der Berge im Herzen der Insel, das König Ludano zum Nationalpark erklärt hatte.

Portia, älter und forscher als sie, hatte alle geschockt, als sie behauptete, er habe damit nur die Besuche seiner heimlichen Geliebten kaschieren wollen. Unabhängig vom Motiv hatte er damit aber auch diesen Teil der Insel vor kommerzieller Ausbeutung bewahrt. Anders als es an der Ostküste mit den modernen Hotelburgen der Fall war.

Die letzte Etappe bis zum Haus war eine kurvige Schotterpiste, die Andie einiges an Selbstbeherrschung abverlangte. Als Kinder hatten sie immer miteinander konkurriert, wer zuerst einen Blick auf die Villa Rosa erhaschen konnte, die tatsächlich in blassem Rosé getüncht war. Mit dem abgestuften Dach und den französischen Türen, die sich zum Garten hin in Richtung der geschützten Bucht unterhalb öffneten, hatte das Haus einen ganz eigenen Charme, so völlig anders als ihr Zuhause in England.

Das Innere der Villa war genauso aufregend wie ihre Lage und die Umgebung. Es gab Unmengen von Zimmern zu erkunden, und sie durften in dem riesigen, eleganten Salon mit der gewölbten Decke, bemalt in den blassblauen und rosa Tönen eines italienischen Abendhimmels, Jugend-Partys feiern.

Dazu gab es staubige Dachböden, angefüllt mit unglaublichen Schätzen, die es zu erforschen galt, wenn man bereit war, Spinnen zu töten. Und Andies Lieblingsplatz: eine kühle überdachte Veranda, auf die man sich mit einem spannenden Buch vor der Nachmittagshitze flüchten konnte. Von dort aus schaute man über die grüne macchia, die sich bis zum Meer hinunterzog.

Als sie Kinder waren, standen die Tore immer weit offen, um sie willkommen zu heißen. Und sobald der Wagen hielt, sprangen sie auch schon raus, schüttelten Schuhe und Socken von den Füßen, rannten den gewundenen Weg zum Strand hinunter und schrien laut vor Aufregung, wenn das kühle Wasser endlich ihre Füße umspülte.

Heute waren die Tore geschlossen. Es war noch zu früh im Jahr, um im Meer zu schwimmen, und zu spät am Tag, um zum Strand zu gehen.

Andie wollte sich nur noch irgendwo zusammenrollen, um sich vom Flug und der ungemütlichen Fährfahrt zu erholen.

Der Taxifahrer fragte sie etwas in einem Dialekt, den sie nicht ganz verstand. Sein besorgter Rundumblick verriet ihr, dass er wohl sichergehen wollte, dass sie hier tatsächlich am richtigen Platz waren. Sie nickte, lächelte beruhigend, zahlte die Fahrt und sah ihm nach, bis er hinter der ersten Serpentine verschwunden war.

Dann wandte sie sich dem Haus zu und suchte in ihrer Tasche nach dem schweren Schlüsselbund, das Posy ihr gegeben hatte. Andie schloss eine kleine Seitenpforte auf und betrat den ruhigen, friedlichen Innenhof.

Auf der einen Seite reihten sich niedrige Gebäude aneinander, die einst Stallungen gewesen waren. Aber seit sie herkam, wurden sie als Garagen und Lagerräume genutzt. Auf der Rückseite des Hauses lagen Spülküche und Küche. Deren Außentür hatten sie als Kinder bevorzugt benutzt.

Acht Jahre lag ihr letzter Besuch inzwischen zurück. Damals waren sie und Immi sechzehn und Posy fünfzehn gewesen. Portia hatte nicht mehr mitkommen wollen, weil sie bereits studierte und sich viel zu erwachsen für einen Familienurlaub am Meer hielt. Sogar in einer glamourösen Villa, die der Geliebten des Insel-Monarchen gehörte.

Wie es aussah, waren die Jahre nicht freundlich zur Villa gewesen.

Nachdem König Ludano verstorben war, blieben Sofia nur ihre Erinnerungen an ihn, um sich in ihrem Liebesnest zu wärmen. Allein, ohne ihren Liebhaber rufen zu können, wenn etwas zu reparieren war. Es war ein sehr altes Haus, dazu gab es die Stürme im Winter und gelegentliche Erdbeben.

Der rosafarbene Anstrich war verblasst und die Wände verfärbt, wo Regenwasser aus defekten oder verstopften Rinnen überlief. Vom flachen Dach des Spülküchenanbaus fehlten einige Schindeln, in der Wand klaffte ein Riss, durch den ein Unkraut Einlass ins Haus gefunden hatte. Ohne die extravagante Lage und die wundervolle Umgebung würde sich eine Renovierung möglicherweise gar nicht lohnen.

Die Villa Rosa war das einzige Anwesen an diesem spektakulären Küstenstreifen. Dazu gehörte ein Privatstrand, der durch eine felsige Landzunge vor der Sicht vorbeifahrender Boote geschützt war. Dank des vulkanischen Ursprungs der Insel gab es sogar einen Felsenpool, gespeist von einer heißen Quelle, in dem man mitten im Winter baden konnte.

Sobald Posy sich entschloss, ihr Erbe auf den Markt zu werfen, würde sie von Kaufangeboten überschwemmt werden.

Das Meer funkelte einladend in der späten Nachmittagssonne, aber Anfang März war das Wasser noch kalt. Alles, wonach Andie sich jetzt sehnte, war heißer Pfefferminztee und ein Platz zum Schlafen. Morgen würde sie an den Strand gehen, den Sand unter den Füßen spüren und das kalte Wasser des Mittelmeeres über ihre Zehen laufen lassen. Dann würde sie sich wie eine alte Dame in den Felsenpool setzen und vom warmen Wasser alle verwirrenden Gefühle fortschwemmen lassen: die verzweifelte Hoffnung, dass Cleve hinter ihr stehen würde, wenn sie sich umdrehte, und alles wieder so wäre wie vorher …

Aber das war nur ein Traum, und sie würde Cleve nicht mit ihren Sorgen und Ängsten belasten. Sie hatte gewusst, was sie tat, als sie sich dazu entschloss, ihm auf die einzige Weise, die ihr einfiel, über seine Krise hinwegzuhelfen. Sie hatte ihn als gebrochenen Mann erlebt, als er um das weinte und trauerte, was er verloren hatte, und war in seinem schwärzesten Moment bei ihm geblieben. Und sie war gegangen, bevor er aufgewacht war, damit er ihr nicht mehr begegnen musste.

Der Gedanke, morgens nach Worten suchen oder über so etwas Profanes wie Frühstück reden zu müssen, erschien ihr unerträglich. Schon vorher hatte sie gewusst, wie diese Nacht enden würde. Einer von ihnen musste gehen, und das konnte nicht Cleve sein.

Andie seufzte. Vor vier Wochen hatte sie noch als erfahrene Pilotin für Goldfinch Air Services gearbeitet, eine schnell wachsende Charter- und Frachtfirma. Da sie über diverse Kontakte verfügte, hätten ein, vielleicht zwei Anrufe genügt, um einen anderen Job zu bekommen. Doch eine Nacht vor drei Wochen und sechs Tagen, die sie mit ihrem Chef verbrachte, hatte alles geändert. Auf keinen Fall wollte sie das typische Klischee erfüllen: schwanger, allein, gestrandet.

Dem Grenzbeamten hatte sie gesagt, sie sei auf der Flucht, und das stimmte. Aber nicht auf der Flucht vor ihrer Zukunft. Das Baby, das sie erwartete, war ein Geschenk. Sie lief davon, um Cleve nicht gestehen zu müssen, dass sie schwanger war.

Irgendwann musste er es erfahren. Er würde es sicher auch wissen wollen, wenn man ihn fragte, doch sie befürchtete, die Nachricht könnte ihn endgültig vernichten.

Bevor sie mit ihm sprach, wollte sie einen Plan ausarbeiten und alles Notwendige in die Wege leiten, damit er auch wirklich verstand, dass sie nichts von ihm erwartete. Dass er weder etwas unternehmen noch sich um sie kümmern musste.

Andie fand den Schlüssel zur Hintertür am Bund und schob ihn ins Schloss. Er ließ sich ein Stück hineinschieben, dann steckte er fest. Vielleicht war das Holz von der Winternässe aufgequollen. Sie stemmte sich mit der Schulter dagegen, drückte mit aller Kraft und wurde von einem Trümmerregen überrascht.

„Igitt …!“ Sie sprang zurück und schüttelte wild ihr Haar, aus Angst, Spinnen könnten sich dort verfangen haben.

Cleve warf seine Mütze auf den Haken und überflog die weiße Tafel mit dem Flugplan.

„Wo ist Miranda? Ich sehe sie nirgendwo auf der Tafel stehen.“

„Sie hat sich ein paar Wochen Auszeit genommen.“

Auszeit? „Seit wann?“, wollte er von seiner Büroangestellten wissen.

„Seit gestern Nachmittag. Morgens ist sie noch nach Kent geflogen, um die Jungs vom Golfturnier abzuholen. Aber nach dem Mittagessen fühlte sie sich nicht gut“, informierte Lucy ihn, ohne von ihrem Monitor aufzuschauen. „Ehrlich gesagt hat sie mir schon seit Tagen nicht gefallen.“

„Ist sie krank?“ Sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken zusammen.

„Sie scheint sich etwas eingefangen zu haben. Ich habe ihr geraten, sich erst mal ordentlich auszukurieren.“ Lucy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute auf. „Sie hat sich seit dem letzten Sommer nicht mehr als einen Tag freigenommen und deshalb entschieden, eine echte Pause zu machen.“

„Im Gegensatz zu einer falschen?“, knurrte ihr Boss gereizt.

„Wollen hoffen, dass es ihr wirklich gelingt“, konterte Lucy gelassen.

Nur mit Mühe verbiss er sich eine weitere zynische Bemerkung. „Warum erfahre ich erst jetzt davon?“

„Du warst drei Tage in Irland.“

„Schon mal von E-Mail, SMS oder Telefon gehört?“

„Ich sollte dich nicht mit unwichtigen Details belästigen“, erklärte sie ihm. „Und wenn ich dich tatsächlich anrufen muss, bevor ich jemandem freigebe, der nie einen Tag krank war und seit fast einem Jahr keinen Urlaub gemacht hat, dann such dir eine neue Büromanagerin.“

Was? Niemals …“ Lucy mochte ein harter Knochen sein, aber ohne sie konnte er das Büro unmöglich führen. „Es ist nur so …“

Es war nur so, dass er endlich den Mut gefunden hatte, Miranda wieder gegenüberzutreten und mit ihr zu reden. „Sie, wie jeder andere natürlich auch, muss sich eigentlich einen Monat vorher abmelden, bevor …“

„Sie hätte sich auch einfach krankschreiben lassen können.“

„Ich weiß. Ich wollte gar nicht …“ Er wandte sich ab und starrte auf die Fotogalerie der Goldfinch-Piloten an der Bürowand. Miranda lächelte ihm von ihrem Platz in der obersten Reihe aus zu. Dieses Lächeln und ihre ruhige Gelassenheit waren es, die den Fluggästen Vertrauen einflößten und in ihm ein heißes Schuldbewusstsein wachriefen, das seine Brust zu sprengen drohte.

Jede einzelne der ungeschriebenen Regeln hatte er gebrochen: Er hatte die Kontrolle verloren, ihr Mitgefühl und ihre Freundlichkeit ausgenutzt und sich auf eine Art und Weise benommen, die er bei jedem anderen aufs Schärfste verurteilen würde.

Als er total am Boden war, hatte sich Mirandas hingebungsvolle Nähe wie heilender Balsam auf seinen Körper und seine wunde Seele ausgewirkt – ein Geschenk, das er niemals zurückzahlen konnte. Ihr betörender Duft, die zarte Haut, seidige Locken, die über sein Gesicht fielen, und dann die lebensspendende Süße ihrer weichen Lippen …

Jedes Mal, wenn Cleve an sie dachte, überschwemmten ihn die Erinnerungen an diese eine unvergessliche Nacht. Wach zu werden und ihren grazilen Körper in Löffelstellung an seinen geschmiegt zu spüren, den schmalen Nacken nur Zentimeter von seinem Mund entfernt … die ständige Versuchung, sie mit einem Kuss zu wecken, um noch mehr von ihrer Wärme und Leidenschaft zu genießen.

Aber er hatte sich nicht bewegt, weil er ahnte, was er in den wundervollen grün und gold gesprenkelten Augen sehen würde: Verständnis, Mitleid und ein Lächeln, das ihm die Freiheit ließ, sich einem Morgen zu entziehen, an dem keiner von ihnen beiden wusste, wie damit umzugehen war.

Noch lange hatte er wachgelegen und nicht gewagt, sich zu rühren. Denn in dem Moment, wo Miranda erwachte, wäre alles vorüber.

Irgendwann fiel er in den Schlaf der Erschöpfung, nach dem er sich ein ganzes Jahr lang vergeblich gesehnt hatte. Und als er das nächste Mal wach wurde, Stunden später, fand er den Zettel, der an der kalten Teetasse neben dem Bett lehnte.

Ich fliege die neue Maschine zurück zur Basis. Nimm du meinen Zweisitzer oder den Zug, der stündlich sieben Minuten nach der vollen Uhrzeit fährt.

Wir sehen uns am Montag.

M.

Freundlich, geschäftsmäßig … eine Message, die besagte: Vergiss, was gewesen ist, und zurück zum normalen Alltag.

Er flog ihren kleinen Zweisitzer zurück, voller Verlangen, Miranda wiederzusehen, und entschlossen, endlich diese verdammte posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden, die ihn seit Rachels Absturz in den Klauen hielt und lähmte.

Während der Nacht, als er Vergessen in Mirandas Armen gesucht hatte, hatte er keinen Gedanken an Verhütung verschwendet, und jetzt konnte er es kaum abwarten, mit ihr zu reden. Doch als er nach der Landung zu ihrem Apartment fuhr und läutete, öffnete niemand. Auch ihr Wagen war nicht da.

Sie musste damit gerechnet haben, dass er früher oder später vor ihrer Tür auftauchen und nicht wissen würde, was er sagen sollte. Deshalb hatte sie wohl beschlossen, erst einmal auf Abstand zu gehen, damit sie sich am Montag im Büro begegnen konnten, als wäre nichts geschehen.

Es war zweifellos das Vernünftigste. Vielleicht hätte auch ein einziger Blick stummen Einverständnisses zwischen ihnen genügt, um den peinlichen Moment zu überstehen, doch am Sonntagabend kam der Anruf aus Zypern. Sein lokaler Partner war bei einem Autounfall schwer verletzt worden und er musste hinfliegen, damit er sich um alles kümmern konnte.

Immer wieder hatte er sich vorgenommen, sie anzurufen, das Handy ein Dutzend Mal zur Hand genommen und wieder weggesteckt. Ohne ihr in die Augen zu sehen oder ihre Körpersprache wahrzunehmen, um wenigstens eine Ahnung davon zu haben, was hinter ihrer Stirn vorging, wusste er nichts zu sagen.

Männer sind offenbar eben doch vom Mars …

Sein Vater hatte stets auf Blumen geschworen, um Wortfindungsstörungen gegenüber seiner Gattin auszugleichen. Cleve war sogar so weit gegangen, einen Online-Blumenversand aufzurufen, scheiterte allerdings schon bei der ersten Frage nach dem Anlass: Geburtstag, Jubiläum und so weiter. Nichts, was in seine Situation passte.

Und welche Blumen?

Sein Vater hatte es einfach gehabt. Ein Strauß gewöhnlicher Chrysanthemen von der nächsten Tankstelle hatte immer gereicht, um ein Augenrollen, Kopfschütteln oder Lächeln von seiner Mutter zu provozieren. Aus eigener Eheerfahrung hegte Cleve allerdings eher den Verdacht, dass es unter langstieligen roten Rosen nicht gehen würde, wenn man zu Kreuze kriechen musste. Allerdings würde keine Macht der Erde ihn dazu bringen, sie Miranda via Internet zu schicken.

Sie verdiente mehr. Insbesondere zu hören, was er ihr zu sagen hatte.

Nur … was will ich ihr überhaupt sagen?

Nach seiner Rückkehr aus Zypern war Cleve wild entschlossen, Klarheit zwischen ihnen zu schaffen, und erfuhr, dass Miranda in der Golfregion unterwegs war, um preisgekrönte Stuten als kostbare Luftfracht einem mindestens so berühmten Hengst in England zuzuführen. Bevor sie landete, war er schon wieder auf dem Weg nach Frankreich. So ging es in einem fort.

Vielleicht war es Zufall. Aber hätte irgendjemand ihre Flugpläne bewusst terminiert, um sie voneinander fernzuhalten, wäre er perfekt für diesen Job gewesen.

Miranda hatte keinen Einfluss auf seinen Flugplan, könnte allerdings ihren an seinen anpassen. Sie tat es nicht, was ihm verriet, dass sie offenkundig Zeit und Abstand brauchte, den er ihr gewähren musste. Bis heute …

Auf dem Rückflug von Irland hatte Cleve für sich beschlossen, dass die Zeit reif war, um eine Klärung herbeizuführen. Je eher, desto besser.

„Ich werde unterwegs etwas Obst kaufen und bei ihr reinschauen“, sagte er zu Lucy. Es war quasi seine Pflicht, sich um jemanden zu kümmern, der seit Jahren für ihn arbeitete und unerwartet krank wurde. Und Vitamine waren unverfänglicher als Blumen … speziell als rote Rosen!

„Das wäre verlorene Liebesmüh“, bremste Lucy ihn aus. „Bevor Andie ging, hat sie die Zugverbindungen nach London gecheckt und ihre Schwester angerufen, um ihre Ankunftszeit durchzugeben.“

„Welche Schwester?“

„Portia hat auf dem AB irgendwelche Nachrichten wegen einer Junggesellinnenparty hinterlassen, und wäre es Immi gewesen, wäre Andie wahrscheinlich nach Hause geflogen. Darum muss es die mit dem Royal Ballet sein.“

„Also Posy. Hat sie gesagt, wie lange sie wegbleibt?“

„Sie hat mich gebeten, alle Termine für den nächsten Monat zu canceln.“

„Für einen ganzen Monat?“

„Da sie jede Menge Extraschichten für andere übernommen hat, dich eingeschlossen, kommt einiges an zusätzlichen Urlaubstagen zusammen. Genau gesagt insgesamt sechs Wochen.“ Lucy wies mit dem Kinn in Richtung seines Büros. „Vielleicht steht ja mehr in der Notiz, die sie dir auf deinem Schreibtisch hinterlassen hat.“

Mit einem eisigen Gefühl in der Magengrube nahm Cleve kurz darauf den versiegelten Umschlag mit seinem Namen in die Hand. Er musste ihn nicht öffnen, um zu wissen, dass sie nicht zurückkam.

Kraftlos ließ er sich auf den Chefsessel fallen und las ihre knappe Entschuldigung dafür, dass sie sich nicht von ihm verabschiedet hatte. Einen Grund gab sie nicht an, das brauchte sie auch nicht. Doch akzeptieren musste er das ebenso wenig.

Entschlossen griff er zum Telefon. „Imogen? Hier ist Cleve Finch.“

„Hi, Cleve. Was kann ich für dich tun? Probleme mit der neuen Maschine?“

Nein … nein, alles bestens. Ich brauche nur Posys Adresse.“

„Posy?“ Das klang vage überrascht, aber weder misstrauisch noch abweisend. Offenbar war sie nicht in die Pläne ihrer Zwillingsschwester eingeweiht.

„Ich bin heute Abend zufällig in London und wollte Miranda nur kurz etwas reinreichen.“ Das war die plausibelste Erklärung, die ihm spontan einfiel. „Ich hätte sie auch selbst nach der Adresse gefragt, aber ihr Handy scheint ausgeschaltet zu sein. Sie ist doch bei Posy, oder?“

„Machst du Witze? Posy hat eine so winzige Bude, dass sie nicht mal eine Katze halten kann. Andie hat auf dem Weg zum Flughafen nur die Schlüssel bei ihr abgeholt.“

„Flughafen?“ Er schluckte. So viel zu seinem Plan, sie schick zum Essen auszuführen, um endlich in Ruhe reden zu können! „Wo ist sie denn hingeflogen?“

„Zur Isola dei Fiori. Hat sie dir das nicht gesagt?“

„Ich war die ganze Woche über in Irland.“

„Ah, verstehe. Posy hat ja dieses erstaunliche alte Haus von ihrer Patin geerbt. Es hat einen fabelhaften Wintergarten und unglaubliche Gartenanlagen, die …“ Ihre Stimme verlor sich in wehmütigen Erinnerungen. „Wahrscheinlich ist inzwischen alles überwuchert wie im Dornröschenschloss. Früher war es magisch. Wir haben dort regelmäßig die Schulferien verlebt …“

„Ich bin sicher, es war ganz wundervoll, aber …“

„Tut mir leid, ich war einen Moment in Gedanken wieder dort. Also, Posy hat erst im Spätsommer Zeit, daher war sie mehr als glücklich, dass Andie dort Urlaub machen und sich um alles kümmern will. Das Anwesen liegt ziemlich abseits und isoliert, deshalb kann es durchaus sein, dass sie zwischendurch kein Netz hat. Ist es denn wichtig oder kann es warten, bis sie zurückkommt?“

„Was?“

„Das, was du ihr bei Posy geben wolltest.“

„Ja … nein …“

Immi lachte. „Okay …“

Cleve riss sich zusammen. „Ja, es ist wichtig, und nein, es kann nicht warten.“

„In dem Fall werde ich die Adresse wohl rausrücken müssen“, entschied Immi nach einer kaum merklichen Pause.

3. KAPITEL

Andie sammelte sich, versuchte noch einmal, die Tür zu öffnen, und stellte dann fest, dass der Sturz gebrochen war und das Türblatt blockierte.

Da sie befürchtete, das Ganze endgültig zum Einsturz zu bringen, wenn sie es weiter gewaltsam versuchte, schnappte sie sich seufzend ihren Rollkoffer und zog ihn hinter sich her in Richtung Haupteingang. Der massive Schlüssel war am Bund leicht zu finden, und kurz darauf konnte sie die Villa betreten. Diesmal musste sie keine Angst haben, den schimmernden Marmorboden mit sandigen Füßen zu verunreinigen, weil ihn bereits eine dicke Staubschicht bedeckte. Zusammen mit Federn, die ein verirrter Vogel, der durchs defekte Dach eingedrungen war, hier offenbar im Panikflug verloren hatte. Andie schauderte und hoffte, dass das arme Tier lebend entkommen war.

Alle Fensterläden waren geschlossen, das einzige Licht drang durch die offene Tür ins Hausinnere. Da die Sonne aber gerade hinter der Bergkette unterging, war es nur ein schwacher, rötlicher Schein. Andie nutzte ihren Rollkoffer, um die Tür aufzuhalten und steuerte den nächsten Lichtschalter an. Als sie ihn betätigte, geschah … nichts. Sie versuchte es erneut, mit demselben Ergebnis.

In ihrer Erinnerung war die Villa Rosa ein heller, einladender Ort voller Leben und Gelächter. Nie hatte sie darüber nachgedacht, wie es wohl im Winter sein mochte – oder wenn man ganz allein war … eingesperrt mit dunklen Schatten, die aus allen staubigen Ecken auf einen zukrochen.

Langsam kamen ihr Zweifel bezüglich ihrer Idee, die sie bisher für großartig gehalten hatte. Mit Kerzenschein könnte sie sich arrangieren, schließlich hatten hier immer hohe weiße Kerzen in silbernen Kandelabern gebrannt, die abends sanftes Licht verbreiteten. Aber sie brauchte heißes Wasser, um klar Schiff zu machen. Falls eingedrungenes Regenwasser die Elektrizität lahmgelegt hatte, war sie in echten Schwierigkeiten.

Andie hastete durchs Haus, um alle Läden zu öffnen, und fand den Sicherungskasten unter der Treppe. Er offenbarte ihr eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass der gegenwärtige Zustand offenbar ein regelmäßig wiederkehrendes Desaster war. Die gute Nachricht: Jemand hatte auf dem antiken Stromkasten einen Vorrat an Ersatzsicherungen und eine Taschenlampe angelegt. Leider war die Taschenlampenbatterie kurz vor dem Exitus, weshalb sich Andie beeilte, die defekte Sicherung aufzuspüren und auszuwechseln, was ihr in dem Moment gelang, als ihre Handleuchte endgültig aufgab.

Da im selben Moment das Deckenlicht in der Eingangshalle aufflammte, seufzte sie erleichtert auf. Mit neuem Mut trug sie ihre Einkäufe in die altmodische Küche. Zum Glück war jemand so schlau gewesen, die Kühlschranktür aufzulassen. Natürlich benötigte er eine Grundreinigung und womöglich eine andere Sicherung als das Licht in der Halle. Doch als Andie auf den Schalter drückte, stotterte er nur kurz, bevor er widerwillig zum Leben erwachte.

Sie versuchte es mit dem Wasserhahn über der Spüle … nichts. Womöglich hatte derselbe vorausschauende Mensch das Wasser abgestellt und den Tank geleert. Sie drehte beide Hähne vollständig auf und suchte unten nach dem Haupthahn. Er war nicht da, also öffnete sie die Tür zur Spülküche.

Hier herrschte das totale Chaos. Direkt unterhalb des beschädigten Dachteils war offenbar Regen eingedrungen und hatte sich über der Decke gesammelt, weshalb diese klatschnass war und bedenklich durchhing. Andie wagte es nicht, das Licht einzuschalten. Im schwachen Schein der Küchenlampe von nebenan bahnte sie sich einen Weg durch die Schuttberge bis zur alten Porzellanspüle und öffnete vorsichtig die Türen des Unterschrankes.

Etwas huschte über ihren Fuß. Andie schrie leise auf und sprang zurück. Ihr Herz klopfte wie verrückt, und sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Das war nur eine Maus, keine Spinne, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie hatte einen Schwanz gesehen. Zumindest war sie sich dessen fast sicher.

Wie konnte ich nur glauben, dass es eine gute Idee ist, hierherzukommen?

Andie bückte sich und spähte in den Schrank. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen, und zu tief für sie, um den Hahn zu erreichen, ohne auf Hände und Knie zu gehen. Vorsichtig reckte sie den Kopf vor und quiekte, als ihre Wange ein Spinnennetz streifte. Zitternd streckte sie eine Hand in Richtung Haupthahn und wollte gerade kräftig zupacken und ihn aufdrehen, als ein heller Lichtstrahl das Schrankinnere beleuchtete und eine überraschte Maus quasi im Lichtkegel gefror.

In Andies Rücken ertönte eine tiefe Männerstimme. „Accidenti!“

Wie von der Tarantel gestochen zuckte sie zurück, stieß sich den Kopf an der Holzkante an und sah nur noch Sterne.

„Mi dispiace, signora …“

Zu spät für eine Entschuldigung!

„Sie können mich mal dispiace!“, fauchte sie wütend, rappelte sich auf und massierte ihren schmerzenden Hinterkopf. „Was, zur Hölle, haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“

„Oh, Sie sind Engländerin.“

„Und was, um alles in der Welt, hat das mit Ihrem unmöglichen Auftritt zu tun?“

„Nichts. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Hat nicht geklappt“, knurrte sie und schämte sich für ihre schwankende Stimme, mit der sie nicht mal eine Maus hätte erschrecken können, geschweige denn … Andie hob eine Hand, um ihre Augen vor dem blendenden Lichtstrahl zu schützen. „Wer sind Sie überhaupt? Und was haben Sie hier verloren?“

„Matthew Stark.“ Er senkte die Taschenlampe und trat einen Schritt vor, als wolle er ihr die Hand reichen, verzichtete dann aber darauf. „Ich sollte die Villa für den Besitzer im Auge behalten.“

Andie blieb misstrauisch. „Davon hat sie nichts erwähnt, als sie mir den Schlüssel gegeben hat. Rosalind Marlowe ist nämlich meine Schwester.“

„Rosalind?“

„Sie zieht es vor, ‚Posy‘ genannt zu werden.“ Am liebsten hätte sie ihrer Schwester den Hals umgedreht, weil sie vergessen hatte, ihren Hausmeister zu erwähnen. Andererseits hatte sie es sich wohl selbst zuzuschreiben, da sie bewusst den Moment für ihren Blitzbesuch gewählt hatte, als Posy sich für die abendliche Ballettvorführung aufwärmen musste. Schwestern schauten einen immer gleich so eindringlich an und stellten Fragen, die man lieber nicht beantworten wollte.

„Ich bin Miranda Marlowe.“

„Oh!“ Es war ein Stoßseufzer der Erleichterung. Offenkundig war er nicht scharf darauf, einen potentiellen Einbrecher oder Vandalen verscheuchen zu müssen. „Na sicher, du warst ja auf der Beerdigung. Wenn Posy dich angekündigt hätte, wäre ich schon früher gekommen, um das Wasser anzustellen und zu überprüfen, ob alles andere funktioniert.“

„Es war eine Last-Minute-Entscheidung. Und da ich ‚die Praktische‘ in der Familie bin, wusste sie, dass ich allein damit zurechtkomme. Spinnen gehören nicht dazu …“ Aber das ging ihn nichts an. „Du kannst dir also den Staub aus den Kleidern klopfen und dich zurückziehen, Matthew Stark.“

„Natürlich“, murmelte er perplex.

„Pass auf, dass du dabei nicht auf die Maus trittst“, versuchte Andie ihrer etwas harschen Aufforderung die Spitze zu nehmen.

„Mäuse magst du also, im Gegensatz zu Spinnen?“

„Nicht in der Küche. Aber ich habe keine Lust, eine zerquetschte Maus wegräumen zu müssen, die du mit deiner Schuhgröße erlegt hast.“

„Keine zerquetschte Maus …“, echote er im Ton eines Mannes, der sich verzweifelt wünschte, er wäre zu Hause geblieben. „Keine blutigen Mäuseleichen …“

Das war eine zerquetschte Maus zu viel.

Während ihr ungebetener Gast samt Taschenlampe unter der Spüle verschwand, spürte Andie, wie sich ihr Magen hob. Außerdem drohten ihre Beine sie im Stich zu lassen. „Du solltest dich mit dem Wasserhahn beeilen, Matthew, oder ich muss …“

„Schon erledigt“, vermeldete er heiter, tauchte wieder auf und musterte ihr bleiches Gesicht mit prüfendem Blick. „Wollen wir noch mal ganz von vorn anfangen?“, fragte er lächelnd und streckte die Hand aus. „Und bitte: Matt. Kein Mensch nennt mich Matthew.“

„Andie …“, murmelte sie schwach. Doch als sie ein hohles Klopfen hörte, gefolgt vom Wasserstrom, der durch die trockenen Rohre rauschte, hellte sich ihr Gesicht auf. „Woher wusstest du, dass ich hier bin? Habe ich einen geheimen Alarm ausgelöst?“

„Das wäre ein Wunder! Kein Handy, kein Internet. Es war das Licht.“

„Also rein technisch gesehen bin ich mitten in der Wüste.“

Matt zuckte mit den breiten Schultern. „Hier arbeitet man mit dem, was man hat. Da wir am Dorfrand wohnen, waren wir, trotz der Entfernung, quasi Sofias direkte Nachbarn. Ich habe mich ein bisschen um sie gekümmert …“ Er schaute sich um und runzelte die Stirn. „Du willst hier allein wohnen?“

Sie wusste, dass er damit nur Besorgnis ausdrückte, antwortete aber trotzdem mit einer Gegenfrage. „Du kanntest Sofia? Wie war sie zuletzt? Ich habe sie etliche Jahre vor ihrem Tod zum letzten Mal gesehen.“

Erneutes Schulterzucken. „Unabhängig, kratzbürstig und glamourös bis zum Ende. Ihr helfen zu wollen, gestaltete sich meist als Kraftakt, aber zu meiner Mutter war sie sehr freundlich. Sie leidet stark unter Arthritis. Wir sind wegen der Wärme und der heißen Quellen auf die Insel gekommen.“

„Das tut mir leid.“

Das Schulterzucken schien eine feste Angewohnheit von ihm zu sein. „Es ist, wie es ist. Sie und Sofia trafen sich in einem Spa in Sant’Aria. Sobald Sofia von ihrem Leiden erfuhr, lud sie meine Mutter ein, ihre heiße Privatquelle hier am Strand zu benutzen, so oft sie wolle. Ich habe auf dem Sand einen Holzsteg und ein Deck verlegt, die es den beiden leichter machten, den Pool zu nutzen. Ich glaube, Sofia hat es auch einfach genossen, mit jemand reden zu können.“

„Meine Großmutter ist auch immer gern hergekommen, solange es ihr möglich war.“

„Ja, ich habe sie auch kennengelernt … und Posy ist damit einverstanden, dieses Arrangement aufrechtzuerhalten, bis die Villa verkauft wird.“

Die unausgesprochene Frage war nicht zu überhören. „Deine Mutter ist auch mir jederzeit willkommen.“

„Danke.“ Erneut schaute Matt um sich. „Einladend sieht es hier nicht gerade aus, würde ich sagen. Brauchst du vielleicht Hilfe beim Renovieren? Die Decke macht es jedenfalls nicht mehr lange …“

„Bist du etwa Handwerker?“

„Das nicht, eher eine Art Hilfskeule‘.“

Er meinte es bestimmt gut, aber Andie wollte sich nur noch hinlegen. „Ich glaube, hier muss wohl doch eher ein Fachmann ran. Aber wenn es dir nichts ausmacht, werde ich mir frühestens morgen darüber den Kopf zerbrechen.“

„Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“, fragte er mit demselben prüfenden Blick von vorhin.

„Langer Tag, raue Überfahrt“, erwiderte sie lakonisch und versuchte, ihre verkrampften Finger von der Stuhllehne zu lösen, an der sie sich unbewusst festgekrallt hatte. „Und die Taxifahrt hierher war auch eher ein Formel-1-Rennen.“

Er sah nicht überzeugt aus, hielt sich aber zurück. „Wenn du dir sicher bist, werde ich dich jetzt in Ruhe lassen.“ Er hielt inne. „Es gibt keine Telefonleitung, aber eine Schnur am Bett in der Master Suite und eine andere neben dem Sofa in Sofias kleinem Salon. Wenn du etwas brauchst, wird im Garten eine Art Alarmglocke betätigt, die ich dort installiert habe. Normalerweise höre ich sie. Kleine technische Finesse“, fügte er selbstironisch hinzu. „Aber …“

„… man arbeitet eben mit dem, was man hat“, vollendete sie den Satz für ihn und schämte sich im selben Moment für die sarkastische Bemerkung. Matt war hier, weil er Einbrecher in Posys Villa vermutet hatte. Er bot ihr seine Hilfe an, und sie brachte ihm gegenüber kaum die nötigste Höflichkeit auf. „Danke, Matt. Du bist ein sehr angenehmer Nachbar, und ich bin viel umgänglicher, wenn ich acht Stunden Schlaf hatte.“

„Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“

„Unsinn! Du hast mich gerettet, als ich mit meinem Kopf in einem Schrank voller Spinnweben steckte“, erinnerte sie ihn mit sichtbarem Schaudern. „Dir sei vergeben …“

Er lächelte, nickte und ging zur Tür. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, bevor sie ihm folgte, die Tür hinter ihm abschloss und in die Küche zurückkehrte. Jetzt floss das Wasser problemlos, und Andie drehte die Hähne wieder fest zu.

Sie hatte Licht und Wasser. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war ein Schlafplatz. Sofia hatte eine Suite im Erdgeschoss bewohnt, doch Andie brachte es nicht über sich, dort ihre Zelte aufzuschlagen. Als Kinder hatten sie immer im Obergeschoss geschlafen, um die Lichter der vorbeiziehenden Schiffe beobachten zu können. Doch momentan erschien ihr diese Aussicht wenig verlockend.

Die Treppe war mit Spinnwebgirlanden geschmückt und mit undefinierbarem Kram übersät, den sie nicht allzu genau untersuchen wollte. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Ein Putztag …

Andie putzte sich die Zähne im unteren Badezimmer und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. In dem kleinen Wintergarten daneben, den Sofia immer ihre Klause“ genannt hatte, gab es ein gemütliches Sofa mit einem opulenten Überwurf. Andie öffnete die verglasten Türen zur Veranda, schleppte die schwere Decke nach draußen, hängte sie übers Geländer und schüttelte sie ordentlich, damit sich Staub und etwaige Krabbeltierchen verflüchtigen konnten.

In der Ferne sah sie die Lichter eines Schiffs, hielt einen Augenblick inne und atmete tief die würzige Seeluft ein. Dann gähnte sie ausgiebig, trug ihre Bettdecke wieder hinein und schloss die französischen Türen. Immer noch gähnend schlüpfte sie in ihren Pyjama, wickelte sich in die leichte Seidenrobe, die sie eingepackt hatte, und wünschte sich, sie hätte stattdessen ihren flauschigen Bademantel mitgenommen.

Sobald sie die Klingelschnur entdeckt hatte, sicherte Andie sie behutsam, um nicht versehentlich einen Alarm auszulösen und damit womöglich Matt erneut auf den Plan zu rufen. Dann streckte sie sich unter der voluminösen Decke auf dem niedrigen Sofa aus und war eingeschlafen, noch ehe ihre Lider sich ganz geschlossen hatten.

Stunden später wachte sie klamm und steifnackig auf, blinzelte in die frühe Morgensonne, die durch die staubigen Fenster drang, und horchte in sich hinein, in der Hoffnung, dass sich ihr vomito, diese lästige Morgenübelkeit, verflüchtigt hätte.

Zu früh gefreut!

Nachdem sie ihre Zähne geputzt und das wirre Haar in einem Pferdeschwanz gebändigt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Küche auf der Suche nach etwas, das sie hoffentlich bei sich behalten würde.

Die helle Morgensonne präsentierte ihr den Zustand der Villa in einem Licht, wie es der künstliche Schein am Abend nicht vermocht hatte. Andie presste die Lippen zusammen. Nachdem sie einen Teekessel gefunden hatte, ließ sie das Wasser minutenlang laufen, bevor sie den Kessel füllte und auf den altmodischen Herd stellte. Dann drehte sie am Schalter für den Warmwasserbereiter und hielt den Atem an. Keine Sicherung sprang heraus.

Sie nahm einen Becher von der Kommode, wusch ihn aus und brühte einen Beutel Pfefferminztee auf, den sie mitgebracht hatte. Den und einen trockenen Keks behielt sie für gewöhnlich bei sich.

Sie wollte den Tee auf der Veranda trinken, um die klare Morgenluft zu genießen, doch den Korbmöbeln fehlten die Sitzkissen. Kurz entschlossen schlenderte Andie durch den verwilderten Garten bis zu einer alten Holzbank, stellte den Becher ab und reckte den Hals. Dann sah sie endlich die hellen Schaumkronen auf den Wellen, die sich am Strand brachen, und steuerte auf den vertrauten Pfad zu, der sie dort hinbringen würde.

Unten angekommen, kickte sie ihre Sandalen zur Seite, lief ein paar Schritte weiter und genoss das Gefühl, wie die anrollenden Wellen den feuchten Sand unter ihren nackten Füßen wegspülten. Als das kühle Wasser plötzlich über ihre Knöchel reichte, wurde das Verlangen, sich ganz in die Fluten zu werfen, nahezu übermächtig. Aber dafür hätte sie zurückgehen und ihr Badezeug holen müssen.

Es gab Momente, die konnte man nie mehr zurückholen, und dieser war einer von ihnen. Wenn sie jetzt den steilen Pfad erklimmen und sich umziehen musste, würde sie nicht noch einmal an den Strand gehen.

Prüfend schaute Andie um sich, doch dies war ein Privatstrand und sie völlig allein hier. Von der Wasserseite aus war die Bucht nicht einzusehen, und für einen morgendlichen Besuch, selbst von den aufdringlichsten Nachbarn, war es noch viel zu früh.

Sie lachte leise über ihre typisch britischen prüden Überlegungen und legte rasch Morgenrock und Pyjama auf einem Felsen ab. Und plötzlich erschien es ihr als das Natürlichste auf der Welt, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, die Arme der Sonne entgegenzurecken und die sanfte Morgenbrise über ihre nachtwarme Haut streichen zu lassen wie die zärtliche Liebkosung eines Liebhabers.

Als sie ins kühle Nass lief, spürte sie am ganzen Körper eine Gänsehaut, die sie ebenso genoss wie zuvor Sonne und Wind. Ein weiterer Schritt, und das Wasser reichte ihr bis zu den Schenkeln. Automatisch legte sie eine Hand über ihren warmen, immer noch flachen Bauch und dachte an den Moment, als Cleve auf dem Höhepunkt der Lust laut ihren Namen geschrien hatte.

Andie schauderte, aber nicht vor Kälte.

Es war falsch und selbstsüchtig von ihr gewesen, seine Schwäche auszunutzen. Und anstatt ihn zu beschützen, bereitete sie ihm nun noch mehr Kummer.

Sie schnappte kurz nach Luft, als ihre Hüften umspült wurden, dann warf sie sich in die kühlen Fluten, tauchte unter und steuerte mit kräftigen Schwimmstößen das entlegenere Ende der Bucht an. Einmal dorthin und zurück war mehr als genug für den Anfang. Zitternd und bibbernd hastete sie an Land und steuerte direkt den warmen Felsenpool an. Kaum hatte sie sich bis zum Kinn ins dampfende Wasser sinken lassen, spürte sie, wie ihr Herzschlag aussetzte.

Es musste an der ungewohnten Anstrengung liegen, dass ihre Fantasie …

Das konnte unmöglich Cleve sein, der mit verschränkten Armen an dem Felsen lehnte, auf dem sie ihre Kleider abgelegt hatte, und sie frech angrinste. „Um das zu sehen, haben sich die tausenddreihundert Flugmeilen mehr als gelohnt.“

Um mich blaugefroren und mit Gänsehaut am ganzen Körper zu sehen? „Wie lange stehst du schon da?“

„Lange genug.“

Das konnte nur heißen, dass er schon im Garten gewesen war, als sie sich ausgezogen und der Sonne ihren albernen Morgengruß erboten hatte. „Ein Gentleman hätte den Blick abgewendet.“

„Das hätte nur ein Idiot getan. Ein Gentleman hätte gehüstelt, sich an deinem Erröten ergötzt und vorgegeben, er hätte nichts gesehen.“ Während er sprach, befreite sich Cleve von Schuhen und Socken, zog sein Poloshirt über den Kopf und warf es zu ihren Sachen auf den Felsen. „Und ich bin sicher, dass dein Vater dich schon vor Jahren gewarnt hat, dass ich kein Gentleman bin.“

„Also, wenn du dich weder als Idiot noch als Gentleman siehst, was bist du dann?“

„Ganz ehrlich?“ Er griff nach seinem Gürtel.

„Halt! Was hast du vor?“

„Dir in diesem überdimensionalen Whirlpool Gesellschaft zu leisten, während wir darüber diskutieren, dass ich deine sogenannte Auszeit nicht akzeptiere“, sagte er gelassen und öffnete bereits die Gürtelschnalle. „Es sei denn, du kommst da raus und gesellst dich zu mir.“

Sie waren eine ganze Nacht lang nackt gewesen. Eben erst hatte Cleve sie beobachtet, wie sie mit der Morgensonne geflirtet und sich hemmungslos in die Fluten gestürzt hatte. Aber jetzt, vor seinen Augen aus dem Pool zu steigen und unbekleidet Schritt für Schritt auf ihn zuzugehen … Unvorstellbar!

„Okay, dann also nicht“, akzeptierte er ihre stumme Entscheidung, öffnete den Gürtel und ließ die Hose fallen.

Er in schwarzen Boxershorts, das war zu viel für sie.

„Das reicht!“ In ihrer Fantasie war er bereits nackt … über ihr, tief in ihr. „Wirf mir meine Sachen rüber.“

Er griff nach dem Morgenmantel und reichte ihn ihr. Sie griff danach und wickelte sich darin ein, ohne sich darum zu kümmern, dass der Saum klatschnass wurde. Cleve stieg wie selbstverständlich zu ihr in den Pool und machte es sich bequem, mit Blick aufs Meer. Also ließ auch Andie sich in voller Montur zurück ins Wasser sinken.

„Ich musste einfach mal raus“, behauptete sie trotzig.

Er verschränkte die Arme im Nacken und schloss die Augen. „Die Villa deiner Schwester ist ein Desaster, aber für diesen wundervollen Platz nehme ich selbst das in Kauf.“

„Nicht nötig“, erwiderte sie steif. „Da du auf der nächsten Fähre sitzen wirst.“

„Das glaube ich kaum.“ Sein Lächeln erinnerte an den alten Cleve Finch – diesen waghalsigen Teufel, wenn er guter Laune gewesen war. „Seit Monaten versucht Jerry Parker mir seinen Lear-Jet zu verkaufen. Gestern Nachmittag haben wir den Deal abgeschlossen. Ich dachte mir, das feiere ich, indem ich mir selbst ein paar Tage freigebe und zusehe, was ich aus ihnen machen kann.“

Andie runzelte die Stirn. „Auf der Insel gibt es keinen kommerziellen Flughafen.“

„Nein, aber einen Sportflieger-Verein. Man gab mir die Erlaubnis zu landen und eines der Club-Mitglied hat mich hierhergebracht.“

Der internationale Kameradschaftskodex der Flieger …

„Und wer kümmert sich inzwischen um Goldfinch?“

„Ich habe Lucy zum Operation Manager befördert.“

„Oh … das wurde auch Zeit. Immerhin ist das schon seit etwa einem Jahr ihr Job.“

„Und was ist damit, dass sie Gavin Jones engagiert hat, um dich zu ersetzen?“

„Sag ihr, sie soll ihm einen Vertrag geben, weil ich nicht zurückkomme.“

Cleve war schon immer ein leidenschaftlicher Jogger gewesen und hatte regelmäßig frühmorgens seine Runden um den alten stillgelegten Kriegsflugplatz gedreht, der Goldfinch als Basis-Camp diente. Doch seit Rachels Tod lief er noch viel härter und ausdauernder als je zuvor. Seine Schultern waren breit und muskulös, der Körper hart und durchtrainiert. Und seine nackten, gebräunten Füße nur Zentimeter von ihren entfernt …

Zu allem Überfluss zeichneten sich Andies harte Brustspitzen unter der nassen Seide ihres Morgenmantels noch viel deutlicher ab, als wenn sie nackt wäre. Mit einem unterdrückten Laut ließ sie sich noch tiefer ins Wasser sinken.

Cleve grinste anzüglich. „War es so kalt im Meer?“

„Warum bist du hier?“, fragte sie fast barsch, um vom Thema abzulenken.

„Dachtest du, ich lasse dich einfach so davonlaufen?“

„Ich bin nicht …“

„Erst hast du die Kranke gemimt, dann Lucy um Urlaub gebeten und mir schließlich die Kündigung auf dem Schreibtisch hinterlassen. Für mich ist das ‚weglaufen‘.“

Okay, der Punkt ging an ihn, aber sie brauchte mehr Zeit, um die richtigen Worte zu finden. Um ihm zu sagen, dass er Vater wurde, ohne dass die Nachricht ihn zerstörte.

„Ich war krank“, sagte sie ruhig. „Und ich wollte Lucy nichts von meinem neuen Job sagen, ehe ich mit dir gesprochen habe.“

„Erst weglaufen und dann auch noch lügen. Du hast keinen neuen Job.“

„Aber eine Menge Angebote.“

„Das bezweifele ich nicht eine Sekunde. Allein im letzten Jahr haben drei Unternehmen versucht, dich abzuwerben. Mehr Geld, die Chance, größere Maschinen zu fliegen … aber du hast jedes Angebot ohne zu zögern ausgeschlagen.“

„Das weißt du?“

„In unserem Business gibt es keine Geheimnisse. Hättest du jemandem zugesagt, wäre ich spätestens zehn Minuten nach dem Handschlag darüber informiert worden.“ Er suchte ihren Blick quer über den Pool hinweg, aber seine undurchdringliche Miene gab nichts preis. „Außerdem: Wenn du einen neuen tollen Job angenommen hättest, würdest du alle Kollegen informieren, mit denen du seit Jahren zusammenarbeitest, und alle Menschen, die dir nahestehen, und die größte Party …“

„Hör schon auf“, fuhr sie ihn an. „Versuch nicht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich könnte keinen von euch jemals vergessen, und das weißt du auch genau. Dass du noch nichts von meinem neuen Job gehört hast, liegt daran, dass ich für meinen Vater arbeiten werde. Im Designbüro.“

Denn genau das war es, was sie tatsächlich tun musste … in ihrer neuen Position als werdende Mutter. Nicht aus der Erinnerung daran, was mit Rachel passiert war, sondern aus Vernunftgründen. Und sie musste in der Nähe ihrer Eltern leben, weil sie später in der Babybetreuung auf ihre Hilfe angewiesen sein würde. Zumindest, bis ihre Tochter oder ihr Sohn alt genug für die Kindertagesstätte war.

„Jack hat recht“, fügte sie rau hinzu.

„Soll das heißen, dass du plötzlich den Mann deines Lebens gefunden hast und sesshaft werden willst, um seine Kinder aufzuziehen?“ Seine Stimme klang neutral, aber auf der schmalen Wange zuckte ein Muskel. „Ich wundere mich nur ein bisschen, weil dein aufregendstes Date vor einem Monat noch ein Dartspiel in der Dorfkneipe war.“

„Cleve …“

„Weiß er denn von deinem selbstlos barmherzigen …“

„Nicht!“ Andie schoss förmlich von ihrem Felsensitz hoch. Ihr nasser Morgenmantel war nahezu transparent und klebte an ihrem Körper. Mit einem scharfen Wort hinderte sie ihn daran, das auszusprechen, was alles zerstören würde, bevor sie die Gelegenheit hatte, sich ihm zu erklären. „Sag jetzt nichts mehr.“

Sie stieg aus dem Pool, schnappte sich Pyjama und Sandalen und rannte den Pfad hinauf zur Villa. Dort stand zu ihrem Entsetzen auch noch Matthew Stark auf der Außenveranda und schaute ihr entgegen. Konnte der Tag noch schlimmer werden?

„Habe ich unbeabsichtigt die Alarmglocke betätigt oder ist das ein Höflichkeitsbesuch?“, fragte sie hitzig.

„Nein, ja … ich“, stammelte er, verwirrt von ihrem angriffslustigen Ton. „Ich war nur ein wenig besorgt …“ Seine Stimme verebbte, und Andie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Cleve hinter ihr aufgetaucht war. Matts Gesicht verriet alles.

„Ist er das?“ Cleve hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Hose über die nassen Boxershorts zu ziehen. Warum sollte er auch?

„Tut mir leid“, murmelte Matt. „Ich dachte, du wärst allein.“

„Das dachte ich auch!“, schnappte Andie bissig. „Wie man sich irren kann, oder?“

4. KAPITEL

„Ein paar Wochen …“, meuterte Andie, schnappte sich ihren Rollkoffer und zog sich in die Privatsphäre von Sofias Schlafzimmer zurück. Ein wenig Zeit, um ihren Kopf freizubekommen und ihre ungewisse Zukunft zu planen. War das etwa zu viel verlangt?

Die Fensterläden waren geschlossen, und die Deckenlampe ging nicht an, als sie den Schalter betätigte. Aber es drang genügend Licht durch die Lamellen der hölzernen Fensterläden, um ihren Kulturbeutel zu finden. Das Wasser würde kaum warm genug sein, um zu duschen und die Haare zu waschen, aber wenigstens hätte sie das Bad für sich allein.

Früher, als Kind, hatte sie sich einmal heimlich in Sofias Suite geschlichen. Damals war sie ihr wie die glamouröseste Behausung auf der ganzen Welt erschienen. Die Fenster waren mit einer Art schimmernder Gaze dekoriert gewesen, das Bett mit einem prachtvollen Seidenplaid bedeckt und im Bad stand eine riesige klauenfüßige Wanne mit Messingarmaturen, die auf Hochglanz poliert waren.

Es gab stapelweise flauschige weiße Handtücher auf eingelassenen Glasregalböden, zierliche Flakons mit duftendem Badeöl und teure handgeschöpfte Seifen: Rosa Absoluta, Ginger-Lilly, Orange und Bergamotte …

Andie stellte ihr vergleichsweise schlichtes Duschgel und Shampoo ins Regal und legte ein Handtuch bereit, das sie im Badschrank gefunden hatte. Sie drehte den Wasserhahn auf, lauschte skeptisch dem Knattern und Klopfen in der Leitung und ließ die ersten lauwarmen Liter in den Abfluss laufen, während sie ihre nasse Kleidung abstreifte. Dann stieg sie in die Wanne, griff nach der Handdusche und stellte sich unter den sprühenden Wasserstrahl.

Cleve schaute Miranda hinterher. Dass sich die nasse Seide dabei wie eine zweite Haut an ihren aufregenden Körper schmiegte, schmälerte nicht den möglicherweise beabsichtigten dramatischen Effekt ihres Abgangs, sondern verstärkte ihn noch. Ihr feuchtes Haar, das sie während der Arbeit immer fest zusammengebunden trug, fiel jetzt bis über die Schultern herab und begann sich zu locken, während es langsam trocknete. Erste Sonnenstrahlen zauberten rotgoldene Reflexe auf die seidige brünette Fülle.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er nicht der Einzige war, der die Aussicht genoss. Abrupt wandte er sich dem Fremden zu.

„Wie lange?“, fragte er.

„Pardon?“

„Wie lange kennen Sie Miranda Marlowe?“

„Auf die Minute genau?“ Matt schaute auf seine Uhr. „Dreizehn Stunden und zwanzig Minuten und die eine oder andere Sekunde. Eigentlich hatte sie mir versprochen, nach acht Stunden Schlaf umgänglicher zu sein.“ Er schnitt eine Grimasse und wiegte zweifelnd den Kopf. „Überzeugt bin ich noch nicht.“

„Aber wenn Sie nicht …“ Cleves wilder Verdacht fiel in sich zusammen.

Es gab gar keinen anderen Mann, keinen Rivalen. Ich allein bin für ihre Entscheidung, Goldfinch zu verlassen, verantwortlich. Aber warum wollte Miranda das Fliegen ganz aufgeben?

„Wer sind Sie eigentlich? Und was tun Sie hier?“

Matt seufzte lautlos. „Matthew Stark. Ich wohne im Dorf, habe immer ein Auge auf Sofia gehabt und jetzt aufs Haus“, erklärte er knapp. „Als ich gestern das Licht sah …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Sie hielten Miranda für einen Einbrecher?“

„Es gab eine Zeit, da konnte man die Türen getrost unverschlossen lassen, doch heutzutage ziehen überall Banden herum, die einem das Dach überm Kopf wegstehlen, wenn man nicht aufpasst oder Vorsorge trifft.“

„Und Sie haben sich der Gefahr mutig gestellt.“

„Hätte vor der Villa ein LKW geparkt, wäre ich ins Dorf gegangen und hätte die Polizei alarmiert. Ich nahm an, dass jemand einfach mal die Lage sondieren wollte oder einen Platz zum Schlafen gesucht hat.“

„Stattdessen trafen Sie auf eine Miranda in übler Stimmung.“ Cleve grinste versöhnlich und streckte seine Hand aus, die Matt bereitwillig ergriff. „Cleve Finch.“

Matt nickte. „Um nicht ungerecht zu sein, die Beule an ihrem Hinterkopf trägt bestimmt auch dazu bei, und das Haus ist tatsächlich eine ziemliche Katastrophe. Ich bin froh, dass sie hier nicht mehr allein ist.“ Er hielt Cleve eine Papiertüte hin. „Frische cornetti aus der Dorfbäckerei. Sie sollten ein Friedensangebot sein.“

Cleve ignorierte die Tüte. „Was ist mit ihrem Kopf?“

„Den hat sie sich im Schrank unterm Waschbecken auf der Suche nach dem Haupthahn gestoßen, als ich ins Haus kam. Sie wirkte ziemlich angeschlagen, nachdem sie wieder auf den Beinen war, behauptete aber, sie wäre nur müde und wolle schlafen.“

„Und du hast sie in dem Zustand einfach allein gelassen?“ Die gemeinsame Sorge um Miranda schien sie irgendwie zusammenzuschweißen, und unsympathisch war Matt nun wirklich nicht.

„Sie hat mich förmlich rausgeworfen“, rechtfertigte sich Matt. „Die Telefonleitung zur Villa ist schon seit Jahren durch einen Sturm zerstört und bisher nicht wieder repariert. Aber ich habe ihr erklärt, wie sie mich erreichen kann, wenn sie Hilfe braucht.“ Er wies mit dem Kopf in Richtung Haus. „Kennt ihr beide euch schon lange?“

„Sechs Jahre.“ Exakt sechs Jahre, acht Monate und vier Tage. „Seit ihrem achtzehnten Geburtstag. Sie hatte gerade ihren Pilotenschein gemacht und durfte eine Maschine ihres Vaters Probe fliegen, als ein heikler Seitenwind aufkam. Trotz der brisanten Situation landete Miranda das Baby leicht wie eine Feder direkt auf dem Punkt.“

Die perfekte Landung, ihr strahlendes Lächeln, als sie aus der Maschine auf die asphaltierte Rollbahn gesprungen war und mit ihrer gerade erworbenen Pilotenlizenz gewedelt hatte, dazu die Sonne, die den rötlichen Schein auf ihrem Haar zu entflammen schien … Cleve sah all das vor sich, als wäre es gestern gewesen.

Es hatte Küsse und Kuchen für jeden gegeben.

Er war weder Teil der Familie noch Mitarbeiter von Marlowe Aviation gewesen, sondern nur vor Ort, um mit ihrem Vater ein Geschäft abzuschließen: sein erstes eigenes Frachtflugzeug. Vielleicht hatte ihn das, ganz abgesehen von der positiven Stimmung um ihn herum, derart euphorisiert, dass er sich dazu hinreißen ließ, Miranda zu versprechen, ihr einen Job als Pilotin in seinem Unternehmen zu geben, sobald sie die dafür erforderliche kommerzielle Lizenz in der Tasche hätte.

Spontan lud sie ihn zu Immis und ihrer Geburtstagsparty ein, und später, in einer schattigen Ecke im Garten ihres Elternhauses, küssten sie sich noch einmal. Doch dieser Kuss hatte nichts mit ihrem Pilotenschein oder ihrem Geburtstag zu tun. Er passierte einfach so. Und vielleicht wäre noch mehr daraus geworden, wenn ihre jüngere Schwester, beschwipst vom ungewohnten Champagner, nicht dazwischengeplatzt wäre und ihn davon abgehalten hätte, etwas zu tun, wofür er sich im Nachhinein bestimmt geschämt hätte.

Später hatte es noch weitere Küsse gegeben. Miranda hatte stets auf der Lauer gelegen, wenn sie wusste, dass er vorbeikommen würde. Und jedes Mal erinnerte sie ihn daran, dass er ihr einen Job versprochen hatte.

Irgendwann wurde Cleve bewusst, dass Matt Stark immer noch wartete, aber es gab nichts mehr, was er mit ihm teilen wollte. „Danke für die … cornetti?“, murmelte er und nahm ihm endlich die Tüte ab. „Vielleicht kann ich damit ihre Laune heben.“

„Viel Glück dabei.“ Matt nickte und verschwand durch eine Seitenpforte. Kurz darauf ertönte das unverkennbare Summen einer Vespa, die den Hügel hinunterrollte.

Cleve entschied für sich, dass er für diese Mission angezogen eine bessere Figur machte, zog Hemd und Hose über und schaffte es gerade bis in die Küche, als ein markerschütternder Schrei sein Blut zum Gefrieren brachte. Die Tüte fiel zu Boden und nur Sekunden später platzte er in einen Raum, der sich als ein Schlafzimmer entpuppte.

„Miranda?“

Er hörte ein Wimmern, das aus dem angrenzenden Bad zu kommen schien. Dort stand Miranda in einer Ecke, den entsetzten Blick auf eine beeindruckend große Spinne geheftet, die an der gegenüberliegenden Wand klebte.

Geistesgegenwärtig griff er nach dem Badetuch, das außerhalb ihrer Reichweite auf einem Korbstuhl lag, und hielt es ihr entgegen. Doch sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Das war eindeutig ein Fall von Arachnophobie.

Ohne ein weiteres Wort wickelte Cleve die zitternde Gestalt in das weiche Frotteetuch und hob sie vom Boden auf. Mit einem erstickten Laut klammerte Miranda sich an ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. „Sie … sie ist ganz plötzlich aus … aus dem Nirgendwo aufgetaucht …“, stammelte sie mit klappernden Zähnen.

„Ich kümmere mich darum“, versprach er. „Kann ich dich absetzen?“

Als sie nickte, stellte er sie behutsam auf die Füße und geleitete sie zurück ins Schlafzimmer. Doch sie krallte sich immer noch an sein Shirt.

„Keine Panik … setz dich so lange aufs Bett, während ich zurückgehe und …“

„Du darfst sie auf keinen Fall töten!“

„Wieso nicht?“, fragte er verblüfft.

„Es bringt Unglück, Spinnen zu töten.“

Um Cleves Mundwinkel zuckte es verdächtig. „Ist das so?“

„Lach mich nicht aus!“

„Versprochen, ich werde nicht lachen“, versicherte er ihr mit funkelnden Augen. Ein Lächeln konnte er sich allerdings nicht verkneifen. Kein Wunder, nachdem das Schicksal ihm eine nackte Frau quasi in die Arme gelegt hatte und ihm dann auch noch die Chance gab, ihren heldenhaften Retter zu spielen. Diese Spinne verdiente wahrlich ein langes, glückliches Leben. „Ich werde sie aus dem Fenster setzen.“

„Nein!“ Da war sie wieder, die Panik in Andies Stimme. „Sie … sie wird durch die Lüftungsschlitze zurückkrabbeln. Du musst sie weit entfernt vom Haus aussetzen. Vor dem Tor.“

Ihr zu sagen, dass ein Tor keine unüberwindbare Hürde für eine Spinne bedeutete, hatte wenig Sinn. „Außerhalb des Grundstücks“, versprach er.

„Nicht … nicht genau davor.“

„Ich werde sie ein Stück den Berg hinunter auf der anderen Straßenseite in einem der Bäume absetzen. Ist das weit genug entfernt?“

„Ich denke schon“, erwiderte sie zögernd.

„Du musst aber meinen Ärmel loslassen, sonst wird das schwierig.“

„Ja …“ Es kostete Andie eine ungeheure mentale Anstrengung, ihre Finger vom weichen Stoff des Poloshirts zu lösen und einen Schritt zurückzutreten.

Cleve kämpfte seinen eigenen Kampf, um sie nicht an sich zu reißen und nie wieder loszulassen. Stattdessen fing er geistesgegenwärtig das Badetuch auf, bevor es zu Boden fallen konnte, wickelte Andie darin ein und verknotete die Enden über ihren Brüsten. „Es wird nicht lange dauern“, versprach er rau.

Andie unterdrückte die Versuchung, sich erneut an ihn zu klammern, nickte und folgte ihm mit brennendem Blick, als er ins Bad ging. Sobald er mit einem Handtuch, in dem er die Bestie offensichtlich gefangen hielt, im großen Bogen an ihr vorbeigegangen und durch die Tür verschwunden war, stieß sie den Atem aus und schlüpfte in die erstbesten Klamotten, die sie zu fassen bekam: eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt. Sie kämmte ihr Haar, band sich einen Pferdeschwanz und lief in die Küche.

Es war eine große, altmodische Küche mit einer antiken Anrichte und kostbarem Chinaporzellan, das dringend gespült werden müsste. In der Mitte stand ein massiver Holztisch, an dem sie früher alle zu Abend gegessen hatten.

Im Unterschrank fand Andie flüssige Seife. Sie füllte eine Schüssel mit heißem Wasser. Als Cleve zurückkam, hatte sie bereits die erste Ladung Geschirr abgewaschen und zum Trocknen auf die Spüle gestapelt.

„Kann ich helfen?“

„Das hast du doch schon getan“, murmelte sie, immer noch beschämt von der demütigenden Vorstellung, die sie abgezogen hatte. „Danke, dass du mich gerettet hast.“

„Jederzeit wieder.“ Cleve griff nach dem Wasserkessel und lehnte sich vor, um ihn am Wasserhahn über der Spüle zu füllen.

Andie versteifte sich und hielt den Atem an. Sie fühlte sich immer noch ziemlich angeschlagen. Seine warme Nähe trug nicht gerade dazu bei, ihr inneres Gleichgewicht wiederherzustellen.

„Willst du darüber reden?“, fragte Cleve ruhig. „Miranda …“

„Ich habe diese verbale Konfrontationstherapie bereits ausprobiert. Sie hat mir nicht geholfen …“

„Sprich mit mir.“

Sie schaute auf. Cleve lehnte an der Arbeitsplatte neben dem Herd und sah sie so eindringlich an, dass sie vergaß, was sie noch hatte sagen wollen. Das Einzige, was ihr durch den Kopf ging, war die Erinnerung daran, wie sie zitternd in seinen Armen gelegen und sich unglaublich beschützt gefühlt hatte. Der beruhigende Schlag seines Herzens, seine Hände, die sie so sicher hielten, auf ihrer nackten Haut.

„Na komm schon, schaden kann es nicht.“

Er stieß sich von seiner Stütze ab, kam auf sie zu. Alles, was sie jetzt noch sah, war sein Mund.

„Ich will dich nicht ängstigen oder in Panik versetzen, aber dieses Haus stand eine ganze Weile leer. Da wird diese Spinne nicht die einzige Kreatur bleiben, die aus irgendwelchen Ritzen kriecht und …“

„Eidechsen stören mich nicht“, unterbrach sie ihn hastig und zwang sich, zu dem kleinen Gecko zu schauen, der an der Küchenwand kurz unterhalb der Decke zu kleben schien. „Sie fressen die Mücken und Fliegen weg.“

„Das tun Spinnen auch.“

„Die haben aber Millionen von Beinen und Augen!“

„Millionen?“

Sie hörte den neckenden Ton, wusste, dass es gleich wieder um seine Mundwinkel zucken würde, und antwortete darauf selbst mit einem Lächeln. „Okay, acht“, gab sie zu und rieb verbissen an einem kleinen Schmutzfleck am Henkel einer Tasse. „Das sind mindestens vier zu viel, und wenn sie sich bewegen, sieht es noch nach viel mehr aus. Außerdem sind sie haarig und haben Reißzähne.“

„Wie grauenvoll!“ Cleve schüttelte sich übertrieben.

Ihr Lächeln vertiefte sich. Wann sind wir das letzte Mal so locker und vertraut miteinander umgegangen? Jedenfalls nicht mehr seit der Party, als sie sich vor einem der Ingenieure, der sich in sie verknallt hatte, in der Damentoilette hatte verstecken müssen. Rachel war in jener Nacht nicht dagewesen, und Cleve hatte sie heimlich durch den Hinterausgang rausgeschmuggelt.

„In meinem Kopf weiß ich, dass diese Spinnenmonster mehr Angst vor mir haben als ich vor ihnen. Aber sobald ich sie vor mir sehe, ist alles vergessen.“ Sie wagte einen Seitenblick. Cleves markantes Gesicht war schmaler als damals, die Falten tiefer.

Jetzt lehnte er sich wieder gegen die Spüle und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine für ihn typische Haltung, wenn jemand vor ihm stand und herumstammelte, während er ruhig abwartete, bis das Lamento vorbei war.

Andie seufzte. „Als ich acht war, hat ein Junge aus meiner Schulklasse mir eine riesige Spinne auf den Rücken gesetzt, die in den Kragen meiner Bluse gekrabbelt ist. Ich konnte sie überall auf meiner Haut spüren, wurde hysterisch, fing an zu kreischen und mir die Kleider vom Leib zu reißen …“ Allein bei der Erinnerung an den schrecklichen Moment bekam sie wieder eine Gänsehaut am ganzen Körper. „Die Knöpfe meiner Bluse flogen nach allen Seiten, und die widerliche Gang um den Jungen kreischte vor Vergnügen, während ich mich panisch auf den Boden warf. Erst als mir ein Lehrer zu Hilfe kam, stellte sich heraus, dass es gar keine echte Spinne, sondern eines dieser Gruseldinger aus einem Halloween-Shop war.“

„Und warum hat der kleine Mistkerl ausgerechnet dich als Opfer ausgesucht?“

„Anscheinend hatte sein Vater sich über ihn lustig gemacht, weil ein Mädchen ihn im Mathetest geschlagen hat.“

„Schade, dass man seine Eltern nicht wegen üblen Verhaltens verklagen kann.“

Sie seufzte noch einmal. „Auch wenn er vielleicht ebenso zu bedauern ist wie ich, ändert es nichts an der Tatsache, dass ich jedes Mal, wenn ich einer Spinne begegne, wieder acht bin und ihre haarigen Beine auf meiner nackten Haut spüre.“

„Was man eine klassische PTSD nennt, eine Arachnophobie.“

„Nicht von der Art, die gemeinhin ernst genommen wird. Ich habe längst gelernt, mich mit einer gelegentlichen Spinne in Keller oder Bad abzufinden, und glaub mir, ich habe auch dieses Bad zuvor gründlich untersucht! Aber beim Haarewaschen habe ich die Augen zugemacht, um kein Shampoo reinzubekommen, und als ich sie wieder öffnete …“ Sie schauderte. „Sie war plötzlich da, keine dreißig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt!“

„Das hätte jeden erschreckt. Und ich sage es nur ungern, aber hier wirst du wahrscheinlich noch einigen ihrer Verwandten begegnen. Warum ziehst du nicht in ein Hotel?“

„Ich hin nicht hier, um Urlaub zu machen …“, platzte sie heraus. „Die Erteilung eines Erbscheins, der Posy zum Verkauf der Villa berechtigen würde, wird hier mit der Geschwindigkeit einer altersschwachen Schnecke ausgestellt. Davon abgesehen steht sie in einem festen Engagement und kann sich selbst vor dem Herbst um gar nichts kümmern. Und bis dahin verkommt die arme Villa Rosa endgültig zur Ruine.“

„Darfst du dich überhaupt hier aufhalten, wenn die Erbschaftsangelegenheiten noch gar nicht geregelt sind? Woher hast du die Schlüssel?“

„Sofia hat sie Grandma bei ihrem letzten Besuch hier überlassen. Vielleicht hat sie geahnt, dass sie bald sterben wird.“

„Posys Patin hat hier gewohnt?“

„Ja, Sofia Romana. Du hast vermutlich noch nicht von ihr gehört, aber sie war früher eines dieser berühmten Supermodels. In der Eingangshalle hängt eines ihrer Fotos. Sie kam in der ganzen Welt herum, kannte absolut jeden von Rang und Namen und schaffte den Aufstieg in die High Society. Als sie König Ludanos Geliebte wurde, brachte er sie in dieser Villa unter.“

„Interessante Wahl für eine Patin …“

„Sie und meine Großmutter waren Freundinnen seit Kindergartentagen. Mama und Papa waren quasi rund um die Uhr damit beschäftigt, Marlowe Aviation am Laufen zu halten, nachdem mein Großvater so plötzlich verstorben war. Darum hat Grandma uns so oft wie nur möglich hierhergebracht. Es waren wundervolle Ferien voller Spaß und Aufregung mit all den Filmstars und anderen Prominenten, die hier ein und aus gingen.“

„Was ist dann passiert?“

„Wir wurden älter, die Anforderungen in der Schule größer, das Leben ernster.“ Versonnen schaute Andie aus dem Fenster. „Wir schickten Sofia zum Geburtstag und zu Weihnachten Karten und kleine Geschenke, aber ich wünschte …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Hast du schon gefrühstückt?“

„Nein, aber dein freundlicher Nachbar hat dir cornetti als Friedensangebot reingereicht.“ Cleve griff nach der Papiertüte und riss sie auf. Augenblicklich füllte der verlockende Duft des warmen cremefarbenen Gebäcks den Raum. „Ich hoffe, du teilst sie mit mir?“

Ihr Magen hob sich. Nicht jetzt … bitte nicht jetzt …

„Bedien dich …“

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Bestens.“ Rasch tauchte sie die Hände in das lauwarme Spülwasser und versuchte, sich auf den schwachen Geruch von Seife und Zitrone zu konzentrieren.

Cleve schnappte sich ein Geschirrtuch.

„Es ist hygienischer, es so trocknen zu lassen“, belehrte sie ihn.

„Ist das so? Was kann ich dann tun, um zu helfen?“

„Nichts. Warum frühstückst du nicht draußen auf der Veranda? Die cornetti schmecken an der frischen Luft bestimmt noch viel besser.“

„Meinst du?“ Er biss ein Stück von einem Hörnchen ab, und eine erneute Butter-Vanille-Wolke hüllte sie ein. „Ich glaube kaum, dass es noch besser geht. Gibt’s Kaffee?“

„N…ein“, würgte Andie hervor, presste eine nasse Spülhand vor den Mund, rannte aus der Küche und schaffte es gerade noch ins Bad. Nachdem sie sich erleichtert hatte, kühlte sie ihr Gesicht mit Wasser – und begegnete im Spiegel Cleves Blick.

Mit verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene lehnte er im Türrahmen hinter ihr. „Bin ich der Letzte, der es erfährt?“, fragte er kühl.

„Nein!“ Abwehrend schüttelte sie den Kopf. Ihr wurde erneut übel. Ihr Albtraum war Realität geworden. Genauso hatte es nicht kommen sollen. „Niemand weiß davon.“

„Lucy hat so eine Ahnung, glaube ich.“

„Ich habe ihr nichts gesagt“, versicherte Andie. „Ich habe mit überhaupt niemandem darüber gesprochen.“

Cleve nickte. „Und wann wolltest du es mir sagen?“

Andie schluckte. „Kann ich …“ Sie wies mit dem Kinn in Richtung der Tür, die er blockierte. „Ich glaube, ich brauche frische Luft.“

Stumm trat er zur Seite und folgte ihr auf die Veranda, wo sie sich auf eine der Stufen sinken ließ, die zum Garten hinunterführten. Wenn er sich jetzt neben sie gesetzt und eine Hand nach ihr ausgestreckt oder wenigstens etwas gesagt hätte …

Stattdessen lehnte er sich gegen eine der Säulen. Die lastende Stille zwischen ihnen zerrte an ihren Nerven, bis sie kurz davor war, aus der Haut zu fahren.

„Ich habe dich die ganze Zeit über nicht gesehen, Cleve.“

„Du warst diejenige, die an jenem Morgen ohne ein Wort gegangen ist. Und du hast deine Flüge so gelegt, dass wir nie gleichzeitig im Büro waren.“

„Was?“ Völlig perplex starrte sie zu ihm und schüttelte den Kopf. „Nein, das hast du getan.“

„Warum hätte ich das tun sollen?“, fragte er ungläubig. „Verdammt, Miranda, in dieser Nacht hast du mir das Leben gerettet!“, stieß er rau hervor. „Hättest du mich nicht aufgehalten, wäre ich in die Mayfly gestiegen und in direkter Linie Richtung Küste aufs Meer hinausgeflogen und oben geblieben, bis ich den Tank leergeflogen hätte. Das weißt du auch genau … darum hast du mich ja aufgehalten.“

„Ja …“ Das Wort war nicht mehr als ein kraftloses Wispern. Sie hatte die Todessehnsucht in seinen Augen gesehen.

„Und darum hast du den neuen Flieger am nächsten Morgen auch selbst überführt und es mir überlassen, deine Nymphe zu fliegen. Das habe ich verstanden und bin dir gefolgt. Aber du hast nicht lange genug gewartet, um zu sehen, ob ich sie dir auch tatsächlich heil zurückbringe.“

„Ich wusste, dass du auf sie aufpassen würdest.“

So wie ich auf dich. Aber das sagte sie nicht laut, sondern dachte es nur.

Andie hatte ihm in seiner schwärzesten Krise beigestanden, ihm den Trost und Komfort ihres warmen Körpers gewährt, als er zutiefst verzweifelt gewesen war. Seine Seele hatte nackt und bloß vor ihr gelegen, während er in ihren Armen weinte. Und sie hatte seinen Schlaf der Erschöpfung bewacht, in dem die schreckliche Anspannung des letzten Jahres von seinen verhärmten Zügen wich.

„Immi hat mich erwartet.“

„Zur Kleideranprobe? Das war natürlich wichtiger. Und, wie lief es?“

„Die Anprobe?“, fragte sie stirnrunzelnd. Warum, um alles in der Welt, will er das wissen? „Bestens … kein Schnickschnack, keine Rüschen.“ Tatsächlich erinnerte sie sich genauso wenig an das Kleid wie an Immis Geschnatter über Essen, Blumen und Musik.

In Gedanken war sie noch bei Cleve und der Nacht mit ihm gewesen.

Keinen einzigen der magischen Momente wollte sie jemals vergessen. Sie wollte sie wie einen kostbaren Schatz hüten, um sie später, wie ein Eichhörnchen seine gesammelten Vorräte, in kalten Wintern hervorzuholen und sich daran zu laben.

Die Schneiderin hatte erstaunt aufgeschaut, als eine der Tränen, die unbemerkt über ihre Wangen liefen, aufs Brautjungfernkleid getropft war. Ihrer irritierten Schwester hatte sie erzählt, sie habe an die Zeit denken müssen, als Immi so krank war, dass niemand sich hätte vorstellen können, sie einmal als glückliche Braut vor sich zu sehen.

Tatsächlich aber hatte sie die Tränen für Cleve vergossen, dessen Herz immer noch für seine verstorbene Frau schlug.

„Ich schätze, sie wird dein Kleid in der Taille auslassen müssen“, platzte er jetzt mitten in ihre trüben Gedanken. „Falls du das Baby behalten willst.“

Andie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. „Falls?“

„Ist das nicht der Grund, warum du niemandem von der Schwangerschaft erzählt hast? Und weshalb du weggelaufen bist und dich in diesem rosa Mausoleum vergräbst?“

„Nein!“ Ihr Mund war so trocken, dass sie heftig schlucken musste.

„Ich wäre nie auf den Gedanken verfallen, dass du nicht …“ Er brach ab. „Wie konntest du nur so ein Risiko eingehen?“

„Risiko?“ Sie sprang auf, trat zurück, stolperte und wäre gefallen, wenn Cleve ihren Arm nicht mit festem Griff gepackt hätte. Sobald sie die Balance wiedergefunden hatte, schüttelte sie ihn ab. „Das Einzige, woran ich an jenem Abend gedacht habe, warst du. Nicht an Empfängnisverhütung oder sonst was. Und meine einzige Sorge, als der Strich im Schwangerschaftstest sich blau verfärbt hat, war, dass diese Nachricht den ultimativen Schlag für dich bedeuten und dich vernichten könnte. Aber offenbar habe ich mich geirrt! Also, ja, es stimmt, du wirst Vater. Und jetzt leb damit!“

„Andie …“

Er wollte nach ihr greifen, doch sie wich ihm aus. Und da sie nicht zu den Spinnen und Spinnweben ins Haus zurückkehren wollte, drehte sie sich um und lief in den Garten. Zwischen wuchernden Sträuchern und hüfthohem Unkraut fand sie die verborgene Steinbrücke, wo Immi und sie sich früher immer in Mädchenträumen verloren hatten.

Es war noch zu früh für die Kletterrosen, aber sie bildeten schon Knospen aus. Noch ein paar Wochen und die Luft würde von ihrem Duft erfüllt sein.

Cleve rang nach Luft und presste eine Hand auf sein Herz, als ob er so den harten Schlag verlangsamen könnte. Miranda Marlowe wollte sein Baby behalten. Ihm war, als würde die Zeit gerade zurückgedreht. Er war wieder vierundzwanzig und entschlossen, mit dem schönsten Mädchen am Arm die ganze Welt zu erobern.

Am liebsten hätte er sein Glücksgefühl laut herausgeschrien und sich mit beiden Fäusten auf die Brust getrommelt wie ein Primat, aber er musste an Miranda denken. Cleve fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, um das breite Grinsen wegzuwischen, bevor er sich auf die Suche nach ihr machte.

Jegliche Farbe war von der alten Gartenbank abgeblättert, doch das nackte silbrige Holz wirkte stabil genug, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Sie saß da, mit geschlossenen Augen, die Beine weit von sich gestreckt. Als sie ihn durchs Unterholz brechen hörte, zischte sie etwas, das sich verdächtig nach einer Verwünschung anhörte.

Autor

Kate Hardy
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