Reich, rücksichtslos und traumhaft schön! (3-teilige Serie)

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HOCHZEIT IM PALAST DES PRINZEN
Seit fünf Jahren träumt Matilda davon, die Frau an der Seite des schönen Kronprinzen Rashad von Bakhar zu sein. Als er sie in seinen Palast bringt, schwebt Matilda auf Wolke sieben: In nur vier Wochen will Rashad sie tatsächlich heiraten. Wartet auf sie ein Happyend wie aus 1001 Nacht?

EINE NACHT UND TAUSEND KÜSSE
Atemlos sieht Maribel, wer unter den Gästen der Feier ist: der griechische Milliardär Leonidas Pallis! Vor zwei Jahren haben sie eine sinnliche Nacht miteinander verbracht. Mit süßen Folgen … Jetzt sucht er wieder ihre Nähe. Wie soll sie nur ihr größtes Geheimnis vor ihm verbergen?

GESTÄNDNIS AUF DER JACHT
Diese Frau hat ein Geheimnis – das spürt der italienische Millionär Sergio Torrente sofort, als er Kathy nachts in seinem Büro überrascht. Verbirgt sie etwas vor ihm? Um das herauszufinden, lädt er Kathy auf seine Luxusjacht ein. Und tappt womöglich in eine Liebesfalle …


  • Erscheinungstag 15.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506625
  • Seitenanzahl 438
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lynne Graham

Reich, rücksichtslos und traumhaft schön! (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

Hochzeit im Palast des Prinzen erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2007 by Lynne Graham
Originaltitel: „The Desert Sheikh’s Captive Wife“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 285 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Tina Beckmann

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751506472

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Ob ich eine Frau kennengelernt habe, die ich gern heiraten würde?“

Bei der Frage seines Vaters hätte Prinz Rashad beinahe laut aufgelacht, doch Erziehung und Respekt verboten ihm eine derart ungehörige Reaktion. „Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen“, erwiderte er daher nur.

König Hazar versuchte, sich seine Besorgnis nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Abgesehen von seiner Abneigung gegen die Ehe verkörperte Rashad alles, was man von dem zukünftigen Monarchen von Bakhar erwarten durfte. Seine besonderen Qualitäten zeigten sich während der dunklen Jahre, in denen das kleine Land unter der despotischen Herrschaft von Hazars Onkel Sadiq gelitten hatte.

Obwohl er viele Grausamkeiten erdulden musste, war Rashad als Held aus dem Krieg hervorgegangen, der die legitime Thronfolge wiederhergestellt hatte. Seitdem verehrten die Bakhari ihn wie einen Gott. Nichts, was Rashad sagte oder tat, konnte in ihren Augen falsch sein. Selbst die Tatsache, dass der Kronprinz im Ausland als notorischer Frauenheld galt, wurde stillschweigend akzeptiert, da man allgemein der Ansicht war, dass Rashad sich das Recht verdient hatte, seine Freiheit zu genießen.

„Für jeden Mann kommt einmal die Zeit, eine Familie zu gründen“, hielt der König seinem Sohn vor Augen. „Und dann sollte er sein weltliches Streben aufgeben und sich auf seine Verantwortung besinnen.“

Rashads markante Züge nahmen einen grimmigen Ausdruck an. Zum Thema Verantwortung brauchte er wirklich keine Belehrungen. Im Alter von vier Jahren hatte man ihn brutal von seinen Eltern getrennt und jeden weiteren Kontakt zu ihnen unterbunden. Als er seine Familie schließlich wiedersah, war er bereits ein erwachsener Mann. Ein Überlebender, ein kampferprobter Soldat, der darauf trainiert worden war, Pflichtgefühl und Disziplin über alle anderen Tugenden zu stellen. Allerdings war er nicht bereit, sich aus Gründen der Staatsräson eine Ehe aufzwingen zu lassen.

„Ich habe nicht vor zu heiraten“, stellte Rashad kategorisch klar. „Weder jetzt noch in Zukunft.“

Angesichts der unnachgiebigen Reaktion seines Sohns befürchtete König Hazar, nicht diplomatisch genug vorgegangen zu sein. „Ich bin sicher, dass eine passende Ehefrau sehr viel zu deinem persönlichen Glück beitragen würde“, fügte er auf seine ruhige, sanfte Art hinzu.

Doch anstatt ihn milder zu stimmen, entfachte diese allzu simple Behauptung Rashads Unmut nur noch mehr. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte eine Frau ihn wirklich glücklich gemacht … bis er herausfand, dass er an eine skrupellose Goldgräberin geraten war. Diese Lektion hatte er nie vergessen. Seitdem war sein Bett der einzige Platz, den Rashad einer Frau in seinem Leben zugestand. Er war ein leidenschaftlicher Mann und wusste guten Sex zu schätzen, doch wie beim Essen legte er dabei Wert auf Abwechslung. Den Glauben an die Liebe hatte er verloren, warum sollte er sich also an eine Frau binden, die ihm tagtäglich die gleiche Kost servierte?

„Ich fürchte, unsere Ansichten zu diesem Thema gehen zu stark auseinander“, erklärte er in endgültigem Tonfall. „Ich habe nicht die Absicht zu heiraten, und nichts, was du sagen könntest, würde meine Meinung ändern.“

König Hazar unterdrückte einen Seufzer. Er kannte seinen Sohn und wusste, dass dieser einen einmal gefassten Entschluss nicht wieder zu ändern pflegte. Allerdings wusste er auch, dass er an Rashads Bindungsscheu nicht ganz unbeteiligt war …

„Vielleicht machst du dir Sorgen, dass deine zukünftige Frau einem bestimmten Bild entsprechen muss“, machte er einen letzten Versuch. „Aber ich bin sicher, dass dein Volk dich genug liebt, um selbst eine Ausländerin zu akzeptieren.“

Rashad presste die wohlgeformten Lippen zusammen. Zweifellos spielte sein Vater auf seine katastrophale Beziehung zu jener Engländerin vor fünf Jahren an. Wusste er denn nicht, wie sehr er damit seinen Stolz verletzte? Damals hatten sie in stillschweigender Übereinkunft den Mantel des Schweigens über diese fatale Episode gebreitet und nie wieder darüber gesprochen.

„Wir leben mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert, Vater“, stellte er kühl fest. „Dennoch erwartest du von mir, dass ich mich verhalte wie du und deine Vorväter, indem ich irgendeine gebärfähige junge Frau heirate, nur um einen Erben zu produzieren. Meine Schwestern haben beide gesunde Söhne. Warum sollte nicht einer von ihnen mein Nachfolger werden?“

„Weil väterlicherseits kein königliches Blut in ihren Adern fließt“, hielt Hazar ihm entgegen. „Du wirst eines Tages dieses Land regieren, Rashad. Willst du dein Volk wirklich so enttäuschen?“

Die bekümmerte Miene des alten Mannes versetzte Rashad einen schmerzlichen Stich. „Ich habe nicht generell etwas gegen die Ehe“, räumte er daher in versöhnlicherem Tonfall ein. „Für dich war es sicher das Richtige, aber für mich ist es das nun mal nicht.“

„Dann versprich mir wenigstens, noch einmal gründlich darüber nachzudenken“, bat der König ihn resigniert. „Wir reden dann später noch einmal darüber.“

Als Rashad kurz darauf das Vorzimmer zu seinem Büro betrat, wurde er von einer schwarzhaarigen Schönheit mit dunklen mandelförmigen Augen begrüßt, die sich, ebenso wie das Personal, bei seinem Eintreten respektvoll verneigte.

„Ich habe eine kleine Überraschung für Sie vorbereitet, Königliche Hoheit.“ Mit einem bescheidenen Lächeln deutete sie auf ein kleines, kunstvoll angerichtetes Büfett und fügte hinzu: „Schließlich wissen wir alle, wie oft Sie vor lauter Arbeit das Essen vergessen.“

Obwohl Rashad in diesem Moment lieber allein gewesen wäre, bedankte er sich höflich und ließ sich von ihr Tee und Gebäck servieren. Offenbar hatte sich König Hazars Hoffnung auf eine baldige Eheschließung seines Sohns bereits in Bakhars Adelskreisen herumgesprochen. Farah war eine entfernte Verwandte, und Rashad war klar, dass diese Inszenierung nur dem Zweck diente, ihm ihre Eignung als Gastgeberin und königliche Braut vorzuführen.

Nach etwa zehn Minuten pflichtschuldiger Konversation entschuldigte er sich und zog sich unter dem Vorwand, ein wichtiges Telefonat führen zu müssen, in sein Büro zurück. Beim Durchsehen der Post, die in einem ordentlichen Stapel auf seinem Schreibtisch lag, entdeckte er die monatliche Ausgabe der Studentenzeitung, die er noch immer regelmäßig aus Oxford erhielt. Flüchtig blätterte er sie durch und wollte sie gerade zu den anderen ungelesenen Exemplaren der letzten Jahre legen, als sein Blick auf ein Foto fiel, das ihm sekundenlang den Atem stocken ließ. Es war bei einer Festveranstaltung der Philosophischen Fakultät aufgenommen worden und zeigte Matilda Crawford am Arm eines distinguiert aussehenden, älteren Herrn im Dinnerjackett.

Tilda!

Mit leicht bebenden Händen legte Rashad das aufgeschlagene Magazin auf seinen Schreibtisch zurück. Obwohl sie das üppige hellblonde Haar zu einem strengen Zopf gebändigt hatte und ein hochgeschlossenes, ziemlich bieder wirkendes Kleid trug, war ihre umwerfende Schönheit nicht zu übersehen. Mit dem zarten, herzförmig geschnittenen Gesicht, dem makellosen Porzellanteint und den strahlend blaugrünen Augen entsprach sie in jeder Hinsicht dem Bild der sprichwörtlichen englischen Rose.

Erneut nahm Rashad die Zeitschrift in die Hand, um den Kommentar unter dem Foto zu lesen. Tilda selbst war namentlich nicht erwähnt, wohl aber ihr Begleiter. Es handelte sich um einen gewissen Evan Jerrold, ein erfolgreicher Geschäftsmann und ehemaliger Oxford-Absolvent, der seine alte Universität regelmäßig mit großzügigen Spenden förderte.

Noch so ein reicher leichtgläubiger Dummkopf, den sie wie eine Weihnachtsgans ausnehmen kann, dachte Rashad verbittert.

Am meisten bestürzte es ihn jedoch, wie sehr ihm Tildas Anblick noch immer unter die Haut ging. Aber war das in Anbetracht seiner Biografie ein Wunder? Nachdem sein Großonkel Sadiq ihn zwanzig Jahre lang praktisch wie einen Gefangenen gehalten hatte, war Rashad wild entschlossen gewesen, endlich die Freiheit zu genießen, die man ihm so lange vorenthalten hatte. Ironischerweise hatte ausgerechnet König Hazar die Idee gehabt, seinen Sohn nach England zu schicken, damit dieser dort seine Studien beendete und etwas von der Welt kennenlernte. Zu diesem Zeitpunkt besaß Rashad kaum Erfahrungen mit Frauen, und so hatte er sich nur wenige Tage nach seiner Ankunft in Oxford Hals über Kopf in die schöne, vor Leben sprühende Tilda Crawford verliebt.

Sie hatte damals als Kellnerin und Tänzerin in einer Nachtbar gearbeitet und Rashad die herzergreifende Geschichte von ihrem tyrannischen Stiefvater aufgetischt, unter dem die ganze Familie seit Jahren zu leiden hatte. Aufgewachsen in der Überzeugung, dass es seine Pflicht sei, denen beizustehen, die schwächer waren als er selbst, war Rashad unverzüglich in die Rolle des edlen Ritters geschlüpft. Drei Monate später hatten Tildas Schönheit und ihre schamlosen Lügen ihn derart in seinen Bann geschlagen, dass er kurz davor gewesen war, ihr einen Heiratsantrag zu machen.

Bei der Erinnerung an die schlimmste Demütigung seines Lebens straffte Rashad die Schultern und hob stolz den Kopf. Es wurde Zeit, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und die hässliche Episode ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis zu streichen. Andererseits … Hatte sein würdevolles Schweigen damals nicht dazu beigetragen, dass nun ein weiterer vermögender Mann über den Tisch gezogen wurde? War es nicht vielmehr seine Pflicht, Tildas neuen Bewunderer vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren?

Ein weiteres Mal betrachtete Rashad nachdenklich das Foto von Tilda. Schließlich griff er zum Telefon und ließ sich mit seinem Finanzverwalter verbinden. Wie erwartet, teilte dieser ihm mit, dass von dem zinslosen Darlehen, das Rashad seinerzeit der Crawford-Familie gewährt hatte, noch nicht eine einzige Rate zurückgezahlt worden war.

In der festen Überzeugung, eine gerechte Sache zu vertreten, ordnete Rashad an, die Angelegenheit ab sofort mit äußerstem Nachdruck zu verfolgen. Dann klappte er die Zeitschrift zu und legte sie zu den anderen.

Tilda sah ihre Mutter entsetzt an. „Wie hoch sind deine Schulden?“

Mit gepresster Stimme wiederholte Beth Crawford die Summe. „Es tut mir ja so leid“, brachte sie unter Tränen hervor. „Ich hätte es dir schon vor Monaten sagen sollen, aber ich konnte es einfach nicht. Stattdessen habe ich alles verdrängt und gehofft, dass sich das Problem irgendwie von allein löst …“

Tilda war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Bestimmt lag da irgendein Missverständnis vor. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es Beth gelungen sein sollte, sich derart hoch zu verschulden. Kein vernünftiger Mensch hätte ihrer notorisch in Geldnöten steckenden Mutter eine solche Summe geliehen, die sie nie im Leben würde zurückzahlen können. „Wann hast du das Darlehen denn aufgenommen?“, fragte sie so ruhig wie möglich.

Beth, die es nicht über sich brachte, ihre Tochter anzusehen, betupfte sich mit dem Taschentuch die vom Weinen geschwollenen Augen. „Vor fünf Jahren. Aber ich weiß nicht, ob man es als Darlehen bezeichnen kann.“

„Kann ich den Vertrag einmal sehen?“

Nach kurzem Zögern ging Beth an den Wohnzimmerschrank und kramte eine Weile umständlich darin herum. Schließlich beförderte sie eine größere Frischhaltebox zutage und kehrte damit an den Tisch zurück. „Irgendwo musste ich die Papiere ja verstecken“, erklärte sie verlegen, als sie Tildas verständnislosem Blick begegnete. „Ich hatte Angst, dass du oder deine Geschwister sie findet und ihr mich fragt, worum es dabei geht.“

Als Tilda die Box öffnete und sich ein dicker Stapel zum Teil noch ungeöffneter Briefe auf den Küchentisch ergoss, gab sie unwillkürlich einen schockierten Laut von sich. „Wann hast du die letzte Rate bezahlt?“, fragte sie matt.

Beth strich sich nervös das kurze blonde Haar aus der Stirn. „Ich … nun ja, offen gestanden war es mir bisher noch nicht möglich, mit der Rückzahlung zu beginnen.“

Tilda erwiderte nichts, doch ihr bestürzter Blick sprach Bände.

„Ich wollte es tun, das musst du mir glauben“, beteuerte Beth. „Aber ständig kamen irgendwelche Rechnungen dazwischen oder eins der Kinder brauchte neue Schuhe oder Geld für den Bus. Und dann stand Weihnachten vor der Tür, und ich brachte es nicht fertig, die Kinder zu enttäuschen. Sie mussten ja schon das ganze Jahr auf so vieles verzichten …“

„Schon gut, Mum, ich weiß“, beschwichtigte Tilda sie und versuchte, sich ihr Entsetzen nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Ihre Mutter war eine labile Frau, die zu Panikattacken neigte. Vor vier Jahren hatte sie zum letzten Mal das Haus verlassen, dann wurde die Außenwelt zu bedrohlich für sie. Agoraphobie lautete die Fachbezeichnung für ihre krankhafte Angst vor öffentlichen Plätzen. Dennoch hatte Beth ihr Möglichstes getan, um für den Unterhalt ihrer Familie zu sorgen. Sie war eine geschickte Näherin und hatte mittlerweile einen festen Stamm von Kunden, für die sie Vorhänge, Kissenbezüge und manchmal auch maßgeschneiderte Kleidung anfertigte. Viel mehr als ein Zubrot verdiente sie damit allerdings nicht.

„Wie bist du überhaupt an das Darlehen gekommen?“ Tilda hielt es kaum für wahrscheinlich, dass jemand an der Tür geklingelt hatte, um ihrer Mutter eine solche Summe anzubieten.

Offenbar hatte Tilda mit ihrer Frage einen heiklen Punkt berührt. Sichtlich unbehaglich rutschte Beth auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie endlich mit der Sprache herausrückte. „Rashad hat es mir gegeben“, gestand sie ihrer Tochter mit bebender Stimme. „Das war auch der Grund, warum ich dir die Sache so lange verschwiegen habe. Ich fühlte mich so schuldig und wollte dich nicht aufregen.“

Rashad?“, stieß Tilda fassungslos hervor. Sie war kreidebleich geworden, sodass ihre blaugrünen Augen plötzlich riesig und seltsam unwirklich erschienen. „Du hast ausgerechnet ihn um finanzielle Hilfe gebeten?“

„Bitte sieh mich nicht so an!“, flehte Beth und brach erneut in Tränen aus. „Rashad hat doch immer gesagt, dass er uns alle wie seine eigene Familie betrachtet. Und außerdem war ich davon überzeugt, dass er dich heiraten würde. Da dachte ich, es wäre in Ordnung, das Geld von ihm anzunehmen.“

Eine Weile war Tilda zu erschüttert, um etwas zu erwidern. Diese Erklärung sah ihrer naiven Mutter nur zu ähnlich. Sie hatte Rashad sofort ins Herz geschlossen, und nachdem er mit seiner locker kameradschaftlichen Art auch zu Tildas Geschwistern schnell Kontakt gefunden hatte, war Beth bei jedem seiner Besuche förmlich aufgeblüht. Daher hatte Tilda es auch nie über sich gebracht, ihr zu erklären, wie und warum es zwischen ihr und Rashad zur Trennung gekommen war.

Von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, stand sie auf und ging zum Fenster. Während sie geistesabwesend den Blick über den Vorgarten der Doppelhaushälfte und die belebte Straße davor schweifen ließ, jagten tausend Gedanken durch ihren Kopf. Was musste Rashad jetzt von ihr halten? Zweifellos war er davon ausgegangen, dass sie von dem Darlehen gewusst hatte. Woraus sich wiederum die Frage ergab, ob er einfach Mitleid mit ihrer Mutter gehabt oder sich von weniger edlen Motiven hatte leiten lassen. Zum Beispiel von der Hoffnung, dass seine Großzügigkeit es ihr leichter machen würde, sich ihm hinzugeben.

Bei dem Gedanken, dass Rashad dieses Darlehen quasi als Kaufpreis für ihre Jungfräulichkeit betrachtet haben könnte, krampfte sich alles in Tilda zusammen. Vielleicht tat sie ihm schrecklich Unrecht, aber für gewöhnlich verrieten Taten mehr über Menschen als Worte. Und es war eine nüchterne Tatsache, dass Rashad ihr eiskalt den Laufpass gegeben hatte, nachdem ihm klar geworden war, dass sie nicht mit ihm schlafen würde.

„Du weißt ja nicht, wie verzweifelt ich damals war.“ Beth’ bedrückte Stimme riss Tilda unvermittelt aus ihren Grübeleien. „Dein Stiefvater hatte uns in eine schreckliche Notlage gebracht. Wir waren mit den Hypothekenzahlungen für das Haus so im Rückstand, dass ich Angst hatte, wir würden am Ende noch unser Dach über dem Kopf verlieren …“

Die Erwähnung ihres Stiefvaters half Tilda, das Bild von Prinz Rashad Hussein Al-Zafar, der einmal ihre große Liebe gewesen war, zu verdrängen. Auf den ersten Blick ein attraktiver, wortgewandter Charmeur, hatte Scott Morrison sich sehr schnell als völlig gewissenloser Abzocker entpuppt. Er hatte Beth als junge Witwe mit zwei kleinen Kindern geheiratet und es geschafft, innerhalb weniger Jahre sämtliche Rücklagen seiner neuen Familie zu verprassen. Die Geburt von drei weiteren Kindern und der ständige Stress, mit ihrem unberechenbaren, notorisch untreuen Ehemann fertig zu werden, hatten Beth immer mehr ausgelaugt und sie am Ende zu einer verängstigten, psychisch kranken Frau gemacht.

„… aber zum Glück hatte Rashad mir angeboten, das Haus zu kaufen, damit es auf seinen Namen läuft und Scott keinen Zugriff mehr darauf hat.“

Tilda wirbelte herum. „Soll das heißen, dass unser Haus jetzt Rashad gehört?“, stieß sie entsetzt hervor.

Beth rang die Hände, und die Tränen begannen wieder zu fließen. „Ich wollte doch nur, dass wir alle in Sicherheit sind und …“

„Hör zu, Mum“, unterbrach Tilda sie mit fester Stimme, „du machst uns jetzt am besten eine schöne Tasse Tee, während ich in Ruhe diese Briefe durchgehe. Wenn ich mir erst einmal einen Überblick verschafft habe, wird mir schon eine Lösung einfallen.“

Sie wusste, dass jetzt all ihre Selbstdisziplin gefragt war, um mit der Situation fertig zu werden. Auf keinen Fall durfte sie jetzt auch noch in Panik verfallen, sondern musste es irgendwie schaffen, einen klaren Kopf zu behalten. Während Beth sich am Herd zu schaffen machte, ordnete Tilda die Briefe systematisch nach Datum und begann dann, sie durchzulesen Mit jedem Schreiben, das sie beiseitelegte, wurde der Ernst der Lage offensichtlicher.

Mittlerweile hatte Rashad einen Londoner Anwalt eingeschaltet, der bereits ein Mahnverfahren eingeleitet hatte. Der Kaufpreis für das Haus war fair gewesen, aber nach Abzug der Hypotheken war nicht viel davon übrig geblieben. Daher war Beth zur Begleichung ihrer diversen Schulden eine weitere beträchtliche Summe vorgeschossen worden. Kulanterweise hatte man ihrer Mutter ein volles Jahr gewährt, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, bevor sie zum ersten Mal gebeten wurde, sich zu entscheiden, ob sie das Haus zurückkaufen oder stattdessen lieber Miete zahlen wolle.

Tilda fand eine Kopie des Mietvertrages, den Beth unterschrieben hatte. „Wieso hast du dich für ein Mietverhältnis entschieden?“, fragte sie heiser. Ihr Mund fühlte sich an wie ausgetrocknet.

Beth drehte sich zu ihr um und machte eine unbestimmte Handbewegung. „Es schien mir irgendwie die … übersichtlichste Lösung zu sein.“

„Aber du hast keine Miete bezahlt, stimmt’s?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, denn Tilda hatte bereits eine Aufstellung der Mietrückstände entdeckt.

„Ich konnte das Geld nicht aufbringen.“

„Nicht einmal für eine einzige Miete?“

Tilda sah, wie ihre Mutter ihrem Blick auswich und fragte sich, ob es noch etwas gab, das sie ihr verschwieg. „Mum!“, drängte sie. „Gibt es noch weitere Probleme?“

Beth presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Was denkst du über das alles, nachdem du nun die Briefe gelesen hast?“, wechselte sie rasch das Thema.

Tilda war sich sicher, dass da noch etwas im Busch war, sah jedoch ein, dass im Moment jedes weitere Nachhaken zwecklos war. Was die Briefe betraf, war sie alles andere als optimistisch. Die letzten Mahnschreiben waren in einem frostigen, kompromisslosen Ton gehalten und ließen keinen Zweifel daran, dass als nächster Schritt eine Räumungsklage folgen würde. Plötzlich hatte Tilda das Gefühl, als würde sich eine Eisenklammer um ihre Brust legen. Würde Beth es schaffen, damit fertig zu werden? Und falls nicht … welche Auswirkungen hätte das auf ihre jüngeren Geschwister?

Das Läuten der Türglocke durchdrang unvermittelt die angespannte Stille.

Beth blickte auf ihre Armbanduhr und sprang erschrocken auf. „Du liebe Güte, das ist Evan. Ich hatte ganz vergessen, dass er heute kommen wollte.“ Nervös fuhr sie sich mit der Hand über die verweinten Augen. „Ich muss schrecklich aussehen! Was soll er bloß von mir denken, wenn er mich so sieht …“

„Ich mache ihm auf und kümmere mich um ihn“, erbot Tilda sich sofort. „In der Zwischenzeit kannst du dich ein bisschen frisch machen.“ Sie war dankbar für die Unterbrechung, denn so kam sie wenigstens nicht in Versuchung, ihre Mutter mit falschen Versprechungen zu beruhigen. Nur die sofortige Rückzahlung der Schulden könnte ihr Problem lösen, und da sie alle arm waren wie die Kirchenmäuse, mussten sie sich darauf gefasst machen, schon bald auf der Straße zu stehen.

Vor drei Jahren hatte Tilda ihren festen Job als Sekretärin aufgegeben, um Betriebswirtschaft zu studieren. Damals schien es ihr eine vernünftige Entscheidung zu sein, da sie mit einem akademischen Abschluss weit bessere Verdienstmöglichkeiten hatte. Jetzt wünschte sie, sie hätte es nicht getan, denn mittlerweile waren all ihre Ersparnisse aufgebraucht, und außerdem musste sie noch ihr Studentendarlehen zurückzahlen. Obwohl sie inzwischen eine Festanstellung mit guten Aufstiegschancen bei einer Agentur für Unternehmensberatung hatte, war ihr Gehalt noch recht bescheiden, da sie gerade erst als Juniorpartnerin eingestiegen war und so gut wie keine Berufserfahrung hatte.

Als Tilda die Tür öffnete und ihrem ehemaligen Chef Evan Jerrold gegenüberstand, musste sie trotz ihrer inneren Anspannung ein amüsiertes Lächeln unterdrücken. Wieder einmal trug er eine dicke Rolle Vorhangstoff unter dem Arm. Seit er Tilda an einem regnerischen Abend von der Arbeit nach Hause gefahren und bei dieser Gelegenheit ihre Mutter kennengelernt hatte, waren seine Besuche eine regelmäßige Einrichtung geworden. Immer wieder dachte er sich neue Verschönerungsmöglichkeiten für sein Haus aus, was ihm – wie Tilda sehr wohl wusste – nur als Vorwand diente, Beth auf seine rührend altmodische Art den Hof zu machen.

Nachdem sie Evan ins Arbeitszimmer ihrer Mutter geführt und ihm einen Tee gebracht hatte, packte sie die Briefe zusammen, die noch auf dem Küchentisch lagen, und nahm sie mit nach oben in ihr Zimmer. Um sich Mut zu machen, atmete sie mehrmals tief durch, dann griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer der Anwaltskanzlei, die mit ihrer Mutter korrespondiert hatte. Sie vereinbarte einen Termin für den nächsten Vormittag und rief anschließend in ihrer Agentur an, um sich einige Tage Urlaub zu nehmen.

Das nächste Telefonat führte sie mit ihrer Bank. Auf die Frage nach ihrem maximalen Kreditrahmen teilte man ihr mit, dass zurzeit leider gar kein Kredit möglich sei, da sie sich bei ihrer derzeitigen Anstellung noch immer in der Probezeit befände. Da es nicht in Tildas Natur lag, so schnell aufzugeben, rief sie noch drei weitere Bankinstitute an, wo man ihr jedoch dieselbe Auskunft gab.

Am nächsten Morgen nahm sie den Zug nach London und betrat pünktlich um elf Uhr die gediegenen Geschäftsräume von Ratburn, Ratburn & Mildrop. Ein gewandter, makellos gekleideter Anwalt führte sie in sein Büro, wo Tilda ihm angespannt ihr Anliegen vortrug.

Der Anwalt hörte ihr höflich zu, doch als Tilda ihn nach den Möglichkeiten einer außergerichtlichen Einigung fragte, schüttelte er bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Ms. Crawford, aber ich bin nicht befugt, die Angelegenheiten Ihrer Mutter mit Ihnen zu besprechen.“

Tilda klärte ihn über das psychische Problem ihrer Mutter auf, was sie jedoch auch nicht weiterbrachte.

„Wie gesagt, dies ist eine vertrauliche Angelegenheit, die allein Mrs. Crawford betrifft. Es sei denn, sie hat Ihnen eine schriftliche Vollmacht erteilt, sie in dieser Sache zu vertreten.“

„Nein, aber … ich war früher sehr gut mit Prinz Rashad befreundet.“ Tilda konnte selbst kaum glauben, was sie soeben gesagt hatte, aber es war das Einzige, was ihr in dieser Notsituation eingefallen war, um ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen.

Sekundenlang musterte der Anwalt sie, als wollte er ihren Wert abschätzen. Dann sagte er kühl: „Ich bedaure sehr, aber ich fürchte, dass ich nichts weiter für Sie tun kann.“

Tilda presste die vollen Lippen zusammen. „Dann sagen Sie mir wenigstens, wie ich mit Prinz Rashad in Kontakt treten kann.“

„Leider ist mir auch das nicht möglich, Ms. Crawford.“ Bevor Tilda etwas entgegnen konnte, stand der Anwalt auf, um ihr zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war.

Kaum zwei Minuten später stand Tilda wieder auf der Straße. Es war eine demütigende Erfahrung gewesen, wie eine lästige Bittstellerin abgefertigt zu werden, aber noch war sie nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Entschlossen straffte sie die Schultern und nahm den Bus nach Kensington, wo sich die Botschaft von Bakhar befand.

Dort stieß sie ebenfalls auf eine Mauer des Schweigens. Über Rashads derzeitigen Aufenthaltsort konnte – oder besser wollte – man ihr keine Auskunft geben, und ihre Bitte um die Telefonnummer oder einen Termin mit dem Kronprinzen wurde ebenso höflich wie bestimmt abgelehnt. Frustriert hinterließ Tilda ihren Namen und ihre Handynummer und suchte das nächste Internetcafé auf.

Als sie bei ihren Recherchen herausfand, dass Rashad sich gerade in London aufhielt, presste sie verärgert die Lippen zusammen. Mit Sicherheit war diese Tatsache sowohl dem Anwalt als auch den Botschaftsangestellten bekannt gewesen, aber keiner von ihnen war bereit gewesen, es ihr gegenüber zuzugeben.

Als ihr Blick auf die Ankündigung einer Wohltätigkeitsgala fiel, die an diesem Abend stattfand, und an der Rashad als Ehrengast teilnehmen würde, begann ihr Puls zu rasen. Jetzt, da die Möglichkeit, Rashad zu sprechen, in greifbare Nähe gerückt war, fühlte sie sich einer Begegnung mit ihm plötzlich nicht mehr gewachsen. Doch ihre persönlichen Gefühle waren nicht gefragt. Rashad war der einzige Mensch, der die drohende Katastrophe von ihrer Familie abwenden konnte, und nur das zählte.

An der Rezeption des exklusiven Hotels, in dem die Veranstaltung stattfand, erfuhr Tilda, dass nur geladene Gäste Zutritt hatten. Sie hatte bereits damit gerechnet und bestellte sich ein astronomisch teures Mineralwasser, damit sie wenigstens im Foyer sitzen konnte, von wo aus sie den Eingang des Festsaales im Auge hatte.

Nach etwa zehn Minuten wurde die Tür weit geöffnet, um einen Gast im Rollstuhl herauszulassen. Auf diese Weise bekam Tilda die Gelegenheit, einen Blick ins Innere des Saales zu erhaschen. Unter dem funkelnden Licht eines gewaltigen Kronleuchters drängten sich scharenweise mondäne Frauen in raffiniert geschnittenen Cocktailkleidern und elegante Herren in formellen Abendanzügen. Einer von ihnen erregte Tildas besondere Aufmerksamkeit. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber etwas an seiner stolzen Kopfhaltung war ihr so vertraut, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, von ihrem Sessel aufstand.

In diesem Moment wandte er sich einem der Gäste zu, sodass Tilda die ausdrucksvolle Linie seines Profils sehen konnte.

Rashad!

Mit wild klopfendem Herzen betrachtete sie das Gesicht, das sie unzählige Male gezeichnet hatte … damals, als sie noch von einer Zukunft als Malerin träumte … Das tiefschwarze Haar trug er jetzt sehr kurz geschnitten, wodurch er noch männlicher wirkte, als Tilda ihn in Erinnerung hatte. Sein olivfarbener Teint schimmerte wie dunkles Gold, von dem sich deutlich seine ausgeprägten schwarzen Brauen abhoben. Der kühne Schwung seiner schmalen, aristokratisch geschnittenen Nase verlieh seinen Zügen etwas Strenges, Gebieterisches, was in reizvollem Kontrast zu seinem breiten sinnlichen Mund über der markanten Kinnpartie stand. Er sah einfach umwerfend aus. Aufregend. Und ganz und gar unenglisch.

Dann bemerkte Tilda die langen, pinkfarben lackierten Fingernägel, die sich besitzergreifend in den Ärmel seiner Smokingjacke krallten. Sie gehörten zu einer sehr attraktiven Brünetten, die sich eng an Rashad schmiegte und kokett zu ihm auflächelte.

Bei dem Anblick krampfte sich Tildas Herz zusammen. Es war genau wie vor fünf Jahren, als sie Rashad das letzte Mal gesehen hatte. Auch damals war er mit einer anderen Frau zusammen gewesen. Und ebenso wie damals gab allein ihr Stolz Tilda die Kraft, nach außen gelassen zu wirken, während sie am liebsten laut aufgeschrien hätte.

Als würde er ihre Gedanken spüren, drehte Rashad sich plötzlich um und sah zu ihr herüber. Seine Miene war völlig unbewegt und verriet nicht die geringste Gefühlsregung. Er sah einfach durch sie hindurch, als würde sie überhaupt nicht existieren. Dann schwang die Tür wieder zu und entzog ihn Tildas Blick.

Auf zittrigen Beinen ging sie zur Rezeption und bat um einen Stift und ein Blatt Papier. Hastig schrieb sie eine kurze Nachricht auf und bat den Empfangschef, sie Prinz Rashad überbringen zu lassen.

Während Tilda auf eine Antwort wartete, wanderte sie nervös im Foyer auf und ab. Als sich nach einer Viertelstunde noch immer nichts getan hatte, ging sie wieder zu ihrem Tisch zurück und ließ sich erschöpft in den tiefen Sessel sinken. Ihr war auf einmal ganz flau zumute, was vermutlich daran lag, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Aber sie wagte es nicht zu gehen, solange noch ein Funken Hoffnung bestand, dass Rashad auf ihre Bitte um ein Treffen reagierte.

Knapp drei Stunden später verließ eine Gruppe finster dreinblickender Araber den Festsaal und verteilte sich strategisch im Foyer, bevor Rashad selbst in Sicht kam. Er bewegte sich zielstrebig und mit der geschmeidigen Anmut eines Panthers. Seine zierliche Begleiterin musste fast rennen, um auf ihren hochhackigen Schuhen mit ihm Schritt zu halten.

Tilda hatte keine Chance, das dichte Sicherheitsspalier zu durchdringen, das jeden Normalsterblichen von Seiner Königlichen Hoheit fernhielt. Wider Willen fasziniert, beobachtete sie, wie vor dem Hoteleingang die Blitzlichter der Paparazzi aufflammten, die eine Salve von Fragen auf Rashad abfeuerten. Er ignorierte sie alle und ging an ihnen vorbei auf seine wartende Limousine zu.

„Ms. Crawford?“

Als Tilda sich überrascht umdrehte, reichte ihr ein älterer dunkelhäutiger Mann wortlos eine Visitenkarte und nickte ihr kurz zu, bevor er ebenfalls das Hotel verließ.

Mit angehaltenem Atem las Tilda die kurze Nachricht, die unter dem Logo und der Adresse einer Firma namens Metropolis Enterprises stand: Morgen Nachmittag um vier Uhr.

Also hatte Rashad sich doch noch dazu herabgelassen, ihr eine Unterredung zu gewähren. Allerdings nicht, ohne sie vorher stundenlang wie eine demütige Bittstellerin warten zu lassen.

Peitsche und Zuckerbrot, dachte Tilda verärgert. Wobei es Letzteres offenbar nur bei entsprechendem Wohlverhalten gab.

Als Rashad sich im Fond seines Bentley zurücklehnte, stand ihm Tildas Anblick noch immer lebhaft vor Augen. Rebellisch, wie sie schon immer gewesen war, hatte sie diesen unweiblichen schwarzen Hosenanzug bestimmt nur angezogen, um ihn zu provozieren. Und das prachtvolle Haar hatte sie sich vermutlich aus demselben Grund zu einem unattraktiven Knoten zusammengesteckt. Schließlich wusste sie genau, dass er bei Frauen einen femininen Look bevorzugte.

Dennoch hatte sie mit ihren unglaublichen blaugrünen Augen und dem vollen, sinnlichen Mund die Blicke aller Männer auf sich gezogen. Ihn selbst würde sie mit ihren Reizen allerdings nicht mehr um den Finger wickeln können. Dazu wusste er inzwischen zu gut, zu welcher Sorte von Frauen sie gehörte.

Immerhin hatte er es genossen, sie so lange warten zu lassen. Es war ihm zwar nie gelungen, Tilda zu seiner Geliebten zu machen, aber wie er gerade entdeckte, war Macht ebenfalls ein starkes Aphrodisiakum.

Als er die schmale Hand seiner Begleiterin auf seinem Oberschenkel spürte, berührte Rashad einen Knopf auf der eingebauten Schalttafel neben sich, und die Sichtblende schob sich lautlos vor das Wagenfenster …

2. KAPITEL

„Wenn Sie mir bitte folgen würden, Ms. Crawford …“

Ein distinguiert wirkender männlicher Angestellter führte Tilda in ein elegantes, hypermodern eingerichtetes Büro und bat sie um einen Augenblick Geduld. Kaum hatte er sich wieder zurückgezogen, öffnete sich eine weitere Tür am gegenüberliegenden Ende des Raums und Rashad trat ein. In dem schwarzen Nadelstreifenanzug, der lässig seinen schlanken, athletischen Körper umspielte, sah er atemberaubend gut aus. Und sehr sexy …

Als Tilda dem Blick seiner strahlenden goldbraunen Augen begegnete, war es, als hätte jemand die Zeit um fünf Jahre zurückgedreht. Wie bei ihrer ersten Begegnung wurde ihr Mund trocken, und sie verspürte am ganzen Körper ein elektrisierendes Kribbeln. „Danke, dass du mich empfangen hast“, begrüßte sie ihn leicht atemlos.

Rashad blieb neben seinem Schreibtisch stehen und musterte sie mit ausdrucksloser Miene. Der lange, etwas altmodische schwarze Mantel, der ihren zarten Teint und das blonde Haar noch heller erscheinen ließ, verlieh Tildas Erscheinung etwas Dramatisches und ließ sie zugleich unglaublich zerbrechlich und verwundbar aussehen. Aber zweifellos wusste sie darum und hatte genau diese Wirkung beabsichtigt.

„Es war reine Neugier“, sagte er betont gleichgültig, doch Tildas Anblick ging ihm stärker unter die Haut, als ihm lieb war. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ich sie jetzt einfach in den Arm nähme? Energisch verdrängte Rashad den unerwünschten Gedanken. Er durfte sich jetzt keine Schwäche erlauben, und außerdem ärgerte es ihn, dass diese Frau immer noch so heftige Gefühle in ihm auslöste.

Tilda, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, beschloss, sofort zur Sache zu kommen. „Ich hatte keine Ahnung, dass meine Mutter sich damals von dir Geld geliehen hat“, versicherte sie ihm. „Wenn ich etwas davon gewusst hätte, hätte ich dir dringend davon abgeraten.“

Ohne zu antworten, ging Rashad zum Fenster und blickte starr auf den dichten Verkehr unter sich. Er glaubte ihr kein Wort. Mochte sie die Rolle der Unschuld vom Lande auch noch so überzeugend spielen – diesmal würde sie bei ihm auf Granit beißen.

„Du hättest doch wissen müssen, dass sie einen solchen Betrag unmöglich zurückzahlen kann“, fuhr Tilda fort und ging zögernd einen Schritt auf ihn zu. „Warum hast du nicht wenigstens vorher mit mir darüber gesprochen?“

Abrupt drehte Rashad sich zu ihr um und bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. „Das gehörte wohl nicht zu deinem Plan, oder?“, erkundigte er sich spöttisch.

Tilda zog verwirrt die Stirn kraus. „Was für ein Plan?“

„Du weißt genau, was ich meine. Im Übrigen finde ich es in Anbetracht der Lage reichlich unverfroren, mich für meine Großzügigkeit gegenüber deiner Familie zu kritisieren. Vielleicht hältst du das ja für einen clevereren Schachzug, aber ich empfinde es einfach nur als beleidigend.“

Sein kalter Tonfall traf Tilda bis ins Mark. „Es war nicht meine Absicht, dich zu beleidigen“, sagte sie steif. „Natürlich war es sehr großzügig von dir, Mum zu helfen, aber dir muss doch klar gewesen sein, dass sie gar keine Möglichkeit hatte, dieses Darlehen abzubezahlen.“

Als Rashads Züge sich darauf noch mehr verschlossen, erkannte Tilda, dass dieses Gespräch eine ganz falsche Richtung einschlug. Anstatt ihn zu provozieren, indem sie seine Handlungsweise infrage stellte, sollte sie ihm besser Beth’ schwierige Lage vor Augen führen.

„In den letzten fünf Jahren ist viel geschehen, Rashad“, sagte sie daher so ruhig wie möglich. „Meine Mutter hat sich endlich von Scott scheiden lassen, aber der Druck, den er jahrelang auf sie ausgeübt hat, hat leider dazu geführt, dass sie jetzt …“

„Erspar mir deine sentimentalen Rührgeschichten!“, unterbrach Rashad sie schroff. „Wir befinden uns in keiner Seifenoper. Hier geht es um eine ganze Menge Geld, und ich wäre dir dankbar, wenn du dich auf sachliche Informationen beschränken würdest.“

Brennende Röte schoss Tilda in die Wangen. Sentimentale Rührgeschichten? Hatte er das damals auch gedacht, als sie ihm von den Problemen in ihrer Familie erzählt hatte? Die Vorstellung, er könnte ihr Bedürfnis, sich auszusprechen, als Appell an seine Mildtätigkeit interpretiert haben, war zutiefst demütigend. „Ich wollte nur erklären, wie es dazu gekommen ist, dass meine Mutter die Kontrolle über die Situation verloren hat“, erwiderte sie mühsam beherrscht.

„Die persönlichen Umstände deiner Mutter sind irrelevant. In den ganzen fünf Jahren hat sie nicht einen einzigen Versuch unternommen, das Darlehen zurückzuzahlen, von den ausstehenden Mietzahlungen ganz zu schweigen. Findest du nicht, dass das für sich selbst spricht?“

Tilda errötete erneut, als Rashad ihr die beschämenden Tatsachen in Erinnerung rief. „Ich gebe ja zu, dass das ein denkbar schlechtes Licht auf meine Mutter wirft. Hätte sie mir eher von ihren Schwierigkeiten erzählt, hätte ich längst Kontakt zu deinem Anwalt aufgenommen. Aber bis gestern war ich völlig ahnungslos.“

Rashad verzog verächtlich die Lippen. „Vor fünf Jahren hast du mich mit deinen rührenden Märchen weichgekocht, und dann hat deine Mutter mich unter Tränen um finanzielle Hilfe gebeten, weil dein geldgieriger Stiefvater angeblich das gesamte Familieneinkommen in Bars und Spielkasinos verpulverte. Hältst du mich wirklich für so dumm, dass ich ein zweites Mal auf dieses Spielchen hereinfalle?“

Tilda sah ihn entsetzt an. Sie konnte nicht glauben, dass er sie und ihre Mutter einer derart üblen Manipulation für fähig hielt. „Ich habe dir weder Märchen erzählt noch habe ich jemals versucht, dein Interesse an mir in irgendeiner Weise auszunutzen“, erklärte sie empört.

„Für eine ehemalige Go-go-Tänzerin reagierst du reichlich empfindlich“, stellte Rashad brutal fest.

Tilda holte tief Luft. Sie hätte wissen müssen, dass er früher oder später dieses Thema auf den Tisch bringen würde. „Ich habe als Kellnerin in dieser Bar gearbeitet“, stellte sie klar. „Getanzt habe ich dort nur ein einziges Mal, und zwar keineswegs freiwillig, wie du sehr wohl weißt. Aber dein Urteil über mich stand ja von Anfang an fest, ist es nicht so?“

Außer einem kurzen Aufblitzen in seinen Augen gab Rashad keine Reaktion zu erkennen. „Die Vergangenheit steht hier nicht zur Debatte.“

„Es sei denn, du kannst sie gegen mich verwenden!“, konterte Tilda hitzig. „Glaub von mir aus was du willst, aber ich war weder scharf auf dein Geld noch habe ich dich je belogen.“

Unvermutet begann Rashad, die Situation zu genießen. Tilda war die einzige Frau, die es je gewagt hatte, ihm die Stirn zu bieten. „Sollte ich dich tatsächlich so falsch eingeschätzt haben?“, fragte er ironisch.

„Allerdings!“ Gereizt strich Tilda sich eine rebellische Locke aus dem erhitzten Gesicht. „Ich habe keine Ahnung, wieso du dir dieses hässliche Szenario zusammengebastelt hast, aber ganz sicher haben meine Mutter und ich kein Komplott geschmiedet, um dir dein Geld aus der Tasche zu ziehen.“

„Und wie erklärst du dir dann, dass mich meine Bekanntschaft mit dir rund dreihunderttausend Pfund gekostet hat?“

Dreihunderttausend Pfund! Unvermittelt spürte Tilda Übelkeit in sich aufsteigen. Beth hatte von einer deutlich niedrigeren Summe gesprochen, aber wenn man den Kauf des Hauses, die Kosten für das Mahnverfahren und die Verzugszinsen mit dazurechnete, könnte durchaus ein solcher Betrag zusammenkommen.

„Das ist nur eine grobe Schätzung“, meinte Rashad trocken. „Wahrscheinlich ist es sogar noch mehr. Auf jeden Fall habe ich vor, das Geld in voller Höhe wieder einzutreiben.“

Panik breitete sich in Tilda aus, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Hör zu, Rashad“, begann sie so gefasst, wie es ihr in Anbetracht ihres aufgewühlten Zustands möglich war, „wenn du bereit wärst, uns noch etwas Zeit zu geben …“

„Wie lange?“, fiel er ihr sarkastisch ins Wort. „Noch einmal fünf Jahre? Oder lieber zehn?“

„Warum bist du eigentlich so entschlossen, nur das Schlechteste von mir anzunehmen?“, stieß Tilda frustriert hervor. In ihren Augen spiegelten sich Verständnislosigkeit und Ärger. „So, wie alles gelaufen ist, verstehe ich ja, dass wir dir wie Schmarotzer erscheinen müssen, aber wenn du mich wenigstens erklären ließest, warum …“

Wieder ließ Rashad sie nicht ausreden. „Ich würde lieber beim Geschäftlichen bleiben“, teilte er ihr kühl mit.

Tilda biss sich auf die Lippe und schluckte den beißenden Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge lag. „Wie du willst“, sagte sie ebenso frostig. „Ich habe inzwischen Betriebswirtschaft studiert und auch schon eine Anstellung gefunden. Mit anderen Worten verfüge ich jetzt über ein regelmäßiges Einkommen.“

Beinah unmerklich zog Rashad die dunklen Brauen hoch. „Dann hast du also deinen Traum von einer Karriere als Malerin an den Nagel gehängt?“

Ganz recht, du arroganter Mistkerl! Mit einem Kunststudium kann man nämlich kaum eine siebenköpfige Familie über Wasser halten.

„In einem halben Jahr ist meine Probezeit beendet“, fuhr sie fort, als hätte sie seine Frage nicht gehört. „Ich werde dann deutlich mehr verdienen als jetzt und könnte von da an mit der Schuldentilgung beginnen.“

Rashad schwieg einen Moment, als würde er sich ihren Vorschlag ernsthaft durch den Kopf gehen lassen, dann schüttelte er langsam den Kopf. „Tut mir leid, Tilda, aber schöne Versprechungen interessieren mich nicht. Wenn du mit nichts Konkreterem aufwarten kannst, hättest du dir den Weg hierher sparen können.“

Eine Weile betrachtete er sie nachdenklich, bevor er mit samtweicher Stimme hinzufügte: „Aber da dir das ebenso klar gewesen sein dürfte wie mir, kann ich nur davon ausgehen, dass du wieder einmal auf die bewährte Wirkung deines Sex-Appeals vertraut hast.“

Sekundenlang war Tilda zu schockiert, um einen Ton herauszubringen. „Wie kannst du es wagen, mir so etwas zu unterstellen?“, stieß sie schließlich hervor. Ihre blaugrünen Augen sprühten förmlich vor Zorn und Empörung.

„Das war keine Unterstellung, sondern eine nüchterne Feststellung. Ich erinnere mich nämlich noch sehr gut daran, wie du mich nach allen Regeln der Kunst heißgemacht und dann die Spröde gespielt hast, um mein Interesse an dir anzuheizen.“

Angesichts dieser ungeheuerlichen Behauptung wäre Tilda ihm am liebsten an die Kehle gesprungen. „Ist das deine Auffassung davon, beim Geschäftlichen zu bleiben?“

„Allerdings“, bestätigte er ungerührt. „Denn für dich war es doch ein Geschäft, oder nicht? Aber lass uns zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren. Warum bist du gekommen, wenn du nicht in der Lage bist, zumindest einen Teil der Schulden zu begleichen?“

„Das habe ich dir bereits gesagt“, erwiderte Tilda mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich wollte dich um einen Zahlungsaufschub bitten, bis ich in der Lage bin, mit der Rückzahlung anzufangen.“

„Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären. Dieser Vorschlag ist unakzeptabel, und ich bin sicher, dass dir das schon klar war, bevor du mich um dieses Gespräch gebeten hast.“

Als Rashad nun langsam auf sie zukam, stieg Tilda ein schwacher Hauch von Sandelholz in die Nase. Selbst jetzt, da alles an ihm Verachtung und Feindseligkeit ausströmte, konnte sie sich der sinnlichen Wirkung seiner männlichen Ausstrahlung nicht entziehen. Die Kehle wurde ihr eng, und in ihrem Bauch begannen Schmetterlinge zu tanzen.

„Und da du außer dir selbst nichts anzubieten hast“, schloss er genüsslich, „kann ich wohl nur eine einzige Schlussfolgerung daraus ziehen.“

Es dauerte einige Sekunden, bis die Bedeutung seiner Worte zu Tilda durchdrang. „Du willst doch nicht ernsthaft andeuten, dass ich hier bin, um dir Sex anzubieten?“, stieß sie ungläubig hervor.

„Was sollte ich deiner Meinung nach denn sonst annehmen?“

Der nachsichtige Spott in seiner Stimme war mehr, als Tilda ertragen konnte. Ohne nachzudenken holte sie aus, um ihm ins Gesicht zu schlagen, aber Rashad kam ihr zuvor. Mit demütigender Leichtigkeit hielt er ihr Handgelenk fest und betrachtete sie kopfschüttelnd, als wäre sie ein ungezogenes kleines Mädchen.

„Du weißt doch genau, dass ich kein Freund von unkontrollierten Gefühlsausbrüchen bin.“

„Lass mich auf der Stelle los!“, befahl Tilda zornbebend.

„Erst, wenn du dich wieder beruhigt hast.“

Tilda wehrte sich wie eine Wildkatze und entwickelte dabei ungeahnte Kräfte. Als sie jedoch versuchte, Rashad gegen das Schienbein zu treten, wich er ihr geschickt aus, sodass sie das Gleichgewicht verlor und mit einem spitzen Aufschrei vor ihm auf dem Teppich landete.

Mit undurchdringlicher Miene blickte Rashad auf sie nieder. „Du solltest wirklich lernen, dein Temperament zu zügeln“, riet er ihr trocken, bevor er sie wieder hochzog. „Hast du dich verletzt?“

„Nein!“ Vor Scham wäre Tilda am liebsten im Erdboden versunken. In diesem Moment hasste sie Rashad aus tiefster Seele, doch selbst jetzt noch genügte ein einziger Blick von ihm, um sie unwiderstehlich in seinen Bann zu ziehen.

Rashad betrachtete ihre vollen, natürlich geröteten Lippen. Er wusste noch genau, wie süß sie geschmeckt hatten, und die Erinnerung daran löste eine Flut verführerischer Bilder in ihm aus. Für einen Augenblick gestattete er es sich, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen – worauf sein Körper prompt mit heftiger Erregung reagierte.

Im diesem Moment erkannte er, dass er durchaus bereit wäre, sich sozusagen „bargeldlos“ mit Tilda zu einigen. Ja, plötzlich schien es ihm sogar die perfekte Lösung zu sein. Tilda suchte nach einer Möglichkeit, die Schulden ihrer Mutter zu begleichen, während sie ihrerseits etwas besaß, das er unbedingt haben wollte. Wenn sie seine erotischen Wünsche erfüllte, bis sein Verlangen nach ihr gestillt war, würde er im Gegenzug auf sämtliche Forderungen verzichten, die gegen Beth bestanden. Auf diese Weise würde er endlich bekommen, wonach er sich jahrelang verzehrt hatte, und die Familie Crawford wäre mit einem Schlag ihre Sorgen los.

Und was die Frage nach Tildas Ehre betraf, so brauchte Rashad nur an die vertrauliche Akte zu denken, die in seinem Safe lag. Darin waren sämtliche Liebhaber aufgelistet, mit denen sie sich amüsiert hatte, während sie ihm gegenüber ihre vermeintliche Unschuld verteidigt hatte.

Tilda, die unter seinem unverwandten Blick immer nervöser wurde, schlang die Arme um sich, als ob ihr kalt wäre. „Ich kann nur hoffen, dass du nicht wirklich meinst, was du eben gesagt hast. Sex, um Schulden abzuzahlen … das ist wirklich erbärmlich.“

„Schade, dass du das so siehst“, meinte Rashad lakonisch. „Denn es wäre das Einzige, was ich von dir haben wollte.“

Seine Worte trafen Tilda wie ein Peitschenhieb. Tränen des Zorns und der Demütigung brannten in ihren Augen, doch sie drängte sie entschlossen zurück.

„Es liegt ganz bei dir …“ Sanft umfasste Rashad ihr Kinn und hob es an, um ihr ins Gesicht zu sehen. „Und sofern du die richtige Entscheidung triffst, werde ich die Tilgung eurer Schulden zu einem wahren Vergnügen für dich machen.“

In den Tiefen seiner unergründlichen Augen tanzten goldene Lichter. Wie hypnotisiert erwiderte Tilda seinen Blick. Als er sich langsam über sie beugte, öffnete sie erwartungsvoll die Lippen. Rashads Kuss war eine erotische Offenbarung und weckte Empfindungen in ihr, die sie jahrelang fest unter Verschluss gehalten hatte. Ihre Brustspitzen richteten sich auf, eine süße Hitze breitete sich in ihrem Körper aus …

Dann wurde Tilda sich plötzlich entsetzt ihrer Reaktion bewusst.

Mit aller Kraft schob sie Rashad von sich und funkelte ihn verächtlich an. „Nein danke!“, stieß sie mit bebender Stimme hervor. „Lieber scheuere ich für den Rest meines Lebens Fußböden, um diese verdammten Schulden abzuzahlen. Und du solltest dich in Grund und Boden schämen, dass du mir überhaupt so einen Vorschlag gemacht hast!“

Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und schritt hocherhobenen Hauptes auf die Tür zu.

„Ruf mich an, falls du deine Meinung ändern solltest“, rief Rashad ihr amüsiert hinterher.

3. KAPITEL

Als Tilda in den Zug nach Oxford stieg, zitterten ihr vor Aufregung noch immer die Knie. Die Begegnung mit Rashad hatte sie zutiefst aufgewühlt – vor allem ihre hemmungslose Reaktion auf seinen Kuss. Wie hatte sie sich nur derart gehen lassen können, nachdem er sie auf so unverzeihliche Weise beleidigt hatte? Aber wie es aussah, war sie seiner Anziehungskraft noch genauso hilflos ausgeliefert wie vor fünf Jahren, als sie ihn in jenem schrecklichen Nachtklub kennengelernt hatte.

Sie war damals achtzehn gewesen und befand sich in ihrem letzten Schuljahr. Kurz vor den Sommerferien teilte ihr Stiefvater ihr eines Abends mit, dass einer seiner Freunde, ein Nachtklubbesitzer, eine dreiwöchige Urlaubsvertretung für eine seiner Kellnerinnen suche und er mit ihm abgemacht habe, dass Tilda den Job übernehmen würde.

Zuerst hatte sie sich geweigert. Sie war die Einzige in der Familie, die sich von Scott nicht einschüchtern ließ, und außerdem hatte sie bereits eine Zusage von Jerrold Plastics, wo sie schon in den vergangenen zwei Jahren während der Ferien gearbeitet hatte. Daraufhin ließ Scott wie üblich seinen Ärger gnadenlos an den restlichen Familienmitgliedern aus, die sich nicht so gut gegen ihn zu wehren wussten. Nach zwei Tagen war Beth nur noch ein Nervenbündel, und ihre zwei jüngeren Halbgeschwister trauten sich kaum noch aus ihren Zimmern heraus. Schließlich gab Tilda zähneknirschend nach und rief Evan Jerrold an, um „wegen familiärer Probleme“ ihren Sommerjob abzusagen.

Vom ersten Tag an hasste sie ihre Arbeit in dem Klub. Besonders zuwider war ihr die unverfrorene Art, in der die Männer sie förmlich mit ihren Blicken auszogen. Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus betuchten Geschäftsleuten und verwöhnten Söhnen aus reichem Hause, die zu viel tranken und die Kellnerinnen als Freiwild betrachteten. Offiziell war es den Mädchen zwar untersagt, sexuelle Beziehungen zu den Gästen zu unterhalten, aber nach und nach bekam Tilda mit, dass einige es trotzdem taten – üblicherweise gegen Geschenke, aber manchmal nahmen sie auch ganz offen Geld dafür.

Nach zwei Wochen tauchte Rashad zum ersten Mal in dem Klub auf. Er kam in Begleitung von zwei jüngeren Stammkunden, und schon bei seinem Eintreten erregte die kraftvolle Geschmeidigkeit seiner Bewegungen Tildas Aufmerksamkeit. Als sich kurz darauf ihre Blicke trafen, hatte sie das Gefühl, ein Stromstoß jage durch sie hindurch. Er war mit Abstand der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war, und seine sinnliche Ausstrahlung ließ sie von Kopf bis Fuß erschauern. Sekundenlang stand sie wie verzaubert da, dann wandte sie sich rasch von ihm ab und versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch trotz ihrer Bemühungen, ihn aus ihrem Bewusstsein auszublenden, blickte sie immer wieder verstohlen zu seinem Tisch hinüber … und stellte dabei jedes Mal fest, dass auch er sie beobachtet hatte.

Später am Abend kam einer seiner Begleiter auf sie zu. „Ich bin Leonidas Pallis“, verkündete er in einem Tonfall, als müsse schon die bloße Erwähnung seines Namens Tilda mit Ehrfurcht erfüllen. „Ein Freund von mir würde dich gern kennenlernen.“ Mit einer arroganten Geste warf er eine Visitenkarte und einen Hundertpfundschein auf das Tablett, das sie trug. „Die Party startet um Mitternacht. Das sollte für das Taxi genügen.“

Verärgert drückte Tilda ihm Geld und Karte wieder in die Hand. „Danke, aber ich bin nicht interessiert“, sagte sie und ging an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Als sie nach Feierabend den Klub verließ, sah sie Leonidas Pallis mit seinen Freunden auf dem Parkplatz stehen. Lässig gegen die Kühlerhaube seines Ferraris gelehnt, trank er seinen Whisky direkt aus der Flasche und lachte gerade laut über irgendeinen Witz, den jemand gemacht hatte. Bei Tildas Erscheinen löste sich Rashad aus der Gruppe und kam langsam auf sie zu.

Leise Panik breitete sich in ihr aus, doch sie war von seinem dunklen, scharf geschnittenen Gesicht und seinen eleganten Bewegungen so gebannt, dass sie sich einfach nicht von der Stelle rühren konnte.

„Ich bin Rashad“, sagte er leise.

„Tilda“, brachte sie atemlos hervor und ergriff wie von selbst die Hand, die er ihr zur Begrüßung hinhielt.

„Hätten Sie vielleicht Lust, noch etwas mit mir trinken zu gehen?“

Tilda hätte nur zu gern Ja gesagt, aber aus einem instinktiven Selbstschutz heraus teilte sie ihm mit, dass sie auf eine Kollegin warte, die sie zu Hause absetzen würde.

Anstatt verärgert zu reagieren, nickte Rashad verständnisvoll. „Natürlich, es ist ja auch schon spät. Aber wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, könnte ich Sie vielleicht einmal anrufen?“

Obwohl sein charismatisches Lächeln ihre Knie weich werden ließ, schüttelte Tilda erneut den Kopf. „Es tut mir leid“, sagte sie und meinte es tatsächlich so, „aber ich verabrede mich grundsätzlich nicht mit Gästen.“

Als sie am nächsten Abend zur Arbeit erschien, stellte Pete sie verärgert zur Rede. „Wie mir zu Ohren gekommen ist, hast du gestern den Kronprinzen von Bakhar brüskiert.“

Tilda, die keine Ahnung hatte, wovon er redete, sah ihn verständnislos an.

„Leonidas Pallis war ziemlich sauer“, fuhr Pete ungehalten fort. „Er ist der Sohn eines schwerreichen griechischen Reeders und lässt zusammen mit Sergio Torrente Tausende von Pfund in diesem Klub. Die beiden haben den Prinzen hier eingeführt, und ich will nicht meine besten Kunden verlieren, nur weil irgendeine dumme Gans meint, sie müsse die Spröde spielen. Ist das klar?“

„Aber ich habe doch gar nichts getan!“, verteidigte sich Tilda, die immer noch keine Ahnung hatte, was Pete ihr eigentlich vorwarf.

„Sei ein braves Mädchen, und gib dem Kerl deine Telefonnummer“, meinte er darauf nur.

Zwei Stunden später waren die drei wieder da. Verunsichert durch das Wissen, dass er ein echter Prinz war, versuchte Tilda, Rashad zu ignorieren. Aber es war, als würde sie ein unsichtbares Band zu ihm ziehen, sodass sie selbst noch die kleinste seiner Bewegungen wahrnahm. Er schien der Einzige in der Gruppe zu sein, der über Anstand und gute Umgangsformen verfügte. Weder trank er exzessiv noch machte er billige Scherze auf Kosten der Kellnerinnen. Er war stets höflich und sah so atemberaubend gut aus, dass ihre Kolleginnen ihn regelrecht mit den Augen verschlangen.

Dann geschah Tilda ein Missgeschick, das alles veränderte. Auf dem Weg zu einem der Tische stolperte sie so unglücklich über eine unebene Stelle im Teppich, dass ihr das beladene Tablett aus den Händen rutschte und sie mit einem spitzen Aufschrei auf den Knien landete. Während Leonidas und Sergio sich vor Lachen auf die Schenkel schlugen, sprang Rashad erschrocken auf und half ihr auf.

„Haben Sie sich verletzt?“, erkundigte er sich besorgt.

Noch ganz benommen vor Schreck, blickte Tilda zu ihm auf und versank in den Tiefen seiner dicht bewimperten Augen, die wie dunkler Bernstein schimmerten.

„Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich Sie stürzen sah“, gestand er ihr heiser.

In diesem Augenblick verliebte Tilda sich unsterblich in ihn. Allerdings war ihr schon jetzt bewusst, dass das Ganze nie über eine Schwärmerei hinausgehen konnte, denn erstens würde Rashad früher oder später in sein Land zurückkehren, und zweitens würde er einmal König sein.

Am darauffolgenden Wochenende teilte Pete ihr mit, dass eine der Go-go-Tänzerinnen sich krankgemeldet habe und Tilda für sie einspringen müsse. Zuerst weigerte sie sich kategorisch. Die Vorstellung, in einen dieser schrecklichen Käfige zu steigen, die zu beiden Seiten des Raums auf Podesten aufgebaut waren, war ihr unerträglich. Erst als Pete ihr mit Entlassung drohte, gab sie schließlich nach, denn sie wusste, dass vor allem Beth und ihre Geschwister die Folgen tragen müssten.

Als Tilda sich kurz vor ihrem Auftritt in dem knappen, bikiniähnlichen Outfit im Spiegel betrachtete, krümmte sie sich innerlich zusammen. Aber dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie schließlich nicht mehr von ihrem Körper preisgab, als in einem Schwimmbad. Außerdem achtete niemand wirklich auf die Tänzerinnen. Es waren einfach nur Körper, die sich im hämmernden Rhythmus der Musik bewegten, um zur aufreizenden Atmosphäre des Klubs beizutragen.

Wie sich herausstellte, hatte Rashad an diesem Abend Geburtstag. Unter großem Hallo wurde eine gigantische Torte hereingerollt, Champagnerkorken knallten, Toasts wurden ausgebracht, und der DJ legte Happy Birthday von Stevie Wonder auf.

Dann entdeckte Rashad sie in dem Käfig.

Nie würde Tilda den Ausdruck in seinen Augen vergessen: Schockiert. Bestürzt. Und angewidert. Als er sich demonstrativ von ihr abwandte, kam sie sich vor wie eine billige Stripperin. Beschämt und zutiefst gedemütigt floh sie wie ein gehetztes Tier in die Garderobe.

Später erfuhr sie von ihrer Kollegin Chantal, dass alles ein abgekartetes Spiel gewesen war. Leonidas und Sergio hatten es für eine witzige Idee gehalten, Tilda zur Feier von Rashads fünfundzwanzigstem Geburtstag in einem der Käfige tanzen zu lassen, und Pete gebeten, das zu arrangieren. Tilda hatte es Rashad nie erzählt. Er hätte ohnehin nur geglaubt, sie wolle seine besten Freunde vor ihm schlechtmachen.

Mit rot geweinten Augen hatte sie sich wieder angezogen und bis zum Ende ihrer Schicht an den Tischen weiterbedient, für die sie zuständig war. Als sie endlich in ihren Mantel schlüpfte und ins Freie trat, regnete es, außerdem war es empfindlich kühl geworden.

„Falls du auf Cindy wartest, die ist auf eine Party gegangen“, rief Chantal ihr im Hinausgehen zu. „Leider muss ich heute in die andere Richtung, sonst hätte ich dich zu Hause abgesetzt.“

Fröstelnd holte Tilda ihr Handy aus der Tasche, um sich ein Taxi zu bestellen, als ein silbergrauer Aston Martin neben ihr anhielt.

Rashad stieg aus und sah sie über die Motorhaube hinweg an. Sie wusste, dass er ihr nicht anbieten würde, sie mitzunehmen. Denn das hatte er schon einmal getan, und ihr war klar, dass er zu stolz war, eine zweite Abfuhr zu riskieren. Als er um den Wagen herumging und ihr schweigend die Beifahrertür aufhielt, stieg Tilda ebenso wortlos ein. Sie hatte einfach nicht die Kraft, ihn noch einmal abzuweisen. Tu einfach so, als wäre es eine Ferienromanze, sagte sie sich. Solange du keine Erwartungen hast, kannst du auch nicht verletzt werden.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte sie mit bebender Stimme. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie sich zu diesem würdelosen Auftritt hatte zwingen lassen.

Rashad nahm ihre Hand und drückte sie fest. „In meiner Heimat sperren wir die Menschen nicht mehr in Käfige, seit vor hundert Jahren die Sklaverei abgeschafft wurde.“

„Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen.“

„Sie haben es also nicht freiwillig getan?“

„Natürlich nicht!“ Tilda hob den Kopf und warf ihm einen entrüsteten Blick zu. Glaubte er vielleicht, diese erniedrigende Fleischbeschau hätte ihr auch noch Spaß gemacht?

„Tun Sie es nicht wieder“, sagte Rashad mit so selbstverständlicher Autorität, dass Tilda für den Bruchteil einer Sekunde den absurden Impuls verspürte, es dennoch zu tun, nur um ihm ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren.

So hatte ihre Beziehung angefangen, die prompt jede Menge unerwünschte Kommentare auslöste. Leonidas Pallis machte keinen Hehl daraus, dass er in Tilda nichts weiter als ein Callgirl sah. Sergio Torrente, der aalglatte, weltgewandte Italiener, wurde nicht ganz so deutlich, doch er schien es ebenfalls für Zeitverschwendung zu halten, Tilda mit Respekt zu begegnen. Ihr Stiefvater meinte nur: „Sag ihm, dass du lieber Bargeld als Schmuck willst.“

Dennoch waren die folgenden Wochen die glücklichste, wenn auch die aufreibendste Zeit in Tildas bisherigem Leben. Rashad, der daran gewöhnt war, dass jede seiner Anweisungen mit unbedingtem Gehorsam befolgt wurde, neigte dazu, Tilda Vorschriften zu machen, und kam mit ihrem Widerspruchsgeist nicht gut zurecht. Ihr häufigster Streitpunkt war jedoch Tildas Weigerung, mit Rashad zu schlafen. Immer wieder warf er ihr vor, sie würde ihn nicht genug lieben, dabei hätte er nicht falscher liegen können. Tilda war verrückt nach ihm, und wenn sie in seinen Armen lag, kostete es sie die allergrößte Mühe, standhaft zu bleiben und sich nicht einfach ihren leidenschaftlichen Gefühlen zu überlassen. Aber sie war noch Jungfrau und hatte schreckliche Angst davor, schwanger zu werden. Hinzu kam ihre Befürchtung, dass der unausweichliche Abschied nur noch schmerzhafter für sie sein würde, wenn sie sich auf ernsthaften Sex mit ihm einließ.

Als der Zug in den Bahnhof von Oxford einfuhr, wurden Tildas Gedanken für eine Weile von Rashad abgelenkt. Doch kaum hatte sie den Bus bestiegen, mit dem sie die letzte Strecke nach Hause fuhr, kehrten sie wie von selbst wieder zu ihm zurück.

Wenn sie ihre damalige Zurückhaltung ihm gegenüber mit seinen Augen betrachtete und in Beziehung zu der scheinbaren Zahlungsunlust ihrer Mutter setzte, erschien es nur folgerichtig, dass er sie für eine Goldgräberin hielt, die versucht hatte, sein Interesse an ihr in bare Münze umzusetzen.

Für seine heutige Aussage, Sex sei das Einzige, was er von ihr haben wolle, konnte Tilda allerdings keine Entschuldigung finden. Und der Frage, ob er überhaupt je etwas anderes von ihr gewollt hatte, wagte sie gar nicht erst nachzugehen.

Zu Hause angekommen, fand Tilda ihre Mutter völlig aufgelöst in ihrem Arbeitszimmer vor, das einen erschreckend chaotischen Anblick bot. Der Vorhangstoff, den Evan vorbeigebracht hatte, lag in einem wilden Haufen auf dem Fußboden, sämtliche Schranktüren und Schubladen waren aufgerissen, und in einer Ecke lag ein umgekippter Stuhl. Das Bezeichnendste war jedoch Beth’ leeres Portemonnaie, das offen auf dem Bügelbrett lag.

Scott!, war Tildas erster Gedanke, und wie sich herausstellte, lag sie mit ihrer Vermutung genau richtig. Nach und nach holte Tilda die ganze Geschichte aus ihrer Mutter heraus. Als Scott herausgefunden hatte, dass Rashad der derzeitige Besitzer des Hauses war, hatte er behauptet, Beth habe ihn um seinen Anteil an dem Besitz betrogen. Seitdem lebte sie in ständiger Angst vor seinen Besuchen, die jedes Mal mit Drohungen und Geldforderungen verbunden waren.

Vor Wut und Empörung ballte Tilda ihre Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Also hatte Scott ihre Mutter jahrelang weiter bis aufs Blut ausgepresst. Kein Wunder, dass sie nicht einmal die Miete zahlen konnte.

„Scott hat bekommen, was ihm bei der Scheidung zugesprochen wurde, Mum. Er hat kein Recht, mehr zu verlangen, und wenn er etwas anderes behauptet, lügt er. Ich rufe jetzt die Polizei an und …“

„Nein, bitte tu das nicht!“, protestierte Beth entsetzt. „Die Kinder würden vor Scham sterben, wenn ihr Vater ins Gefängnis käme.“

„Sie würden vor Scham sterben, wenn sie erführen, was du seinetwegen alles durchgemacht hast!“, hielt Tilda ihr vor Augen. „Durch Schweigen schützt man üble Typen wie ihn doch nur.“ Entschlossen wollte sie zum Telefon greifen, doch die verzweifelte Miene ihrer Mutter ließ sie innehalten. „Okay, Mum“, lenkte sie ein, „wenn du keine Polizei willst, löse ich das Problem eben anders.“ Im Stillen machte sie sich bittere Vorwürfe. Wie hatte sie nur übersehen können, was die ganze Zeit hinter ihrem Rücken vor sich gegangen war?

Als sie in der Diele ihren Mantel aufhängte, sah sie auf dem kleinen Tischchen neben der Garderobe die Post liegen. Beim Anblick des Umschlags mit dem inzwischen vertrauten Briefkopf des Anwaltsbüros Ratburn, Ratburn & Mildrop verspannte Tilda sich unwillkürlich. Nichts Gutes ahnend, atmete sie mehrmals tief durch, bevor sie den Umschlag öffnete. Er enthielt die Aufforderung, wegen Mietrückstands innerhalb von vier Wochen das Haus zu räumen.

Da Tilda erst einmal Ordnung in ihre Gedanken bringen musste, bevor sie ihrer Mutter die Hiobsbotschaft überbrachte, ging sie mit dem Brief in ihr Zimmer im ersten Stock. Was sollte nur werden, wenn es tatsächlich zum Schlimmsten kam? Ihr Bruder Aubrey, der im achten Semester Medizin studierte, und die siebzehnjährige Katie waren alt genug, um irgendwie damit klarzukommen. Aber James steckte mit seinen vierzehn Jahren in einer schwierigen Lebensphase, und Megan war erst neun. Was würde es für sie bedeuten, wenn sie nicht nur ihr Heim verlören, sondern in gewisser Weise auch noch ihre Mutter?

Mit ihrer Agoraphobie führte Beth zwar schon seit Langem kein normales Leben mehr, aber zumindest gelang es ihr, eine gewisse Alltagsroutine aufrechtzuerhalten. Bei einem erzwungenen Umzug, der noch dazu mit dem Makel des sozialen Abstiegs behaftet war, drohte jedoch die akute Gefahr, dass sie ihr seelisches Gleichgewicht völlig verlor und in einer psychiatrischen Klinik endete.

Nach Abwägung aller Möglichkeiten sah Tilda nur einen einzigen Weg, um ihrer Familie diesen Horror zu ersparen: Sie musste Rashads Angebot annehmen. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie einmal gezwungen sein würde, sich praktisch selbst zu verkaufen. Schon die bloße Vorstellung war zutiefst beschämend, und nur das Wissen, dass Rashad eine herbe Enttäuschung bevorstand, verschaffte ihr einen gewissen bitteren Trost. Da sie sexuell völlig unerfahren war, konnte sie mit keinerlei Fähigkeiten auf diesem Gebiet aufwarten. Aber das würde ihm nur recht geschehen!

Ein ganz anderes Problem war, ob sie überhaupt dazu in der Lage sein würde.

Damals hätte sie mit Rashad geschlafen, wenn nicht die Angst vor Liebeskummer und einer Schwangerschaft sie daran gehindert hätten. Aber damals war Tilda auch noch sicher gewesen, dass er wirklich etwas für sie empfand. Vor allem jedoch wäre es von ihrer Seite aus ein Akt der Liebe gewesen, wohingegen sie ihn heute nur noch verachtete. Doch sie konnte sich jetzt keine Empfindlichkeiten leisten. Nicht, wenn sie die Menschen, die sie liebte, aus ihrer Notlage retten wollte.

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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