Nox Band 20

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EIN ENGEL FÜR CHARLIE von CHERYL ST.JOHN

Charlie McGraw hätte seiner kleinen Tochter niemals das Buch über Engel kaufen sollen! Dann wäre sie nicht so überzeugt, dass die blonde Starla ein himmlisches Wesen ist. Aber seit Starla in einer eiskalten Nacht in ihr Leben geschneit ist, passiert wirklich Zauberhaftes. Denn Charlie beginnt, wieder an Lust und Liebe zu glauben …

ZAUBER DER VERFÜHRUNG von LINDA CONRAD

Für Milliardär Ty Steele ist Merri Davis nur eine Assistentin, die ihn geschäftlich unterstützen soll. Bis zu dem Tag, an dem ihm eine alte Wahrsagerin etwas schenkt: Sie überreicht ihm einen antiken Spiegel – und plötzlich wird aus seiner praktischen, schlichten Assistentin eine geheimnisvolle Schönheit …


  • Erscheinungstag 22.11.2025
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532785
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cheryl St.John, Linda Conrad

NOX BAND 20

Cheryl St.John

1. KAPITEL

Weihnachten war ganz eindeutig die Zeit der Familie. Charlie McGraw sah sich in dem liebevoll geschmückten Restaurant um. Auf der Theke neben der Kasse stand ein künstlicher Tannenbaum. Über der Durchreiche zur Küche waren beleuchtete Girlanden befestigt worden, und im Hintergrund konnte Charlie die Stimme des Wirts vernehmen, der irgendeine Melodie summte, die sich wie eine Mischung aus Jingle Bells und Yellow Submarine anhörte. Er musste lächeln und ließ seinen Blick über die Gäste schweifen.

In seiner Nähe saßen Kevin und Lacy Bradford mit ihren zwei Kindern. Gesprächsfetzen, die zu ihm herüberdrangen, verrieten ihm, dass die Familie von einem Einkaufsbummel gekommen war. Gerade noch rechtzeitig, denn das Wetter schien sich von Stunde zu Stunde zu verschlechtern. Es hatte bereits den ganzen Tag geschneit, aber erst in der letzten halben Stunde hatte es zu stürmen begonnen. Wenn Charlie nicht seinen Jeep mit Vierradantrieb gehabt hätte, wäre er mit Meredith niemals bei diesem Wetter hinausgefahren.

An einem anderen Tisch waren Forrest und Natalie Perry damit beschäftigt, den Löffel aufzuheben, den ihre kleine Tochter mit Begeisterung immer wieder auf den Boden warf, während sie dem munteren Geplapper ihres Sohnes Wade lauschten.

Charlie warf einen Blick auf seine fünfjährige Tochter. Heute Morgen hatte er ihre Haare mit einem Gummiband zusammengebunden, aber einige Locken hatten sich bereits wieder gelöst. Falls das Wetter wider Erwarten doch noch besser werden sollte, könnte er mit ihr einen Einkaufsbummel machen und versuchen, die Kleine in Weihnachtsstimmung zu bringen. Sie könnte einige Geschenke für die Großeltern aussuchen.

Da in der Vorschule die Weihnachtsferien bereits begonnen hatten, war es Meredith langweilig. Sie war ihm heute Vormittag in seiner Werkstatt auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte ihn mit Fragen bombardiert.

„Wenn ein Arzt deinen Hals aufschneidet, könnte er dann deinen Schluckauf sehen?“ fragte sie jetzt.

„Wahrscheinlich sieht er nur, wie die Muskeln sich bewegen. Ich glaube, dass ein Schluckauf aus dem Brustraum kommt“, antwortete Charlie.

„Und wenn er deine Brust aufschneidet, könnte er dann den Schluckauf sehen?“

„Vielleicht. Aber das würde ein Arzt nicht tun. Wegen einem Schluckauf schneidet man keinem Menschen die Brust auf.“

„Wo wachsen Pommes Frites?“

„Pommes Frites werden aus Kartoffeln gemacht, und Kartoffeln wachsen in der Erde. In Idaho werden viele Kartoffeln angebaut.“

„Ist Idaho weit weg?“

„Es liegt in den Vereinigten Staaten.“

Sie ertränkte ein weiteres Pommes Frites in Ketchup. „Wann werden wir einen Baum kaufen, Daddy?“

„Hm? Na, bald. Wir werden bald einen kaufen.“

„Das hast du schon oft gesagt, und jetzt ist bald Weihnachten.“

Charlie lehnte sich vor und wischte den Mund seiner Tochter mit der Serviette ab. „Ich weiß, Liebling, aber ich habe noch einen ganzen Haufen Aufträge, die meine Kunden zu Weihnachten verschenken wollen. Erst das Eine, dann das Andere.“

Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen ernst an. „Als Mommy noch bei uns und ich noch ein Baby war, hatten wir da auch einen Baum?“

Charlie wappnete sich gegen einen endlosen Strom von Mommy-Fragen. „Ja, natürlich hatten wir einen.“

„Hatten wir auch einen Engel auf der Tannenbaumspitze?“

„Wir hatten einen Stern. Den gleichen, den wir immer haben.“

Meredith steckte ein weiteres Pommes Frites in den Mund und griff zu dem Buch, das neben ihr lag und ohne das sie in den letzten zwei Wochen nicht mehr das Haus verließ. Charlie hatte es ihr gekauft, und sie war so in die Geschichte vernarrt, dass er es ihr mehrmals am Tag vorlesen musste.

„Wir könnten in die Bücherei gehen und uns ein paar Bücher ausleihen“, schlug er vor. Dieses hier kannte er bereits auswendig.

„Gibt es in der Bücherei auch Engelbücher?“

„Ich weiß es nicht. Wenn wir dort sind, werden wir Miss Fenton fragen. Das heißt, wenn die Bücherei überhaupt noch geöffnet hat. Nimm bitte auch einen Bissen von deinem Burger.“

Charlies Teller war bereits leer, während Meredith immer noch an den Pommes herumkaute und Fragen stellte. Er nahm ihren Hamburger und ließ sie abbeißen.

Sie kaute und schluckte brav, bevor sie eine neue Frage stellte. „Ist meine Mommy jetzt ein Engel?“

Charlie glaubte nicht daran, dass aus Menschen Engel werden konnten, aber er wollte keinen Glauben zerstören, der seiner Tochter Trost spendete. „Was glaubst du denn?“

„Ich finde, wir sollten eine neue Mommy für mich suchen. Du könntest Miss Fenton heiraten, Daddy. Dann könnte sie bei uns wohnen.“

„Meredith, ich kenne Miss Fenton doch kaum.“

„Und was ist mit meiner Lehrerin, Miss Ecklebe? Sie ist so hübsch und kann so schön singen.“

„Sie heißt Mrs. Ecklebe. Sie ist bereits verheiratet.“

Meredith runzelte die Stirn und machte einen Schmollmund. „Oh.“

Sie schien sich offenbar in den Kopf gesetzt zu haben, eine neue Mutter zu finden. In der letzten Zeit sprach sie fast ständig davon. Aber obwohl Charlie bereits seit einigen Jahren Witwer war, hatte er keinerlei Wunsch, sich eine neue Frau zu suchen. Vielleicht würden es manche Leute nicht verstehen, aber er persönlich glaubte nun einmal nicht, dass wahre Liebe tatsächlich existierte. Er war schon einmal auf diese Legende hereingefallen, und er hatte keine Lust, dieses Desaster zu wiederholen.

Charlie legte eine Hand auf die zarte Schulter seiner Tochter. „Wir brauchen doch niemanden. Wir haben doch uns.“

Sie schlug die dichten dunklen Wimpern auf und sah ihn mit einem Blick an, der ihm zu sagen schien: Vielleicht brauchst du niemanden, ich schon.

Warum fühlte er sich auf einmal so schuldig? Es gab keinen Grund dafür. Ein Mann suchte sich nicht deshalb eine Frau, nur weil er ein einsames Kind zufrieden stellen wollte. Es wäre etwas anderes, wenn er sich selbst einsam fühlen würde.

Zugegeben, manchmal fühlte er sich einsam. Aber eben nicht einsam genug, um noch einmal den gleichen Fehler zu machen.

Aber was würde er tun, wenn Meredith fünfzehn wäre? Dieser Gedanke jagte ihm Angst ein.

Er wich Merediths prüfendem Blick aus und schaute zu den Bradfords hinüber. Sicher, sie wirkten wie die ideale Familie: Eine schöne Frau, ein Mädchen, das aussah wie seine Mutter, ein kleiner Junge, der das gleiche Kinn wie sein Daddy besaß, aber wer wusste, was zu Hause vor sich ging? Oder was nicht? Wahre und dauerhafte Liebe existierte nur in Filmen … und da sah man nie, was passierte, wenn der Alltag einbrach, Rechnungen zu bezahlen waren und Missverständnisse auftauchten. Nein, genug war genug!

Unwillkürlich schaute Charlie zu Forrest und Natalie Perry hinüber, die Händchen hielten. Falls er es nicht besser wüsste, könnte man annehmen, dass andere Paare tatsächlich glücklich waren.

Merediths Aufmerksamkeit richtete sich aufs Fenster, und er folgte ihrem Blick. Ein silberner Laster fuhr auf den Parkplatz. Die Schneeflocken wirbelten um den Truck, während er zum Halten kam. Die Worte Silver Angel waren in Metallicblau auf die Tür geschrieben. Gemalte Flügel zierten das S, ein Heiligenschein das A.

„Was heißt das, was da auf der Tür steht?“ fragte Meredith fast ehrfürchtig.

„Silver Angel. Silberengel“, erklärte er ihr.

Sie griff zu ihrem Buch. „Sieh nur! In meinem Buch sieht der Heiligenschein genauso aus!“

„Tatsächlich.“

Sie sahen zu, wie die Fahrertür sich öffnete, eine schmale Gestalt in einem Parka in den Schnee hinaussprang und dann auf das Restaurant zuging.

Die Tür öffnete sich, und der Lastwagenfahrer stampfte sich auf der Matte den Schnee von den Stiefeln ab und zog die Handschuhe aus. Ein eiskalter Windstoß zog in den Raum und drang bis zu dem Tisch vor, an dem Charlie mit Meredith saß.

Dann trat der auffallend zierliche Fahrer ein, und die Tür fiel hinter ihm zu. Als er die Kapuze seines Parkas zurückschob, fiel schimmerndes silberblondes Haar auf die schneebedeckten Schultern des Parkas. Ein Parka, unter dem sich definitiv ein weibliches Wesen verbarg. Die Frau war fast ätherisch schön, und Charlie musste zugeben, noch nie im Leben so eine Lastwagenfahrerin gesehen zu haben. Ein zartes Pink lag auf den hohen Wangenknochen, die jedem Starmodel Ehre gemacht hätten. Jetzt steckte sie die Handschuhe in die Taschen ihres Parkas und rieb sich die feingliedrigen Hände.

Es war Meredith, die hörbar die Luft einzog, doch Charlie hatte das Gefühl, er wäre es selbst gewesen. Er konnte kaum noch atmen, und seine Lungen brannten.

Die Frau zog den Parka aus und hängte ihn an einen der Garderobehaken neben der Tür. Enge verwaschene Jeans betonten ihre langen Beine und die wohlgerundeten Hüften. Ein kurzer pinkfarbener Pullover brachte ihre schmale Taille und die sanften Rundungen ihrer Brüste zur Geltung. Als sie zur Theke hinüberging, folgte ihr jeder Blick im Raum.

Sie schaute sich fast verlegen um und nickte den Familien an den Tischen kurz zu, bevor ihr Blick auf Charlie und Meredith fiel.

Charlie wusste, dass er irgendwie Luft in seine Lungen bekommen musste, wenn er nicht ohnmächtig werden wollte. Also konzentrierte er sich darauf, langsam und tief durchzuatmen. Nie hätte er zugegeben, dass er darauf gewartet hatte, dass die Frau in seine Richtung schaute. Himmel, noch nie in seinem Leben hatte er derart strahlend himmelblaue Augen gesehen. Die Frau lächelte und winkte ihnen kurz zu.

Meredith winkte entzückt zurück. „Daddy, sie ist so hübsch!“

Die junge Frau wandte sich nun Shirley Rumford zu, die ihr eine Speisekarte reichte und ein Glas Wasser auf die Theke stellte. „Was möchten Sie, meine Süße?“

Die engelsgleiche Erscheinung steckte sich das Haar hinter ihr kleines hübsches Ohr, in dessen Ohrläppchen eine Perle steckte. „Etwas Warmes. Es ist bitterkalt draußen. Was für Suppen haben Sie?“

Shirley rasselte rasch die wenigen Suppen herunter.

Die Perrys riefen Shirley ein „Auf Wiedersehen“ zu und verließen das Café. Einige Minuten später zahlten auch die Bradfords und folgten ihnen. Charlies Blick wanderte wieder zu der jungen Frau an der Theke zurück.

„Daddy, darf ich aufstehen und sie mir aus der Nähe ansehen?“ flüsterte Meredith nicht allzu leise.

Charlie, der den blonden Engel immer noch anstarrte, zuckte zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit der Kaffeetasse zu, die vor ihm stand. „Nein, es ist unhöflich, jemanden anzustarren.“

„Aber …“

„Meredith, iss deinen Hamburger auf, damit wir endlich gehen und nachschauen können, ob die Bücherei noch geöffnet hat.“

Seine Tochter ließ sich nun in die Bank zurückfallen, verschränkte die Arme vor der Brust und verzog trotzig das Gesicht. Fünf Minuten später hatte sie den Hamburger immer noch nicht gegessen.

„Du hast erst zwei Mal abgebissen“, erklärte er. „Du wirst den Hamburger aufessen, während ich zur Toilette gehe und dann die Rechnung bezahlen werde.“

„Also gut.“ Sie seufzte und griff nach dem bereits kalten Hamburger.

Charlie stand auf und ging zu den Toiletten hinüber.

Meredith wagte einen verstohlenen Blick zu der engelsgleichen Frau, die eben hereingekommen war. Sie war der hübscheste Engel, den sie je gesehen hatte. Sogar noch schöner als der Engel, der in ihrem Buch als Tannenbaumspitze diente und dann zu leben begann.

Sie schlug die Seite auf, auf der der Engel Mommy und Daddy mit Wunderpulver bestäubte, und die beiden sich dann unter dem Mistelzweig küssten. In dem Bild strahlte der bunt dekorierte Weihnachtsbaum in leuchtenden Farben, und drei kleine Kinder in Plüschpantoffeln und mit glücklichem Lächeln schauten den Eltern durch die Streben des Treppengeländers zu.

Falls Meredith nur einen Engel hätte, der ihren Daddy mit Wunderpulver bestäubte! Dann wäre er endlich wieder glücklich. So glücklich wie er einmal gewesen war. Glücklich genug, um eine neue Mommy für sie zu finden. Und dann wären sie wieder eine richtige Familie, genau wie die Familie in dem Buch.

Daddy war schon lange nicht mehr richtig glücklich.

Sie klemmte das Buch unter den Arm und wandte sich dann der Engelfrau zu, die gerade ihre Rechnung bezahlte.

Und da kam Meredith eine Idee.

Als Charlie wieder zurückkehrte, fand er die Plätze am Tisch leer vor. Über die Hälfte von Merediths Burger lag immer noch auf dem Teller. Sie musste ebenfalls zur Toilette gegangen sein. Er setzte sich, schaute einige Minuten zum Fenster hinaus und sah dem Treiben der Schneeflocken zu. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und sah sich in dem leeren Café um. Schließlich stand er auf, ging zu dem schmalen Gang hinüber, in dem sich die Waschräume befanden, und klopfte an die Tür der Damentoilette. „Meredith? Bist du da drin?“

Keine Antwort.

„Meredith? Hallo?“ Er öffnete vorsichtig die Tür und rief erneut: „Meredith, bist da drin, Schätzchen?“

Verflixt, vielleicht war sie hingefallen und hatte sich wehgetan. Er öffnete die Tür noch weiter, und sein Herz sank. Der Raum war leer.

Er drehte sich rasch um und lief zurück ins Café. Meredith war immer noch nicht zum Tisch zurückgekehrt. Im ganzen Raum hielt sich kein Gast mehr auf. Shirley legte gerade Servietten auf den Tischen aus. „Shirley, weißt du, wo Meredith hingegangen ist?“

Die ältere Frau schaute von ihrer Arbeit auf. „Ich dachte, sie wäre hinten bei Ihnen.“

„Nein, sie saß hier am Tisch, als ich zur Toilette ging.“

„Ich habe sie nicht gesehen, Charlie.“ Shirley wandte sich der Küche zu. „Harry, hast du die kleine McGraw gesehen?“

Harry und Shirley besaßen und führten das Café bereits seit vielen Jahren. Gerüchte gingen um, dass sie mehr als nur Freunde und Geschäftspartner waren, obwohl die beiden sich nie öffentlich als Paar zeigten.

Harry stieß soeben die Schwingtür zu seinem Reich auf. „Charlies Kleine?“

„Haben Sie sie gesehen?“ fragte Charlie. Angst schwang in seiner Stimme mit und schnürte seine Kehle zu. Er atmete tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden gesehen. Ich war allerdings auch hinten im Lagerraum und habe kontrolliert, was nachbestellt werden muss.“

Charlie schien nicht überzeugt zu sein und lief an Harry vorbei durch die Küche bis in den Lagerraum. Nichts. Außer Kartons und Harrys Bestellliste, die auf einem Stuhl lag, war nichts zu sehen.

„Sie muss doch irgendwo sein“, murmelte er, während er wieder durch die Schwingtür hinaus in das Restaurant lief. Er schaute unter jeden Tisch, in jede Ecke, bis er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Merediths pinkfarbener Plüschmantel war nicht mehr da! Charlie starrte auf den leeren Sitz und überlegte angestrengt, was das zu bedeuten hatte. „Sie ist nach draußen gegangen!“

Ohne daran zu denken, seinen eigenen Mantel anzuziehen, rannte er zur Eingangstür hinaus. Vielleicht hatte sie keine Lust mehr gehabt, auf ihn zu warten, oder hatte aus Trotz das Lokal verlassen und wartete nun im Jeep auf ihn.

In der Erwartung – und innerlich betend –, dass seine Tochter in dem unverschlossenen Wagen sitzen würde, lief er zum Jeep und riss die Tür auf. Nichts. Kein pinkfarbener Plüschmantel. Kein Engelbuch. Keine Meredith.

Charlie schlug die Wagentür zu und sah sich auf dem verlassenen Parkplatz um. Der eiskalte Wind blies ihm ins Gesicht, und sein Herz war so schwer, als ob Bleigewichte darauf lasten würden.

Während er zum Restaurant zurücklief, suchte er den Boden nach Fußspuren ab. Dann sah er etwas auf dem Boden liegen und hob es auf. Es war ein pinkfarbener Handschuh.

Charlie drückte ihn an die Brust, während Angst und Sorge ihm die Kehle zuschnürten. Der Boden vor der Eingangstür war fast schon wieder zu geschneit, seine eigenen Stiefelabdrücke kaum noch sichtbar.

Shirley öffnete die Tür. „Haben Sie sie gefunden, Charlie?“ rief sie.

Er schüttelte den Kopf und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, damit er klar nachdenken konnte. Es musste einen Grund geben, warum Meredith verschwunden war.

Harry, der sich einen Wollmantel übergezogen hatte, brachte Charlie seine braune Lederjacke. Charlie schlüpfte rasch hinein und steckte den pinkfarbenen Handschuh in die Tasche. Zusammen gingen die beiden Männer um das Gebäude herum und schauten auch in den Wagen, der am Rande des Parkplatzes zum Verkauf angeboten wurde. Sie sahen sogar in dem großen Müllcontainer nach.

„Es ist wohl besser, wenn ich den Sheriff anrufe“, sagte Charlie mit ruhiger Stimme. Dabei konnte er kaum noch seine Panik unterdrücken, und er hätte am liebsten losgeschluchzt. „Und ich muss in der Bücherei nachsehen.“

Shirley hatte einen besorgten Gesichtsausdruck, als sie das Restaurant wieder betraten und er sofort zum Telefon ging. Sie ergriff Harrys Arm, und die beiden sahen sich fassungslos an. So etwas war in Elmwood nach nie vorgekommen. Noch nie war ein Kind …

Charlie tippte die Nummer ein, und der Stellvertreter des Sheriffs Duane Quinn nahm ab. „Hier spricht Charlie McGraw“, stieß Charlie hervor. „Ich möchte meine Tochter als vermisst melden.“

2. KAPITEL

Die Zeit war noch nie so langsam vergangen, und noch nie in seinem Leben hatte Charlie sich so elend gefühlt. Der Sheriff Bryce Olson erschien, suchte ebenfalls Restaurant und Parkplatz ab und kam zu dem gleichen Ergebnis: Meredith war nirgends zu finden.

„Wer hat sich sonst noch im Restaurant aufgehalten?“ fragte der Sheriff, der einen Block in seinen Händen hielt und sich ab und zu Notizen machte. Der Mann schien ernsthaft besorgt zu sein, was Charlie gleichzeitig beruhigte und Angst machte. Ihm war der Ernst der Lage nur allzu bewusst.

„Die Perrys waren hier“, erklärte Shirley. „Die Bradfords auch. Und eine junge, sehr hübsche Lastwagenfahrerin. Das war alles. Das Wetter ist nicht dazu geeignet, die Leute aus dem Haus zu locken.“

Als das Wort Wetter fiel, schaute Charlie alarmiert zu einem der Fenster hinaus. War Meredith etwa in dieser Kälte davongelaufen? So etwas würde sie nicht tun, oder doch? Du lieber Himmel, sie war doch erst fünf Jahre alt. Sie konnte Gefahren noch nicht richtig einschätzen.

Hatte sie jemand draußen auf den schneeverwehten Straßen mitgenommen? Sie gegen ihren Willen in den Wagen gezerrt? Ein Horrorszenario nach dem anderen jagte durch seinen Kopf.

„Wir werden die Perrys und die Bradfords anrufen“, meinte Bryce. „Was ist mit der Frau, die Sie erwähnten? Wirkte sie irgendwie verdächtig?“

Shirley schüttelte den Kopf. „Nein, sie aß eine Suppe und trank einen Kaffee, um sich aufzuwärmen.“

Charlie wusste, wie viel perverse und geisteskranke Menschen es auf der Welt gab, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese schöne junge Frau zu ihnen gehörte. Im Fernsehen hörte man jede Woche Geschichten über entführte Kinder, denen oft Schlimmes zustieß. Ihm wurde auf einmal übel, und sein Magen zog sich krampfhaft zusammen.

Meredith musste es gut gehen! Er wusste nicht, wie er es überleben sollte, wenn seinem kleinen Mädchen etwas zustoßen sollte … oder wenn er nie erfahren würde, wo sie geblieben war …

Hör sofort auf, ermahnte er sich. Es musste eine einfache Erklärung für ihr Verschwinden geben. Sie würde bald wieder auftauchen, und er würde sich dann entscheiden müssen, ob er ihr den Hintern versohlen oder sie umarmen sollte.

Bryces Handy klingelte, und er nahm rasch den Anruf entgegen. „Hallo, Sharon“, antwortete er. Sharon war seine Assistentin. „Nichts, hm. Okay. Gib mir bitte noch die Nummern von Forrest Perry und Kevin Bradford.“ Einen Moment später schrieb er die Telefonnummern auf den Rand seines Blockes. „Also gut. Bis dann.“

„Clarey Fenton hat die Bücherei wegen des Wetters heute früher als sonst geschlossen“, erklärte Charlie. „Bereits vor einer Stunde. Duane hat alle Straßen zwischen der Bücherei und hier abgesucht. Ergebnislos.“

Nachdem er auch noch die beiden Familien angerufen hatte, die ebenfalls im Restaurant gewesen waren, steckte Bryce das Handy wieder an seinen Gürtel. „Ich werde das FBI anrufen.“

Charlie nickte benommen.

„Wir sollten nach diesem Lastwagen suchen lassen, da das die einzige Möglichkeit ist, die uns noch bleibt.“

„Der Wagen war silbermetallic und an der Tür stand ziemlich sicher Silver Angel.“

„Gut, Charlie. Das wird uns weiterhelfen.“

„Vielleicht hat sie ja auch nur versucht, nach Hause zu laufen“, überlegte Charlie laut.

„Würde Meredith denn auf so eine Idee kommen?“

„Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn. Aber wer weiß schon, was im Kopf eines kleinen Mädchens rumgeht. Es ist wohl besser, ich fahre die Straße entlang und suche sie.“

„Ich hole meinen Wagen. Dann kann sich jeder eine Straßenseite vornehmen“, schlug Harry vor.

Es waren zwei Meilen bis zu Charlies Haus. In einem Schneesturm war das ein sehr langer Weg für ein kleines Mädchen. Ein Mädchen, das weder Stiefel noch warm gefütterte Hosen trug. Charlie hatte sie vom Haus in den Jeep und vom Jeep in das Restaurant getragen.

Ungefähr alle hundert Meter stieg er aus dem Wagen aus, sah sich um und rief ihren Namen. Wenn sie dort draußen war, musste sie ihn hören.

Aber er wusste eben nicht, ob sie da draußen war. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und das war das Allerschlimmste. Ein Streifenwagen hielt neben ihm, und Duane Quinn kurbelte das Fenster herunter. „Ich werde weiter vorne suchen, Charlie. Bryce hat bereits eine Suche in der Stadt organisiert.“

Charlie nickte. Er war dankbar, doch Verzweiflung und Selbstanklage zerrten an seinen Nerven. Er hatte Meredith zu lange in seiner Werkstatt festgehalten. Sie war allein gewesen und hatte sich gelangweilt. Er hätte sich Zeit für sie nehmen müssen, hätte einen Baum mit ihr aussuchen und ihn dann schmücken sollen. Doch stattdessen hatte er sich nur wie immer in seine Arbeit gestürzt. Arbeit half gegen den dumpfen Schmerz in seinem Inneren.

Er war nicht für sein Kind da gewesen! Er hatte wertvolle Zeit vergeudet. Was nutzte all seine Arbeit, wenn Meredith etwas zugestoßen war?

Duane fuhr wieder weiter, und Charlie sah, wie die Reifenspuren sich mit frisch gefallenem Schnee füllten. Dann wanderte sein Blick zu den kahlen dunklen Bäumen und dem schneebedeckten Boden. Unwillkürlich griff er in die Tasche und umfasste den weichen Kinderhandschuh.

Meredith könnte überall sein. Vor seinem geistigen Auge stieg ihr Bild auf, und er sah, wie ihre dunklen Locken über ihren pinkfarbenen Mantel fielen, erinnerte sich an ihre großen unschuldigen Augen. Sein geliebtes Kind, das so voller Leben und Energie war, könnte in ernster Gefahr sein! Und er war völlig hilflos.

Während der Schnee fiel und die Welt um Charlie in Schweigen hüllte, schaute er zum Himmel hinauf und betete.

„You’ve got a way with me. Somehow you got me to believe …“, sang Starla Richards zusammen mit der CD, die sie in den CD-Player gelegt hatte. Der Kaffee, den sie vorhin im Restaurant getrunken hatte, hatte ihr wieder etwas Energie gegeben. Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr am Armaturenbrett. Es waren ungefähr noch sechs Stunden bis Nashville, es sei denn, dieser Schneesturm würde noch schlimmer werden. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn so schnell wie möglich hinter sich ließ, je weiter sie nach Süden fuhr.

„I gotta say, you really got a way …“

Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, die Woche vor Weihnachten Laster fahrend zu verbringen. Eigentlich hatte sie dieses neue Hummersuppenrezept ausprobieren und den Weihnachtsbaum in ihrem Apartment in Maine schmücken wollen.

Die Eröffnung ihres Restaurants war bereits in zwei Wochen, und sie hatte noch viel zu tun. Doch wie das Unglück es wollte, hatte sich ihr Dad das Bein gebrochen und ihre Hilfe gebraucht. Also lieferte Starla für ihn diese Ladung aus, für die ihn ein saftiger Bonus erwartete.

Es war jetzt drei Jahre her, seit sie das letzte Mal einen Laster gefahren hatte. Zweieinhalb Jahre davon hatte sie in einer exklusiven Kochschule verbracht und dann ihr Examen mit Auszeichnung bestanden. Starla hatte gehofft, nie wieder auf die Landstraßen zurückkehren zu müssen.

Aber ihr Vater hatte ihre Hilfe gebraucht, und die hatte sie ihm nicht verweigern können. Denn es ging um das Einzige, das er sich gewünscht hatte, seit seine Frau, ihre Mutter, gestorben war – es ging um diesen Laster.

Starla war auf Landstraßen und Highways aufgewachsen, hatte in heruntergekommenen Fernfahrerrestaurants gegessen und geduscht. Sie hatte nicht vergessen, wie man einen Laster fuhr. Sie kannte sich aus. Ob es um das Fahrtenbuch oder kleinere Reparaturen ging, ihr war alles vertraut. Als sie sich hinters Steuer dieses Lasters gesetzt hatte, war sie sofort wieder in diese Fernfahrerstimmung verfallen, als ob sie in der Zwischenzeit nie etwas anderes getan hätte.

Dieser Lastwagen war sehr viel besser ausgerüstet und komfortabler als der, mit dem sie und ihr Vater jahrelang unterwegs gewesen waren. Der Silver Angel war der Traum ihres Vaters.

Sie würde ihren Dad in einer halben Stunde anrufen, kurz bevor die Nachbarin ihm sein Abendessen brachte. Dann würde er sich den Wetterbericht anschauen und sich ausrechnen, wie weit sie wohl gekommen sein mochte. Summend stellte sie ihr Handy in das Ladegerät und achtete darauf, dass das grüne Licht aufleuchtete.

Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie drehte die Musik leiser und lauschte. Soweit sie es beurteilen konnte, war es nicht der Motor gewesen. Sie schaute in die Seitenspiegel, und nachdem sie sich versichert hatte, dass sie sich allein auf der verschneiten Straße befand, stellte sie die Musik wieder lauter.

Doch eine Minute später hörte sie erneut ein Geräusch. Diesmal noch lauter als zuvor. Ohne Zweifel – es kam aus der Schlafkabine hinter dem Sitz! Starlas Herz klopfte laut, als sie rasch das Handschuhfach öffnete und die Pistole ihres Dads herausholte. Es könnte ein Tier sein. Vielleicht hatte sich eine Katze oder ein Waschbär eingeschlichen, während sie in dem Restaurant saß und sich mit einer heißen Suppe aufwärmte. Wie oft hatte Dad ihr geraten, stets die Fahrertür zu schließen.

Starla fuhr den schweren Laster an den Straßenrand, stellte den Gang in den Leerlauf und öffnete den Sicherheitsgurt. Dann stellte sie die Musik ab und stieg über den Sitz in die Schlafkabine, in der sie gerade noch stehen konnte, und knipste das Licht an. In der linken oberen Ecke des Bettes entdeckte sie unter der Decke eine Erhebung, die zu groß war, um von einer Katze oder einem Waschbären zu stammen. Mit laut klopfendem Herzen schluckte sie nervös und richtete die Pistole auf die Stelle im Bett, unter der sich der Eindringling – was oder wer auch immer es war – befinden musste. Der Größe nach zu urteilen, konnte es kein Mensch sein. Es sei denn, es handelte sich um eine ausgesprochen winzige Person.

Etwas rührte sich jetzt unter der Bettdecke. Während Starla die Pistole ruhig in der linken Hand hielt, trat sie vor und zog entschlossen mit der rechten Hand die Decke weg.

Als Erstes sah sie ein Knäuel dunkler Locken, gefolgt von einem kleinen Gesicht und großen blauen Augen. Ein Kind! Es war ein kleines Mädchen!

Starla warf die Waffe rasch in eines der eingebauten Regale und beugte sich dann zu dem Kind hinunter. „Was um alles in der Welt machst du hier? Wie bist du hereingekommen? Wer bist du?“

Die Unterlippe des Kindes zitterte, und sein Blick glitt zum Regal und wieder zu Starla zurück. „Ich bin Meredith.“

Verwirrt und zugleich erleichtert, dass der Eindringling nur ein kleines Mädchen war, setzte sich Starla auf das eingebaute Bett. „Was bitte schön machst du in meinem Laster?“

Auf einmal schien jegliche Angst von dem kleinen Mädchen abzufallen. Es setzte sich auf, und Starla sah, dass sie einen roten Pullover trug, auf dessen Vorderseite eine Figur aus der Sesamstraße abgedruckt war. „Du musst meinem Daddy helfen.“

Obwohl Starla wusste, dass sich keine andere Person in der schmalen Schlafkabine befand, schaute sie sich trotzdem um. „Wo ist dein Daddy? Was ist mit ihm?“

„Er ist zu Hause. Und er ist traurig. Deswegen musst du ihm helfen. Wenn du ihn mit ein bisschen Wunderpulver bestäubst, wird er wieder glücklich werden. Dann wird er endlich eine neue Mommy für mich suchen.“

Starla rieb sich verwirrt die Stirn. Nicht, dass sie auch nur ein Wort begriffen hätte. „Wo bist du denn zu Hause?“

Meredith zuckte die Schultern.

„Wo wohnst du?“ fragte Starla erneut.

„In einem braunen Haus.“

Ach, du meine Güte! Starla biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Es konnte doch nicht so schwer sein, herauszufinden, wo dieses Kind hergekommen war. Das letzte Mal hatte sie an diesem Restaurant am Highway gehalten.

Natürlich. Plötzlich fiel es ihr ein. Das Mädchen hatte mit seinem Vater an einem der Tische gesessen. Während sämtliche Gäste Starla nur angestarrt hatten, schien dieses Mädchen sich gefreut zu haben, sie zu sehen. Genau, sie hatte ihr zugewinkt. Vielleicht verwechselte das Mädchen sie ja mit jemandem. „Habe ich Ähnlichkeit mit einer Frau, die du kennst?“

Meredith nickte eifrig.

„Wem? Deiner Mutter?“

Das Kind runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

„Wem sehe ich denn ähnlich?“

„Du siehst wie der Engel in meinem Buch aus.“ Sie wies auf das Buch mit dem hübschen bunten Einband, das neben ihr lag. „Siehst du?“

„Ich bin kein Engel.“ Starla schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Mensch wie du.“

Meredith schüttelte den Kopf. „Es steht doch sogar auf deiner Wagentür, dass du ein Engel bist, nicht wahr?“

„Das ist nur der Name des Lasters. Mein Dad hat dem Lastwagen den Namen Silver Angel gegeben.“

„Du bist aber ein Engel“, beharrte das Kind. „Ich beweise es dir.“ Sie öffnete das Buch, bis sie zu dem Bild eines Engels kam, der ein Paar mit irgendeinem magischen Pulver bestäubte. „Siehst du?“ Meredith sah Starla mit ihren großen blauen Augen an. „Mein Daddy braucht unbedingt dein Engelpulver. Bitte sag, dass du ihm helfen wirst.“

„Das ist doch nur ein Märchen“, erklärte Starla ihr. „Das hat doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Überleg doch mal. Warum sollte ein Engel in einem Schneesturm mit einem Lastwagen herumfahren?“

Doch Meredith ignorierte ihre Bemerkungen. Eine Fünfjährige besaß ihre eigene Logik. „Tante Edna aus dem Pflegeheim hat aber gesagt, dass ihr bei einem Autounfall ein wunderschöner Engel in einem weißen Kleid geholfen hat. Der Engel hat sie gerettet.“

„Deine Tante ist im Pflegeheim?“

„Sie ist nicht meine Tante. Sie heißt einfach Tante Edna.“

„Nun“, erwiderte Starla, „wie du siehst, habe ich aber kein weißes Kleid.“

„So?“ Meredith zeigte auf den weißen Satinmorgenmantel, der auf einem Bügel an einem Haken an der Wand hing.

Starla schüttelte den Kopf. „Das ist mein Morgenmantel. Wie bist du eigentlich hier hereingekommen?“

„Als Miss Rumford Geschirr in die Küche brachte, bin ich dir rasch gefolgt. Ich habe mich draußen versteckt und gesehen, wie du Papiere aus dem Laster geholt hast, damit herumgegangen bist und den Wagen überprüft hast. Du hast die Tür offen gelassen.“

Das hatte sie. Obwohl Dad sie immer wieder gewarnt hatte.

Meredith rutschte zum Rand des Bettes hinüber. „Ich muss dringend mal.“

Starlas Gedanken wirbelten durcheinander. Sie musste das Mädchen unbedingt zu seinen Eltern zurückbringen. Zu ihrem Vater. Zurück in dieses Café. Sie würde Zeit verlieren, mindestens drei Stunden, selbst wenn sie sich beeilte.

Die Familie des Kindes war bestimmt schon außer sich vor Angst.

„Meredith“, sagte sie unvermittelt, „wir müssen deinen Vater unbedingt benachrichtigen, dass es dir gut geht.“

„Ich muss ganz dringend aufs Klo!“

Zehn Minuten später hatte Starla eine Tüte Popcorn aus ihrem Vorratsfach geholt und der Kleinen auf dem Beifahrersitz den Sicherheitsgurt angeschnallt. „Kennst du deine Telefonnummer?“

Meredith nickte und rasselte die Nummer herunter. Starla kritzelte sie auf ein Blatt und nahm dann das Handy, um die Nummer zu wählen. Doch es meldete sich nur der Anrufbeantworter.

„Er ist nicht zu Hause“, erklärte sie.

„Er hat auch ein Handy“, meinte Meredith.

„Oh! Kannst du diese Nummer auch auswendig?“

Meredith schüttelte den Kopf.

„Das macht nichts. Ich werde die Auskunft anrufen und mich nach der Telefonnummer des Restaurants erkundigen.“

Drei Minuten später tippte Starla die Nummer ein, und eine männliche Stimme meldete sich: „Waggin Tongue Restaurant“

„Oh, hallo. Gibt es … ich meine, befindet sich bei Ihnen ein Mann, der nach seiner Tochter sucht?“

„Charlie! Der Anruf ist für dich.“

Starla wartete, und schließlich kam ein anderer Mann ans Telefon.

„Hallo? Hier spricht Charlie McGraw.“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll“, begann sie. „Es ist nämlich so, ich habe Ihre Tochter bei mir und …“

„Oh, Gott“, stieß er hervor. „Was wollen Sie? Geht es ihr gut?“

„Ja, es geht ihr gut. Es ist alles in Ordnung, und ich … ich will überhaupt nichts.“

„Bitte, tun Sie ihr nichts. Lassen Sie mich mit ihr reden.“

Starla hielt der Kleinen das Handy hin. „Meredith, sag deinem Vater, dass es dir gut geht.“

Meredith ließ sich in den Sitz zurückfallen und schüttelte den Kopf.

„Sag einfach nur, dass es dir gut geht. Er macht sich Sorgen um dich.“

Starla hielt das Handy wieder an ihr Ohr. „Sie hat Angst“, erklärte sie.

„Warum? Was haben Sie ihr getan? Wo sind Sie?“

„Ich habe ihr gar nichts getan. Meredith glaubt, dass Sie wütend auf sie sind. Wir sind auf dem Highway kurz vor Rock Island. Ich habe sie erst vor fünfzehn Minuten in meiner Schlafkabine entdeckt.“

„Sie haben sie entdeckt? Ich verstehe nicht ganz …“

„Nun, ihre Tochter hat sich offensichtlich in meinem Lastwagen versteckt.“

„Sie wollen mir erzählen, dass Meredith ganz allein in ihren Lastwagen geklettert ist?“

„Offensichtlich. Sie hält mich für einen Engel und möchte, dass ich Sie mit irgendeinem magischen Pulver bestäube.“

Ein Stöhnen drang vom anderen Ende der Leitung zu ihr herüber.

„Ich habe versucht, Ihrer Tochter zu erklären, dass ich keine besonderen Kräfte besitze, aber sie lässt sich nicht davon abbringen, dass ich Wunder vollbringen kann.“

„Würden Sie ihr bitte das Handy ans Ohr halten?“ fragte er.

Starla kam seiner Aufforderung nach, und Meredith warf ihr aus ihren großen blauen Kinderaugen einen anklagenden Blick zu. Dann wandte das Mädchen den Blick ab und hörte zu, was ihr Vater ihr zu sagen hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe, und eine Träne rollte ihr über die Wange. „Ich liebe dich auch, Daddy“, sagte sie schließlich. „Mein Ehrenwort. Ich werde so etwas nie wieder machen.“ Dann nickte sie und schaute zu Starla hinüber. „Er will mit dir sprechen.“

„Es tut mir sehr Leid, dass das passiert ist“, sagte der Mann zu ihr. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich zuerst so ruppig war, aber ich bin vor Sorge fast verrückt geworden.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Hören Sie, ich werde kommen und meine Tochter abholen.“

Starla schaute auf die Uhr an ihrem Armaturenbrett. „Nein, ich werde sie zurückbringen. Das ist besser, als hier herumzusitzen und zu warten. Wir werden ungefähr eineinhalb Stunden brauchen.“

„Das Wetter soll noch schlechter werden“, entgegnete er. „Lassen Sie sich Zeit.“

„Ich werde vorsichtig fahren.“ Starla war sich bewusst, dass sie kostbare Zeit verlor, aber es war nun nicht mehr zu ändern. Sie tauschten ihre Handynummern aus, und Charlie bat sie, Meredith telefonieren zu lassen, wenn sie wollte. Er würde für die Kosten aufkommen.

Starla legte den Sicherheitsgurt um, fuhr wieder auf die Straße hinaus und wartete auf eine Abzweigung.

„Können wir Musik hören?“ fragte Meredith.

Starla stellte den CD-Player an, und die Musik erfüllte die Fahrerkabine.

„Ist das Engelmusik?“ fragte die Kleine.

„Nein. Es ist der Soundtrack eines Films.“

„Manche Engel haben keine Flügel, die man sehen kann, nicht wahr?“

Starla schaute angestrengt durch den dicht fallenden Schnee auf die Straße hinaus und entdeckte endlich ein Schild, das eine Ausfahrt anzeigte. „Keine Ahnung. Mit Engeln kenne ich mich nicht aus“, erwiderte sie.

Nach wenigen Minuten fuhren sie wieder Richtung Elmwood.

„Kennst du meine Mommy?“

Starla schaute weiterhin konzentriert auf die schneebedeckte Straße. „Ich glaube nicht. Ich kenne überhaupt niemanden in Elmwood.“

„Meine Mommy ist im Himmel. Sie ist auch ein Engel.“

Starla seufzte voller Mitgefühl. „Meredith, ich bin kein Engel. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Ich war einmal genauso ein Kind wie du und musste wie alle anderen auch zur Schule gehen.“

Das Kind legte sein Buch auf den Schoß und öffnete es. „Das sind Mommy und Daddy“, erklärte sie und zeigte auf ein Bild mit einem Paar, das vor einem Kamin saß, in dem ein heimeliges Feuer prasselte. „Der Daddy muss immer viel arbeiten, und er geht mit seiner Aktentasche zur Arbeit.“

„Hm.“

„Er kommt immer erst spät am Abend nach Hause, und die Mommy und die Kinder sind traurig, denn sie vermissen ihn so.“ Sie schlug die Seite um. „Sieh nur, sie backen Plätzchen, aber der Daddy ist nicht da. Sie schmücken den Weihnachtsbaum, aber der Daddy ist wieder nicht da.“

Starla hörte nur mit halbem Ohr zu, ihre Konzentration war auf die verschneite Straße gerichtet.

„Dann hört der schöne Engel, der auf der Tannenbaumspitze steht, wie traurig sie sind, und er wird lebendig. Sieh nur, er sieht genauso aus wie du.“

Starla warf einen kurzen Blick auf den Engel, der ein weißes fließendes Kleid trug und silberblondes Haar hatte. Nun ja, mit sehr viel Fantasie und Wohlwollen könnte man eine klitzekleine Ähnlichkeit feststellen.

„Der Engel streut Wunderpulver auf die Mommy und den Daddy. Und dann kommt der Daddy nach Hause, küsst die Mommy unter dem Mistelzweig, und er bleibt zu Hause, und sie öffnen Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Ist das nicht eine schöne Geschichte?“

„Sehr schön. Was gefällt dir denn bei dieser Geschichte am besten?“

„Dass es eine Mommy und einen Daddy gibt. Richtige Eltern.“

Sehnsucht schwang in der Stimme des Kindes mit. „Manchmal reicht auch ein Daddy“, bemerkte Starla. „Besonders, wenn er dich so sehr liebt wie eine Mommy und ein Daddy zusammen. So sehr liebt mein Daddy mich.“

Meredith schaute erstaunt zu ihr hinüber. „Ist deine Mommy auch ein Engel?“

„Sie starb, als ich zwölf Jahre alt war. Ich war zwar älter als du, aber ich hatte trotzdem für viele Jahre nur meinen Dad. Er hat mir beigebracht, wie man einen Lastwagen fährt.“

„Tatsächlich? Was noch?“

„Er hat mir beigebracht, wie man mit einer Pistole umgeht, und er hat mich in eine Kampfsportschule geschickt.“

„Was ist das?“

„Dort lernst du, dich selbst zu verteidigen.“

„Oh, kannst du auch Männer durch die Luft wirbeln wie die Power Puff Girls aus dem Fernsehen?“

Starla lachte. „So gut bin ich leider nicht.“

„Aber du bist ein Engel. Kannst du böse Menschen einfach verschwinden lassen?“

„Meredith, ich bin kein Engel. Wie kann ich dir das nur ausreden?“

Meredith zuckte nur die Schultern und stellte weiter Fragen, bis Starla sie bat, sie möge ihr die Geschichte doch noch einmal erzählen. Schließlich wurde das Kind müde und schlief ein. Doch nach einer halben Stunde wachte sie wieder auf und rieb sich benommen die Augen. „Wo sind wir?“ fragte sie.

„Wir sind fast da.“

„Darf ich meinen Dad anrufen?“

Starla tippte Charlies Nummer ein und reichte der Kleinen das Handy. „Sag ihm, dass wir bereits auf dem Highway nicht weit von Elmwood sind.“

„Hi, Daddy.“ Meredith lauschte einen Moment und gab dann Starla das Handy. „Hier, er will mit dir reden.“

„Die Behörden werden die Highways und die Interstates aller Voraussicht nach schließen. Zu viel Schnee“, erklärte er.

Ihr Herz setzte vor Schreck einen Moment aus. Sie würde in diesem Elmwood feststecken. „Na, großartig.“

Die Windschutzscheibe war mittlerweile fast zugeeist, und sie konnte kaum noch etwas sehen. Die Dunkelheit wurde nur durch den Schnee und ihre Scheinwerfer erhellt, die immer weniger Licht zu spenden schienen. „Ich glaube, meine Scheinwerfer sind auch schon überfroren. Ich kann kaum noch weiter als bis zu meiner Motorhaube sehen.“

„Können Sie irgendwelche Schilder erkennen?“

„Nein, doch, warten Sie. Da ist eins. Es ist zum Teil mit Schnee bedeckt. Aber ich glaube … bingo, es ist das Ortsschild von Elmwood.“

„Fantastisch, dann sind Sie jetzt nur noch ungefähr dreihundert Meter von meinem Haus entfernt“, erklärte er. „Sehen Sie die Baumgruppe zu Ihrer Rechten?“

„Ich fahre gerade an ihr vorbei.“

„Gut. Jetzt müssen Sie nur noch an der nächsten Abzweigung nach rechts in meine Einfahrt einbiegen. Fahren Sie vorsichtig!“

„Ich fahre immer vorsichtig.“

„Ich sitze in meinem Cherokee am Ende der Einfahrt und habe die Scheinwerfer eingeschaltet. Können Sie sie bereits erkennen?“

Sie konnte überhaupt nichts sehen. „Nein … oh, nein … wir sind ins Rutschen gekommen!“ Starla ließ das Handy fallen und packte mit beiden Händen das Lenkrad, um den Laster wieder auf die Fahrbahn zu bringen. Doch sie spürte, dass der Anhänger bereits gefährlich ins Schlingern gekommen war und sie weiterhin auf den Graben zurutschten. Instinktiv griff sie zu Merediths pinkfarbenem Plüschmantel, warf ihn ihr über den Kopf und hielt ihn dort fest, während der Wagen immer mehr außer Kontrolle geriet. Dann gab es einen gewaltigen Ruck, und sie schlug mit dem Kopf gegen die Fahrertür. Sie spürte einen stechenden Schmerz, und dann umgab sie nur noch Dunkelheit …

3. KAPITEL

Durch den dicht fallenden Schnee und die Dunkelheit sah Charlie, wie die Scheinwerfer des Lasters plötzlich nach rechts abdrifteten. Er presste das Handy noch fester ans Ohr. „Hallo, hallo!“ rief er angstvoll.

Dann hörte er seine Tochter schreien. „Meredith? Meredith!“

Er legte den ersten Gang ein und fuhr vorsichtig los. Sein Jeep besaß zwar einen Vierrad-Antrieb, doch wenn er auf Eis geriet, würde ihm das genauso wenig helfen, wie es dem Laster geholfen hatte. Die Telefonmasten entlang des Grabens gaben ihm einen ungefähren Hinweis, wo sich die Straße unter der tiefen Schneedecke befand.

„Daddy?“ hörte er seine Tochter über das Handy.

„Meredith, Liebling. Ist alles in Ordnung?“

„Da… ddy!“ Ihr Schluchzen zerriss ihm fast das Herz.

„Meredith, sag was. Geht es dir gut?“

„Hm.“

„Und was ist mit der Frau?“

„Ich habe Angst, Daddy.“

„Ich bin fast bei dir, Kleines.“

„Beeile dich, Daddy.“

„Es ist alles in Ordnung, Liebes. Was ist mit der Frau, Meredith?“

Meredith schluchzte erneut. „Sie hat Blut am Kopf.“

Du lieber Himmel, auch das noch! „Ich bin gleich da.“

Jetzt konnte er wieder die Scheinwerfer sehen. Der Anhänger war von der Straße gerutscht und hing halb im Graben. Glücklicherweise war der Laster nicht umgekippt. Charlie parkte und stieg aus. Er stampfte durch den fast wadenhohen Schnee zu der Fahrerkabine hinüber. Das Brummen des Motors hallte laut durch die schneestille Nacht.

Als er den Laster erreicht hatte, riss er die Tür auf, und Merediths verzweifeltes Schluchzen drang ihm entgegen. Er öffnete ihren Sicherheitsgurt, hob sie vom Sitz herunter und nahm sie in die Arme. Nachdem er sich versichert hatte, dass sie unverletzt war, schaute er zu der schönen jungen Frau auf dem Fahrersitz hinüber.

Sie hing bewusstlos in ihrem Sicherheitsgurt, von einer Wunde an ihrer Stirn lief Blut über ihre Schläfe. Auf der Schulter ihres pinkfarbenen Pullovers hatte sich bereits ein großer Fleck gebildet.

„Meredith, ich werde dich jetzt zum Jeep bringen und dann die Frau holen.“ Hastig zog er seinem Kind den Mantel über, trug es zum Jeep und setzte es auf den Rücksitz. „Schnall dich schon mal an. Ich bin gleich wieder da.“

Das Kind, das einen Schluckauf vom Weinen hatte, sah ihn nur mit angsterfüllten Augen an und nickte.

Dann ging er zum Kofferraum, öffnete ihn, nahm eine Wolldecke heraus und lief zum Laster zurück. Bevor er in die Fahrerkabine stieg, nahm er noch eine Hand voll Schnee auf. In der Kabine stellte er den Motor ab und betupfte die Stirn der Frau mit dem Schnee. Die Platzwunde an ihrem Kopf war ungefähr fünf Zentimeter lang und sah ziemlich tief aus. Er steckte die Wagenschlüssel in seine Tasche und öffnete ihren Sicherheitsgurt. Dann legte er die Decke um ihre Schultern, hob sie auf die Arme und stieg so vorsichtig, wie er konnte, aus der Fahrerkabine und stampfte mit ihr durch den hohen Schnee zu seinem Jeep.

Der Schweiß lief ihm die Stirn hinunter, als er sie endlich in den großen Stauraum seines Jeeps gelegt hatte. Er legte frischen Schnee auf die Wunde, band einen Wollschal um ihren Kopf und schloss dann die Tür.

Schließlich fuhr er langsam wieder zum Haus zurück und betete dabei, dass er nicht auf Eis kam und ins Schleudern geraten würde. Bei diesem Wetter würde es ihm niemals gelingen, die Frau ins Krankenhaus zu bringen, ohne selbst einen Unfall zu bauen. Meredith war außergewöhnlich still. Was ein Segen war, denn er brauchte seine ganze Konzentration für die gefährliche Fahrt.

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