Montana Mavericks - Babyboom in Rust Creek Falls (6-teilige Serie)

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Es gibt einen Babyboom in Rust Creek Falls, Montana!

DER MILLIONÄR UND DAS COUNTRYGIRL

Herzschmerz-Garantie - oder unverhofftes Happy End? Tessa liebt das Landleben und will eine Familie, Millionär Carson Drake ist in Los Angeles zu Hause und noch nicht bereit für Kinder. Doch er ist so verführerisch, dass sie ihm einfach nicht widerstehen kann … mit Folgen!

DEINE BLAUEN AUGEN ?

Warum verhält sich die schöne Dawn so abweisend? Dr. Jonathan Clifton versucht alles, um seiner neuen Kollegin näherzukommen. Natürlich nur, um das Arbeitsklima zu verbessern. Nicht weil Dawn mit ihren kornblumenblauen Augen die süßeste Versuchung ist. Denn Liebe im Job ist tabu!

IST UNSER GLÜCK NUR GELIEHEN?

"Sag Ja, sonst verlierst du deinen Sohn!" Anderson Dalton hat keine Wahl: Er muss eine Zweckehe mit Marina eingehen. Deswegen nimmt er ihre Hilfe an - von Liebe war nie die Rede. Bis Anderson merkt, dass er plötzlich viel mehr von ihr möchte als nur einen Freundschaftsdienst …

PLÄDOYER FÜR UNSERE LIEBE

Warum hat sie niemand gewarnt, was für ein Traummann dieser Walker Jones ist? Die junge Rechtsanwältin Lindsay hatte eine klare Strategie, um den Fall gegen ihn zu gewinnen. Aber als Walker sie nach dem ersten Prozesstag küsst, wird daraus ein sinnliches Plädoyer für die Liebe …

BELLAS DUNKLES GEHEIMNIS

Die hübsche Erzieherin Bella Stockton kann kaum glauben, was gerade passiert: Ihr gutaussehender Boss Hudson Jones flirtet mit ihr! Wie gern würde sie darauf eingehen. Aber was, wenn der umschwärmte Millionär ihr dunkelstes, schmerzlichstes Geheimnis herausfindet?

SÜßE SEHNSUCHT IM KERZENGLANZ

Plätzchenduft, Glitzerkugeln und glänzende Augen: Jamie Stockton und seine Kinder sollen ein wunderschönes Weihnachtsfest erleben - das hat sich Fallon fest vorgenommen. Doch der attraktive Witwer weist sie zurück: Ihm ist nicht nach fröhlichen Stunden. Aber vielleicht nach Liebe?


  • Erscheinungstag 25.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739928
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Christine Rimmer, Teresa Southwick, Marie Ferrarella, Shirley Jump, Karen Rose Smith, Brenda Harlen

Montana Mavericks - Babyboom in Rust Creek Falls (6-teilige Serie)

IMPRESSUM

Der Millionär und das Countrygirl erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2016 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Marriage, Maverick Style!“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 43 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Anna-Pia Kerber

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733739812

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Carson Drake sehnte sich zurück nach L. A.

Als Vorsitzender und Geschäftsführer sowohl von Drake Destillerien als auch von Drake Hospitality verbrachte er ein Leben voll luxuriöser Autos, leidenschaftlicher Frauen und sehr altem Scotch – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Kleinstädte interessierten ihn nicht im Geringsten, weil dort jeder jeden kannte und die Feiertage grundsätzlich mit Paraden und wehenden Flaggen begangen wurden.

Im Gegenteil.

Was um alles in der Welt hielt ihn noch in Rust Creek Falls, einem winzigen Fleckchen Erde im Alpenraum von Montana? Darüber dachte Carson nach, während er wenig interessiert den Festumzug beobachtete.

Der Umzug trug den klangvollen Namen Rust Creek Falls Baby Bonanza Memorial Day Parade – und ebenso klangvoll benahmen sich auch die Hauptdarsteller. Im übrigen Land wurde der Memorial Day zu Ehren der gefallenen Helden gefeiert – hier in Rust Creek Falls hatte man den Tag kurzerhand auf das Feiern des Nachwuchses umgemünzt.

Auf jedem Festwagen wurden also Babys vorgeführt. Eine Menge Babys. Dementsprechend hoch war auch der Geräuschpegel, und Carson begann sich zu fragen, wie so kleine Wesen ein solches Stimmvolumen entwickeln können.

Im Grunde genommen hatte er nichts gegen Babys, solange sie zu anderen gehörten. Ihnen eine gesamte Parade zu widmen, hielt er für reichlich übertrieben.

Neben ihm hob sein langjähriger Freund Ryan Roarke unauffällig die Hand, um ihm jemanden zu zeigen. Ryan war Anwalt und hatte sich – aus für Carson unerfindlichen Gründen – in das kleine Städtchen Rust Creek Falls verliebt. „Das ist Emmet DePaulo!“, erklärte er und deutete auf einen großen hageren Mann im Arztkittel, der ihnen im Vorbeifahren vom Umzugswagen aus zuwinkte. „Emmet leitet das örtliche Krankenhaus mithilfe von Callie Crawford. Sie ist …“

„… Nate Crawfords Ehefrau“, beendete Carson den Satz. „Ich erinnere mich.“ Die Crawfords waren eine alteingesessene, einflussreiche Familie in Rust Creek Falls, daher hatte Carson bereits mit Nate Kontakt aufgenommen.

Für sein Vorhaben hatte er in den vergangenen zwei Wochen beinahe alle vor Ort wichtigen Persönlichkeiten abgeklappert – und doch drohte das Projekt letztendlich zu scheitern.

Carson straffte sich. Es war ohnehin ein verrückter Einfall gewesen, der ihn hierhergeführt hatte. Vielleicht sollte er sich eingestehen, dass sein Plan an dieser Stelle fehlgeschlagen war. Immerhin konnte auch ein Mann wie er nicht jedes Projekt in eine Goldgrube verwandeln.

Carson war niemand, der rasch das Handtuch hinwarf, aber hier kam er wirklich nicht weiter. Er musste –

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Carson lehnte sich nach vorn.

Wer ist das? lag ihm zu fragen auf der Zunge.

Doch dann schluckte er die Frage hinunter und beschränkte sich darauf, mit weit aufgerissenen Augen weiter zu beobachten.

Verdammt. Diese Frau war ein Anblick, der unwillkürlich jeden klaren Gedanken aus seinem Gehirn löschte. All seine Sinne waren jetzt auf sie gerichtet.

Sie befand sich auf einem der Paradewagen und war als … Storch verkleidet.

Tatsächlich. Wenn Carson jemals gefragt worden wäre, ob eine Frau in einem Storchenkostüm heiß aussehen könnte, hätte er gelacht. Und verneint.

Aber sie war heiß.

Ihr volles braunes Haar quoll in dichten Locken unter dem orangefarbenen Storchenschnabel hervor und legte sich um ihre geröteten Wangen. Sie hockte auf einer Box, die mit weißer Watte beklebt worden war. Carson vermutete, dass diese aberwitzige Sitzgelegenheit eine Wolke darstellen sollte.

Das Storchenkostüm war ebenfalls weiß und flauschig, und die Arme der Frau waren in große weiße Schwingen gehüllt. In diesen Flügeln barg sie ein Baby, das in eine hellblaue Decke gewickelt war. Ihre langen schlanken Beine waren in orangefarbene Strumpfhosen gekleidet, die an den Füßen in breiten, flachen Schwimmflossen endeten. Es hätte ziemlich lächerlich wirken können – und das tat es schon auch.

Lächerlich und zugleich hinreißend.

Und sexy.

Über ihrem Kopf prangte ein Banner, das in blauen und pinkfarbenen Glitzerbuchstaben verkündete: Die Rust-Creek-Falls-Gazette.

„Das ist Kayla, Kristens Zwillingsschwester.“ Ryans Stimme drang wie aus weiter Ferne an Carsons Ohr. Seine Worte schienen keinen Sinn zu ergeben.

Carson rief sich zur Ordnung. Mit Mühe riss er den Blick von dem wunderschönen Storch und richtete ihn auf die Frau an dessen Seite. Diese Frau war als Freiheitsstatue zurechtgemacht, thronte auf einem kleinen Podest und hielt eine Fackel in die Höhe. Sie trug eine breite Schärpe um die Brust und winkte mit der freien Hand würdevoll dem Publikum zu.

Sie hatte Ryan gemeint, denn ihre Gesichtszüge erinnerten unverkennbar an Ryans Frau Kristen.

Carsons Interesse jedoch wurde unverzüglich wieder von der Lady im Storchenkostüm gefesselt. Das Baby auf ihrem Arm nörgelte hörbar.

Plötzlich war es, als würde sie seinen durchdringenden Blick auf ihrem Gesicht spüren. Ihr schlanker Körper verharrte in der Bewegung. Dann wandte sie langsam den Kopf in seine Richtung.

Peng! Es war wie in einem dieser kitschigen, romantischen Filme, wenn sich die Blicke treffen und ineinander verhaken. Carson hatte das Gefühl, in ihren Augen zu versinken. Haltlos und mit Haut und Haaren – auf der ganzen Welt gab es nichts, was ihn retten konnte.

Es war, als hätte die Frau die Hand ausgestreckt und ihn berührt. Es war, als hätten sie soeben einen kleinen magischen Augenblick miteinander geteilt, der nur ihnen gehörte.

Die Welt um sie herum schien stillzustehen.

Er sah sie an, und sie blickte zurück, die schönen Lippen leicht geöffnet, als sei er der einzige Mensch auf der Straße – und das, obwohl die Band viel zu laut spielte, ein Teenager einige Knallfrösche auf die Straße warf und selbst das lauteste Babygeschrei von dem allgemeinen Getöse verschluckt wurde.

Was hatte diese Frau an sich, das ihn auf Anhieb so verzauberte?

Carson hätte es nicht in Worte fassen können.

Vielleicht lag es an ihren großen glänzenden Augen. Oder an dem gespannten, beinah fieberhaften Ausdruck in ihrem ebenmäßigen Gesicht. Dieses Gesicht vereinte die perfekten Eigenschaften des Mädchens von nebenan mit den Zügen einer schönen Wilden.

Oder es lag an dem Kostüm. Die Frauen, mit denen Carson für gewöhnlich verkehrte, hätten sich nicht einmal im Sarg in einem Storchenkostüm erwischen lassen.

Ganz egal, was ihn dazu brachte, einer Unbekannten wie ein verliebter Trottel nachzustarren – er musste sie treffen.

Ihr Festwagen zog vorbei.

Als Nächstes erschien ein Paradewagen mit Kriegsveteranen, vollgepackt mit Menschen in Tarnfarben. Auch sie trugen Babys auf den Armen, vollständig in Camouflage gehüllt.

Carson schüttelte langsam den Kopf. Es fiel ihm schwer, in die Gegenwart zurückzufinden. Eine Gegenwart, in der es ja nicht nur diese Frau gegeben hatte, sondern auch das plärrende Baby in ihren plüschigen weißen Storchenschwingen.

Sie hatte ein Kind, um Himmels willen. Carson wünschte sich Frauen, die frei und ungebunden waren. Davon abgesehen gab es nicht nur dieses Baby, sondern womöglich auch einen Ehemann dazu.

Hatte er den Verstand verloren? Er hatte noch nie einer Mutter Avancen gemacht. Und um vergebene Frauen machte er ebenfalls einen weiten Bogen.

Wenn Carson sich Kinder gewünscht hätte, dann hätte er sich damals nicht scheiden lassen müssen.

Man hätte meinen können, Carson hätte bereits von dem Magic Moonshine gekostet, weswegen er ursprünglich nach Montana geflogen war. Dabei handelte es sich um eine ganz bestimmte Schnapssorte, schwarz gebrannt, deren Rezept Carson für Drake Destillerien aufkaufen wollte.

Angeblich braute ein exzentrischer Kerl namens Homer Gilmore den unvergleichlichen Branntwein an einem geheimen Ort in Rust Creek Falls. Bisher hatte Carson allerdings weder Homer zu Gesicht bekommen noch dessen Getränk kosten können.

Aus diesem Grund war er nahe daran, seinen hübschen Plan aufzugeben und unverrichteter Dinge nach L. A. zurückzukehren.

Aber der Anblick dieser Frau veränderte alles. Mit einem Mal dachte Carson nicht mehr daran aufzugeben. Er sehnte sich nach einem Erfolgserlebnis – und er würde es bekommen.

Er wollte zumindest einmal mit ihr reden. Sollte sich herausstellen, dass sie verheiratet war, konnte er sich immer noch zurückziehen.

Allerdings ließ sich eine solche Information leicht herausfinden. Immerhin befanden sie sich in einer Kleinstadt. „Hast du das Mädchen im Storchenkostüm gesehen?“, fragte er Ryan beiläufig.

„Tessa Strickland“, erwiderte dieser bereitwillig. „Lebt in Bozeman. Zurzeit besucht sie ihre Großeltern in deren Gästehaus in Rust Creek Falls.“

Tessa. Der Name passte zu ihr. „Verheiratet mit …?“

Ryan bedachte Carson mit dem schnellen, scharfen Blick Ich bin Anwalt, du kannst mir nichts vormachen. „Du bist an Tessa interessiert? Warum?“

„Ryan, ist sie verheiratet oder nicht?“

Sein Freund strich sich das pechschwarze Haar aus der Stirn. „Tessa ist Single.“

„Aber sie hat ein Baby.“

„Du bist interessiert.“

„Gäbe es damit ein Problem?“

Ryan grinste. „Überhaupt nicht. Und Tessa hat kein Baby.“

Sie ist Single. Kein Baby. Schon sah der Tag freundlicher aus.

„Das Baby gehört Kayla“, fuhr Ryan im Plauderton fort. „Sie ist mit Trey Strickland verheiratet. Die beiden wohnen mittlerweile unten im Thunder Canyon.“

„Respekt“, bemerkte Carson. „Du wohnst erst seit sechs Monaten hier und scheinst schon alles über jeden zu wissen.“

Ryan breitete die Arme aus, als wolle er die gesamte Straße mit einer Geste umschließen. „Willkommen in meiner neuen Heimat!“, erklärte er. Ryan und seine Frau Kristen waren allerdings ins nahe gelegene Kalispell gezogen – doch was spielte das auf dem Land schon für eine Rolle?

„Der kleine Gilmore ist übrigens gerade einmal zwei Monate alt“, fügte Ryan hinzu. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Gilmore. Kannst du mir folgen?“

Carsons Augen weiteten sich. „Das ist doch nicht dein Ernst.“

„Mein voller Ernst.“

„Trey und Kayla haben ihr Kind nach Homer Gilmore benannt? Einem vagabundierenden Schwarzbrenner?“

„Exakt.“

„Wer um alles in der Welt würde sein Baby nach einem alten Obdachlosen benennen?“

Ryan lehnte sich zu Carson hinüber und senkte vertraulich die Stimme. „Kayla und Trey sind am Nationalfeiertag im vergangenen Jahr zusammengekommen …“ Er hob die Braue und ließ den Satz unvollendet, als wäre somit alles geklärt.

Carson verstand die Andeutung. „Du willst mir weismachen, dass sie wegen Homers Moonshine zusammengekommen sind?“

„Das hast du gesagt, nicht ich.“ Um Ryans Mund lag ein zufriedenes Grinsen.

Am Vierten Juli im vergangenen Jahr hatten einige Frauen in Rust Creek Falls von dem Magic Moonshine gekostet. In der Kleinstadt waren an diesem Tag sämtliche Hemmungen gefallen – und danach waren ungewöhnlich viele Frauen schwanger gewesen. Daher rührte der Begriff Baby Bonanza – Babysegen.

„Ich nehme an, Kayla brauchte eine Pause vom Fackel- und Babytragen. Sie hat den kleinen Gil deshalb Tessa in die Hand gedrückt“, vermutete Ryan. „Und du bist interessiert. Gib es zu.“

„Ich habe noch eine Frage.“

„Carson. Gib es einfach zu.“

„Warte und hör zu. Kaylas Ehemann heißt Strickland. Genau wie Tessa. Ist er ihr Bruder?“

„Nein. Er ist ihr Cousin.“ Ryans Augen verengten sich. „Wir kennen uns nun schon sehr lange. Was hast du vor? Ich möchte es wirklich gerne wissen. Diese Stadt bedeutet mir etwas. Die Menschen bedeuten mir etwas.“

Carson hielt seinem Blick stand. „Ich finde sie einfach umwerfend!“, gab er schließlich zu. „Und ich würde sie gerne kennenlernen. Findest du etwas falsch daran?“

Ryan entfuhr ein kleiner selbstzufriedener Laut. „Ich wusste es. Und schon wirkt der Zauber von Rust Creek Falls auch auf dich.“

„Nein, tut er nicht.“

„Sicher. Du kannst dich ebenso wenig entziehen wie wir.“

„Unsinn.“

„Oh doch. Du wirst dich in Tessa verlieben und nie mehr gehen wollen.“

Carson verkniff sich die spöttische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. „Ich würde einfach gerne diese Frau kennenlernen. Kannst du das arrangieren?“

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Tessa wiegte das schreiende Baby im Arm und befahl gleichzeitig ihrem rasenden Herzschlag, sich zu beruhigen.

Aber der kleine Gil schrie nur noch lauter, und ihr Puls begann sich beinah zu überschlagen. Du liebe Zeit, wie brachte man so ein winziges Bündel bloß zum Schweigen? Und wie um alles in der Welt konnte ein so kleines Wesen so einen Lärm machen?

Tessa widerstand dem Impuls, das Baby einfach der Mutter zurückzugeben. Na schön, sie war heillos überfordert mit Babys, aber sie musste zumindest durchhalten, bis Kayla die schwere Fackel ablegen durfte.

„Schhh, Kleiner, es ist alles gut“, versuchte sie den weinenden Jungen zu trösten.

Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen lassen, wäre vom Wagen des Festumzugs gesprungen und losgerannt, so schnell es ihre albernen Watschelschuhe zuließen.

Bloß weit weg, bevor er sie in der Menge wiederfinden würde.

Und nein, sie kannte ihn nicht. Hatte ihn nie zuvor gesehen.

Aber nach einem Blick in seine Augen wusste sie, dass er nach ihr suchen würde. Und damit würde der ganze Ärger von vorn anfangen.

Männer wie er waren ihr Verderben.

Männer wie er bekamen alles, was sie sich in den Kopf setzten, diese großen, breitschultrigen, selbstbewussten Typen, die allein mit einem einzigen Blick den Raum beherrschen konnten.

Der Mann hatte aufmerksame dunkle Augen, dichtes dunkelbraunes Haar und Wangenknochen, die wie gemeißelt aussahen. Und obendrein dieser schöne, fein geschwungene Mund, der fast schon gefährlich sexy wirkte.

So, wie er dort oben auf den Stufen vor der Stadthalle Position bezogen hatte, sah es so aus, als gehöre ihm der gesamte Platz, die Halle, die Stadt, das Tal und die Berge im Hintergrund.

Er hatte Geld, allein von seinem perfekt geschnittenen Jackett und der Art, wie er die Schultern straffte, konnte Tessa es ablesen. Genug Geld, um darin zu baden.

Wie er sie angesehen hatte …

Oh, sie kannte diesen Blick. Sie kannte die Sorte Männer, die ihr solche Blicke zuwarfen, diese Männer waren umwerfend schön und gefährlich zugleich.

Für einen solchen Blick hatte sie schon einmal alles aufgegeben: ihren Job, ihre Zukunft, ihr Leben – nur, um einem Mann zu folgen und zwei Jahre später nach Bozeman zurückzukehren und die Scherben wieder zusammenzukehren.

Ein weiteres Desaster dieser Art konnte sie sich nicht leisten.

Kayla blickte zu ihrem Wolkenpodest hinab. „Alles in Ordnung, Tessa?“

„Sicher“, schwindelte sie und wiegte das Baby ein wenig schneller.

„Wir haben es gleich geschafft“, sagte Kayla beschwichtigend.

Zu Tessas Erleichterung kam in diesem Augenblick die Grundschule von Rust Creek Falls in Sicht. Hier hatte der Festumzug begonnen, und hier fand er auch wieder sein Ende, nachdem sie in quälend langsamem Tempo die Hauptstraße auf und ab prozessiert waren.

Konnten sie nicht schneller fahren? Bei dieser Geschwindigkeit würde der Mann sie einholen, wenn er es darauf anlegte. Und dessen war sich Tessa beinah zu hundert Prozent sicher.

Er würde dort auf dem Parkplatz stehen und warten. Die Sonne würde helle Reflexe in sein schönes dunkles Haar zaubern, und er würde aussehen wie der fleischgewordene Traum – der sich nach einiger Zeit bestimmt in Tessas schlimmsten Albtraum verwandeln würde.

Tessa konnte es nicht leugnen: Die gegenseitige Anziehungskraft hatte urplötzlich in der Luft gelegen und war fast übermächtig gewesen.

Aber sie wusste ja, wohin Anziehungskraft und Leidenschaft führten. Sie führten dazu, dass man alles aufgab, wofür man ein Leben lang hart gearbeitet hatte. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.

Aus diesem Grund sprang Tessa panisch auf, noch bevor der Wagen völlig zum Stillstand gekommen war. Kayla, die den Grund für Tessas Unruhe missdeutete, legte die Fackel beiseite und nahm Tessa mitleidig das Baby ab. Sofort hörte es auf zu weinen.

„Danke“, sagte sie mit diesem warmen, wohlwollenden Lächeln, das frischgebackene Mütter stets im Gesicht tragen.

Tessa war jedoch bereits vom Paradewagen gesprungen und hechtete zu ihrem Auto. „Gern geschehen“, schrie sie über die Schulter zurück.

„Wir sehen uns beim Picknick!“, hörte sie Kayla rufen, doch sie blieb ihrer Freundin eine Antwort schuldig.

Mit einem erleichterten Seufzen sank sie auf den Fahrersitz. Auf keinen Fall würde sie zu dem Picknick im Park gehen. Die Gefahr, dem Fremden dort zu begegnen, war viel zu groß.

Während sie den Motor anließ, versuchte sie sich zu beruhigen. Natürlich war es albern anzunehmen, dass er dort auf sie warten würde. Und vermessen. Aber tief in ihrem Inneren spürte sie, dass er es tun würde.

Zunächst einmal musste sie ihr Kostüm loswerden.

Der Weg zur Pension ihrer Großeltern war nicht weit, doch sie war froh, dass sie den Wagen genommen und mit den übergroßen Storchenschuhen nicht zu Fuß gehen musste.

Ein kleiner Umweg über die Cedar Street konnte ebenfalls nicht schaden, um dem Tumult auf der Hauptstraße zu entgehen. Durch das geöffnete Wagenfenster drang der Geruch nach Feuerwerkskörpern und Grillkohle. Zu dieser Zeit würden sich die ersten Familien im Park treffen und das Picknick vorbereiten, und die Grillfeuer würden bis spät in die Nacht brennen.

Erleichtert und ohne weitere Zwischenfälle parkte Tessa wenige Minuten später vor der Pension ihrer Großeltern. Dabei handelte es sich um ein altes vierstöckiges Haus im viktorianischen Stil. Die Fassade hatte einst in einem kräftigen Violett geleuchtet, doch inzwischen war sie zu einer blassen Lavendelfarbe verblasst.

Tessa sprang aus dem Auto, rannte zur hinteren Veranda und eilte die schmale Treppe im rückwärtigen Teil des Hauses hinauf.

Drinnen war es still. Tessa war froh, dass ihr auf dem Weg zu ihrem Zimmer niemand begegnete. Da sie sich das Badezimmer mit einem weiteren Gast teilen musste, prüfte sie zunächst, ob das Bad besetzt war. Als dies nicht der Fall war, schälte sie sich aus dem Storchenkostüm und gönnte sich eine ausgiebige Dusche.

Danach trug sie großzügig ihre duftende Körperlotion auf und verbrachte länger als sonst damit, ihre wilden Locken zu sanften Wellen zu bändigen. Schließlich legte sie sogar Make-up auf – etwas, worauf sie für gewöhnlich keine Zeit verschwendete.

Es war ohnehin albern, da sie sich ja fest vorgenommen hatte, das Haus am heutigen Tag nicht mehr zu verlassen.

Allerdings war inzwischen einige Zeit vergangen, und ihre Panik war einer nervösen Unruhe gewichen, die sich schließlich in freudige Erwartung verwandelte.

Wem willst du etwas vormachen? dachte sie, als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. Er ist nur irgendein Kerl, der zufällig ziemlich heiß aussieht. Das ist noch lange kein Verbrechen.

Vielleicht sollte sie sich eingestehen, dass sie überreagiert hatte. Überhaupt war es lächerlich, sich den Feiertag von einem Fremden ruinieren zu lassen, mit dem sie nur einen Blick ausgetauscht hatte.

Sie würde sich nicht in ihrem Zimmer verkriechen.

Im Gegenteil, sie würde ausgehen und Spaß haben. Womöglich war diese Reaktion auch ein Zeichen dafür, dass sie endlich über die Katastrophe mit Miles hinweg war.

Tessa durchforstete den Kleiderschrank und entschied sich für ein weißes Trägerhemdchen, das knapp über dem Bauchnabel endete. Dazu schlüpfte sie in eine enge Jeans und streifte ihre roten Lieblingscowboystiefel über. Zufrieden warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Im Vergleich zu vorhin wirkte sie jetzt selbstsicher. Und entspannt.

Als Ergänzung zu ihrem Look schnappte sie sich auf dem Weg nach draußen noch den Cowboyhut mit den Nieten, Glitzersteinchen und dem Leopardenprint an der Krempe.

Bis zum Park war es nicht weit, sodass sie das Auto stehen ließ und sich zu Fuß auf den Weg machte. Unterwegs nahm sie sich fest vor, den Tag zu genießen. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Vergangenheit ihr immer wieder im Weg stehen würde.

Davon abgesehen hatte der Fremde sie inzwischen vermutlich vergessen. Wahrscheinlich würde sie ihn nie wiedersehen.

2. KAPITEL

Mit selbstsicheren Schritten verließ Tessa den asphaltierten Bürgersteig und ging über die Rasenfläche. Der gesamte Park war mit einem geschäftigen Summen erfüllt. Sie passierte Familien auf Picknickdecken, Eiscremeautomaten und riesige Kühlboxen voller Softdrinks und anderer Erfrischungen.

Plötzlich trat jemand aus der Menge auf sie zu und hielt sie am Arm fest. Es war Ryan Roarke. „Tessa. Möchtest du dich nicht zu uns gesellen? Ich würde dir gerne jemanden vorstellen.“

Sie wandte sich um – und erkannte ihn im Schatten eines riesigen Pappelbaums. Er war keine zehn Meter entfernt, umgeben von Kristen, Kayla und Trey, und sah sie aufmerksam an. Seine Augen glitzerten gefährlich, und um seine Mundwinkel spielte der Anflug eines bedrohlich schönen Lächelns.

Beinahe wäre sie bei seinem Anblick gestolpert, doch Ryan packte geistesgegenwärtig ihren Oberarm. „Vorsicht! Alles in Ordnung?“

Oh ja. Das war es. Sie würde sich zusammenreißen und sich dem gut aussehenden Fremden stellen. Er war schließlich nicht Miles – und heute war nicht damals. „Sicher. Wen möchtest du mir vorstellen?“

Ryan, der zugleich unheimlich glatt, witzig und ausgelassen sein konnte, deutete in den Schatten der Pappeln. „Einen Freund von mir. Lass uns rübergehen.“ Ein wissendes Lächeln lag um seinen Mund, das Tessa für einen Sekundenbruchteil durcheinanderbrachte.

Doch dann richtete sich ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Fremden. Er wartete ab, bis Tessa die anderen begrüßt und Kristen umarmt hatte, dann sagte er: „Hallo, Tessa.“

Mit einer fast trotzigen Geste hob sie das Kinn und sah ihm direkt in die Augen. Warum musste er auch so verflixt groß sein? Mit Sicherheit an die ein Meter neunzig. Zu groß, zu heiß, zu … alles. Atemlos betrachtete sie sein Gesicht. Ein angenehmer Schauer rann über ihren Rücken.

Ryans Stimme holte sie zurück in die Gegenwart. „Tessa, das ist Carson Drake. Er kommt aus L. A. und ist hier geschäftlich unterwegs. Ich kenne ihn seit einigen Jahren, habe hin und wieder für ihn gearbeitet.“

Tessa versuchte ihre Nervosität herunterzuschlucken. „Willst du mir damit sagen, dass er harmlos ist und dass ich ihm vertrauen kann?“

Ryan zögerte. „Harmlos. Hmm, ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde.“

„Hör nicht auf ihn“, mischte sich der Mann nun selbst ein. Er hob die Braue und wandte sich an Ryan. „Solltest du nicht auf meiner Seite sein?“

„Oh, das bin ich“, erwiderte der Anwalt fröhlich. „Ich bin mir bloß nicht sicher, ob harmlos das richtige Wort für dich ist.“

In diesem Augenblick näherte sich Kristen ihrem Mann und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Liebling, Tessa ist ein großes Mädchen. Ich bin sicher, dass sie mit Carson fertigwird.“

Tessa wandte übertrieben den Blick zum Himmel. „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ich in eine Falle gelockt werde?“

„Weil ich darum gebeten habe, dir vorgestellt zu werden.“ Carsons tiefe samtige Stimme sandte erneut einen warmen Schauer über ihren Körper und ließ ihre Nervenenden zittern.

Und noch etwas begann in ihrem Kopf zu klingeln: Es waren die Alarmglocken, die sie vor seinem gefährlichen Lächeln warnen sollten. Doch Tessa beschloss, sie einfach zu ignorieren. An einem so schönen Tag gab es nichts, wovor man sich fürchten brauchte.

„Also, Carson, welche Art von Geschäft hat dich nach Rust Creek Falls geführt?“, fragte sie direkt.

Ryan kam ihm zuvor. „Er ist hier, um einen Deal mit Homer Gilmore abzuschließen.“

Tessa behielt Carsons Miene im Auge. Dieser hielt ihrem Blick stand. „Was könnte Homer Gilmore besitzen, das du haben willst?“

„Ich möchte mit ihm über seinen berühmten Moonshine sprechen.“

Berüchtigt trifft es wohl besser!“, warf Ryan belustigt ein.

Tessa war erstaunt. „Du möchtest seinen Moonshine kaufen?“

„Ich will die Formel kaufen.“

„Und? Hast du schon Glück gehabt?“

„Nicht wirklich. Ich bin seit zwei Wochen hier, um ein Meeting mit ihm zu arrangieren, aber bisher hat es nicht geklappt. Dabei hat er mich schon viermal angerufen.“ Carson zog die Stirn in unkleidsame Fältchen. „Zumindest gehe ich davon aus, dass er es war. Soviel ich weiß hat er gar kein richtiges Zuhause. Und woher sollte er meine Mobilnummer haben? Vielleicht erlaubt sich bloß jemand einen Scherz mit mir.“ Mit diesen Worten warf er Ryan einen argwöhnischen Blick zu.

Ryan hob mit einer abwehrenden Geste die Hände. „Hey, sieh mich nicht so an. Wenn sich wirklich jemand einen Scherz mit dir erlaubt, bin ich es jedenfalls nicht.“

Kayla schüttelte den Kopf. „Homer weiß mehr, als man ihm zutrauen würde“, gab sie zu bedenken. „Er ist ein kluger Mann. Und er hat ein großes Herz. Er ist bloß ein bisschen kauzig.“

Tessas Neugier war geweckt. „Was hat er denn am Telefon gesagt?“, wollte sie wissen.

Er sah sie an. Sein Blick war so aufmerksam und wohlwollend, dass sich ein leises Prickeln auf ihrer Haut ausbreitete. „Homer hat gesagt, er wüsste, dass ich nach ihm suche, und dass er daran arbeite“.

„Woran arbeite?“

Carson hob die Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Er sagte, er würde sich vielleicht auf ein Geschäft einlassen, und dass er sich bald wieder melden würde.“

„Das ist alles?“, fragte Trey.

„Das ist alles.“

„Er hat dich viermal angerufen und nicht mehr gesagt als das?“, hakte Kristen nach.

„So ziemlich. Es war entmutigend. Man sollte annehmen, dass ein Obdachloser daran interessiert sein müsste, reich zu werden. Aber offensichtlich nicht Homer Gilmore.“

„Im Ernst?“ Tessa hob die Brauen. „Du willst Homer die Moonshine – Formel abkaufen und einen reichen Mann aus ihm machen?“

„Richtig.“ Carson streckte den Arm aus und ergriff ihre Hand. Seine Berührung sandte Hitzewellen durch ihren Körper. Er zog ihre Hand an sich, und Tessa ließ es geschehen. „Komm, lass uns etwas trinken gehen.“ Mit diesen Worten legte er ihre Finger um seinen Arm.

Der Stoff seines teuren Sportsakkos fühlte sich glatt und kühl an. Darunter konnte Tessa die stahlharten Muskeln spüren, und für einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie das beängstigend oder erregend finden sollte.

Aus der Nähe betrachtet war Carson Drake sogar noch anziehender. Und sein Duft war atemberaubend. Vermutlich ließ er ihn eigens für sich allein kreieren, von irgendeinem angesagten Parfümeur aus London oder Paris, für den er ein kleines Vermögen springen ließ.

Allerdings war das Parfüm wirklich jeden Penny wert.

Er wandte den Kopf und schenkte ihr ein Lächeln.

Peng! Es war, als wäre sie von einem Blitz aus puren Glückshormonen getroffen worden. Wenn Carson sie ansah, gab er Tessa das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein, der einzige Mensch, der zählte.

Und dieses Gefühl war es, nach dem man so schnell süchtig wurde. Ein Gefühl wie eine Droge, und genau wie eine Droge war es auch so gefährlich, sich darauf einzulassen.

Das hatte sie schon einmal getan. Und dabei alles verloren.

Sie hätte ihren Verstand gebrauchen und weit weg laufen sollen. Doch sie tat es nicht. Stattdessen hörte sie sich sagen: „Ich werde mit dir etwas trinken gehen, aber nur, wenn du verrätst, wie du an Homers Magic Moonshine herankommen willst.“

„Abgemacht.“

Sie ließen die anderen zurück und begaben sich zum Getränkestand. Carson holte sich ein Budweiser, während sich Tessa für ein Ginger Ale entschied. Dann schlenderten sie Arm in Arm durch den Park und wurden alle paar Meter von Bekannten begrüßt, mit denen sie einige Worte wechselten.

Tessa war beeindruckt. Während der zwei Wochen hatte Carson wirklich keine Zeit verschwendet: Er schien bereits die Hälfte von Rust Creeks Einwohnern beim Namen zu kennen.

Schließlich fanden sie ein ruhiges Plätzchen auf einer hölzernen Bank jenseits eines mächtigen Tannenbaums. Carson erzählte ihr von seinen Clubs und Restaurants in Südkalifornien – und alles über die Drake Destillerien.

„Ich kenne deine Marken“, fiel Tessa ein. „All diese teuren Luxuswhiskeys, Scotch, Wodka … Macht ihr nicht auch Gin? Und jetzt willst du mir erzählen, du willst Homer Gilmores Rezept in Flaschen abfüllen und im ganzen Land verkaufen?“

„Auf der ganzen Welt, um genau zu sein.“

„Wow.“

„Meine Familie stellt seit beinah hundert Jahren hochwertige Spirituosen her. Als ich übers Internet von dem Magic Moonshine hörte, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich musste unbedingt dahinterkommen, was es damit auf sich hat.“

„Du weißt schon, dass Homer ein Schwarzbrenner ist.“

„Sicher. Aber wenn seine Produkte wirklich so gut sind, werde ich sie verkaufen. Legal. Und zwar unter der Drake-Marke.“

„Ehrlich gesagt hört sich die Idee ein bisschen verrückt an.“

„Die besten Einfälle sind oftmals verrückt. Ich rief sofort Ryan an, um mehr Details zu erfahren. Wenn man den Gerüchten glauben darf, ist Homers Moonshine exzellent. Wenn das stimmt, werde ich die Rezeptur kaufen.“

„Sei vorsichtig!“, warnte sie. „Am vergangenen Vierten Juli haben die Leute seinen Moonshine getrunken und Dinge getan, an die sie sich später nicht einmal mehr erinnern konnten.“

„Ich nehme solche Dinge sehr ernst“, erklärte er ruhig. „Bei der Herstellung von Spirituosen gibt es strenge Auflagen, und daran halte ich mich auch. Sollte ich Homers Moonshine jemals zu Gesicht bekommen, wird er zunächst im Labor zahllosen Tests unterzogen. Erst wenn er all die Tests bestanden hat, kommt er auf den Markt.“

Tessas Blick verharrte für einen Augenblick auf seinen teuren Stiefeln. Sie seufzte. „Ich war letztes Jahr nicht hier, aber es soll unglaublich gewesen sein. Wie verzaubert. Offenbar hatten einige Leute die beste Zeit ihres Lebens. Und es haben sich viele Paare gefunden.“

„Daher der Babysegen.“

„Genau. Für eine kleine Stadt wie Rust Creek Falls haben sich die Menschen sehr ungewöhnlich benommen. Hemmungsloser. Homer hat den Moonshine unbemerkt in die Schüssel mit der Bowle gegeben, für die ursprünglich nur ein bisschen Sekt vorgesehen war. Niemand wusste, was er da trank.“

„Davon habe ich gehört. Der alte Narr kann von Glück reden, dass ihn niemand dafür verklagt hat.“

„Zunächst wusste niemand, wer die Bowle manipuliert hatte. Anfangs gab es viel Gerede, und man wollte den Täter unbedingt fassen und vor Gericht bringen. Aber die Monate vergingen, ohne dass man ihn fassen konnte. Zu dem Zeitpunkt, als Homer sich offenbarte, war der Zorn längst verebbt.“

„Er wurde nicht verhaftet? Nicht einmal angeklagt?“

„Nein. Homers Tat wurde zu einer Art Legende, die Art von Geschichte, die man noch seinen Kindern erzählt, und die erzählen sie wiederum ihren Kindern und so weiter. Angeblich bringt Homers Moonshine die Leute dazu, Dinge zu tun, die sie sich für gewöhnlich nicht trauen würden. Du musst bedenken, dass dies eine Kleinstadt ist. Normalerweise gehen die Menschen nicht zu einer Feier im Park und erwachen am nächsten Morgen neben einem Fremden im Bett.“

Er lehnte sich zu ihr, sodass seine Stirn die Krempe ihres Huts berührte. Der Wind wehte einen Hauch seines Parfüms in ihre Richtung. „Ein echtes Aphrodisiakum, hm? Das könnte interessant werden.“ Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund. „Zumindest unter dem Marketinggesichtspunkt.“

„Marketing. Sicher.“ Sie gab sich Mühe, ihrer Stimme einen spöttischen Ton zu geben – auch wenn sie ein wenig atemlos war. „Sex sells oder wie war das?“

„Das hast du gesagt – nicht ich.“ Plötzlich war sein Mund ihrem Mund sehr nahe.

Der Gedanke, ihn zu küssen, war reizvoll. Fast unwiderstehlich. Und genau deswegen musste sie ein bisschen Abstand gewinnen. Sie legte die Handflächen an seine Brust und schob ihn sanft zurück. „Hier ist mein Platz.“

Sein Lächeln wurde eine Spur gefährlicher. „Es gefällt mir an deinem Platz.“

Ihre Hände ruhten noch immer auf seiner Brust. Sie konnte die harten Muskeln unter dem Hemd spüren, und jenseits davon den starken, gleichmäßigen Herzschlag. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

Zumindest verstand er den Hinweis. Er lehnte sich zurück, legte den Arm über die Lehne der Bank und nahm einen Schluck Bier. „Ryan hat gesagt, du kommst aus Bozeman“, wechselte er zu einem leichteren Thema.

Dankbar nahm sie den Faden auf. „Stimmt. Ich bin dort geboren und aufgewachsen.“

„Arbeitest du auch dort, Tessa?“

„Ich bin Grafikdesignerin. Zurzeit arbeite ich freiberuflich für eine kleine Firma in Bozeman. Und damit meine ich wirklich klein – so klein, dass sie über die Sommermonate hinweg schließen.“

„Und so hast du die wunderbare Gelegenheit, jedes Jahr das malerische Rust Creek Falls zu besuchen.“

„Genau. Aber natürlich nehme ich auch andere Aufträge an. Meine Webseite heißt übrigens StricklandGraphix.com. Nur für den Fall, dass du mir deine nächste Marketingkampagne überlassen und mich reich machen willst.“

„Bist du gut?“

„Wie soll ich wohl darauf antworten?“

„Erzähl mir, wie großartig du bist. Ich mag selbstbewusste Frauen.“

Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn auf die freie Fläche zwischen ihnen. „Gut. Wenn es um Grafikdesign geht, kann mir niemand etwas vormachen.“ Auch wenn ich meinen letzten Job vermasselt habe und vermutlich nie wieder für eine große Firma arbeiten werde.

„Wo hast du studiert?“

„An der School of Visual Arts.“

„In New York?“

Sie stieß ihm sanft den Ellenbogen in die Rippen. „Dieser erstaunte Gesichtsausdruck ist nicht besonders schmeichelhaft.“

„Es ist eine ziemlich angesehene Schule.“ In seiner Stimme lag aufrichtige Bewunderung, und es fiel ihr schwer, sich nicht darin zu sonnen.

„Eine der besten. Nach dem Abschluss habe ich eine Weile in New York gearbeitet.“

„Und was hat dich zurück nach Bozeman geführt?“

„Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Und jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür, sie zu erzählen.“

„Aber ich würde sie gerne hören.“ Er lehnte sich zu ihr. Sie spürte seinen Arm hinter ihrem Rücken, spürte seine überdeutliche männliche Präsenz. „Erzähl sie mir. Jetzt.“

Wie machte er das? Am Ende brachte er sie noch dazu, ihre gesamte Lebensgeschichte auszuplaudern – inklusive eines jeden dummen Fehlers, den sie in den vergangenen Jahren gemacht hatte.

Auf keinen Fall. Also reiß dich zusammen. „Nein. Lass es gut sein.“

„Na schön. Vielleicht ein andermal.“ Er klang beinahe wehmütig, so, als er ob er sich ein andermal wünschen würde.

Das wiederum machte ihn sehr sympathisch. Es machte ihn menschlicher nach all dieser glatten, schwerreichen Supermannmasche.

„Wir werden sehen“, lenkte sie ein und hoffte insgeheim, dass er das Thema nun endlich fallen lassen würde.

Zum Glück lehnte er sich erneut zurück. Dann sagte er: „Du sahst hinreißend aus in deinem Storchenkostüm.“

„Oh, bitte.“

„Im Ernst. Es sah idiotisch und süß und hinreißend zugleich aus.“

„Idiotisch, hm?“

„Ja, idiotisch. Und perfekt. Fast so perfekt wie der Moment jetzt. Ich konnte es nicht abwarten, dich zu treffen. Ab jetzt werde ich dir nicht mehr von der Seite weichen.“

„Mit Sicherheit.“

Er hob die Hand, als wolle er einen heiligen Schwur leisten. „Es ist die Wahrheit.“

Sie seufzte übertrieben. „Tja, das arme Baby war da anderer Meinung. Es gehört meinem Cousin Trey und seiner Frau Kayla. Hast du ihn schreien hören? Ich glaube, er wäre am liebsten von meinem Arm gesprungen.“

„Ich kann auch nicht mit Babys umgehen“, gab Carson zu. Tessa glaubte, ein leises Bedauern herauszuhören.

„Na, da haben wir ja etwas gemeinsam“, neckte sie.

„Wir haben mit Sicherheit eine Menge gemeinsam.“ Jetzt klang er so ernst, dass ihr Herz schwer wurde. Um ihre Hände zu beschäftigen, nahm sie den Hut auf und drehte ihn im Sonnenlicht, sodass die Glitzersteinchen funkelten.

„Warum warst du eigentlich auf dem Paradewagen der Zeitung von Rust Creek Falls?“, schlug er einen leichteren Ton an.

„Ich habe darüber nachgedacht, für immer hierherzuziehen. Deswegen kann es nicht schaden, sich mit den Zeitungsredakteuren zu verbinden. Ich möchte Anzeigen schalten und zusehen, dass ich mehr Aufträge an Land ziehe.“

„Und jetzt wohnst du bei deiner Großmutter in der Pension?“

„Richtig.“ Dann erzählte sie ihm von ihrer Familie. Ihre Eltern und ihre Schwester wohnten noch immer in Bozeman, während die andere Schwester Claire mit ihrer Familie hier bei den Großeltern lebte. „Claire arbeitet als Köchin in der Pension, und ihr Mann Levi führt das Möbelhaus in Kalispell. Sie haben eine süße kleine Tochter, Bekka, mit der sogar ich auskomme. Sie ist jetzt achtzehn Monate alt – und wahrscheinlich das einzige Baby auf der Welt, das bei meinem Anblick nicht in Tränen ausbricht …“

Sie unterbrach sich. Carson hatte ihr aufmerksam zugehört, aber plötzlich begann sie sich zu fragen, warum sie ihm das alles erzählte.

Weil er danach gefragt hat, meldete eine innere Stimme. Es ist doch nichts dabei. Du hast einen attraktiven, aufmerksamen Mann kennengelernt und genießt den Tag. Es ist alles in Ordnung.

Schließlich verließen sie die Bank unter der mächtigen Tanne, um sich jeweils ein weiteres Getränk zu holen. Danach gesellten sie sich zu Tessas Freunden an einen Picknicktisch und bedienten sich von dem köstlichen Barbecue.

Die Stunden verflogen, und Tessa musste feststellen, dass sie sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert hatte.

Als die Dunkelheit sich über den Abend legte, holte Carson eine Decke aus seinem Wagen und breitete sie etwas abseits auf dem Rasen aus. Tessa setzte sich zu ihm. Sie setzten ihre Unterhaltung fort, und Tessa gestand ihm ihre Bedenken hinsichtlich ihres Lebens als Freiberuflerin. „Wenn ich wüsste, dass ich mit der Webseite ausreichend Aufträge akquirieren könnte, dann würde ich den Job in Bozeman aufgeben“, gab sie zu.

Carson streckte die langen Beine aus und kreuzte die Knöchel. „Warum denkst du nicht größer?“

„Was genau verstehst du unter größer?“

„Wenn du interessante Aufträge abgreifen willst, solltest du in die Stadt ziehen. Zum Beispiel nach L. A.“

Erneut legte sie den Cowboyhut wie eine Sicherheitsbarriere zwischen sich und Carson auf die Decke und streckte sich auf dem Rücken aus. Ihr Blick streifte über den sich verdunkelnden Himmel. „Du hast mir nicht zugehört. Ich mag Rust Creek Falls.“

Er beugte sich vor und berührte ihr Kinn mit dem Fingerknöchel. Es war eine sehr sanfte Berührung, und trotzdem begann ihr Magen ungewollte Pirouetten zu schlagen. „Ich wäre da. Ich würde dir helfen, dich einzugewöhnen.“

„Natürlich.“

Er fing ihren Blick und hielt ihn fest. „Ich meine es ernst.“

„Carson, du kennst mich kaum.“

„Ganz genau. Aber ich würde dich gerne kennenlernen.“

Es entstand ein kurzer süßer Augenblick der Stille, in der er sich über sie beugte und sie zu ihm aufsah. Die Welt erschien mit einem Mal völlig neu, funkelnd und voller Möglichkeiten – voller Hoffnung auf eine strahlende Zukunft.

„Es ist nur eine Idee“, flüsterte er.

„Bring mich nicht in Versuchung.“ Es war als Scherz gemeint, doch irgendwie kam es zu zaghaft heraus. Zu sehnsüchtig.

Glücklicherweise setzte in diesem Moment die Band zu spielen an. Zwischen den Bäumen, unter einer schaukelnden Girlande sanft leuchtender Lampions, hatte man eine hölzerne Bühne für die Musiker aufgebaut.

„Komm“, Carson ergriff ihre Hand und half ihr auf, „lass uns tanzen.“

Und das taten sie. Über eine Stunde lang überließen sie sich der Musik. Wie sich herausstellte, beherrschte Carson sowohl den Two-Step als auch den Line-Dance – einen Paartanz sowie einen Reigentanz –, was Tessa mit amüsierter Verwunderung zur Kenntnis nahm. Und obwohl er ein gutes Stück größer war als sie, fühlte sich seine Umarmung unglaublich gut und richtig an.

Nach dem Tanzen fühlte sie sich erhitzt und beschwingt. Sie holten Wasserflaschen aus den Kühlboxen und zogen sich auf die Picknickdecke zurück. Von hier aus konnte man weiterhin das Geschehen überblicken, ohne selbst daran teilnehmen zu müssen.

Die Sterne leuchteten klar und sauber am Himmel, und der abnehmende Mond warf ein blasses Licht auf den Rasen.

Sie flüsterten miteinander, als wären sie unartige Kinder, die den wachsamen Augen der Erwachsenen entkommen waren.

Carson erzählte, dass er mit seiner Jugendliebe Marianne verheiratet gewesen war. „Marianne wollte sofort eine Familie gründen“, bemerkte er.

„Aber du wolltest keine Kinder, richtig?“

„Richtig. Mir wurde klar, dass wir viel zu jung geheiratet hatten. Wir ließen uns scheiden. Einige Jahre später hat sie wieder geheiratet. Ihr Mann Greg ist ein netter Typ. Sie haben vier Kinder.“

Sie streckte sich auf der Decke aus und betrachtete den Sternenhimmel. „Du glaubst also, dass sie glücklich ist.“

„Oh ja, sehr. Ich sehe sie zwar nicht mehr oft, aber wir verstehen uns gut. Wir sind über die Streitereien hinweggekommen. Und jetzt hat sie alles, was sie sich je gewünscht hat.“

„Und du?“

„Ich bin ebenfalls glücklich. Mir gefällt mein Leben. Es ist alles so, wie es sein sollte.“ Er beugte sich über sie.

Es kam ihr so richtig vor, so absolut natürlich, dass sie die Lippen leicht öffnete und seinen Kuss entgegennahm.

Mit zarter Sorgfalt näherte er sich und legte seinen Mund auf ihren Mund. Seine Berührung war leicht, seine Lippen waren weich und voll, und ein angenehmes Prickeln rann über ihre Arme.

Mit einem Mal kamen ihr die Ängste vom Vormittag vollkommen lächerlich vor. Sie war unendlich froh, dass sie trotz ihrer Befürchtungen in den Park gekommen war.

Als er sich von ihr löste, schienen seine Augen dunkler als zuvor. „Wie machst du das bloß, Tessa? Ich kann nicht aufhören, dich anzusehen. Ich habe das Gefühl, als würde ich dich schon ewig kennen. Und wieso musst du so verdammt gut schmecken?“

Sie lachte. „Süßholz raspeln kannst du jedenfalls gut.“ Ihn zu küssen hatte sich allerdings viel zu gut angefühlt, um jetzt damit aufzuhören. Sie dachte gerade darüber nach, selbst den Anfang zu machen, als sich nur wenige Schritte von ihnen entfernt jemand in der Dunkelheit räusperte.

Sie setzte sich abrupt auf. „Was war das?“

„Wer ist da?“, fragte Carson mit fordernder Stimme.

Es raschelte im nahe gelegenen Gebüsch. Zweige knackten, dann trat ein alter Mann mitten aus dem Blattwerk. Er trug eine ausgebeulte schwarze Jeans, die über den dürren Hüften von einer zerfransten Kordel zusammengehalten wurde. Darüber trug er das abgeschnittene zerknitterte Oberteil einer altmodischen Hemdhose und dazu derbe geschnürte Arbeiterstiefel.

Ein struppiger grauer Backenbart zierte seine eingefallenen Wangen, und das dünne Haar stand in alle Richtungen von seinem Schädel ab.

Tessa erkannte ihn sofort. „Homer Gilmore, hast du uns etwa belauscht?“

3. KAPITEL

Homer Gilmore blinzelte, als würde er gerade erst aufwachen. Dann grinste er breit und entblößte dabei schiefe, gelblich weiße Zähne. „Wenn das nicht die kleine Tessa Strickland ist! Wohnst du den Sommer über bei deiner Großmutter?“

„Ja, das tue ich. Und du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Homer kratzte sich an der stoppligen Wange. „Ich? Lauschen?“ Er setzte eine verletzte Miene auf. „Tessa, du kennst mich doch besser.“

Jetzt erhob sich Carson, reichte Tessa die Hand und half ihr auf die Beine. Für einen Sekundenbruchteil wirkte Carson verwirrt, doch dann hatte er sich rasch wieder gefasst. „Homer Gilmore. Endlich treffe ich Sie persönlich!“

Homer trat näher und fasste den groß gewachsenen Mann ins Auge. „Carson Drake.“ Er schüttelte die ihm gebotene Hand. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir in Verbindung bleiben.“

„Dann waren das wirklich Sie am Telefon?“

„Sicher.“ Homer brachte ein Einweckglas mit einem Metallschraubdeckel zum Vorschein. Im fahlen Mondlicht ließ sich darin eine klare Flüssigkeit erkennen. „Hier.“ Er streckte es Carson entgegen.

Dieser betrachtete das Glas misstrauisch. „Was ist das?“

Das ist der Grund, warum Sie hergekommen sind.“ Der Alte ergriff rasch Carsons Hand und drückte das Glas hinein.

„Im Ernst?“ Carson hielt das Glas hoch, sodass er es im Licht der Partyscheinwerfer betrachten konnte. „Homer Gilmores Magic Moonshine?“

„Der einzig wahre“, erwiderte Homer würdevoll und reckte stolz die dürre Brust. „Um ehrlich zu sein, mag ich deinen Stil, Jungchen“, verkündete der Alte selbstbewusst. „Ich sag dir was: Nimm einen Schluck. Oder zwei. Lass es auf dich wirken. Dann können wir reden.“

„Tut mir leid.“ Zu ihrem Erstaunen musste Tessa feststellen, dass in Carsons Tonfall aufrichtiges Bedauern lag. Dann fuhr er fort: „Aber so läuft das nicht.“ Er versuchte, dem Alten das Glas zurückzugeben.

Dieser wehrte ab. „Ich bestimme, wie das läuft. Probieren Sie ihn.“

„Schauen Sie, ich muss mich an die Regeln halten. Und in dieser Welt gibt es eine Menge Regeln. Wir müssen ein Meeting organisieren – ein richtiges Meeting, meine ich. Mit offiziellem Testen und Chemielabor und allem Drum und Dran. Aber wenn Sie möchten, können wir uns vorher zum Abendessen treffen und die Sache besprechen …“

„Moment mal!“, unterbrach Homer und hob die Hand. Abwehrend wackelte er mit dem schmalen Kopf. „Das verdammte Chemielabordings können wir später immer noch machen. Zuerst einmal möchte ich, dass Sie selbst davon kosten. Sonst können Sie den Deal vergessen.“

„Ich sagte bereits, dass ich nicht einfach …“

„Stopp. Schluss damit. Probieren Sie einfach. Dann reden wir.“

„Und wann genau werden wir reden?“

„Nur nichts überstürzen, Jungchen. Ich melde mich wieder.“

Carson wollte widersprechen, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Tessa konnte das gut nachvollziehen. Es hatte ohnehin keinen Zweck, denn Homer hörte schon gar nicht mehr zu. Stattdessen zwinkerte er in ihre Richtung, schenkte Carson ein knappes Nicken und verschwand wieder in der Dunkelheit der Büsche, woher er gekommen war.

Fassungslos sahen sie ihm nach.

Dann blickte Carson entgeistert auf das Einweckglas in seiner Hand. „Ich kann’s nicht glauben“, murmelte er.

Tessa hatte sich schneller wieder im Griff. Sie setzte sich auf die Picknickdecke. „Das ist Homer Gilmore. Was hast du denn erwartet?“

„Glaubst du, er ist verrückt?“

„Natürlich nicht. Er ist bloß ein wenig sonderbar, das ist alles. Ein Exzentriker ist ja nicht notwendigerweise verrückt. Ich glaube vielmehr, dass Kayla recht hatte: Homer ist ein komischer alter Kauz, aber mit einem guten Herz.“

„Wenn du das sagst.“ Carson schien nicht besonders überzeugt.

Mit der flachen Hand klopfte Tessa auf die Decke, bis Carson sich schließlich neben ihr niederließ. Das Glas stellte er neben sich ab. Einige Sekunden sahen sie es beide erwartungsvoll an, als ob es sogleich zum Leben erweckt werden würde.

Die Band spielte erneut auf.

Tessa lachte. „Das ist ja Alcohol von Brad Paisley. Passt perfekt, nicht?“

Carson bedachte sie mit einem vielsagenden, gefährlich dunklen Blick. „Möchtest du probieren?“

Ja. Sie wollte probieren. Und sie war sehr, sehr neugierig, ob auch nur eines der Dinge, die man sich über den Magic Moonshine erzählte, der Wahrheit entsprach.

„Tessa?“, hakte er nach, als sich ihr Schweigen in die Länge zog.

Sie versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie viele Argumente gegen den vermeintlich magischen Moonshine sprachen. „Es könnte gefährlich sein …“

„Glaubst du wirklich, dass die Wirkung so schlimm ist?“

„Schlimm habe ich nicht gesagt. Aber du kennst ja die Geschichten …“

Er vollführte eine Geste, als würde er mit den Flügeln schlagen, und machte dazu ein gackerndes Geräusch.

Seine Parodie brachte Tessa zum Lachen. Sie knuffte Carson in die Schulter. „Ich bin kein ängstliches Huhn“, stellte sie richtig. „Ich bin nur verantwortungsbewusst.“

Er rückte näher. „Und wo bleibt da der Spaß?“

Oh, sie mochte ihn. Sie mochte ihn mit jeder Minute, die verstrich, ein bisschen mehr. Er war nicht nur heiß, sondern auch witzig, scharfsinnig und einfühlsam.

Und er konnte toll küssen.

Ob er ihr ansah, dass sie ans Küssen dachte? Offensichtlich, denn in diesem Augenblick neigte er den Kopf und hauchte einen zweiten Kuss auf ihre Lippen.

Umwerfend.

Seine Berührung wurde intensiver. Ihr entfuhr ein glückliches leises Seufzen. Nur mit Mühe widerstand sie dem Impuls, die Hand in seinen Nacken zu legen und ihn noch fester an sich zu ziehen.

Eine entfernte Stimme in ihrem Inneren meldete ängstlich, dass sie bereits knietief in Schwierigkeiten steckte.

Trotzdem waren ihre Bedenken vom Vormittag verflogen. Mit jeder Stunde, die sie mit ihm verbracht hatte, fühlte sie sich wohler. Es fühlte sich einfach … richtig an. Und sie wollte, dass dieser Moment niemals endete.

Die Musik und das Sternenlicht woben ein heimeliges Netz um ihren lauschigen Platz auf dem Rasen. Vielleicht würden sie noch einmal tanzen gehen. Vielleicht würden sie sich später noch einmal küssen.

Und noch einmal.

Er streckte die Hand aus und schraubte den Deckel von dem Glas.

Sie neigte den Kopf und flüsterte in sein Ohr: „Das hättest du nicht tun dürfen. Jetzt ist es vorbei – unser Leben wird nie mehr so sein wie zuvor.“

Er hob die Braue. „Die Versuchung ist einfach zu groß. Ich kann nicht widerstehen.“ Er schnupperte an der Flüssigkeit. „Riecht nach Pfirsich.“ Sein Blick glitt in die Ferne. „Ich habe Pfirsiche schon immer gemocht.“

„Pfirsiche? Im Ernst?“

„Ja, ernsthaft.“ Er bot ihr das Glas.

Sie nahm es entgegen und hielt es unter die Nase. „Hmm. Riecht nach Sommer.“

„Was hab ich dir gesagt?“

„Aber nicht nach Pfirsich. Nach Brombeere. Nur ein Hauch davon.“ Jetzt wollte sie es wirklich probieren. „Ich liebe Brombeeren. Es sind meine Lieblingsfrüchte.“

„Pfirsich.“

„Brombeere. Siehst du?“ Sie hielt das Glas gegen das Licht der Scheinwerfer. „Es hat sogar eine leicht violette Farbe.“

Carson nahm ihr das Glas wieder ab, um sich selbst ein Bild zu machen. „Für mich sieht das vielmehr golden aus.“ Mit einem übertrieben ernsthaften Gesichtsausdruck fügte er hinzu: „Und es wäre wirklich unverantwortlich, davon zu trinken.“

„Richtig. Es könnte … Carson!“ Sie machte ein kleines erschrecktes Geräusch, als Carson das Glas an die Lippen setzte. Er nahm einen vorsichtigen Schluck.

Atemlos lehnte sie sich näher. „Und?“

Er schluckte genussvoll. „Das ist gut. Wirklich gut.“

„Ja?“

„Hm. Oh ja.“

„Brombeere, richtig?“ Sie wartete auf seine Zustimmung, doch er schüttelte langsam den Kopf. „Pfirsich. Definitiv. Und ein Hauch Moonshine Brand im Abgang. Interessant. Ganz ausgezeichnet.“

„Du willst mich auf den Arm nehmen!“

„Niemals“, entgegnete er, entschieden und ein winziges bisschen verletzt.

Tja, es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. „Gib her.“

Er brachte das Glas außerhalb ihrer Reichweite. „Besser nicht. Man weiß ja nie, was passieren kann.“

„Das kannst du dir sparen, Carson. Gib mir das Glas.“

„Wow. Und da haben wir plötzlich ein taffes Mädchen.“

„Ganz genau. Du solltest dich nicht mit mir anlegen.“

„Nie im Leben würde ich mich mit dir anlegen.“ Seine Stimme war zugleich glatt und rau, männlich und voll, und der Gedanke, ihn erneut zu küssen, wurde beinah übermächtig.

Lieber nicht.

Stattdessen griff sie nach dem Moonshine, und dieses Mal ließ er sie gewähren. Sie nahm ein winziges Schlückchen.

Eine Kaskade von Aromen ergoss sich über ihre Zunge und legte sich um ihren Gaumen. Es war, als würde sich ein voller sommerlicher Wasserfall über ihre Sinne schmiegen. Ein Hauch Süße, ein Hauch Früchte, und dann eine brennende Hitze in der Kehle. „Oh. Ja, es ist gut.“

„Hab ich doch gesagt.“

Sie ballte die Hand zur Siegerfaust. „Brombeere! Wusste ich’s doch!“ Sie nahm noch einen Schluck, ließ den Geschmack auf der Zunge entfalten. Dann reichte sie das Glas an Carson zurück.

Er lachte. Es war ein unerwartetes, herrlich gelöstes Lachen, und aus seinem Mund klang es sexy und verheißungsvoll. Sie konnte nicht anders, als in sein Lachen einzustimmen.

Sein Blick ruhte so schwer und intensiv auf ihrem Gesicht, dass die Hitze in ihre Wangen stieg. Doch sie hielt dem Blick stand, ließ sich hineinfallen, als ob nichts anderes auf der Welt mehr von Bedeutung war.

Es war ein vollkommener Augenblick.

Und sie ließ sich vollkommen fallen.

Tessa erwachte mit einem leisen Lächeln. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, eingekuschelt in eine glatte, weiche Bettdecke und den Kopf auf ein luftiges Kissen gebettet.

Doch sobald sich die Sicht ihrer verschlafenen Augen klärte, verblasste das Lächeln.

Was war das für ein Raum?

Sie befand sich in einem weitläufigen, hellen Zimmer, das im ländlichen Stil eingerichtet war. Gleich neben dem Bett befand sich ein hübsches, fein geschnitztes Nachtschränkchen aus dunklem Holz, auf dem eine antike Lampe mit einem Bronzefuß stand.

Irritiert ließ sie den Blick durch das Zimmer gleiten. In die gegenüberliegende Wand war eine große Glastür eingelassen, die den Blick auf eine breite Veranda freigab. Dort standen zwei schwere Sessel mit dunkelgrünem Plüsch, einige Topfpflanzen, und ein dicker weicher Teppich lag auf den glatten Holzdielen.

Allerdings waren es weder die Sessel noch die Topfpflanzen, die Tessa für einen Augenblick den Atem verschlugen, sondern die großartige Aussicht, die sich jenseits des hölzernen Geländers bot. Von hier aus blickte man auf die majestätischen schneebedeckten Gipfel der Berge, und die zerklüfteten Silhouetten zeichneten scharfe Linien gegen den strahlend blauen Himmel.

Moment mal.

Hatten nicht eben noch die Sterne am Himmel gestanden? Und hatte sie nicht eben noch ein Picknick im Park von Rust Creek Falls gemacht?

Sie schloss die Augen und zählte unwillkürlich bis zehn.

Doch als sie die Augen wieder aufschlug, hatte sich nichts verändert. Sie zog die Bettdecke bis zum Kinn. „Wo bin ich?“, flüsterte sie in die Stille.

Und dann wurde alles noch viel schlimmer.

Hinter ihr regte sich etwas. Eine verschlafen klingende Männerstimme fragte: „Tessa?“

Oh. Diese Stimme kam ihr bekannt vor. Mit banger Erwartung wandte sie den Kopf – und riss die Augen auf. Neben ihr auf der breiten, eindeutig hochwertigen Hotelmatratze lag Carson Drake.

Sein Haar war zerwühlt, seine unwiderstehlich hageren Wangen von einem leichten Schatten umgeben, und sein Mund war genauso anziehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Die Hitze stieg in winzigen Wölkchen in ihre Wangen, als sie einen raschen Kontrollblick unter die Bettdecke warf.

Yep. Unter den Laken war sie splitterfasernackt.

Sie presste die Decke an ihre Brust. „Das kann nicht wahr sein.“

Carson wirkte in etwa so fassungslos, wie sie sich fühlte. „Tessa, ich habe keine …“ Er verstummte. Im nächsten Augenblick legte er die Stirn in unkleidsame Falten und zog die Brauen zusammen. „Hör mal, bist du in Ordnung?“

Sie richtete den Blick starr an die Decke. Atme, sagte sie sich, als sie spürte, wie die Panik leise und kalt ihr Rückgrat hinaufkroch. „Nein“, flüsterte sie schließlich. „Nein, ich bin nicht in Ordnung. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. Ich weiß nicht einmal, wie ich hierhergekommen bin.“

Sie schüttelte den Kopf. Mit erstickter Stimme brachte sie schließlich die furchtbare Erkenntnis hervor: „Es ist genau so, wie die Leute gesagt haben. Das, was am vergangenen Nationalfeiertag passiert ist: totaler Blackout. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass wir von dem Magic Moonshine probiert haben.“ Sie schluckte hart. „Weißt du zufällig, äh, wo wir uns befinden?“

„Hey. Sieh mich an.“ Seine Stimme war leise und sanft. Ganz so, als wären ihre Ohren sensibel – so verletzlich wie ihr Herz in diesem Augenblick. Sensibel und angekratzt, genauso wie ihr Selbstbewusstsein. Und ihre Seele.

„Kannst du mir bitte einfach die Frage beantworten?“, wisperte sie. „Wo sind wir?“

„In meiner Suite im Maverick Manor Hotel. Aber, Tessa, ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung, was ein Glas Moonshine anrichten kann …“

„Ist schon okay.“

„Nein, das ist es nicht. Und ich weiß auch nicht, wie wir hierhergekommen sind. Alles, woran ich mich erinnern kann, sind Bruchstücke. Der Moonshine. Dein Lachen. Wir haben uns geküsst. Dann haben wir getanzt …“

„Das war vorher.“

„Später haben wir noch einmal getanzt.“

„Schön, aber …“ Tessa nahm all ihren Mut zusammen. „Haben wir …“ Sie ließ die Frage unvollendet. Es war sowieso albern, sie zu stellen. Sie waren beide nackt. Die Antwort lag auf der Hand.

Er streckte den Arm aus und berührte etwas Silbernes auf dem Nachtschränkchen. Bei näherem Hinsehen musste Tessa feststellen, dass es sich um die Verpackungen von Kondomen handelte. „Oh mein Gott.“

Das Zellophan knisterte in seiner Hand. Insgesamt waren es drei Verpackungen.

Tessa kniff die Augen zu. Die Situation war einfach zu beschämend. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie kannte diesen Mann doch überhaupt nicht.

Nur ein einziges Mal war sie einem Mann schon in der ersten Nacht verfallen – aber damals war sie immerhin bei vollem Bewusstsein gewesen.

Zumindest war es ihre eigene freie Wahl gewesen, sich Miles sofort hinzugeben. Und sie hatte jede Minute davon genossen.

Aber das hier …

Nein. Einfach … nein.

Es fühlte sich alles falsch an. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob sie eine Wahl gehabt hatte.

Allerdings hatte sie sich von Anfang an zu dem attraktiven Mann hingezogen gefühlt. Sehr sogar. Nur …

„Du liebe Zeit, Tessa, du bist weiß wie die Wand. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

Sie nickte langsam. Auf gar keinen Fall würde sie jetzt die Fassung verlieren. „Ich kann nur nicht glauben, dass das wirklich passiert ist“, schwächte sie ihre wahren Gefühle ab.

„Wenigstens haben wir aufgepasst.“ Er klang verlegen.

„Ja, wenigstens das.“

Beinahe gleichzeitig rutschten sie ans Kopfende des Bettes und lehnten sich mit dem Rücken gegen die schwere hölzerne Stirnwand – stets darauf bedacht, ihre Blöße bedeckt zu halten.

Eine peinliche Stille trat ein.

„Ich will nach Hause“, sagte Tessa schließlich leise.

„Hör mal, es tut mir wirklich …“

Sie unterbrach ihn mit einer Geste. „Sag nichts. Du trägst nicht mehr Schuld daran als ich. Ich wollte ja unbedingt den Moon­shine probieren.“

Und er hatte köstlich geschmeckt, so viel wusste sie noch − köstlich, verheißungsvoll, intensiv.

Sie spürte, wie etwas Farbe in ihr Gesicht zurückkam. „Ich werde diesen Homer Gilmore umbringen“, murmelte sie finster.

Aus dem Augenwinkel sah sie Carson nicken. „So viel zu meinem brillanten Plan, den Moonshine für Drake Destillerien zu kaufen. Das Zeug ist gefährlich. Ich komme mir vor, als hätte mir jemand etwas in den Drink gemixt.“

Tessa legte die Hand auf ihren Bauch. „Ich werde nie wieder Alkohol trinken“, bemerkte sie in spöttischem Tonfall.

„Ich könnte es dir nicht verdenken“, pflichtete Carson bei.

Sie sah zur Seite. „Ich würde jetzt wirklich gerne nach Hause gehen.“

Die Laken raschelten, als er die Beine aus dem Bett schwang. „Ich gehe nur rasch ins Badezimmer.“

Tessa sah nicht hin, als er aus dem Bett stieg. Stattdessen wartete sie, bis sich die Badezimmertür im Nebenraum geschlossen hatte, und sprang dann eilig aus dem Bett. Sie schlüpfte in ihre zerknitterte Kleidung, die auf einem Stuhl gelegen hatte, und stieg hastig in die Stiefel.

Den Hut fand sie auf einem niedrigen Tischchen im Wohnzimmer – gleich neben einem benutzten Skizzenbuch. Tessa hielt inne.

Bei dem Skizzenbuch fanden sich ebenfalls Wachskreiden und Aquarellstifte. „Was zur …“ Sie ergriff das Skizzenbuch und begann zu blättern.

Die Zeichnungen stammten eindeutig aus ihrer Hand, auch wenn sie nicht die geringste Erinnerung daran hatte, sie angefertigt zu haben. Und woher hatte sie überhaupt die Stifte genommen?

Ganz offensichtlich hatten sie in der vergangenen Nacht nicht nur drei Kondome benutzt, sondern auch wilde Ideen ausgebrütet. Und wie nebenbei hatte Tessa in aller Eile eine Werbekampagne für Homers Magic Moonshine auf die Beine gestellt.

Zum ersten Mal seit dem Schockmoment fand sie ihr Lächeln wieder.

Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Originell, klar, raffiniert und gradlinig ausgeführt – wenn sie ihre eigene Arbeit beurteilen sollte. Selbst ihre ehemalige Chefin, die legendäre, furchteinflößende Della Storm von Innovation Media in New York, hätte die Zeichnungen anerkannt.

Die Gefäße ähnelten altmodischen Einmachgläsern. Besonders gut gefiel Tessa ihre Ausführung einer frostig blauen Flasche, auf der die Sichel eines Mondes abgebildet war. Der Schriftzug, der in einer üppigen Retroschriftart in das Glas eingeprägt war, besagte Blue Muse.

Auch die Skizze einer goldfarbenen Flasche zählte zu ihren Favoriten. Diese war mit einem gezackten Blitz versehen, und in gestochen scharfer Schrift stand Peach Lightning darüber.

Und wie es ihr gelungen war, das Logo von Drake Destillerien einzufügen – ein sich aufbäumender Drache, der die Flaschen mit den Krallen umspannte … Verdammt gut.

Sie erinnerte sich daran, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte, mit Carson darüber zu ringen, ob der Magic Moonshine nun nach Pfirsich oder Brombeere schmeckte.

In diesem Augenblick hörte sie die Badezimmertür. Sie schlug das Skizzenbuch zu und richtete sich auf.

Carson war bereits vollständig angezogen. Er trug Jeans, ein schlichtes Shirt und ein neues Paar Stiefel. Lieber Himmel, warum musste er so ein gut aussehender Mann sein?

Der Gedanke, nicht mehr Zeit mit ihm verbringen zu können, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich in die Brust.

Aber nein. Das hier war viel zu schnell viel zu kompliziert geworden. Und noch mehr Komplikationen konnte sie in ihrem Leben weiß Gott nicht gebrauchen. „Ich möchte auch nur rasch ins Bad, dann können wir gehen“, verkündete sie, noch bevor er etwas sagen konnte.

Er sollte sie nach Hause bringen. Und dann wollte sie sein schönes Gesicht nie mehr wiedersehen.

Doch noch war die Peinlichkeit der Situation nicht überwunden. Als sie aus dem Badezimmer trat, erwartete Carson sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck im Hauptraum der Suite. „Ich muss dich noch etwas fragen.“ Es klang wie eine Entschuldigung. „Nimmst du die Pille?“

Tessa war froh, dass sie sich die wilden langen Locken ins Gesicht gebürstet hatte – so würde ihm vielleicht nicht auffallen, dass sie erneut errötete.

„Es ist doch so … Bloß weil ein paar Kondomverpackungen neben dem Bett liegen, heißt das nicht, dass wir sie auch benutzt haben“, erklärte er schnell.

„Schon gut. Du hast recht.“ Sie räusperte sich. „Nein, ich nehme nicht die Pille. Ich hatte früher ein Diaphragma, aber das …“ Sie unterbrach sich. „Sorry. Zu viel Information.“ Sie holte tief Luft. „Ich werde mir die Pille danach besorgen. So können wir ganz sicher sein.“

Er musterte sie aufmerksam. „Soll ich dich begleiten?“

„Oh. Nein. Ich weiß das zu schätzen, aber ich möchte heute nicht noch einmal vor Scham im Erdboden versinken.“

„Ich hätte dich begleitet“, wiederholte er.

„Ich weiß. Danke.“

„Es gibt nichts zu danken.“

Schweigend verließen sie die Suite, traten aus dem Hotel und inspizierten den Parkplatz. Carson fand seinen Wagen am gewohnten Ort. Mit einem Ausdruck tiefer Erschütterung schüttelte er den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass ich uns damit nach Hause gefahren haben soll. Ich kann mich um alles in der Welt an nichts erinnern.“

Auf der Fahrt wechselten sie nicht viele Worte, und als Carson sie vor der Pension ihrer Großmutter absetzte, hatte Tessa es sehr eilig. „Auf Wiedersehen“, sagte sie. In ihren eigenen Ohren klang es sehr endgültig. Wie ein Abschied für immer.

Als sie die Stufen zur Veranda hochstieg, glaubte sie Carsons Blick zu spüren, der sich glühend heiß an ihren Rücken heftete. Dann flüchtete sie ins Haus.

Zum Glück begegnete sie niemandem im Flur, sodass sie ungehindert auf ihr Zimmer schleichen konnte. Ihre Großmutter Melba war mit Sicherheit erstaunt, warum sie nicht zum Frühstück erschienen war, doch damit musste Tessa nun leben. Nur eine Sekunde lang hatte sie in Erwägung gezogen, Melba alles zu erzählen – und den Gedanken dann sofort wieder verworfen. Zum einen war ihre Großmutter sehr altmodisch und hätte sicher nicht gutgeheißen, was passiert war. Zum anderen wollte Tessa allein mit ihren Problemen fertigwerden.

Daher eilte sie ins Badezimmer, duschte rasch und zog sich an, um nach Kalispell zu fahren. Das sanfte Ziehen in ihrem Schritt und den Knutschfleck auf ihrer rechten Brust ignorierte sie dabei stur.

Über die Hintertreppe gelangte sie schließlich ungesehen zu ihrem Wagen und nahm den direkten Weg nach Kalispell, wo sich die nächstgelegene Apotheke befand.

Es war, als hätte sie ihr Gehirn auf Autopilot geschaltet: fahren, aussteigen, einkaufen. Nicht nachdenken.

Noch im Auto riss sie die Verpackung auf und schluckte die Pille danach mit einer Dose Rootbeer hinunter. Dann war es ihr, als könne sie zum ersten Mal an diesem Tag wieder frei atmen.

Ohne Hast fuhr sie zurück nach Rust Creek Falls. Auf dem Weg fiel ihr ein, dass sie heute mit Dawson Landry verabredet war, dem Chefredakteur der Rust-Creek-Falls-Gazette. Noch war es nicht zu spät, also lenkte sie den Wagen direkt zum Zeitungsgebäude.

In den kommenden Stunden arbeitete sie selbstvergessen an dem Layout für die nächste Ausgabe. Es war heilsam, beschäftigt zu sein und nicht an Carson denken zu müssen.

Und nicht an Homer Gilmore, dem sie den Kopf abreißen würde, sollte er ihr noch einmal über den Weg laufen.

4. KAPITEL

Carson entdeckte das Skizzenbuch erst am Nachmittag, nachdem er einige Stunden am Telefon verbracht hatte.

Den Vormittag hatte er genutzt, um seine Geschäftspartner und engsten Vertrauten anzurufen und sich nach dem neuesten Stand der Dinge in Kalifornien zu erkundigen.

Während er über Zahlen und Kampagnen redete, konnte er allerdings nicht Tessas Gesicht vergessen. Seltsamerweise begann er, sie zu vermissen – obwohl er sie erst vor vierundzwanzig Stunden getroffen hatte. Dennoch fühlte es sich so an, als würde er sie schon lange kennen.

Sie hatte dieses Leuchten an sich, eine Art mitreißende Energie. Und er vermisste dieses Leuchten. Die Welt schien ein bisschen fahler geworden zu sein, seit sie gegangen war.

Es war eine Ewigkeit her, seit Carson so etwas passiert war. Zuletzt, als er fünfzehn Jahre alt gewesen war und sich Hals über Kopf in Marianne verliebt hatte.

Es schmerzte ihn, dass er sich nicht einmal an die verlorenen Stunden erinnern konnte. Trotzdem war es, als hätte sich Tessas weiche Haut in seine Fingerspitzen eingebrannt. Als hätte sich das Gefühl ihrer weichen Locken in seinen Handflächen eingenistet.

Die verlorenen Stunden … Carson hatte seine Pläne mit Homer Gilmore bereits verworfen. Das Zeug war einfach zu gefährlich, als dass man es auf die Menschheit loslassen durfte. Allerdings hatte er sich noch nicht dazu durchgerungen, seinem Piloten Bescheid zu geben, der auf Abruf bereit stand und darauf wartete, ihn nach Kalifornien zurückzufliegen.

Und genau in dem Augenblick, in dem Carsons Gedanken erneut zu Tessas Gesicht flogen, fand er das Skizzenbuch auf dem Kaffeetisch.

Mit klopfendem Herzen schlug er es auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Tessa es mitgebracht hatte. Genauso wenig wie an die Pastellkreiden, die sich daneben befanden.

Sofort war er gefesselt. Jede Zeichnung war raffiniert und kunstvoll ausgearbeitet. Sie spielte so geschickt mit Licht und Schatten, dass die schweren Gläser dreidimensional wirkten. Beim Hinsehen hatte man das Gefühl, man müsse nur die Hand ausstrecken, um mit den Fingerspitzen die Buchstaben zu berühren, die in das Glas eingelassen waren.

Plötzlich spürte Carson ein Kribbeln. Es war das Gefühl, das ihn immer überkam, wenn er eine Idee hatte. Eine wirklich gute Idee.

Und Tessa war es, die ihn dazu inspiriert hatte. Denn jenseits ihrer wilden Locken und dem dunklen Lachen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, besaß diese Frau Talent. Großes Talent.

Und wäre es nicht jammerschade, ihre Zeichnungen nicht zu verwerten, nur weil ein verrückter Obdachloser mit Gift panschte?

Nein. Selbst wenn man mit Homer Gilmore keinen Deal abschließen konnte, hieß das noch lange nicht, dass Homer als Einziger Magic Moonshine brauen durfte. Drake Destillerien könnten ihre eigene Marke herausgeben – und daraus Blue Muse und Peach Lightning machen.

Tessa hatte einen wundervollen Entwurf dafür kreiert. Und Carson wusste, wie man mit geschickter Werbung aus einer Idee eine Marke zaubern konnte. Er sah Blue Muse bereits zum Trendgetränk für seine zahlreichen Clubs und Restaurants aufsteigen. Tessas Gestaltungstalent könnte seine Firma bereichern – und umgekehrt. Er musste sie nur davon überzeugen, nach L. A. zu ziehen.

Carson ließ sich in den Sessel gleiten. Mit einem Mal spürte er eine tiefe Befriedigung. Er fühlte sich bestätigt, weil er noch nicht die Segel gestrichen und nach Kalifornien zurückgekehrt war.

Tief im Inneren hatte er nämlich geahnt, dass es hier doch noch einen Erfolg zu verbuchen gab − in diesem kleinen beschaulichen Rust Creek Falls.

Allerdings hatte er jetzt eine neue Mission. Er wollte, dass Tessa Strickland die Chance auf eine Karriere erhielt, die sie verdiente. Mit seiner Hilfe konnte sie als Grafikdesignerin bis ganz nach oben klettern.

Und wenn es auf diesem Weg zwischen ihnen persönlicher wurde, so hatte er nicht das Geringste dagegen.

Am nächsten Morgen wollte Carson sofort zum Hörer greifen und Jason Velasco anrufen. Dieser war seine wichtigste Kontaktperson bei Interactive Marketing International, kurz IMI.

Die angesehene Agentur in Century City leitete Werbekampagnen sowohl für Drake Destillerien als auch für Drake Hospitality, die Mutterfirma für Carsons Clubs und Restaurants.

In seinem Eifer war er bereit, Jason mit allen Mitteln davon zu überzeugen, dass Tessa eine brillante Grafikdesignerin war, von der IMI ganz sicher profitieren könnte.

Im letzten Augenblick bremste er sich.

Natürlich war es keine gute Idee, ein Vorstellungsgespräch in die Wege zu leiten, ohne Tessa vorher gefragt zu haben. Auf keinen Fall wollte er sie noch mehr verärgern. Bei ihrem Abschied hatte sie keinen Blick zurückgeworfen – das sprach nicht unbedingt für Carsons derzeitigen Stand.

Carson studierte seinen Terminkalender und rechnete nach. Ihm blieben noch zweieinhalb Wochen, um Tessa zu überreden, mit nach L. A. zu kommen. Spätestens dann musste er zurückfliegen und einen wichtigen Termin wahrnehmen, denn am Zwanzigsten dieses Monats würde Drake Destillerien eine neue Serie auf den Markt bringen: eine Getränkereihe von aromatisierten Likören auf Brandybasis.

Für gewöhnlich hatte Carson großes Vertrauen in seine Überredungskünste, aber im Fall Tessa begann seine Selbstüberzeugung zu bröckeln.

Mit gemischten Gefühlen griff er erneut zum Hörer und wählte stattdessen die Nummer der Pension, wo Tessa zurzeit wohnte. Eine fremde Frauenstimme meldete sich, und Carson vermutete, dass es sich dabei um Tessas Schwester Claire handelte. Höflich fragte er nach Tessa Strickland und wartete mit angehaltenem Atem.

Dann meldete sie sich. „Hier ist Tessa.“

Sein Herz begann schneller zu schlagen. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich kann nicht aufhören, an dich zu denken.“

Schweigen. Kein gutes Schweigen. „Hallo, Carson.“

„Vielleicht möchtest du mit mir zu Mittag essen? Wir könnten nach Kalispell fahren …“

„Keine Sorge“, ihre Stimme wurde zu einem rauen Flüstern, „ich habe mich darum gekümmert.“

Carson hielt inne. Als ihm klar wurde, wovon sie redete, fluchte er leise. „Hör auf, Tessa. Mir geht es nicht um die verdammte Pille.“

Sie atmete hörbar ein. „Gut. Trotzdem … Für mich ist es kein guter Zeitpunkt, sich auf etwas einzulassen.“

„Na schön.“ Carson schloss für einen Moment die Augen. „Es sollte ohnehin ein – Geschäftsessen werden“, erklärte er, und zumindest war das die halbe Wahrheit. Immerhin wollte er ihre Karriere auf den Weg bringen. „Wusstest du, dass du dein Skizzenbuch in meiner Suite vergessen hast?“

„Ja. Offensichtlich haben wir eine Moonshine – Kampagne ausgeheckt. Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte.“ Sie zögerte. „Moment mal. Hältst du etwa immer noch an deinem Plan mit Homer Gilmore fest?“ Jetzt klang sie erstaunt – und ärgerlich.

„Nein.“

Sie seufzte. „Gut zu wissen. Für einen Augenblick war ich wirklich beunruhigt.“

„Es geht mir nicht um den Moonshine. Es geht um dich. Um deine Zukunft. Deine Zeichnungen sind großartig. Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, nach …“

„Carson.“

Er starrte auf seine Schuhspitzen und wusste, dass er inzwischen verzweifelt und jämmerlich klang − Eigenschaften, die ihm mehr als fremd waren. Trotzdem versuchte er ein letztes Mal, zu ihr durchzudringen. „Du hast so viel Talent. Ich will nur …“

„Nein, danke.“ Ihre Stimme war gefährlich sanft, der Ton endgültig. „Ich muss jetzt los. Mach’s gut.“

Carson parkte den Wagen am Straßenrand und warf einen prüfenden Blick auf das mächtige Haus mit der lavendelfarbenen Fassade.

Das Gefühl der Unruhe ließ ihn nicht los. Und das lag nicht nur daran, dass er in der vergangenen Nacht nur wenig Schlaf gefunden hatte. Stundenlang hatte er in seinem Bett gesessen, hellwach und den Kopf voll sinnloser Ideen, wie er sich Tessa wieder annähern sollte.

Kurz nach dem Telefonat hatte er sich geärgert. Sie hatte ihm eine ziemlich kühle Abfuhr erteilt, und Carson war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Doch bald darauf hatte seine Kämpfernatur den Ärger überwogen.

Nein, so schnell gab er nicht auf.

Allerdings musste er sich eingestehen, dass nicht nur sein Kampfgeist geweckt war. Wenn er an Tessa dachte, dann tat er das mit einem zärtlichen, sehnsüchtigen Gefühl – ein Gefühl, das gerade alle anderen Empfindungen überlagerte.

Er kannte sich selbst kaum wieder. In den vergangenen zehn Jahren hatte er sich auf keine ernsthafte Beziehung einlassen wollen. Das schien sich nun zu ändern.

Nachdenklich stieg er aus dem Auto und überquerte die Straße. Warum mussten ihm ausgerechnet jetzt Ryans Worte wieder einfallen? Am Tag des Festumzugs hatte er zu Carson gesagt: Ich wusste es. Und schon wirkt der Zauber von Rust Creek Falls auch auf dich.

Carson schüttelte unwillig den Kopf. Was für ein Unsinn. Trotzdem erinnerte er sich sehr genau an Ryans Prophezeiung. Du wirst dich in Tessa verlieben und nie mehr gehen wollen.

Du liebe Zeit.

Immerhin lebte er in Malibu. Konnte man sich etwas Besseres vorstellen? Und er musste zwei Unternehmen leiten. Genau deswegen hatte er keine Zeit zu verlieren.

Nachdem er letzte Nacht alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, wie er sich Tessa nähern konnte, war ihm zuletzt die rettende Idee gekommen: Er würde sich in Melba Stricklands Pension einmieten.

Die Idee schien ihm einfach und brillant zugleich.

Zumindest bis jetzt, da er vor der wuchtigen Eingangstür stand.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Auf sein Klingeln hin wurde die Tür geöffnet. Ein alter Mann in Cargohose, einem karierten Hemd und mit schütterem Haar stand ihm gegenüber und fasste sofort seinen eleganten Anzug und die schicken Schuhe ins Auge. „Tag.“

„Guten Tag. Mein Name ist Carson Drake. Ich bin geschäftlich in Rust Creek Falls“, stellte Carson sich vor. Völlig unnötig, wie sich gleich herausstellte.

„Hab ich mir gedacht. Sie sind bestimmt der Spirituosenmensch. Der, der Homer Gilmores Moonshine kaufen will.“

Hm. Offensichtlich war Carson in der Kleinstadt bereits bekannt wie ein bunter Hund.

„Das ist richtig, Sir“, bestätigte er höflich.

Der Ältere lachte in sich hinein. „Ich bin Gene Strickland. Aber alle nennen mich Old Gene.“ Er schüttelte Carsons Hand. „Was kann ich für Sie tun, Carson?“

„Ich würde gerne ein Zimmer mieten.“

Genes Blick wurde kaum merklich schärfer. „Ah ja? Wie ich höre, wohnen Sie drüben im Maverick Manor. Nur feine Leute dort.“

Carson widerstand dem Impuls, dem Alten zu raten, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. „Ich habe mir überlegt, dass es besser ist, hier in der Cedar Street zu wohnen. Sozusagen mitten im Geschehen. So kann ich mich besser in Rust Creek Falls einfinden.“

„Aha.“ Gene legte die Stirn in Falten, doch schließlich trat er beiseite und gab den Eingang frei. „Dann kommen Sie mal herein. Meine bessere Hälfte wird Ihnen ein Zimmer geben.“ Mit diesen Worten wandte er Carson den Rücken zu, stapfte in die Halle und rief nach Melba.

Carson betrat das dunkle, altmodische Foyer. In der Mitte erhob sich eine wuchtige Holztreppe, flankiert von mächtigen Blumen­kübeln. Gene war bereits im hinteren Teil des Hauses verschwunden. Dann tauchte eine ältere Lady in einem schlichten geknöpften Kleid und glänzenden schwarzen Schuhen auf. Sie winkte Carson zu einer Glaskabine jenseits der Treppe, wo sich das kleine Empfangsbüro befand.

„Hallo. Ich bin Melba, Genes Frau“, begrüßte sie ihn und lehnte sich vor, um ihm die Hand zu schütteln.

Es ging eine Mischung von Kaffeeduft, Zimtbrötchen und Blumengeruch von ihr aus, die ein wohliges heimeliges Gefühl hervorriefen. Carson suchte vergeblich in ihrem Gesicht nach Ähnlichkeiten zu Tessa, und schließlich fand er es in ihrem Lächeln: Es war genauso weit, herzlich und aufrichtig wie Tessas Lächeln.

„Dann wollen wir mal sehen“, überlegte Melba und studierte das Schlüsselbrett. „Heute ist ein Zimmer frei geworden. Es liegt im dritten Stock. Meine Enkelin Tessa wohnt gleich daneben.“ Sie hob den Blick, und für eine Sekunde war Carson überzeugt, dass sie genau wusste, was Montagnacht geschehen war.

Und das war – wenn man es genau bedachte – mehr, als er selbst wusste.

„Wie hört sich das an?“, wollte sie wissen.

„Großartig“, gab er ehrlich zu.

„Sie müssen sich allerdings ein Badezimmer mit Tessa teilen. Das ist hier auf jeder Etage so. Wie ich gehört habe, kommen Sie aus L. A. und wohnen im Maverick Manor. Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht?“

Carson versuchte seine Miene unter Kontrolle zu halten. „Bestimmt. Es macht mir nichts aus.“ Mit diesen Worten zückte er seine goldene Kreditkarte, bevor Melba ihre Meinung ändern und ihm sagen würde, er solle sich von ihrer Enkelin fernhalten.

Stattdessen klärte sie ihn über Küche, Snacks und Waschgelegenheiten auf und drückte ihm schließlich ein Gitterkörbchen in die Hand, in dem er seine Toilettenartikel ins Badezimmer transportieren sollte. „Haben Sie noch Fragen?“, wollte sie zuletzt wissen.

„Ja. Wie sieht es mit der Internetverbindung aus?“

Sie ließ ein leises Seufzen hören. „Hach ja. Heutzutage können die Leute nicht mehr ohne Internet. Wir mussten uns eine Leitung zulegen, aber die Verbindung ist manchmal ein bisschen langsam.“

Langsam. Nicht gut. Für Videokonferenzen benötigte Carson eine glasklare Verbindung. Egal, er hatte ohnehin vor, seine Suite im Maverick Manor zu behalten. Von dort aus würde er seine Kontakte nach L. A. pflegen und seine Arbeit erledigen.

Melba reichte ihm eine kleine weiße Pappkarte. „Hier ist das Passwort.“

„Wunderbar.“

„Ich wünsche einen schönen Aufenthalt.“

„Den werde ich haben.“

5. KAPITEL

„Vielen Dank, Tessa. Du bist uns eine große Hilfe.“ Emmet DePaulo, Leiter der Medizinischen Klinik von Rust Creek Falls, schüttelte Tessas Hand und brachte Tessa zur Tür.

„Ich mache es gerne“, versicherte sie. „Ich weiß, wie dringend ihr einen Kinderarzt braucht.“

„Besser heute als morgen“, bestätigte Emmet mit einem Seufzen.

Seit dem unerwarteten Kindersegen herrschte in der Klinik mehr denn je Personalmangel. Aus diesem Grund hatte sich Emmet mit Tessa in Verbindung gesetzt und ihr einen Auftrag erteilt. Sie würde eine auffallende, prägnante Anzeige gestalten und in den entsprechenden Medizinforen und Fachzeitschriften platzieren.

Tessa freute sich auf den Job – vor allem, weil sie damit zu einer guten Sache beitragen konnte.

Doch als sie nun aus der Klinik hinaus in den strahlenden Sonnenschein trat und ihr Blick auf die Berggipfel fiel, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen.

Der Anblick erinnerte sie an das Panorama aus Carsons Hotelsuite.

Ach, Unsinn. Carson hatte ohnehin all ihre Gedanken eingenommen – ganz gleich, wen oder was sie ansah.

Warum hatte sie ihn am Telefon bloß derart vor den Kopf gestoßen? Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, war sie über sich selber sehr ärgerlich gewesen. Sie hatte sich regelrecht gehasst.

In Wirklichkeit sehnte sie sich so sehr danach, ihn zu sehen, dass es ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete.

Und trotzdem hatte sie ihn abgewiesen – weil es das einzig Richtige war.

Super smarte, gut aussehende Typen kamen nicht einfach daher und stahlen ihr Herz. Nicht noch einmal.

Heute wünschte sie sich etwas Bodenständiges – etwas Echtes. Ein schönes Leben in dieser beschaulichen kleinen Stadt voll aufrichtiger Menschen, die sie kannte und liebte.

Falls ihr Job dieses Leben nicht zulassen würde, wollte sie es zumindest so einrichten, dass sie Rust Creek Falls mehrmals im Jahr besuchen konnte. Und sobald sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet hatte, würde sie sich vielleicht wieder auf jemanden einlassen − auf jemanden, der sich dasselbe wünschte wie sie.

Carson Drake war definitiv nicht so jemand.

Allerdings war er wieder auf sie zugekommen. Was konnte er denn dafür, dass sie den Moonshine getrunken hatte? Ihn hatte das Getränk schließlich ebenso aus der Bahn geworfen. Verdiente er nicht eine Chance?

Ab der ersten Sekunde hatten sie sich blendend verstanden.

Wie oft kam es im Leben schon vor, dass sie einen attraktiven, selbstsicheren Mann traf, der sie zum Lachen brachte, einen lupenreinen Two-Step tanzen konnte und obendrein die eigene Arbeit für brillant hielt?

Richtig. So gut wie nie.

Nachdem Tessa in ihren Wagen gestiegen war, lehnte sie für einen Moment die Stirn an das Lenkrad. Es hatte ja doch keinen Zweck, sich darüber Gedanken zu machen. Carson war vermutlich schon auf dem Rückweg nach L. A.

Sie hatte es verbockt, und zwar gründlich.

Seufzend ließ sie den Motor an und fuhr zurück zur Pension – in deren Hof fand sie Carsons gemieteten Cadillac SUV.

Carson hatte gerade seine Hemden in der wuchtigen antiken Kommode verstaut, als es zaghaft an der Tür klopfte. Er schloss das Schubfach, warf den leeren Koffer in den Schrank und schritt zur Tür. In der Hoffnung, bei der Person auf dem Flur könne es sich um Tessa handeln, öffnete er eilig.

Volltreffer!

Sie sah hinreißend aus: große dunkle Augen, die ein bisschen finster blickten, ein schuldbewusster Zug um den schönen Mund und die Locken offen und ungebändigt um das herzförmige Gesicht herum, das Carson erneut an das einer schönen Wilden erinnerte.

Sie trug ein weiches pinkfarbenes Shirt über einer Caprijeans, die den Blick auf ihre hübschen Knöchel freiließ, die von zierlichen Riemchensandalen eingefasst wurden.

Carsons Magen fühlte sich mit einem Mal hohl und flatterig an, als würden sich in seinem Inneren Flügel ausbreiten. Er musste all seine Willenskraft aufbringen, um sie nicht zu packen und an sich zu ziehen.

„Tessa“, sagte er andächtig. „Endlich.“

Sie räusperte sich vorsichtig. „Ich habe dein Auto gesehen. Als ich dich im Flur gesucht habe, hat mir meine Großmutter erzählt, dass du neben mir eingezogen bist …“ Sie ließ den Satz unvollendet, straffte sich und deutete ins Zimmer. „Darf ich reinkommen? Wir müssen uns unterhalten.“

Bereitwillig trat Carson zur Seite und ließ sie ein. Als sie an ihm vorbeiging, wehte ein Hauch Rosenduft ins Zimmer. Rosen und etwas Dunkleres, Schärferes − wie ein süßes Gewürz.

Sie setzte sich auf sein Bett und klopfte mit der Handfläche neben sich auf die Decke. Carson ließ sich nicht lange bitten und folgte der Einladung.

„Was machst du hier?“, fragte sie sofort, und ihr Ton klang scharf und zugleich wohlwollend.

„Ich gebe nicht so leicht auf“, antwortete er ehrlich. „Ich wollte einen Weg finden, in deiner Nähe zu sein. Also kam ich auf die Idee, mir hier ein Zimmer zu nehmen.“

Ihre Augen weiteten sich. Er war ihr so nahe, dass er die winzigen goldenen Lichtreflexe in ihren tiefen dunkelbraunen Augen bemerkte. Und ihr Mund … Er konnte es kaum abwarten, diesen Mund zu küssen.

„Wie hat dich meine Großmutter behandelt?“, wollte Tessa jetzt wissen.

„Sehr nett. Auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass sie mich sofort durchschaut hat. Es war, als wüsste sie alles, was Montagnacht passiert ist.“

Zu seinem Erstaunen lachte Tessa daraufhin leise, und der zarte dunkle Ton brachte sein Herz zum Klingen. „Tja, bei ihr weiß man nie“, sagte sie vage. „Und bist du meinem Großvater begegnet?“

„Ja. Und da ich noch darüber berichten kann, habe ich es offensichtlich überlebt.“

Tessa schenkte ihm ein vielschichtiges Lächeln. „Meine Großeltern haben eine eigene Wohnung im Erdgeschoss, und Claires Familie wohnt gegenüber. Du wirst ihnen also öfter über den Weg laufen.“ Sie holte tief Atem. „Wie lange wirst du bleiben?“

„Zwei Wochen. Am Zwanzigsten habe ich einen wichtigen Termin in L. A.“ Er sah sie prüfend an. „Du bist also nicht sauer, weil ich eingezogen bin?“

Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich bin nicht sauer. Ich war sauer auf mich selbst, weil ich am Telefon so abweisend zu dir war. Jetzt bin ich froh, dass du noch nicht gegangen bist.“

„Gut.“

„Aber Carson, ich …“ Sie senkte den Blick. „Du darfst nicht lachen.“

Er zwang das Lächeln aus seinem Mundwinkel. „Ich lache nicht.“

„Ich will es langsam angehen lassen. Ich will, dass wir Freunde sind. Vorerst. Dann sehen wir weiter.“

Freunde. Nicht gerade das, was er im Sinn hatte. Er wollte so viel mehr. Er wollte ihren zarten Körper an sich pressen und sich in ihr fallen lassen, er sehnte sich nach völliger Hingabe. Nach allem, was sie vermutlich schon einmal miteinander erlebt hatten und woran sie sich nicht mehr erinnern konnten. Er wollte, dass sie nach mehr flehte und seinen Namen rief, während er noch tiefer in sie eindrang.

Aber das würde nicht geschehen. Nicht jetzt.

Deswegen sagte er: „Wie du willst, Tessa.“

„Bist du sicher?“

„Das bin ich.“

Sie strich das Haar aus dem Gesicht. „Weißt du, ich bin nicht gut in diesen Dingen. In … Romantik und alldem.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Doch. Als Teenager hatte ich nicht einmal Interesse an Jungs. Alles, was ich wollte, war zeichnen. Ich war ein richtiger Kunststreber. Mein großes Ziel war eine gute Hochschule für Gestaltung, und dafür brauchte ich ein Stipendium. Mit viel harter Arbeit ist mir das schließlich auch gelungen, und ich bin nach New York gezogen.“

Carson hatte aufmerksam zugehört. „Alle Achtung. Und wieso bist du nach Bozeman zurückgekehrt?“

Sie zögerte. „Wie gesagt, das ist eine lange Geschichte …“

„Und jetzt ist die richtige Gelegenheit, sie zu erzählen“, forderte er auf. „Da wir nun Freunde sind“, fügte er mit einem dunklen Lächeln hinzu.

Ihre Miene verfinsterte sich. „Du bist unmöglich.“

„Man hat mir schon Schlimmeres nachgesagt.“ Er hob die Schultern. „Also. Du hattest ein Stipendium. Die Welt lag dir zu Füßen. Was ist dann geschehen?“

Einige Sekunden verstrichen, in denen sie abzuwägen schien, ob sie Carson die ganze Wahrheit erzählen sollte. Dann reckte sie entschlossen das Kinn und begann zu berichten.

„Alles lief super. Im letzten Collegejahr machte ich ein Praktikum bei einer Agentur in Brooklyn, und nach dem Abschluss boten sie mir einen Job an. Ich dachte, dabei würde es vorerst bleiben. Aber dann wurde ich überraschend abgeworben – von der Della Storm. In der Welt des Grafikdesigns ist sie so etwas wie eine lebende Legende.“

Carson betrachtete ihr Gesicht, während sie von ihren Erlebnissen mit Della Storm erzählte. Die Koryphäe galt zwar als unschlagbar auf ihrem Gebiet, aber auch als unnachgiebig, launisch und schwierig im Umgang.

Trotz ihrer damals vierundzwanzig Jahre hatte Tessa eine Menge Handlungsspielraum zugesichert bekommen und hatte unter Della Storms wachsamen Augen eigene Projekte betreuen dürfen.

Doch dann war sie Dellas Exfreund begegnet, dem Archäologen Miles Rutherford.

„Es war verrückt, wie schnell ich mit ihm zusammengekommen bin“, berichtete sie zögernd. „Ein Blick in seine blauen Augen, und es war um mich geschehen. Ich, die immer nur arbeiten und zeichnen wollte, hatte plötzlich nichts anderes mehr im Sinn als die Liebe.“

Carson hegte sofort eine gewisse Abneigung gegen diesen Miles Rutherford – auch wenn er noch gar nicht wusste, wie die Sache mit ihm ausgegangen war.

„Jedenfalls gab es da sofort diese Verbindung zwischen uns. Wir begegneten uns bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Waldorf Hotel. Du weißt schon, einer dieser Abende mit Smokings und Fliegen. Es stellte sich heraus, dass er aus einer reichen Familie aus Montana stammte. Wir redeten stundenlang − über Montana, über Design, über seine vielen Reisen. Ich ging mit ihm nach Hause – und am nächsten Tag zog ich bei ihm ein.“

Sie studierte sein Gesicht. „Na los, sag es.“

Es zuckte um seine Mundwinkel. „Das ging schnell.“

„Ich weiß. Eigentlich wusste ich es schon damals, aber es war mir egal. Plötzlich war mir alles andere egal – sogar mein Job. Mein Leben lang hatte ich an meiner Karriere gefeilt, und nun wurde ich nachlässig. Ich machte Fehler. Della hatte mir ein wichtiges Projekt übertragen. Sie vertraute mir. Und ich habe es verbockt. Ich habe eine Menge Leute hängen gelassen. Ich stellte einen Mann, den ich kaum kannte, über all das, wofür ich so hart gearbeitet hatte.“

Carson streckte die Hand aus und strich über Tessas Haar. „Und dieser Miles war der Exfreund deiner Chefin?“

Sie schloss für eine Sekunde die Augen. „Das ist dir nicht entgangen, wie?“

„Mir entgeht nie etwas.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Sie schmiegte die Wange in seine Handfläche, als er ihr Gesicht berührte. „Ja, Miles war Dellas Ex. Er war schon lange über sie hinweg.“

„Aber sie nicht über ihn“, vermutete er.

„Schhh. Das ist meine Geschichte.“

„Habe ich recht?“

„Ja, du hast recht. Della hatte die Trennung nie verwunden. Aber ich hatte nicht den Mut, ihr von Miles und mir zu erzählen. Natürlich fand sie es ausgerechnet dann heraus, als ich das Projekt in den Sand setzte. Sie war so wütend – auf allen Ebenen. Sie hatte zwar kein Anrecht auf Miles, aber sie hatte allen Grund, mich zu feuern. Und obendrein wollte sie dafür sorgen, dass ich nie wieder einen Job in einer großen Firma bekommen würde.“

Carson dachte an IMI. Abgesehen von Della Storms Rachefeldzug konnte niemand Tessa verwehren, bei IMI anzufangen. Gesetzt den Fall, sie wollte dort arbeiten. „Wie lange ist es her, dass diese Della dich gefeuert hat?“

„Vier Jahre. Ich muss gestehen, damals war mir sogar Dellas Drohung gleichgültig. Ich dachte nur an Miles. Anderthalb Jahre lang habe ich kein Skizzenbuch angerührt. Ich wollte nur bei Miles sein. Wir reisten nach Südamerika, Ägypten und Spanien. Wenn er nicht gerade bei einer Ausgrabungsstätte war, residierten wir in den schönsten Hotels. Paris, Rom, Marrakesch … Anfangs war es wie im Märchen. Aber der Zauber begann schnell zu verfliegen.“

„Wie lange wart ihr zusammen?“

„Zwei Jahre.“

„Warum habt ihr euch getrennt?“

„Er hatte genug von mir. So, wie er auch von Della irgendwann genug gehabt hatte. Ich bin mir sicher, dass er mich schon vor dem Ende unserer Beziehung betrogen hat. Und ich war … nun, ich musste mir eingestehen, dass es für mich auch nicht funktionierte. Ich wollte mein eigenes Leben, verstehst du? Ich bereute es, dass ich meine Karriere einfach so aufgegeben hatte. Und dann, eines Tages, platzte ich in unser Schlafzimmer, und dort fand ich Miles mit zwei umwerfend schönen Frauen. Sie sahen aus wie Zwillinge.“

„Whoa.“

„Ganz genau. Es war ziemlich absurd. Er sagte zu mir: Darling, komm doch zu uns. Dazu hat er gelächelt, als wäre das keine große Sache. Er wollte wohl, dass ich eine große Szene mache.“

„Und du hast …?“

„Ich habe kein Wort gesagt. Ich wusste genau, was er wollte. Er war fertig mit mir und suchte nach dem schnellsten Weg, unsere Beziehung zu beenden. Ich ging einfach. Packte meine Sachen und floh zurück nach Bozeman. Seltsamerweise war ich nicht am Boden zerstört. Zumindest nicht deswegen. Ich hatte ja geahnt, dass unsere Beziehung nicht funktionierte. Aber ich hatte alles aufgegeben. Mit fliegenden Fahnen. Für einen Kerl, den ich im Grunde nicht einmal kannte.“

„Und ich … ich erinnere dich an diesen Miles?“

Sie wich zurück. Seine Hand griff ins Leere. „Ich liebe Montana, Carson. Ich habe meine Heimat immer vermisst, als ich in New York lebte. Und als ich mit Miles von einem Ort zum anderen zog, vermisste ich Montana noch mehr.“

„Tessa.“ Er wartete geduldig, bis sie seinem Blick begegnete. „Erinnere ich dich an Miles?“

„Möchtest du wirklich, dass ich darauf antworte?“

Nein, eigentlich nicht. Aber er musste es wissen. „Ja.“

„Na schön.“ Sie hob die Hände und ließ sie gleich darauf in den Schoß fallen. „Je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto weniger erinnerst du mich an ihn. Du bist einfach … du. Aber ich muss zugeben, dass es anfangs anders war. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, auf den Stufen der Stadthalle, und du ausgesehen hast, als ob dir die Welt gehört … da hast du mich wirklich an Miles erinnert.“

Carson erhob sich, ging zum Fenster und blickte eine Weile auf die Straße. Dann wandte er sich ihr zu. Es war ihm wichtig, die Dinge von Anfang an klarzustellen. „Ich hintergehe Frauen nicht“, sagte er ruhig. „Es stimmt, ich wollte damals frei sein, deswegen habe ich mich scheiden lassen. Aber erst danach habe ich mich mit anderen Frauen eingelassen.“

„Aber es gab viele andere, richtig?“

„Ist das ein Verbrechen?“

„Wer drückt sich jetzt um die Antwort, Carson?“

Jetzt gab es kein Entkommen mehr. „Okay. Ja, es gab viele Frauen. In letzter Zeit habe ich allerdings keine getroffen.“ Denn im vergangenen Jahr war er unruhig und rastlos geworden. Genau wie damals, als seine Ehe in die Brüche gegangen war. Danach hatte er die Freiheit ausgiebig genutzt.

Irgendwann hatten ihn die Nächte mit schönen fremden Frauen ausgezehrt. Es war nichts Spannendes mehr daran, nichts Befriedigendes. Er hatte keine von ihnen wirklich kennengelernt und auch keinen Wert darauf gelegt.

„Bist du sicher, dass nicht irgendwo eine Partyfreundin sitzt und darauf wartet, dass aus euch doch mehr werden könnte?“, hakte Tessa nach.

„Auf keinen Fall.“

„Keine hübschen Frauen, die in deiner Villa in Beverly Hills darauf warten, dass du zu ihnen in den Whirlpool steigst?“

„Nein. Ich wohne in Malibu, und zwar allein.“

Ihr Blick war so intensiv, als wolle sie seine Gedanken lesen, um herauszufinden, wie viel Wahrheit in seinen Worten lag. Schließlich nickte sie langsam. „Na schön.“

Jetzt war es wieder an ihm, Fragen zu stellen – und davon hatte er einige. „Warst du mit Miles verheiratet?“

„Nein.“

„Aber ihr wart euch treu?“

„Das glaubte ich zumindest. Aber ich glaubte eine Menge Dinge, und du siehst ja, wo mich das hingeführt hat.“

„Du willst also, dass wir uns treu sind, richtig? Darum geht es dir. Dass es keine anderen nebenher gibt.“

Ihr entfuhr ein kleines unmutiges Grollen. „Siehst du? Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Vor zehn Minuten habe ich dich gebeten, dass wir Freunde sind, und jetzt nehme ich dich ins Kreuzverhör über andere Frauen.“

„Du musst mir einfach nur sagen, was du willst, Tessa. Darum geht es mir. Wenn du willst, dass ich keine anderen Frauen date, dann musst du es mir sagen.“

Sie blickte zur Decke. „Nun … es wäre schön, wenn du in den kommenden zwei Wochen keine anderen Frauen treffen würdest.“

Er versuchte nicht zu grinsen. „Auch wenn wir nur Freunde sind?“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Du liebe Zeit, wir sollten nicht einmal darüber reden müssen. Es ist viel zu früh dafür.“

Carson machte einen Vorschlag. „Wie wäre es damit? Ich verspreche, in den kommenden zwei Wochen keine Frauen zu verführen – Anwesende ausgenommen.“

Langsam ließ sie die Hände fallen. Rosige Flecken zierten ihre Wangen. „Vielleicht solltest du mich nicht vorwarnen, wenn du vorhast, mich zu verführen.“

„Warum nicht? Wir wissen beide, dass ich es vorhabe. Warum sollte ich dir etwas vormachen?“

„Hmm. Naja, okay. Ich bin für Ehrlichkeit.“ Nun hatte sie Mühe, das Lächeln zu verbergen. „Und ich gebe offen zu, dass ich ein bisschen … schräg bin.“

„Auf eine ganz bezaubernde Art.“

Sie neigte den Kopf. Beinah schüchtern stellte sie fest: „Hin und wieder sagst du genau das Richtige.“

„Tessa?“

„Was?“

„Sieh mich an.“ Mit dem Zeigefinger hob er sanft ihr Kinn an. „Bist du absolut sicher, dass du in Montana bleiben willst? Auch wenn du in L. A. deinen Traumjob bekommen könntest?“

Ihre Augen verengten sich. „Hör auf, mich zu drängen, Carson. Ich habe dir gerade gesagt, wie sehr ich meine Heimat liebe. Außerdem glaube ich kaum, dass mich eine große Firma nehmen wird. Della hat sicher dafür gesorgt, dass ich in der gesamten Branche unten durch bin.“

„Mit den richtigen Beziehungen ist alles möglich.“

Ihr Mund formte eine schmale Linie. „Du meinst mit deinen Beziehungen.“

„Warum nicht? Kennst du IMI?“

Jetzt weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. „Denkst du etwa, ich könnte einen Job als Grafikdesignerin bei Interactive Marketing International bekommen?“

„Das denke ich nicht, das weiß ich, und zwar einen richtigen Job − einen Job, bei dem du dein Talent entfalten darfst, der dich herausfordert. Und du könntest Verantwortung übernehmen.“

Sie ließ ein kleines spöttisches Schnauben hören. „Klar. Einfach so.“

„Ja. Einfach so. Jetzt sieh mich nicht so an, als ob ich mich dafür schämen müsste. Warum sollte ich nicht meine Beziehungen spielen lassen? Für jemanden, der es verdient hat.“

Sie starrte ihn an. „Und ich fing gerade an, dich zu mögen …“

Allerdings erzielte ihre Wut den gegenteiligen Effekt auf ihn: Er fand sie unheimlich süß, wenn sie so ein ärgerliches Gesicht zog. Er hielt es aber für besser, das für sich zu behalten. Stattdessen schlug er einen sanfteren Ton an. „Du hast recht. Ich sollte dich nicht überfallen. Schon gar nicht mit einem großartigen Job, der dir einen fetten Gehaltsscheck im sonnigen Kalifornien beschert.“

Ein resigniertes Seufzen löste sich in ihrer Kehle. „Kannst du es vorerst gut sein lassen? Mir zuliebe?“

Mühsam unterdrückte er ein Grinsen. „Aber sicher, Liebes. Vorerst.“

Sie erhob sich. „Danke.“

Sein Herz wurde schwer, als sie zur Tür ging. „Warte. Wo willst du hin?“

„Auf mein Zimmer.“

„Da habe ich dich endlich dazu gebracht, wieder mit mir zu reden, und jetzt willst du schon wieder gehen?“

Sie hielt inne, die Hand auf der Türklinke. „Ich muss noch etwas erledigen. Wir können uns heute Nachmittag sehen. Lass uns Sandwiches einpacken und ein Picknick im Park machen.“

Nicht einmal ein Kuss, dachte er enttäuscht. Dann ermahnte er sich zur Geduld – auch wenn Geduld nicht gerade seine Stärke war. Vor allem nicht, wenn es dabei um sie ging. „Hört sich gut an“, lenkte er ein.

„Schön. Bis später.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn allein.

Carson warf einen Blick auf die Uhr. Selten hatte er sich so sehr gewünscht, dass die Zeit bis zum Nachmittag schneller vergehen würde.

6. KAPITEL

Tessa war überrascht, wie die Stunden mit Carson zusammen verflogen.

Aus dem geplanten Picknick im Park wurde ein herrlicher Ausflug, dieser führte zu einem ausgedehnten Spaziergang, und schließlich lud Carson sie zum Abendessen in ein italienisches Restaurant nach Kalispell ein.

Sie sagte nicht Nein. Wie konnte sie auch? Carson war so charmant und aufmerksam wie zuvor, und es schien, als wolle er alles über sie erfahren.

Als er jedoch wieder auf ihren Job zu sprechen kam, war sie zunächst ungehalten. Dann besann sie sich. Sie hatte ihn nun schon zwei Mal abgewiesen, und trotzdem gab Carson nicht auf. Er wollte sie wirklich kennenlernen – und obendrein ihrer Karriere auf die Sprünge helfen.

Also erzählte sie ihm alles, was er hören wollte. Sie verriet ihm auch ihre Fehler. Als die Vorspeise serviert wurde, fragte Carson erneut nach Dellas Drohung und deren Folgen für Tessas Zukunft.

„Es war allein meine Schuld“, versuchte Tessa deutlich zu machen. „Natürlich war Della eifersüchtig und nachtragend. Aber ich habe es nun einmal verbockt. Ich habe ein wichtiges Projekt in den Sand gesetzt.“

Carson schenkte Chianti in die Weingläser. „Und jetzt? Denkst du etwa, du hättest es verdient, bis in alle Ewigkeit für einen Fehler bestraft zu werden?“

Diese Frage brachte Tessa für einen Augenblick aus dem Konzept. Nachdenklich betrachtete sie den Vorspeisenteller voll köstlicher Antipasti. „Nein“, sagte sie schließlich. „Ich habe immerhin meine Lektion gelernt. Ich würde meine Kollegen und Freunde nie wieder so hängen lassen – ganz gleich, welche persönlichen Dinge dazwischenkommen.“

Diese Antwort schien ihn zufriedenzustellen. Die Information hielt Carson allerdings nicht davon ab, ein Dutzend weitere Fragen zu stellen.

Erst als der Hauptgang serviert wurde und Tessa sich ihren Ravioli widmen wollte, drehte sie den Spieß um. Zuerst fragte sie nach Carsons Familie.

Wie sich herausstellte, hatten sich seine Eltern scheiden lassen. Seine Mutter, Andrea VanAllen Drake Rivas, hatte erneut geheiratet und lebte nun in Argentinien.

Sein Vater war vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Carson hatte weder Geschwister noch Cousins, auch seine Großeltern waren bereits verstorben. Es gab nur eine Tante, zu der er jedoch keinen Kontakt hatte.

Für Tessa war das unvorstellbar. Sie hatte viele Verwandte und war es gewohnt, zu Familienfeiern mehrere Tanten und Onkel einzuladen.

„Hast du Drake Destillerien nach dem Tod deines Vaters übernommen?“, wollte sie wissen.

Er nickte. „Mein Vater wollte es so, und ich habe es gern gemacht. Allerdings hatte ich schon zwei Jahre zuvor meinen ersten eigenen Club eröffnet. Dann folgten weitere. Drake Hospitality habe ich ganz allein ins Leben gerufen.“

„Mit deiner Arbeitsmoral ist demnach alles in Ordnung“, versuchte Tessa zu scherzen. Insgeheim war sie von Carsons Zielstrebigkeit und Ausdauer aufrichtig beeindruckt.

Er hob die Schultern. „Mein Vater hat mich immer ermutigt, mein eigenes Ding zu machen. Anfangs hat er mir bei der Finanzierung geholfen. Er wollte, dass sich sein Sohn nicht auf dem Familienbetrieb ausruht, sondern fleißig und ambitioniert ist. Er wollte, dass ich eigene Erfolge vorweisen kann.“

Tessa konnte den Stolz und die Zärtlichkeit aus Carsons Stimme heraushören. „Du hast deinen Vater sehr geliebt“, stellte sie leise fest.

„Ja. Er war stark. Der Konkurrenz immer einen Schritt voraus. Und er war furchtlos. Er liebte alles, was mit Outdoorsport und Survivaltraining zu tun hatte. All diese Machodinge wie Jagen, Autorennen und Bergsteigen. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er es auch durch. Er brachte mir Schießen bei und nahm mich mit zur Jagd, überall auf der Welt. Ich kann nicht behaupten, dass ich es so sehr genossen hätte wie er, aber sollte es eines Tages nötig sein, das Abendessen selber zu erlegen, dann würde ich das hinbekommen.“

Er nahm einen Schluck Wein. „Vielleicht war er ein bisschen zu besessen“, überlegte er. „Zu … getrieben. Ich denke, deswegen hat er meine Mutter verloren. Er hatte kaum Zeit für sie. Und seine Ärzte hatten ihm schon lange geraten, einen Gang zurückzuschalten. Aber das tat er nicht. Niemals.“

„Glaubst du, dass du ihm ähnlich bist?“

„In vielerlei Hinsicht, ja. Und darauf bin ich stolz. Aber ich bin besser im Delegieren. Ich kann auch mal Aufgaben abgeben und muss nicht immer darauf bestehen, alles selbst zu machen.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz wie wild pochen ließ. „Wie sieht es aus mit einem Dessert? Tiramisu? Cannoli?“

„Du liebe Zeit. Ich bekomme keinen einzigen Bissen mehr hinunter.“

Er fegte ihren Einwand mit einer lässigen Geste beiseite und bestellte beide Desserts. Natürlich konnte sie nicht widerstehen, sobald die Schälchen auf dem Tisch standen, und nahm von beidem einige Löffel.

Es war himmlisch.

Genau wie der Mann, der ihr gegenüber saß.

Als sie das Restaurant wenig später verließen, stand die untergehende Sonne wie ein glutroter Ball über den Bergspitzen. Tessa stieg in Carsons Cadillac und wollte gerade den Sicherheitsgurt anlegen, als er die Hand auf ihren Arm legte. Ein Blick in seine dunkel glühenden Augen machte sie aufmerksam.

Ein verräterischer Zug spielte um seine Mundwinkel. „Schau doch nicht so misstrauisch.“

Doch, sie war misstrauisch. Vor nicht einmal zwölf Stunden hatten sie sich darauf geeinigt, Freunde zu sein. Und jetzt sah Carson so aus, als wolle er ihren schönen Plan durcheinanderbringen, indem er sie küsste.

Und das Schlimme war, dass sie es zulassen würde. „Carson …“

„Ich kann mich nicht beherrschen“, flüsterte er.

„Doch, du k…“

Er stahl ihr das Wort mit den Lippen. Dann ließ er ihren Arm los und schmiegte seine große warme Hand an ihr Gesicht, um sie festzuhalten.

Lieber Himmel. Der Mann konnte küssen.

Und er raubte ihre Willenskraft. Mit einem leisen Seufzer öffnete sie den Mund und ließ ihn ein.

Sie ahnte, dass sie dafür bezahlen würde.

Sie hatte viel zu schnell nachgegeben. Und bei einem Mann wie Carson bedeutete das, dass sie noch viel mehr geben würde.

Carson brachte nicht nur ihren schönen Plan durcheinander, er war auch im Begriff, alle Sicherheitsmauern einzureißen, die sie so sorgfältig um ihr Herz gebaut hatte.

Und dabei fühlte er sich großartig an − seine Nähe, sein Duft, seine Zunge, die nach Kaffee und Schokolade schmeckte, nach Sahne und heißer Süße.

In diesem Augenblick war ihr, als würden schlafende Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an die verlorene Montagnacht, heiß, sexy und voller Versprechen.

Versprechen, die sie jetzt sofort einlösen könnten.

Doch da wich er zurück.

Verwirrt öffnete sie die Augen. Sein Blick ruhte dunkel und heiß auf ihrem Gesicht. „Ich weiß“, sagte er rau. „Es ist zu früh.“

Sie versuchte, die Hitze in ihrem Schritt zu ignorieren. „Sehr richtig“, bestätigte sie und setzte sich energisch auf. „Zu früh.“

„Ich sollte dir Zeit geben. Und Raum.“

„So hatten wir es abgemacht.“

„Das ist nicht so leicht.“ Sein Tonfall war ernst, doch das Zucken um seine Mundwinkel strafte seine Stimme Lügen. „Wirst du mir jemals verzeihen?“ Er neigte den Kopf, als wolle er sie jeden Augenblick noch einmal küssen.

Sie legte die Handflächen an seine Brust und schob ihn zurück. „Du sollst dich nicht mit mir anlegen, schon vergessen?“

Entgegen ihrer Erwartung ließ er sich in den Fahrersitz sinken. „Also gut“, lenkte er ein, doch er klang dabei sehr selbstzufrieden. „Stürzen wir uns ins Nachtleben? Wie vergnügt man sich in Kalispell in Montana? In Moose’s Saloon? Oder vielleicht in Scotty’s Bar und Steakhouse?“

Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Ich hatte genug für heute. Bring mich zur Pension, bitte.“

„Sehr gerne.“ Er warf ihr einen Blick zu, mit dem man Feuer entfachen konnte.

„So war das nicht gemeint. Ich möchte schlafen gehen – allein“, betonte sie.

„Ich hatte nichts anderes im Sinn“, log er schamlos und lächelte sie an.

Und dieses Lächeln war es, das ihre Selbstbeherrschung fast begraben hätte.

Fast.

Der folgende Tag verlief anders, als Tessa es sich vorgestellt hatte.

Entgegen ihrer Erwartung klopfte Carson am Morgen nicht an ihre Tür. Im Gegenteil, er ließ nichts von sich hören und blieb den gesamten Vormittag über verschwunden.

Sie widerstand dem Impuls nachzusehen, ob er in seinem Zimmer war, und begann mit der Arbeit an der Jobanzeige für einen Kinderarzt.

Als sie mit den Entwürfen fertig war, ging sie nach draußen und drehte eine Runde um die Nachbarhäuser. Die frische Luft tat ihr gut – auch wenn sie ihr nicht die Sehnsucht nach einem gewissen gut aussehenden Mann nehmen konnte.

Zurück in der Pension warteten einige Hausarbeiten auf sie, die sie ihrer Großmutter gerne abnahm. Sie bereitete den Speiseraum für das Abendessen vor, machte die Betten und ging schließlich in den Keller, um die frisch gewaschenen Laken zu falten.

Sie war tief in Gedanken versunken, als sie plötzlich dicht hinter sich eine warme wohlige Stimme vernahm. „Hast du mich vermisst?“

Am liebsten wäre sie auf dem Absatz herumgewirbelt, doch im letzten Augenblick nahm sie sich zusammen. Stattdessen drückte sie das Laken fest an ihre Brust. „Ja“, sagte sie ehrlich. „Habe ich.“ Da löste sich völlig unerwartet eine Welle der Gefühle in ihrem Inneren. Heiße Tränen stiegen in ihre Augen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte.

Sie spürte, wie Carson dicht hinter sie trat. „Tessa.“

Er sagte nur ihren Namen, doch es lag so viel Gefühl darin, so viel Hoffnung, dass ihr ein warmer Schauer über den Rücken rann. Sie ließ es zu, dass er die Arme um sie legte.

„Ich war im Hotel“, erklärte er ungefragt. „In der Suite lässt es sich besser arbeiten, weil das WLAN verlässlicher ist.“

„Ach so.“ Die Worte klangen wie ein leiser Hickser. Tessa räusperte sich. „Du hast es im Maverick doch sowieso viel komfortabler.“

„Aber du bist nicht da“, raunte er. Dann umfing er ihre Taille und drehte sie herum, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.

„In der Hotelbar bin ich vorhin Bürgermeister Traub begegnet. Er hat mich für morgen Abend zum Barbecue in sein Haus oben am Falls Mountain eingeladen. Und er will mir seine Sättel zeigen. Wusstest du, dass er wunderschöne maßgeschneiderte Sonderanfertigungen herstellt?“

Tessa nickte. „Ja. Und hast du gewusst, dass Bürgermeister Traub früher Bad Boy Traub war? Es war für alle ziemlich überraschend, dass er Willa Christensen heiratete und sich zum Bürgermeister gemausert hat. Ach ja, und du kennst sicher Nate Crawford. Er und Collin Traub waren sich übrigens früher spinnefeind.“

Carson wirkte nachdenklich. „Kaum zu glauben. Jetzt hocken sie ständig beieinander und schmieden neue Pläne für die Stadt.“ Ein Lächeln nahm sein Gesicht ein. „Collin hat gefragt, ob ich jemanden mitbringen möchte. Ich würde gerne dich mitnehmen.“

Tessa zögerte nicht. „Gerne.“ Dann löste sie sich von ihm, bevor der Wunsch, ihn in Melbas Waschkeller zu küssen, übermächtig wurde. Sie wendete sich wieder den Laken zu. „Bleibst du zum Abendessen in der Pension?“

„Das würde ich nie im Leben versäumen.“

So kam es, dass Carson den Abend mit Tessas Familie verbrachte. Nach dem Essen lud Gene ihn zum Kartenspielen in das gemütliche Wohnzimmer ein, und Carson sagte bereitwillig zu.

Nur Melba konnte ihr Temperament nicht im Zaum halten. Sie überschüttete den Gast mit persönlichen Fragen nach seiner Familie, seiner Heimat und seinen Unternehmen und hielt sich selbst mit Fragen zu seiner ersten Ehe nicht zurück.

Tessa war bereit einzugreifen, doch Carson schien Melbas Verhör nicht zu stören. Bereitwillig erzählte er ihr, dass er sich von seiner ersten Frau hatte scheiden lassen.

Zu Tessas Unglück ließ ihre Großmutter keinen Zweifel daran, was sie von Scheidung hielt. Sie verzog das Gesicht.

Carson blieb geduldig. „Meine Exfrau ist heute sehr viel glücklicher als damals. Und ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass das so bleibt. Ich mag ihren neuen Ehemann. Wir stehen in einem guten Verhältnis.“

Daran hatte offenbar selbst Melba nichts mehr auszusetzen, und daraufhin ließ sie das Thema fallen.

Nachdem sich die Großeltern zur Nachtruhe zurückgezogen hatten, setzten Tessa und Carson sich auf die Veranda. Als sie das nächste Mal zur Uhr sahen, war es bereits nach Mitternacht, und gemeinsam begaben sie sich nach oben.

Die ganze Zeit über dachte Tessa daran, ihn zu küssen, doch schließlich entschied sie sich dagegen. Sie würde es wieder tun – daran hatte sie nun keinen Zweifel mehr. Aber nicht heute.

„Gute Nacht, Carson“, sagte sie daher und huschte in ihr Zimmer.

Wenn aus ihrer Freundschaft wirklich eine Affäre werden sollte, gab es kein Zurück mehr – dann waren sie keine Freunde mehr.

Tessa war froh, dass sie diese Entscheidung noch nicht treffen musste.

Auch den nächsten Abend verbrachten sie gemeinsam, dieses Mal auf dem imposanten Anwesen der Traubs in den Bergen. Es befand sich hoch oben, jenseits des spektakulären Wasserfalls, der dem Berg seinen Namen verlieh.

Collin hatte das mächtige Haus im ländlichen Stil von seinem Onkel geerbt und seither einige Veränderungen vorgenommen. Er hatte Wände entfernen und zur Talseite hin große Fensterfronten einbauen lassen, sodass sich ein fantastischer Blick auf die Berggipfel und hinab auf Rust Creek Falls bot.

Collin zeigte Carson seine Sattelwerkstatt. Währenddessen bestand Willa darauf, dass Tessa den vier Monate alten Robert hielt. Allerdings begann das Baby zu schreien, sobald es in Tessas Armen lag – ein Umstand, der Tessa kaum verwunderte und Willa ein Lächeln entlockte. „Warte ab, bis du selbst Babys hast“, sagte sie.

Es klang wie eine Prophezeiung, aber Tessa glaubte nicht daran, dass sie sich erfüllen würde.

Später wurde ihnen ein köstliches Abendessen aus gegrillten Rippchen und Gemüse serviert, und bei der Getränkewahl fiel das Gesprächsthema unweigerlich auf Homer Gilmore.

Collin war enttäuscht, dass Carson den Moonshine – Plan aufgegeben hatte. „Ich hatte gehofft, dass uns die Kampagne Werbung und Investoren für Rust Creek Falls einbringt“, erklärte er.

Tessa beobachtete Carson. „Glauben Sie mir, diese Art von Werbung wünschen Sie sich nicht für Ihre hübsche Stadt“, erwiderte er leichthin.

Daraufhin tauschten Collin und Willa einen wissenden Blick. „Ihr habt ihn also probiert?“, wollte Willa wissen. Ihre Augen hatten einen fiebrigen, neugierigen Glanz angenommen.

Bei der Erinnerung durchrieselte Tessa ein angenehmer Schauer. Sie musste feststellen, dass sich ihre Sicht auf vergangene Montagnacht inzwischen geändert hatte. Es war nicht nur peinlich und undurchsichtig, sondern auch aufregend und verheißungsvoll.

Immerhin waren seither viele gute Dinge geschehen. Und sie würde nie vergessen, wie viel Mühe sich Carson danach gemacht hatte, um sie besser kennenzulernen, selbst wenn er nach L. A. zurückkehren und sie ihn nie wiedersehen würde.

„Ja, haben wir“, bestätigte Carson, als das Schweigen zu lange dauerte.

Erst jetzt wurde Tessa bewusst, dass sie Carson sekundenlang angestarrt hatte.

Willa nickte verständig. „Wir auch“, gab sie zu. „Am vergangenen Vierten Juli.“ Sie warf ihrem Mann einen zärtlichen Blick zu. „Es war ziemlich … intensiv.“

„Das stimmt.“ Um Collins Mundwinkel spielte ein Lächeln, das sowohl an seine Vergangenheit als Bad Boy Traub als auch an seine liebevolle Ergebenheit Willa gegenüber erinnerte. „Ihr könnt euch ja ausrechnen, wie unser kleiner Robert ins Bild passt.“

Tessa spürte, wie sie errötete, und war froh, dass das Thema daraufhin fallen gelassen wurde.

Gegen Mitternacht kehrten sie in die Pension zurück. An diesem Abend ließ Tessa es sich nicht nehmen, Carson vor der Tür einen Gutenachtkuss zu geben.

Dann verabschiedeten sie sich. Sie glaubte zu wissen, dass diese wundervolle Zeit enden müsste. Carson würde sein gewohntes Leben wieder aufnehmen, und Fernbeziehungen konnten ohnehin nicht bestehen.

Trotzdem war sie glücklich, als sie sich an diesem Abend ins Bett legte.

7. KAPITEL

Die Woche verging wie im Flug.

Carson konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so unbeschwert gewesen war. Sie wanderten, sie gingen reiten und erkundeten die klaren Seen und wilden Wälder am Fuße der Berge.

Es bereitete Carson ein kleines selbstzufriedenes Vergnügen, wie überrascht Tessa schaute, weil er ein ausgezeichneter Reiter war. Er erzählte ihr von seiner Ranch bei Santa Barbara, wo er edle Vollblutpferde züchten und trainieren ließ. Leider konnte er sich nicht oft dort aufhalten, doch es war für ihn eine Freude, die er nicht aufgeben wollte.

Dank des strengen Drills seines Vaters konnte er noch immer Fährten lesen und sich im Wald zurechtfinden. Er zeigte Tessa Spuren von Rehen, erklärte ihr den Unterschied zwischen den Abdrücken von Coyoten und Hunden und fand sogar die Spur eines Schwarzbären.

Ryan und seine Frau Kristen luden Tessa und Carson zum Reiten auf die Ranch ihrer Eltern ein, wo sie einen wundervollen Tag auf dem Pferderücken und schließlich beim Dinner in der gemütlichen Dalton-Ranch verbrachten.

Jeden Morgen bestand Tessa in der Pension darauf, zuerst das gemeinsame Badezimmer nutzen zu dürfen. Die kleine Kabbelei wurde zum morgendlichen Ritual, bei dem Carson sich allerdings gerne schlagen ließ. Und obwohl es beinahe lächerlich unpraktisch war, sich ein einziges Badezimmer teilen zu müssen, hatte Carson so viel Spaß wie selten zuvor.

In Tessas Gegenwart fühlte sich alles neu an – so, als wäre er wieder ein Teenager und hätte noch nicht die ganze Welt gesehen. Es war ein wundervolles berauschendes Gefühl.

Am Sonntag, nach einem langen heißen Wanderritt und einer Abkühlung im Rust Creek Fluss, wagte Carson erneut einen Vorstoß. Nach dem Baden hatten sie es sich auf einer Picknickdecke im Gras gemütlich gemacht, und Carson hatte Tessas Körper gestreichelt, der mit nichts als einem Bikini bekleidet war und verheißungsvoll in der Sonne glitzerte. „Ich möchte, dass du die Nacht bei mir im Hotel verbringst“, bat er.

Sie zögerte. „Ich werde es mir überlegen“, lenkte sie schließlich ein. Das hielt sie nicht davon ab, sich an ihn zu drängen und ihn zu küssen, bis er die harte Erregung in seinem Schritt spürte.

„Damit solltest du besser aufhören“, wisperte er und schob sie sanft von sich.

Ihre Augen leuchteten in der Sonne, doch sie kam ihm nicht noch einmal näher.

Nach dem Abendessen in der Pension machten sie einen Spaziergang im Park von Rust Creek Falls, und Carson hielt die Zeit dafür gekommen, Tessa noch einmal an das Jobangebot zu erinnern.

Er dirigierte sie zu einer Bank mit Blick auf einen hübschen Teich. Ihrer Reaktion nach schien sie damit gerechnet zu haben, dass er sie erneut bitten würde, die Nacht mit ihm im Hotel zu verbringen.

Das Thema Vorstellungsgespräch dagegen brachte sie für einen Augenblick durcheinander.

„Lass mich bei IMI anrufen“, forderte er. „Du könntest dich zumindest vorstellen. Was hast du zu verlieren? Ich lasse dich einfliegen, und du kannst so lange bleiben, wie du willst, um dir den Laden anzusehen.“

„Ich kann eine Reise selbst organisieren, vielen Dank.“

„Darum geht es doch gar nicht. Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich würde mich freuen, wenn du dich ihnen zumindest vorstellst. Und du könntest mich in Malibu besuchen.“

Ihr war anzusehen, wie es in ihr arbeitete. Doch irgendeinen Reiz musste die Vorstellung für sie haben, denn plötzlich wurde ihr Blick sanfter.

Er umfing ihr Gesicht mit den Händen. „Sag Ja“, bat er leise, „zu der Reise, zu dem Jobangebot, zu einem Besuch.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Du bist zu nichts verpflichtet. Wenn es dir gar nicht gefällt, kannst du den Job wieder aufgeben.“

Es war, als würde sie alle Möglichkeiten gedanklich durchspielen. Sicher dachte sie an Rust Creek Falls und an ihren Plan, endlich Wurzeln in der Heimat zu schlagen.

Allerdings konnte sie Carson nichts vormachen, was ihren Job anging. Sie hatte Talent, Ehrgeiz und sehnte sich nach einer zweiten Chance. Es wäre unsinnig gewesen, diese Chance ziehen zu lassen – auch wenn es sie an die unglückliche Konstellation mit Della Storm erinnerte.

„Du bist so still“, hakte Carson endlich nach. „Was denkst du?“

Sie atmete tief ein. „Ich denke, dass ich dir danken sollte, Carson.“

Er wusste nicht, ob er sich veralbert oder geschmeichelt fühlen sollte. „Wofür?“

„Dafür, dass du mir den Tritt in den Hintern gibst, den ich gebraucht habe.“ Ein vorsichtiges Lächeln begann um ihre Mundwinkel zu spielen. „Es wäre wirklich dumm, mir eine solche Chance entgehen zu lassen. Also ruf deinen Kontakt bei IMI an. Leg einen Termin für das Vorstellungsgespräch fest. Und dann besuche ich dich in Malibu, und wir schauen, wie es läuft.“

Carson konnte das selbstzufriedene Lächeln nicht zurückhalten. „Großartig!“ Dann fiel ihm etwas ein. „Darf ich erwähnen, dass du vorher mit Della Storm gearbeitet hast?“

Sie zögerte nicht. „Sicher. Sie werden es ohnehin erfahren, wenn sie ein bisschen herumfragen. Ich hoffe bloß, dass sie nicht zu sehr auf die … äh, persönlichen Details eingehen.“

„Tessa, sie werden deine Arbeit beurteilen, nicht deine Beziehung zu diesem Miles.“ Er hatte den Namen betont, als müsste er ein schmutziges Wort in den Mund nehmen.

Tessa war das nicht entgangen. „Ich habe Miles wohl ziemlich übel dargestellt.“

„Geht es denn noch übler?“

„Naja … Vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Du musst wissen, er hat mir einen Antrag gemacht.“ Sie senkte den Blick. Ihre Wimpern waren so lang und seidig, dass Carson sie gerne berührt hätte. „Mehrmals. Und ich habe jedes Mal abgelehnt.“

„Na und?“

Sie wirkte schuldbewusst, und Carson hätte sie dafür am liebsten geschüttelt. „Irgendwann hat er vermutlich aufgegeben. Er hatte es satt darauf zu warten, ob ich irgendwann Ja sage.“

Carson hielt sich nur mühsam zurück. „Tja, dann hatte er kein Ja verdient.“

„Vielleicht. Aber vielleicht hatte er am Ende doch einen Grund, so zu handeln.“

Jetzt schnaubte Carson erbost durch die Nase. „Einen Grund, dich zu betrügen? Auf die widerlichste Art und Weise? Nein, Tessa. So etwas macht man nicht. Wenn er dich so gerne geheiratet hätte, dann hätte er eben nicht so leicht aufgeben dürfen. Oder er hätte die Beziehung eben beenden sollen. Aber man zieht sich doch nicht einfach aus der Affäre, indem man sich einer anderen an den Hals wirft.“

Er hatte sich beinah in Zorn geredet, doch dann zügelte er sich. Ruhig fügte er hinzu: „Es mag sein, dass ich viele Freundinnen hatte, aber ich war immer ehrlich zu ihnen. Genauso wie zu Marianne. Ich habe ihr ehrlich gesagt, dass ich mir zu diesem Zeitpunkt meines Lebens noch keine eigene Familie vorstellen konnte.“

Endlich blickte Tessa auf. In ihre Augen war der gewohnte Glanz zurückgekehrt. „Du hast recht. Ich habe Miles nie vertraut, nicht wirklich. Und ich war so unerfahren. Ich wollte nichts tun, was ich vielleicht später bereuen würde. Und was die Hochzeit anging, stimmte das ja auch.“

Sie seufzte und strich sich die Locken aus dem Gesicht. „Oh je … Das spricht nicht gerade für meine Menschenkenntnis.“

„Warum? Du hattest den richtigen Instinkt! Davon abgesehen, Tessa, nenn mir eine Person, die in ihrem Leben nicht einmal danebengelegen hat.“

Sie zeigte ein schwaches Lächeln. „Schon. Nur Della gegenüber hätte ich mich wirklich kollegialer verhalten können. Sie war zwar streng, aber immer fair mir gegenüber. Und ich habe sie einfach hängen lassen.“

Carson hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an. „Dann schicke ihr doch eine Nachricht! Entschuldige dich.“

Ihre Augen weiteten sich. „Im Ernst? Wird sie nicht glauben, dass ich mich einschmeicheln will, weil ich bald bei IMI vorspreche?“

„Tessa, es geht darum, was du denkst.“

Ein strahlendes Lächeln zierte ihr Gesicht. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht werde ich genau das machen.“

Carson betrachtete ihr Gesicht. Er liebte es, Tessa lächeln zu sehen.

Rasch rechnete er nach. Ihm blieben noch sechs Tage in Rust Creek Falls, bevor er nach Malibu zurückkehren würde.

Der Gedanke, sich vorerst von ihr zu trennen, war mehr als unangenehm. Fast schmerzhaft.

War er etwa im Begriff, sich ernsthaft zu verlieben?

Und warum eigentlich nicht?

Immerhin hatte sie zugestimmt, ihn besuchen zu kommen. Der erste Schritt war damit getan – und eine tiefe Befriedigung begann sich in seinem Herzen auszubreiten.

„Ich habe Della geschrieben.“ Tessa beobachtete Carsons Reaktion. Er hob den Blick von seinem Glas und sah ihr tief in die Augen. „Gut gemacht.“

Tessa richtete sich auf dem Barhocker auf und stützte die Ellenbogen auf den spiegelblanken Tresen. „Hoffentlich. Ich habe ihr einen Brief geschickt – so richtig altmodisch. Ich hatte das Gefühl, dass das mehr wiegt als eine E-Mail. Ich habe mich entschuldigt und mich bei ihr dafür bedankt, dass ich so viel lernen durfte.“

Carson nickte anerkennend. „Das war bestimmt eine gute Entscheidung.“ Er trank das Glas aus. Nach dem Abendessen hatte Carson sie zu einem Drink in die Hotelbar eingeladen. Tessa gefiel das Maverick Hotel. Es war zwar ein bisschen protzig, aber geschmackvoll eingerichtet, und in der Bar mit dem gedämpften Licht und der leisen Musik fühlte sie sich wohl und aufgehoben.

„Und ich habe bei IMI angerufen und ihnen von deinen Arbeiten erzählt.“ Carson fing ihren Blick ein. „Sie freuen sich darauf, dich kennenzulernen.“

Tessa spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Sein Blick ruhte so intensiv auf ihrem Gesicht, als wolle er es sich für die Ewigkeit genau einprägen. „Danke“, sagte sie leise. Dann lehnte sie sich vor. „Weißt du, ich mag dich wirklich sehr, Carson.“ Sie machte eine Pause. „Sehr.“

Daraufhin gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flüsterte in ihr Ohr: „Ich mag dich noch mehr.“

Ihr entfuhr ein leises Kichern.

Carsons Stimme wurde eine Nuance dunkler. „Möchtest du die Nacht bei mir verbringen?“

Mit einem Mal gab es nur noch seine Stimme. Nur noch sein Gesicht, hinter dem die Bar in weite Ferne rückte. Und Tessa wusste, dass sie nicht Nein sagen würde.

Sie nickte langsam. Einmal.

Das schien ihm zu genügen. Er gab dem Barkeeper ein Zeichen, legte einen Schein auf den Tresen und ergriff Tessas Hand. Dann verließen sie die Bar und nahmen den Fahrstuhl zu seiner Suite.

Noch nie im Leben war Tessa so nervös gewesen. Sie sprachen kein Wort, als sie Carsons Suite betraten, doch die Spannung war mit beiden Händen greifbar.

„Ich komme gleich wieder“, flüsterte Tessa und durchquerte den Raum, um in das Badezimmer zu gehen. Dort hielt sie vor dem großen Spiegel inne und blickte in ihr eigenes blasses Gesicht. Ihre Augen waren geweitet, doch neben der Angst lag noch etwas anderes in ihrem Blick: eine freudige Erwartung, die langsam von ihrem Herz Besitz ergriff.

Einem Impuls folgend streifte sie die Kleider ab, bis sie nur noch die Dessous auf der Haut trug. Es war ein schwarzer Spitzen-BH mit passendem Höschen, und Tessa war froh über die Wahl, weil ihr das Set gut stand und ihr Sicherheit gab.

Sie atmete tief ein – und verließ das Badezimmer.

Im Hauptraum fand sie Carson. Auch er hatte sich seiner Kleider entledigt. Er erhob sich aus seinem Sessel, sodass sie seinen starken Körper in den schwarzen Boxershorts betrachten konnte.

Himmel. Der Mann war wunderschön. Wie um alles in der Welt gelang es ihm, sich derart in Form zu halten, während er zwei Firmen leitete?

Er streckte den Arm aus.

Sie schob die Finger in seine große warme Handfläche und folgte ihm ins Schlafzimmer.

Dort blieb er vor ihr stehen. Mit dem Zeigefinger zeichnete er ihre Schulter nach, die zarte Linie des Schlüsselbeins und schließlich die Rundung ihrer festen kleinen Brüste. „Du bist perfekt“, sagte er leise. „Ich habe eine Ewigkeit darauf gewartet.“

„So lange kennen wir uns noch gar …“ Tessa verstummte, als er den Ansatz ihrer Brust streichelte. Sie seufzte.

Mit einer fließenden Bewegung griff er in ihren Rücken und löste den Verschluss ihres BHs. Dann streifte er die Träger über ihre Schultern. „Perfekt“, wiederholte er.

Er berührte ihre Taille, strich über den Rippenbogen und umfing schließlich mit beiden Händen ihre Brüste.

Sie spürte, wie ihre Nippel hart wurden und sich unter seinen Fingern aufrichteten.

„Ich bin noch nie jemandem wie dir begegnet.“ Carsons Stimme war rau. „Ich weiß kaum, wie ich dich berühren soll. Ich weiß nur, dass ich von der ersten Sekunde an von dir gefesselt war. Ich sah dich in diesem Kostüm und wusste, dass ich dich kennenlernen musste.“

„Es war beängstigend“, wisperte sie.

Beängstigend?

Sie nickte. „Es war, als wäre die Welt zum Stillstand gekommen. Als gäbe es nur noch dich und mich. Und ich hatte Angst, dass mir dasselbe passieren würde wie damals mit …“

Mit einem Kopfschütteln brachte er sie zum Schweigen.

Nein. Sie wollte auch gar nicht den anderen Namen in den Mund nehmen. Jetzt gab es nur noch Carson. „Jedenfalls bekam ich Angst.“

Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn an. „Es ist nicht wie damals“, sagte er ruhig. „Du bist jetzt bei mir. Und ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht betrügen werde.“

Wie lange wird das anhalten? fragte eine panische kleine Stimme in ihrem Kopf. Was, wenn du mir am Ende doch das Herz brichst?

Die Fragen überschlugen sich in ihren Gedanken. Es war beunruhigend, und doch konnte sie sich nicht mehr entziehen. Es war zu spät.

Autor

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