Retter in höchster Not

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So ein ungehobelter schottischer Barbar! Die englische Kaufmannstochter Cecily Milburn kann nicht glauben, dass Lord Mackillin ein Freund ihres Vaters sein soll. Sie will mit ihm nichts zu tun haben. Als der Lord sie allerdings aus höchster Not rettet – und ihr einen sündigen Kuss raubt – schlägt ihr Herz plötzlich verräterisch schnell …


  • Erscheinungstag 17.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502498
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Januar 1461

Stirnrunzelnd betrachtete Cecily Milburn die blutige Schürfwunde an der Flanke des Pferdes. Wem mochte der Wallach gehören? Das Tier bebte am ganzen Körper, als Cecily ihm behutsam die Hand auf den Nacken legte. Zuerst schnupperte es vorsichtig an dem runzeligen Apfel, den sie ihm auf der flachen Hand entgegenhielt, dann nahm es die Frucht. Zufrieden lächelnd ging Cecily zu ihrem eigenen Zelter in die benachbarte Box und musste sogleich wieder voller Sorge an ihre beiden zwei Jahre jüngeren Brüder denken. Sie wünschte, Matt hätte sich nicht auf die Reise nach Kingston-upon-Hull machen müssen, um Erkundigungen nach seinem Zwillingsbruder und seinem verwitweten Vater einzuholen. Da Gerüchte im Umlauf waren, dass sich seit ungefähr einer Woche in der Umgebung von Sandal Castle, das dem Duke of York gehörte, jede Menge Lancastrianer aufhielten, hatte Matt zu seinem Schutz vorsichtshalber die meisten männlichen Bediensteten mitgenommen. Falls dort wirklich ein Kampf stattgefunden hatte, war durchaus zu erwarten, dass man auf angriffslustige marodierende Soldaten stieß. Doch nicht einmal mit ihrem Stiefbruder Diccon konnte Cecily ihre Ängste teilen. Auch ihn hatte sie in den letzten sechs Monaten nicht gesehen, und um seine Sicherheit fürchtete sie ebenfalls. Als sie Schritte hörte, die sich näherten, griff sie sofort nach dem Dolch an ihrem Gürtel. Vorsichtig sah sie sich um.

Wut wallte in ihr auf, als sie den Mann sah, der dort stand. „Master Husthwaite! Was wollt Ihr hier? Wie konntet Ihr den armen Gaul so schinden?“, fragte sie streng.

„Hier seid Ihr also, Mistress Cecily. Ich habe bereits schon nach Euch gesucht.“

Der Mann mit dem mausgrauen, strähnigen Haar musterte sie mit seinen kalten silbergrauen Augen, sodass Cecily wütend die Fäuste ballte.

„Aus welchem Grund?“, fragte sie brüsk.

Master Husthwaite sog bedächtig die Luft ein und blies sie geräuschvoll wieder aus. „Der Gaul ist eine lahme Schnecke“, ließ er sich schließlich zu einer Antwort herab. „Wenn mein Onkel darauf bestanden hätte, dass seine Kunden pünktlich bezahlen, könnte ich mir jetzt ein besseres Pferd leisten.“

„Was soll das heißen: darauf bestanden hätte?“

„Mein Onkel ist kürzlich verstorben. Ich übernehme sein Geschäft.“ Händereibend, den Blick auf ihren wohlgeformten Busen geheftet, näherte er sich ihr. „Nachdem ich in Knaresborough mit Master Matthew gesprochen habe, bin ich in aller Eile hierhergeritten. Ich dachte, Ihr könntet meine Hilfe gebrauchen.“

„Im Haus meines Vaters? Wieso sollte ich da Eure Unterstützung benötigen? Ich bin durchaus fähig, allein den Haushalt zu führen. Und falls ich wirklich auf jemanden angewiesen sein sollte, so würde ich die Frau des Verwalters rufen.“

Husthwaite strich sich über die hohlen Wangen, argwöhnisch kniff er die Augen zusammen. „Es ist eine andere Art von Hilfe, die ich Euch anbiete. Ich war zutiefst besorgt, als Master Matthew mir erzählte, dass er nach Kingston-upon-Hull reitet, um sich bei dem Handelsagenten nach Eurem Vater zu erkundigen.“ Er trat noch einen Schritt näher. „Ich fürchte, Ihr müsst Euch auf schlechte Nachrichten gefasst machen.“

„Ich weiß nicht, was Euch zu dieser Annahme führt“, erwiderte Cecily kühl, und, da sie das Gefühl hatte, Abstand halten zu müssen, trat sie neben den Kopf ihres Pferdes. „Es ist nicht das erste Mal, dass mein Vater nicht zum erwarteten Tag heimkehrt. Insbesondere in den Wintermonaten kommt das immer wieder vor. Stürmisches Wetter kann das Auslaufen des Schiffes hinauszögern.“

„Das könnte so sein, wenn sich die Rückkehr Eures Vaters und Eures Bruders ein paar Tage oder eine Woche verschoben hätte. Doch nun feiern wir bereits das Fest des Heiligen Hilarius, und wie ich von Eurem Bruder erfuhr, habt Ihr seit sechs Wochen nichts mehr von ihnen gehört. Ich glaube wirklich, Ihr müsst Euch mit dem Gedanken vertraut machen, dass Euer Vater tot sein könnte.“

„Nein!“, schrie sie. „Das kann und will ich nicht glauben.“ Sie wollte nicht an die schrecklichen Vermutungen erinnert werden, die Matts Ahnung, seinem Bruder könne etwas zugestoßen sei, in den letzten zehn Tagen in ihr wachgerufen hatten.

„Es ist schwer, aber Ihr müsst Euch mit den Tatsachen abfinden. Euer Vater lebt nicht mehr. Wir müssen jetzt über Eure Zukunft nachdenken.“

„Wir? Was soll das denn heißen? Wollt Ihr Euch etwa in meine Angelegenheiten einmischen?“ Ihre Augen sprühten gleichsam Feuer. „Das soll wirklich nicht Euer Problem sein. Ich … ich bin versprochen. Wir werden zu Ostern heiraten.“

Husthwaites tief in den Höhlen liegende Augen glänzten teuflisch. „Unter den Papieren Eures Vaters fand ich nichts über ein solches Arrangement.“

„Dennoch wird die Hochzeit stattfinden.“ Cecily war wütend darüber, dass er Einsicht in die persönlichen Unterlagen ihres Vaters hatte. Hätte Nat Milburn gewusst, dass dieser Schreiberling es wagen würde, in die Fußstapfen seines verstorbenen Onkels zu treten, dann hätte ihr Vater angeordnet, sofort einen anderen Mann mit den geschäftlichen und persönlichen Angelegenheiten der Familie Milburn zu betrauen.

„Wenn Ihr meint. Doch sagt mir, wer ist denn dieser vermeintliche Verlobte?“

„Sein Name geht Euch überhaupt nichts an. Und nun seid so gut und geht. Ich habe Vorbereitungen für die Rückkehr meiner Brüder und meines Vaters zu treffen.“

Er starrte sie begehrlich an. Anstatt den Stall zu verlassen, griff er nach der Reitpeitsche, die an seinem Sattel hing, und schlug nach Cecilys Pferd. Voller Zorn schrie Cecily auf. Alle Vorsicht außer Acht lassend, griff sie nach der Gerte, als dieser Rohling erneut zuschlagen wollte. Doch bei dem Versuch, dem Mann die Peitsche zu entreißen, wurde sie gegen ihn geworfen. Sofort nutzte Husthwaite die Situation aus. Er schlang die Arme um Cecily und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte.

„Lasst mich sofort los. Ihr vergesst Euch“, keuchte sie.

Er lachte und legte seinen Kopf an ihren zarten Nacken. Cecily wehrte sich verzweifelt, während Husthwaite sie ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter hinunter ins feuchte Heu zwang. Im Kampf verlor sie ihre Haube. Er griff in ihr gelöstes Haar, zog ihr Gesicht ganz nahe an seines und versuchte, sie zu küssen. Sie ekelte sich vor seinen faulen Zähne und dem schlechten Geruch seines Atems. Irgendwie gelang es ihr, ihn mit den Fingern ins Kinn zu kneifen. Rüde schlug er ihre Hand beiseite. „Dafür werdet Ihr zahlen“, knurrte er.

Cecilys Rettung kam so schnell, dass sie es kaum fassen konnte. Binnen weniger Augenblicke war sie frei. Ihr Peiniger lag am Boden, und sie selbst fühlte sich leicht wie eine Feder, als sie wieder auf ihren Füßen stand. Fest hatte ihr Retter zugegriffen, wie Feuer brannten seine Hände auf der Haut unter ihrem Kleid. Ein seltsames, äußerst verwirrendes Gefühl war das, nicht zu vergleichen mit dem Schrecken, den Husthwaites Angriff ihr versetzt hatte.

Als Erstes sah sie das verschlungene Muster einer glanzlosen Zinnbrosche, die einem groben Wollumhang als Halt um einen wettergegerbten Hals diente. Ihr Blick wanderte höher, und es verschlug ihr fast den Atem, als sie das bärtige Kinn, die breiten Wangenknochen, überhaupt das markante Gesicht eines Mannes mit schulterlangem kastanienbraunem Haar sah. Rasch wandelte sich ihre anfängliche Erleichterung in Angst und Schrecken, als sie den Dialekt des Fremden hörte. Erinnerungen erwachten an die Pilgerreise, die sie mit ihrer sterbenskranken Mutter zum Kloster Alnmouth unternommen hatte, das sich nicht weit von der Grenze zwischen England und Schottland befand. Ihre Mutter stammte aus der Gegend und verehrte die keltischen Heiligen, die das Evangelium von Irland herübergebracht hatten.

„Ich hoffe, er hat Euch nicht allzu großen Schaden zugefügt, Jungfer.“ Diesmal sprach der Fremde langsamer und deutlicher.

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die goldenen Locken ihr über die Schultern flogen. Er griff nun mit der Hand nach einer Locke und strich sie Cecily ungelenk, aber behutsam hinters Ohr. Ihr stockte fast der Atem. All die Geschichten, die Großvater und einige Großonkel ihr und ihren Zwillingsbrüdern erzählt hatten, kamen ihr in den Sinn. Schreckliche Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, hatte ihre Mutter immer gesagt. Selbstverständlich hielt deshalb auch Cecily die Grenzlandschotten für einen ungehobelten Menschenschlag. Sie fürchtete, dass dieser Mann sie nur vor Husthwaites hinterhältigen Absichten gerettet hatte, um sein eigenes Vergnügen mit ihr zu haben. Sicherlich wäre sie jetzt ohnmächtig geworden, wenn sie zu der Sorte Frauen gehört hätte, die leicht in Ohnmacht fallen. Sie aber tastete nach dem Dolch, der neben dem Schlüsselbund an ihrem Gürtel hing, und ihre Finger umschlossen den mit einer Kordel umwickelten Griff.

Mackillins Blick glitt über ihr bleiches Gesicht. Die Farbe ihrer Augen erinnerte ihn an die Glockenblumen, die unter den Ebereschen am Loch Trool blühten. Normalerweise gehörte er nicht zu den Menschen, die sich in Poesie versuchten. Doch angesichts dieser blauen Augen wäre vermutlich auch er durchaus fähig, ein Lied zu schreiben. Dieses Mädchen besaß zudem nicht nur wunderschöne Augen, sondern auch ein hübsches, herzförmiges Gesicht, eine edle, gerade Nase und Lippen, die geradezu danach verlangten, geküsst zu werden.

Etwas war da in seinem Blick, das Cecily unruhig machte. Fast unbewusst strich sie sich mit der Zungenspitze kurz über die Lippen. Sie wusste, sie musste ihren Dolch ziehen, jetzt oder nie. „Haltet Abstand, Ihr … Ihr Barbar!“, schrie sie, während sie ihm mit ihrer Waffe drohte.

Abgesehen von einem kurzen Aufblähen seiner Nasenflügel schien er unbeeindruckt. „Und wenn ich mich weigere, Jungfer, was gedenkt Ihr dann, mit diesem … Spielzeug zu machen?“, fragte er sichtlich amüsiert.

„Ich steche zu. Die Klinge ist scharf“, warnte sie.

Seine Augen glänzten feurig. „So dankt Ihr mir? Verdiene ich da nicht eine Belohnung?“ Mit einer Sorglosigkeit um seine eigene Sicherheit, die Cecily die Sprache verschlug, griff er nach ihrem Handgelenk. Ein kurzer Dreh, und sie stöhnte vor Schmerz. Die Waffe fiel zu Boden. Danach fasste er mit dem linken Arm um Cecilys Taille und legte die rechte Hand um ihren Kopf. „Ein Kuss für meine Schmerzen“, sagte er und suchte ihren Mund.

Cecily wollte sich abwenden, doch es gelang ihr nicht, sich gegen diesen starken und muskulösen Mann zu wehren. Nach einer Weile spürte sie, wie der Druck seines Mundes nachließ. Sanft und prickelnd bewegten sich seine Lippen über die ihren. Erschrocken stellte sie fest, dass sie sogar sein raues, kratziges Kinn seltsam sinnlich und gar nicht störend fand. Nur dreimal zuvor war sie geküsst worden, doch keiner dieser Küsse hatte eine solche Hitze in ihrem Innern entfacht wie dieser.

Hatte sie nicht Diccon ewige Liebe geschworen? Er war der einzige Mann, der das Recht besaß, sie auf diese Weise innig und betörend zu küssen. Obwohl ihr Vater einer Verlobung seinen Segen verweigert hatte, glaubte Cecily, ihn nach seiner Rückkehr umstimmen zu können. Und nun erlaubte sie diesem … diesem Wilden, sie zu küssen, dazu noch ohne Gegenwehr. Mit einem Ruck drehte sie ihren Kopf zur Seite und hob die Hand. Doch der Schlag verfehlte sein Ziel, denn der Fremde ließ sie plötzlich los.

Wütend sah sie ihn an. „Mein Vater wird Euch dafür büßen lassen, dass Ihr es gewagt habt, mich so unzüchtig zu berühren“, schimpfte sie.

Mackillin sah sie argwöhnisch an. Natürlich war es ein Fehler gewesen, die junge Frau zu küssen. Das wusste er. Doch konnte allein der Anblick dieser Lippen einen jeden Mann nicht alle Gesetze der Ritterlichkeit vergessen lassen? Und erst diese goldene Lockenpracht, die so köstlich nach Kamille duftete! Nie zuvor hatte er solches Haar gesehen. Er atmete tief durch. Auch ihre Haut hatte nach Kamille gerochen, erinnerte er sich. Zugleich spürte er wieder das herrliche Gefühl, wie ihr Busen an seiner Brust gelegen und ihr Bauch gegen seine Männlichkeit gedrückt hatte. Die Regung in seinen Lenden hielt immer noch an. „Euer Vater? Ist er einer der Bediensteten hier?“

„Gott bewahre, nein! Er ist …“ Sie schwieg, unsicher, wie er wohl reagieren würde, wenn er erführe, dass sie die Tochter des Hauses war. Was wollte dieser Mann auf dem Hof ihres Vaters? Jahrzehntelang hatten die Schotten ihre räuberischen Streifzüge nicht so weit nach Süden über die Grenze ausgedehnt. Ohne zu antworten, rannte sie wie von Furien getrieben blindlings davon. Direkt vor dem Stall prallte sie mit jemandem zusammen, der sie am Arm hielt. Erschrocken schrie sie auf. Doch kurz darauf hörte sie eine vertraute Stimme: „Was ist passiert, Cessie? Warum brüllst du so?“

„Oh Jack, du bist es“, rief sie erleichtert. Glücklich sank sie an die Brust ihres Bruders. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, dass sein rechter Arm in einer Schlinge lag. „Was ist passiert?“ Vorsichtig berührte sie seine Schulter und sah forschend in das geliebte Gesicht. „Matt hat geahnt, dass du verletzt bist. Gott sei Dank, nun bist du ja zu Hause. War es etwa der Barbar da, der deinen Arm verletzt hat?“ Sie zeigte zum Stall. „Hast du dein Schwert, Jack?“, flüsterte sie, als sie sah, dass Mackillin ihr gefolgt war. Er stand am Eingang zum Stall und beobachtete sie.

Jack sah sie an, als wäre sie nicht bei Sinnen. „Ein Kampf gegen Mackillin? Das wäre zwecklos. Ich kenne niemanden, der die Kunst des Fechtens besser beherrscht als er.“

„Du hast also mit ihm gekämpft und verloren?“

Jack blickte gen Himmel. Er sah aus, als würde er um göttliche Hilfe bitten. „Nein, Cessie. Er hat mir das Leben gerettet.“

Fassungslos sah sie ihn an. „Nein! Er … doch nicht der. Das muss ein Missverständnis sein.“

„Du bist es, die hier nichts versteht, Cessie. Er ist ein Freund von Vater.“

„Das kann nicht sein. Vater ist ein gebildeter, kultivierter Mensch. Er ist weit gereist und sehr belesen. Was könnte er schon gemein haben mit diesem … diesem schottischen Wilden?“ Zornig musterte sie Mackillin, der sie mit einem Gesichtsausdruck ansah, der sie verwirrte. „Ich muss mit Vater sprechen. Ich muss ihm sagen, dass dieser Mensch es gewagt hat, mich zu küssen.“ Sie drehte sich um und wollte zum Haus rennen.

„Warte, Cessie.“ Jack hielt sie mit seinen Worten zurück.

„Weshalb? Wenn du glaubst, ich würde meine Meinung ändern, dann hast du dich …“ Sie sah ihren Bruder über die Schulter hinweg an und blieb erschrocken stehen, als sie seine bekümmerte Miene sah. „Was ist los? Du siehst so traurig aus.“

Jack schluckte mehrmals. „Du wirst Vater nicht im Haus finden.“

Cecily kam langsam zurück. „Wieso nicht? Wo ist er? Hatte er einen Unfall?“ Jack zögerte. „Du machst mir Angst, Bruder. Sag schon, was ist passiert?“

„Er ist tot“, schluchzte Jack. „Ermordet von diebischem Gesindel.“ Aus Cecilys Gesicht wich alle Farbe. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und packte ihren Bruder am gesunden Arm. „Es tut mir so leid, Cecily.“

„Ich kann es nicht glauben. Nein, ich will es nicht glauben.“ Sie raffte den Saum ihres braunen Rockes hoch und zeigte auf diese Weise ungewollt die weiten Beinkleider aus weicher Lammwolle, die sie immer zum Reiten trug. Anschließend rannte sie über den Hof zum Haus, laut gackernd wichen ihr die aufgescheuchten Hühner aus. Weder die drei Packpferde, die geduldig darauf warteten, dass man sie von ihrer Last befreite, noch den Mann, der auf dem Pferd saß, sah sie, so eilig hatte sie es. Ihr Vater musste im Haus sein, seine tiefe Stimme musste doch nach ihr rufen. Verzweiflung trieb sie, als sie die Stufen hinaufrannte, die an der Außenmauer des grauen Steinhauses zur Eingangshalle führten. Ungeduldig kämpfte sie im eisigen Wind mit der Tür, bis diese sich schließlich öffnen ließ und ihr Einlass gewährte.

Während Mackillin voller Mitleid und Bestürzung verfolgte, wie Cecily aus seinem Blickfeld entschwand, überkam ihn wieder die starke Erregung, die er zu ignorieren versuchte. Er hatte ganz vergessen, dass Jack ihm erzählt hatte, wie hübsch seine Schwester sei. Hätte er sich daran erinnert, dann hätte er bestimmt sofort vermutet, wen er vor sich hatte. Trotzdem, auch wenn er nicht gewusst hatte, dass sie die Tochter des Hauses war, sein Benehmen war unverzeihlich. Und doch – sobald er nur daran dachte, wie er sie in den Armen gehalten hatte, schlug sein Herz schneller. Sein Aufenthalt in Milburn sollte notgedrungen sowieso nur von kurzer Dauer sein. Zum Glück. Ansonsten wäre er noch versucht, die Belohnung einzufordern, die ihm der sterbende Nat Milburn angeboten hatte.

„Ich muss nach ihr sehen“, sagte Jack traurig und hilflos.

Mackillin hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Lass ihr Zeit, sich zu beruhigen.“

Jack zögerte, doch dann nickte er. „Ihr habt sie also geküsst. Hat sie deshalb so geschrien?“

„Wieso? Sie schrie schon aus voller Kehle, bevor ich sie berührte.“ Ein Geräusch hinter ihnen erregte ihre Aufmerksamkeit. „Da hast du die Erklärung“, sagte Mackillin, als Husthwaite mit seinem Pferd am Zügel auftauchte.

Die Wange des Mannes war geschwollen und zeigte deutliche Kratzspuren. „Da seid Ihr also zurück, Master Jack.“

„Wer seid Ihr?“, zürnte Milburn.

„Gabriel Husthwaite, der Neffe des Mannes, der die Geschäfte für Euren Vater erledigte. Mein Onkel ist kürzlich gestorben. Ich bin sein Nachfolger. Eure Familie wird meine Dienste benötigen, wenn ich mit der Vermutung recht habe, dass Euer Vater verstorben ist.“

„Ja. Überfallen und ermordet.“ Jack sah unsicher zu Mackillin. „Das ist der Mann, von dem Vaters Handelsagent in Kingston-upon-Hull sprach.“

Mackillin musterte Master Husthwaite streng.

Der zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Jungfer Cecily wollte ja nicht glauben, dass ihr Vater tot ist. Ich habe ihr erklärt, dass allein der Tod der Grund für seine lange Abwesenheit sein kann.“

„Deshalb hat sie wohl so verzweifelt geschrien“, sagte Jack und fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. „Aber sie …“

„Nein, das stimmt nicht“, fuhr Mackillin ärgerlich dazwischen. „Der Kerl hat Eure hübsche Schwester auf schändliche Weise belästigt.“

Husthwaite musterte Mackillin mit verschlagenem Blick. „War mein Benehmen denn so anders als das Eure? Ihr hieltet sie doch für eine Magd. Habt Ihr nicht für Eure Mühen einen Kuss von ihr gefordert?“

Mackillin drehte sich zu Jack um und sagte leise: „Entschuldige, Jack. Sie nannte mich einen Barbaren und wollte mich erdolchen.“

„Oje. Sicher hatte sie Angst, weil Ihr aus dem Grenzland kommt. Es tut mir leid, Mackillin. Aber unser Großvater und sein Bruder pflegten uns so haarsträubende Geschichten über die schottischen Räuber zu erzählen, dass wir als Kinder oft nachts nicht schlafen konnten“, erklärte Jack.

Husthwaite trat zu den beiden. „Die Jungfer Cecily braucht eine strenge Hand. Nur so lässt sich ihr Temperament zügeln. Mich hat sie auch bedroht. Ich habe mich nur verteidigt, bevor dieser Mackillin dazukam.“

„Ihr lügt“, widersprach Mackillin heftig. „Da war keine Klinge zu sehen. Ihr habt sie ins Heu gestoßen. Einen wie Euch verschmäht sie gewiss.“

Der Mann grinste höhnisch. „Na, Euch wohl auch. Schert Euch fort, macht Euch auf den Weg. Und zwar dorthin, wo Ihr hingehört, nämlich in Euer eigenes Land. Die Angelegenheiten dieser Familie sind meine Obliegenheiten. Die gehen Euch nichts an, Ihr Barbar.“

Wutschnaubend packte Mackillin Husthwaite am Kragen seines kurzen und engen Rockes mit dem reich gefalteten Rückenteil, hob ihn hoch in die Luft und platzierte ihn unsanft auf den Rücken seines Pferdes. „Verschwindet, bevor ich meine Fäuste nutze, Euch die Kehle aufschlitze und Euch von Eurer lockeren Zunge befreie.“ Mit einem aufmunternden Schlag auf die Flanke des Pferdes versetzte er seinen Worten Nachdruck.

Husthwaite griff nach den Zügeln und wäre fast wieder seitwärts aus dem Sattel gerutscht, hätte Mackillin ihn nicht gehalten. Das Pferd trottete zum befestigten Pfad, der zum Dorf führte und weiter hinten in die Überlandstraße nach Knaresborough mündete, das mehr als eine Meile entfernt lag.

Jack schüttelte unwillig den Kopf. „Die Sache gefällt mir nicht. Vater hätte niemals gewollt, dass solch ein Mann sich unserer geschäftlichen Angelegenheiten annimmt.“

„Der Kerl ist zweifellos ein Schurke. Kennst du niemanden, der euch helfen könnte, mit ihm fertig zu werden?“

Jack nickte. „Doch. Diccon. Nur weiß ich nicht, wo er sich derzeit aufhält. Und da wäre noch Owain, der Mann unserer Stiefschwester und ein guter Freund unseres Vaters. Matt oder Cessie könnten ihn benachrichtigen. Wo ist Matt eigentlich?“ Er schaute sich suchend um. „Sicherlich ist er irgendwo auf den Feldern. Wenn er das Spektakel gehört hätte, wäre er schon längst gekommen, um zu sehen, was los ist. Hoffentlich ist er bald zurück. Bleibt Ihr zur Nacht und sprecht mit ihm?“

Mackillin blickte zum düsteren Himmel und nickte. „Ja, vor Einbruch der Dunkelheit kämen wir sowieso nicht mehr weit. Geh du ins Haus und sieh nach deiner Schwester. Robbie und ich kümmern uns derweil um die Pferde. Und noch eines, Jack: Sag bitte nichts davon, dass dein Vater mir als Dank die Hand deiner Schwester angeboten hat. Ein solches Anerbieten kann ich nicht annehmen. Und nun geh. Ich sorge dafür, dass das Gepäck ins Haus gebracht wird.“

Jack dankte ihm und eilte seiner Schwester nach.

Im Haus kniete Cecily vor der Feuerstelle und streichelte einen der Hunde. Mit tränennassem Gesicht schaute sie zu ihrem Bruder auf, als dieser zu ihr trat. „Es ist wohl wahr, was du berichtet hast.“ Ihre Stimme zitterte. „Über eine so ernste Sache wie den Tod unseres geliebten Vaters würdest du bestimmt keine Witze machen.“

„Es tut mir leid, Cessie.“ Ungelenk legte er seinen Arm um ihre Schulter. „Ich wusste, wie schlimm die Nachricht für dich ist. Aber wo ist Matt eigentlich?“

„Er ist nach Kingston-upon-Hull geritten, um zu hören, ob Vaters Handelsagent Nachricht von euch hat. Matt war sich sicher, dass er euch dort trifft.“

Verständnislos blickten Jacks blaue Augen sie fragend an. „Vaters Agent hat Matt überhaupt nicht erwähnt. Wann ist er denn losgeritten?“

„Erst heute Morgen. Die meisten unserer Männer hat er mitgenommen.“ Seufzend stand sie auf. „Du hast also mit dem Agenten gesprochen? Was hat er gesagt?“

„Er schien nicht überrascht, als er von Vaters Tod hörte. Und er sprach von Husthwaite. Wir hatten keine Ahnung, dass dessen Onkel gestorben ist. Man hätte einen Kurier mit dieser Nachricht zu einem unserer Händler auf den Kontinent schicken müssen. Vater wäre bei Erhalt dieser Botschaft bestimmt augenblicklich heimgekommen.“

„Ich selbst habe erst heute vom Ableben des alten Husthwaite erfahren. Soweit ich weiß, hat sein Neffe keine vollständige juristische Ausbildung. Er hat lediglich als Schreiber bei seinem Onkel gearbeitet. Doch lass uns später darüber reden“, erklärte sie mit brüchiger Stimme. „Wir müssen Diccon benachrichtigen.“

Jack nickte. „Du weißt, wo er sich aufhält?“

Sie sah ihn traurig an. „Nein. Aber sicherlich wissen Kate oder Owain, wie sie ihn erreichen können. Wir müssen sie alle über Vaters Tod benachrichtigen.“ Sie schwieg und schluckte die Tränen herunter. „Wenn man Diccon nicht findet, wird uns bestimmt Owain helfen, falls Husthwaite Ärger machen sollte.“

„Hoffentlich.“

Cecily wischte sich mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. „Musste Vater arg leiden? Hat man die Teufel gefasst und bestraft?“

Jack trat mit dem Fuß die Glut aus, die aus der Feuerstelle gefallen war. „Er starb schnell. Doch zuvor hat er Mackillin noch das Versprechen abgenommen, mich sicher nach Hause zu begleiten. Er hat einen der Räuber und sein Diener Robbie einen zweiten getötet, ein dritter konnte leider entkommen.“

Sie verschränkte die Hände. „Ich kann nicht verstehen, wie Vater einem aus dem Grenzland so ein Versprechen abnehmen konnte“, meinte sie weinend.

Jack sah sie traurig an. „Mackillin ist nicht das, wofür du ihn hältst. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Vater und er sich umarmt haben.“

„Wie konnte Vater einen solchen Mann kennen?“, fragte sie erstaunt.

Jack versuchte, sich die juckende Hand unter dem geschienten Arm zu kratzen. „Sie sind beide weit gereist. Mackillin besitzt ein Schiff. Vermutlich sind sie sich zum ersten Mal begegnet, bevor Vater unserer Stiefmutter versprochen hat, seine weiten Fahrten aufzugeben – damals, als er dieses Herrenhaus von unserem Großonkel geerbt hatte und lieber hier leben wollte als in dem baufälligen Anwesen unseres Großvaters.“

„Ich erinnere mich. Ich war zwölf Sommer alt, als Großonkel Hugo kinderlos starb. Vater entschied sich damals, die beiden Güter zusammenzulegen“, erklärte sie mit leiser, fast zitternder Stimme.

„Ja, das war vor fünf Jahren. Matt und ich waren damals zehn. Möglicherweise trafen sich Vater und Mackillin in Calais“, meinte Jack nachdenklich.

Seufzend nahm Cecily den Kissenbezug zur Hand, an dem sie vormittags genäht hatte. „Dort ist Diccon auch Edward of York begegnet. Vater war böse auf Diccon, weil er von Edward so angetan war, dass er vorhatte, sich ihm anzuschließen.“ Sie legte das Leinentuch wieder zurück, denn auf ihre Näharbeit konnte sie sich jetzt einfach nicht konzentrieren.

Jack verzog das Gesicht. „Was hast du von Vater erwartet? Sein ganzes Leben lang hat er den Duke of Lancaster unterstützt, obwohl Henry IV. geisteskrank und ein schlechter König ist. Mehr Priester als Krieger, wie Vater immer sagte.“

Cecily nickte. „Dennoch vermute ich, dass Diccon die Seiten gewechselt hat. Möglicherweise setzt er sich nun für die Yorks ein, obwohl er in Lancashire geboren und aufgewachsen ist.“ Das war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb ihr Vater seine Einwilligung zu einer Ehe mit Diccon bislang nicht gegeben hatte. Sie vermutete, dass es noch einen weiteren gab: Diccon besaß kein Land und auch sonst keinerlei materielle Güter.

Jack seufzte. „Ich bin müde und im Augenblick nicht in der Stimmung, mich mit den Streitigkeiten der Häuser York und Lancaster zu befassen. Wir haben genug eigene Sorgen. Vater hätte sicherlich erwartet, dass du Mackillin höflich bewirtest. Speis und Trank und ein Bett ist das wenigste, was wir ihm bieten sollten, wenn er sich schon weigert, die Belohnung anzunehmen, die Vater ihm angeboten hat.“

„Aha, das also bringt ihn her: die Aussicht auf eine Belohnung“, antwortete Cecily verärgert.

„Ich hätte es nicht erwähnen sollen. Ich habe dir doch gesagt, er will keine Belohnung.“

„Das sagt er nur. Lass dich nicht täuschen, Jack. Vielleicht will er mehr, als ihm geboten wurde. Er muss doch wissen, dass Vater ein reicher Mann ist.“

„Du beleidigst ihn“, erwiderte Jack zornig. „In den letzten zehn Tagen hätte er mir jederzeit die Kehle durchschneiden und all unsere äußerst wertvollen Güter stehlen können. Nun gut, er hat dich geküsst, Cecily, aber das solltest du ihm verzeihen. Er weiß, dass es ein Fehler war.“

Sie spürte die Röte in ihren Wangen, beugte sich zu einem der Hunde hinunter und entfernte ihm ein paar Kletten, die sich im rauen Fell festgesetzt hatten. „Er hielt mich für eine Magd“, sagte sie leise. „Ist das etwa eine Entschuldigung dafür, dass er sich wie ein Wilder benommen hat?“

„Mackillin ist kein Wilder. Du solltest deine Zunge hüten, Cessie, und dankbar sein, dass er Husthwaite verjagt hat.“ Jack seufzte tief und sah seine Schwester traurig an. „Oh Cessie, das Haus ist so leer ohne Matt und Vater. Es wird nie wieder so sein wie früher.“

Cecily nickte zustimmend und erinnerte sich zugleich an die langen, traurigen Wintermonate nach dem Tod der Stiefmutter vor zwei Jahren. Sie konnte nur hoffen, dass es bald Frühling wurde, sodass sie wieder mehr Zeit in der freien Natur verbringen konnten. In dieser Jahreszeit war es schwierig, die langen und dunklen Abendstunden zu füllen. Die schweren Arbeiten wie Einmachen und Einlegen von Gemüse, Salzen von Fleisch und das Herstellen von Kerzen waren alle getan. Es blieben nur noch Stickarbeiten, das Färben von Wolle oder das Rühren von Seifen und Salben – alles Tätigkeiten, bei denen sie ihren Gedanken freien Lauf lassen und sich um Diccon Sorgen machen konnte. Sie seufzte schwer und sehnte sich verzweifelt danach, dass ihr Vater noch am Leben wäre. Doch das war ein Wunsch, der nicht erfüllt werden konnte. Stattdessen musste sie nun Jacks Retter höflich behandeln – wirklich keine leichte Aufgabe für sie.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte ihr Bruder: „Ein Mahl und ein sauberes Bett sind nur ein kleiner Dank für alles, was Mackillin für uns getan hat. Vielleicht wäre jetzt ein warmes Würzbier genau das Richtige.“

„Und vermutlich erwartest du, dass ich ihm auch die beste Gästekammer und ein heißes Bad herrichte“, maulte sie.

„Das ist nicht notwendig“, meldete sich eine Stimme, die Cecilys Herz schneller schlagen ließ.

Während sie sich wunderte, weshalb die Hunde das Kommen des Fremden nicht gemeldet hatten, holte sie tief Luft und wartete noch einem Moment, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Erst danach drehte sie sich nach Mackillin um. Er stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Seine Haare waren struppig und strähnig. Er stank nach Pferd und Schweiß und nach … ja, einfach nach einem Mann. Es erstaunte sie, dass sie das wahrnahm. Er war zwar groß und stark, aber das sollte keineswegs bedeuten, dass sie sich von ihm einschüchtern ließ.

„Selbstverständlich sollt Ihr die schönste und beste Schlafkammer erhalten. Schließlich habt Ihr meinem Bruder das Leben gerettet und ihn zurück zu uns nach Hause gebracht.“ Sie hatte versucht, ihrer Stimme Wärme zu verleihen, aber dennoch klangen ihre Worte irgendwie steif.

Er neigte sein struppiges Haupt. „Ich gab Eurem Vater mein Wort.“

„Wahrlich ehrenhaft.“

„Selbst Barbaren halten ihr Wort – hin und wieder jedenfalls.“ Er sah sie so herausfordernd an, als solle sie glauben, er könne sich nicht wie ein Edelmann benehmen.

Sie hielt seinem Blick stand. „Alles hat eben seinen Preis.“

Mackillin sah fragend zu Jack. „Ich habe ihr nichts gesagt“, erklärte der hastig.

„Gut.“ Mackillins Kinnmuskeln zuckten unmerklich. „Ich versichere Euch, Jungfer Cecily, meinen Preis – wenn ich ihn denn verlangen würde – würdet Ihr nicht zahlen wollen. Doch nun bitte ich nur um eine Pritsche und eine Decke für meinen Diener Robbie und mich. Ein Platz hier vor dem Feuer reicht uns.“

Noch bevor Cecily darauf antworten konnte, meldete Robbie sich zu Wort: „Nein, Mackillin, als schottischer Lord, der Ihr nun mal seid, solltet Ihr die beste Schlafkammer im Haus erhalten.“

Cecily sah erstaunt zu Mackillin auf. „Ist das wahr? Ihr seid ein schottischer Lord?“

Er zuckte mit den Achseln. „Der Titel ist neu für mich.“

„Aha, das erklärt alles“, erwiderte Cecily trocken.

Er zog eine Braue hoch. „Erklärt was?“

Sie schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass sie als Erläuterung nur sagen konnte, bei seinem Aussehen würde ihn kein vernünftiger Mensch für einen Adeligen halten. Natürlich konnte er nichts dafür, dass seine Kleider schmutzig von der Reise waren. Aber aus dem besten Tuch war sein Gewand auch nicht gerade gefertigt. Unter dem Mantel trug er ein ganz gewöhnliches Lederwams, keines aus Samt, wie es sich für einen Mann seines Standes gehört hätte. Sie ließ ihren Blick weiterwandern. Anstelle teurer seidener Beinkleider trug er grobe braune Wolle. Und dennoch, wenn er wirklich ein Lord sein sollte, dann hätte ihr Vater von ihr erwartet, dass sie den Mann auch so behandelte.

„Selbstverständlich werde ich Euch die beste Schlafkammer herrichten, Lord Mackillin.“

„Trotz meines Äußeren?“, fragte er leise. „Ach, vergesst es, Jungfer. Für eine Nacht will ich Euch und Eurem Bruder nicht so viele Umstände machen. Es gibt genug, worum Ihr Euch zurzeit kümmern müsst.“

Dem konnte sie nur zustimmen. „Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt“, sagte sie mit einem leichten Neigen des Kopfes. „Ich muss das Gesinde … über den Tod meines Vaters informieren.“

Mackillin nickte und wandte sich anschließend zu Robbie und Jack.

Cecily zwang sich, langsam zum anderen Ende der Halle zu gehen. Einer der Hunde trottete hinter ihr her. Neben der Treppe, die zum ersten Stock führte, befand sich eine Tür zu einem Gang. Cecily war versucht, nach links durch diese Tür zu schlüpfen und danach die Treppe hinauf zum Turm zu rennen, wo ihre Schlafkammer lag. Doch sie ging nach rechts, durchquerte auf ihrem Weg zur Küche die Getränkekammer, den Raum, in dem die wertvollsten Lebensmittel lagerten, den Abstellbereich, die Vorratskammer und die Waschküche.

Auf der Schwelle zur Küche blieb Cecily kurz stehen und beobachtete die Köchin, die sich vor dem Feuer ein Nickerchen gönnte. Tabitha, die Küchenmagd, schnitt Kräuter. Tom, der Hausknecht, unterhielt sich mit ihr und rührte zugleich in dem großen schwarzen Topf, der über dem Feuer hing. Martha, eine ältere Magd, trällerte leise vor sich hin, während sie einen Teig ausrollte. Sie hatten Cecily nicht kommen hören und schauten erstaunt auf, als sie ihre Stimme hörten: „Ich habe eine traurige Nachricht.“

Die Köchin erhob sich langsam. Tabitha ließ ihr Messer fallen, und auch Tom und Martha hielten in ihrer Arbeit inne. Erwartungsvoll blickten sie auf Cecily. „Was ist passiert, Jungfer Cecily?“, fragte schließlich die Köchin.

„Der Herr ist tot“, sagte Cecily, die ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen wollte, mit zittriger Stimme.

Die Köchin schüttelte bekümmert den Kopf. „Oh Gott, das hatten wir befürchtet. Er war ein guter Herr. Wir werden ihn sehr vermissen.“

Martha stöhnte laut auf und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Wie ist es passiert?“

Cecily wiederholte in kurzen Worten, was Jack ihr erzählt hatte. Dann erklärte sie, dass man einen schottischen Lord mit seinem Diener als Gäste für die Nacht habe. „Vielleicht lässt sich die Graupensuppe, die wir zum Abendessen gekocht haben, mit dem restlichen Hammelfleisch anreichern“, schlug sie vor, während sie krampfhaft versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Die Köchin nickte verständnisvoll. „Wir könnten auch noch ein paar Hühner schlachten, und natürlich werde ich noch mehr Brot backen müssen.“

Cecily nickte zustimmend. „Ich überlasse es dir. Du wirst schon wissen, was nötig ist.“ Ein wenig ratlos strich sie sich über den Kopf. „Da ihr das Feuer hier zum Kochen benötigt, werde ich das Würzbier in der großen Halle wärmen. Tom, du bringst zwei Pritschen herbei und lüftest ein paar Decken aus.“

„Ja, Jungfer Cecily“, sagte der Hausknecht und rannte sofort los.

Cecily holte aus der Vorratskammer eine Kanne Ale, einen Krug Honig und aus einem verschlossenen Schrank Zimt und Ingwer. Ihr Herz war schwer vor Kummer, als sie mit all den Sachen zurück in die Halle ging. Dort sah sie ihren Bruder und Mackillin beieinanderstehen. Das Reisegepäck war inzwischen in einer Ecke gestapelt worden.

Als die beiden Männer Cecily kommen sahen, brachen sie ihr Gespräch ab und setzten sich auf die Bank, die in der Nähe des Feuers stand. Schweigend schauten sie zu, wie Cecily eine gusseiserne Platte über die glühenden Holzscheite schob und darauf einen Eisentopf stellte. Cecily fühlte Mackillins forschenden Blick auf sich ruhen. Sie betete, dass Diccon ihre Nöte ahnen und sobald als möglich heimkommen möge. Wem sonst sollte sie ihre Sorgen über den eigenartigen schottischen Lord und das arrogante Verhalten von Husthwaite anvertrauen? Aber sie fürchtete, ihr Liebster könnte in die Kämpfe zwischen den feindlichen Truppen der Yorker und Lancasterianer verwickelt sein. Warum nur musste Diccon auch dem Erben des Duke of York seine Loyalität beweisen? Alles nur, weil ihr Stiefbruder wenig Land besaß und es unbedingt aus eigenen Stücken zu etwas bringen wollte?

Tom, der mit den Decken erschienen war und sie nicht weit vom Feuer entfernt zum Lüften ausbreitete, riss sie aus ihren Grübeleien. Leise befahl sie dem Knecht, dafür zu sorgen, dass vor dem Abendessen auch die Pferde der Gäste genügend Heu und Wasser erhielten. Tom bedachte die beiden Fremden mit einem argwöhnischen Blick, doch er nahm die Laterne an sich und eilte zum Stall.

Cecily ließ die Gewürzmischung nicht sehr lange ziehen. Sie nahm an, dass die Männer möglichst schnell ein heißes Getränk haben wollten und dass es sie nicht störte, wenn es nicht allzu stark gewürzt war. Während sie mit der Kelle das Gebräu in die Becher füllte, dachte sie an Matt. Er war nun Erbe der Ländereien. Wie würde er die schreckliche Nachricht vom Tod des Vaters aufnehmen?

„Ich wäre nicht überrascht, wenn es in den nächsten Tagen schneien würde“, meinte Jack, als Cecily den Männern die Becher reichte. „Der Himmel im Westen, direkt über dem Hochmoor, leuchtet so eigenartig.“

„Das ist der Sonnenuntergang“, wehrte Cecily ab. Die Vorstellung, dass ein Schneesturm sie von der Außenwelt abschneiden könnte und sie zwei ungeliebte Gäste bewirten müsste, war bestürzend. Im Augenblick kam ein Gast einfach ungelegen. Sie wollte sich in ihrer Trauer nicht seinen Wünschen widmen – zudem noch denen eines schottischen Lords. Sie wollte Zeit haben, um für das Seelenheil ihres verstorbenen Vaters und für Diccons sichere Heimkehr zu beten.

„Ist der Becher für mich bestimmt?“ Mackillin riss sie mit seiner Frage aus ihren Gedanken.

Sie nickte und versuchte, ihrem Blick eine Kälte zu verleihen, die sie eigentlich gar nicht verspürte. „Ja, Lord Mackillin. Benötigt Ihr sonst noch etwas? Ich könnte Euch zu einer kleinen Kemenate führen. Sicherlich wollt Ihr doch Eure Reisekleider wechseln und Euch Hände, Gesicht und Füße waschen.“

Seine Augen funkelten aufgebracht, goldgrün leuchtete die Iris. „Mackillin reicht als Anrede. Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, Jungfer Cecily. Aber ich fühle mich wohl und warm unter meinem Schmutz. Außerdem reisen wir sowieso morgen in aller Frühe weiter.“ Er griff nun nach dem Zinnbecher, ohne dass Cecily auf seine Frage geantwortet hätte.

Sie achtete darauf, dass seine Finger die ihren nicht berührten. „Wie Ihr wollt“, antwortete sie brüsk. „Und nun entschuldigt mich.“

Ein Wilder, dachte sie, während sie fast ein wenig zu hastig in die Küche eilte. Dort waren die Frauen schon dabei, die Hühner zu rupfen, und auf einer Steinplatte nahe beim Feuer stand bereits der Teig für weiteres Brot. Cecily schätzte, dass es noch ein wenig dauern würde, bis das Abendessen fertig war. Ihre Hilfe wurde derzeit also nicht benötigt. Aus diesem Grund nahm sie die Lampe vom Schrank, zündete die Kerze an und ging durch die Tür zu der Wendeltreppe, die zu ihrer Kemenate im Turm führte.

Das Haus war vor mehr als hundert Jahren errichtet und befestigt worden, da die Schotten zur damaligen Zeit auch soweit südlich plündernd über die Grenze zogen. Seitdem war das Gebäude immer wieder ausgebaut und renoviert worden. Cecily liebte es und hoffte, dass Diccon nach ihrer Eheschließung einwilligte, hier mit ihr zu wohnen – wie eine einzige große und glückliche Familie. Doch nun fragte sie sich, ob ihre Wünsche jemals in Erfüllung gehen würden. Diccon war schon lange fort, und der frühe Tod des Vaters brachte zwangsläufig auch Veränderungen mit sich. Tränen liefen ihr über die Wangen.

In ihrer Schlafkammer war es warm. Von der Kohlenpfanne, die man früher am Tag dort aufgestellt hatte, leuchtete ein schummeriges Licht. Draußen war es bereits dunkel, und da Cecily hörte, dass ein Sturm aufkam, schloss sie schnell die Läden.

Anschließend ließ sie sich müde auf ihr Bett sinken. Ihr Herz schmerzte vor Kummer. Sie war traurig und wünschte nichts mehr, als sich in den Schlaf flüchten und damit alles vergessen zu können. Mackillin! Wollte er wirklich keine Belohnung? Konnte man ihm glauben? Und was hatte er damit gemeint, als er sagte, sie würde seinen Preis nicht zahlen wollen, wenn er ihn einforderte? Sie erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, als seine Lippen die ihren berührten und er seine Brust gegen ihren Busen drückte. Wollte er vielleicht andeuten, dass er als Belohnung ihre Jungfräulichkeit für sich beanspruchen wollte? Der Gedanke trieb ihr die Röte in die Wangen. Eiligst stand sie auf und ging zu der Truhe am Fußende ihres Bettes.

Sie hob den schweren Deckel, schob ihn zur Seite und leuchtete mit der Laterne ins Innere der Truhe. Nach dem Tod ihrer Stiefmutter hatte Cecily mithilfe ihrer Zofe Martha Trauerkleider genäht, die sie bei der Beerdigung und viele Monate danach noch trug. Auch wenn es für den Vater in Yorkshire kein Begräbnis, sondern nur eine Gedenkmesse geben sollte, wollte Cecily seine Erinnerung in Ehren halten. Das bedeutete für sie, für die Zeit der Trauer angemessene Kleidung zu tragen.

Sie stellte die Lampe auf den Boden und zog aus der Truhe eine schwarze Surkotte und ein schmuckloses schwarzes Kleid. Aus dem Krug, der auf einem kleinen Tisch stand, füllte sie Wasser in eine Schüssel und wusch sich Gesicht und Hände. Mit dem schweren Leinentuch, das ihr Vater einst von einer der großen Handelsmessen auf dem Kontinent mitgebracht hatte, trocknete sie sich ab. Danach zog sie die schmutzigen Schuhe, die wollene Hose und das Obergewand aus. Über eine cremefarbene Wolltunika streifte sie das schwarze Gewand aus der besten Schafswolle, die die Pächter ihres Vaters produzierten. Darüber zog sie die mit Seide gefütterte und wattierte Surkotte mit dem Zobelbesatz, der aus den baltischen Ländern stammte und in Brügge gekauft worden war.

Schließlich langte sie noch einmal tief in die Truhe und holte eine würzig riechende Schatulle aus Zedernholz hervor. Dieser entnahm sie eine Gürtelkette, deren Glieder aus silbernen Blättern bestanden, und legte sie sich um die Taille. Als Letztes griff sie zu einer fein gearbeiteten Silberkette mit einem Kruzifix, die sie sich um den Hals legte. Aus einem Stoffbeutel zog sie schwarze Bänder hervor, die sie sich in die Zöpfe flocht. Als sie damit fertig war, schlüpfte sie in flache Schuhe, setzte sich aufs Bett und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte.

Sie war innerlich zu aufgewühlt und dem Weinen zu nahe, um jetzt schon zu den Männern hinunterzugehen. Insbesondere dem schottischen Lord, dessen Augen mehr ausdrückten, als seine Lippen verrieten, konnte sie in diesem Zustand nicht begegnen. Ob er nun ein Lord war oder nicht – im Grunde ihres Herzens hielt sie ihn immer noch für einen Barbar. Sie legte sich nun aufs Bett und dachte darüber nach, wie er sie in seine Arme genommen und geküsste hatte. Während ihr langsam die Augenlider zufielen, schalt sie sich, wie unschicklich und sündig es sei, weiterhin an den Kuss des wilden Schotten zu denken. Stattdessen sollte sie lieber für das Seelenheil ihres Vaters beten und darüber nachdenken, was zu tun war, wenn Matt zurückkehrte. Eine Weile sann sie noch vor sich hin, dann schlief sie ein.

2. KAPITEL

Jack, der vor dem Feuer eingenickt war, schreckte auf. „Wo ist denn meine Schwester?“, fragte er, als er sah, dass Martha den Tisch deckte.

„Ich weiß es nicht, Master Jack. Vor gut vier Stunden habe ich sie zuletzt in der Küche gesehen. Mittlerweile ist das Abendbrot fertig und könnte aufgetischt werden.“

„Vielleicht ist sie in ihrer Kemenate“, meinte Mackillin.

Argwöhnisch musterte Martha den schottischen Lord. Der Ausdruck in dem plumpen Gesicht verriet ihm nur allzu deutlich, was die Hausangestellte von ihm hielt. „Ich schicke Tabitha hinauf, um nach ihr zu sehen.“

Die Magd, die in der Schlafkammer ihrer Herrin nachschauen sollte, fand Cecily schlafend vor. Unsicher, wie sie sich verhalten sollte, da sie wusste, dass ihre Herrin in der letzten Zeit viele durchwachte Nächte aus Angst um Bruder und Vater verbracht hatte, ging sie schließlich wieder hinunter, ohne Cecily geweckt zu haben.

„In Trauerkleidern liegt sie tief schlafend auf ihrem Bett“, meldete sie. „Jungfer Cecily ist bestimmt erschöpft, Master Jack. Schon seit Wochen ängstigt sie sich um den Herrn und um Euren Stiefbruder.“

Unschlüssig blickte Jack zu Mackillin. „Sollen wir sie wecken?“

Mackillin fragte sich, ob sie wirklich schlief oder nur vorgab, dies zu tun, um ihm aus dem Weg zu gehen. Wie auch immer, vielleicht war es besser, ihr vor seiner Abreise am frühen Morgen nicht mehr zu begegnen. „Last Eure Schwester ruhen, Jack. Schlaf wird ihr wohltun. Es ist eine schwierige Zeit für sie. Achtet aber darauf, dass sie warm zugedeckt ist. Ich glaube, es wird eine kalte Nacht.“

„Gut, dann mach, wie der Lord gesagt hat, Tabby. Und danach bring uns das Abendessen“, befahl Jack.

„Sowie eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch“, bat Mackillin lächelnd. „Vor dem Essen möchte ich mir doch gern die Hände waschen.“

Erschrocken wachte Cecily auf. Eine Weile lag sie im Dunkeln und wunderte sich, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie hatte geträumt. Über die Festungsmauern einer Burg war sie gejagt worden, gefolgt von einem riesigen Hund und einer dunklen Gestalt im schwarzen Umhang. Ihr Herz klopfte. Ein Fensterladen klapperte, und der Wind heulte. Sie zögerte aufzustehen. Es war so behaglich und warm im Bett. Aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, sie musste diesen Laden befestigen.

Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie das Kruzifix, das ihr vor der Brust baumelte. Sie umschloss es fest mit der Hand. Einst hatte es ihrer Mutter gehört, sie selbst trug es nur selten, einzig zu besonderen Gelegenheiten und gewiss nicht im Bett. Langsam erinnerte sie sich an das, was geschehen war, und begann zu weinen. Nie mehr sollte sie das Lächeln ihres Vaters sehen, nie mehr seine tiefe Stimme ihren Namen rufen hören. Einen Moment lang saß sie wie versteinert vor Kummer da. Doch dann schlug der Laden wieder, und eiskalt blies der Wind durch die Kammer. Cecily trocknete sich die feuchten Wangen und stieg aus dem Bett.

In der Kohlenpfanne war keine Glut mehr, in der Laterne die Kerze niedergebrannt. Wie lange hatte sie geschlafen? fragte sich Cecily. War es spät am Abend oder gar schon mitten in der Nacht? Ihr Magen knurrte. Sie hatte das Abendessen verpasst. Weshalb hatte man sie nicht gerufen? Nun erinnerte sie sich auch an Mackillin und seufzte. Bestimmt hielt er ihr Benehmen für äußerst unhöflich. Ach was, dachte sie schließlich, was kümmerte sie der Mann. Am Morgen würde er sowieso abgereist sein.

Abermals schlug der Laden gegen die Steinmauer vor dem Fenster, und wieder fuhr ein eisiger Luftzug durch den Raum. Cecily zitterte vor Kälte und dachte daran, dass ihr Vater versprochen hatte, ihr feines flämisches Glas für die Fensteröffnung mitzubringen. Obwohl sich ihre Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wollte sie doch ein Licht anzünden. Sie suchte nach einer neuen Kerze und der Zunderbüchse auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett.

Als ihr ein nächster Windstoß in die weiten Ärmel und unter den Saum ihres Kleides fuhr, wurde ihr klar, dass sie bei einem derartig starken Luftzug keinen Docht zum Brennen bekommen würde. Also legte sie Kerze und Zunder auf die Truhe und ging zum Fenster. Sie langte durch die schmale Fensteröffnung und fühlte sich wie geblendet. Dicke weiße Schneeflocken wehten ihr entgegen. Vergeblich versuchte sie mehrmals, nach dem Schlagladen zu fassen. Sie atmete auf, als sie das Holz endlich greifen konnte, dann aber hatte sie damit zu kämpfen, den Laden vor die Öffnung zu ziehen. Schließlich gelang ihr auch dies, und sie konnte endlich den Riegel vorschieben. Erleichtert trat sie zurück, stieß jedoch mit den Kniekehlen gegen etwas Hartes und fiel über die Kleidertruhe.

Cecily wischte sich mit dem Ärmel über das feuchte Gesicht und sah sich um. Es war nun so dunkel in der Kemenate, dass sie eben noch die Umrisse der Tür erkennen konnte. Ihr Magen meldete sich wieder. Warum hatte man sie nicht geweckt? Vielleicht hatte Mackillin Jack mit Vaters Wein betrunken gemacht und war nun dabei, das Haus auszurauben. Vor Angst blieb ihr fast das Herz stehen. Ihr Bruder vertraute diesem Mann zwar. Dennoch, dessen war sie gewiss, würde sie keine Ruhe finden, bevor sie sich nicht selbst überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war.

Also griff sie erneut nach der Kerze und der Zunderbüchse. Es gelang ihr jedoch nicht, im Dunkeln einen Funken zu erzeugen. Sie konnte nur hoffen, dass sie auch ohne ein Licht sicher den Weg über die Treppe nach unten fand. Dass Jack mit durchschnittener Kehle in der Halle lag, daran wagte sie nicht zu denken, und schon gar nicht an die Dämonen oder Geister, die manch einer für die Seelen der Toten hielt und die zurückkamen, um die Lebenden heimzusuchen. Sie umklammerte ihr Kruzifix, betete, dass Gott ihren Vater in den Himmel aufnehmen würde, und tastete sich an der Wand entlang zur Tür.

Im Treppengang war es nicht ganz so stockfinster. Ein wenig Licht drang durch die schmale, lanzettenförmige Öffnung im Mauerwerk herein. Cecily blinzelte durch diese, und das Herz wurde ihr schwer. Schnee bedeckte die Landschaft und fiel immer noch in großen, dicken Flocken. Bei diesem Wetter war an eine schnelle Abreise des barbarischen Lords nicht zu denken. Vorsichtig, die Hand immer an der Mauer, ging sie die Treppe hinunter. Hinter der Tür zum Turmhaus, im fensterlosen Gang, blieb sie stehen und versuchte, sich zu orientieren. Auch hier konnte sie noch den Sturm wüten hören, wenn auch wesentlich schwächer. Klopfenden Herzens nahm sie eine Stufe nach der anderen, lauschte ängstlich und blinzelte angestrengt ins Dunkle, das ihr wie das leibhaftige Böse vorkam. Endlich berührte ihre Hand Holz. Eine Tür. Das musste die Küchentür sein. Erleichtert tat sie einen Schritt vorwärts. Leise quietschte der Riegel. Sie schrak zurück. Die Tür wurde geöffnet. Das Licht einer Laterne blendete sie. Ein unterdrückter Fluch, jemand griff nach ihrer Hand.

„Gütiger Gott, Ihr seid es, Jungfer Cecily? Was kriecht Ihr denn hier im Dunkeln herum? Ich hätte Euch verletzen können“, sagte Mackillin, während er die Laterne senkte.

Cecily brachte kein Wort heraus. Flüchtig nahm sie Mackillins wirres Haar und sein unrasiertes, markantes Gesicht wahr, als sie benommen vor Hunger und seelischem Druck gegen ihn schwankte. Mit einem Kraftausdruck fing er Cecily auf, legte den Arm um sie und trug sie mehr, als dass sie selbst ging, in die Küche. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber das war, als wollte sie mit einer Feder eine Kerbe in einem Schild verursachen. „Lasst mich los“, wehrte sie sich.

„Nur wenn ich wirklich sicher bin, dass Ihr nicht ohnmächtig werdet.“

„Ich werde nicht ohnmächtig.“

„Doch.“ Er stellte die Lampe auf den Tisch, danach setzte er sich auf einen Stuhl beim Herdfeuer und zog Cecily zu sich aufs Knie.

„Was soll das?“ In panischer Angst schlug sie nach ihm.

„Nun beruhigt Euch, kleine Närrin. Ich will Euch doch nichts antun.“

„Das glaube ich nicht. Wo ist Jack?“ Hysterisch sah sie sich um.

„In seinem Bett natürlich, wo jeder vernünftige Mensch um diese Zeit ist. Und nun haltet endlich still. Nur wenn Ihr versprecht, mir in Ruhe zuzuhören, lasse ich Euch los.“

Sie sah ihn nachdenklich an. „Na, dann erzählt einmal, was Ihr hier in unserer Küche zu suchen habt.“

„Ich hörte ein Klopfen und glaubte zunächst, es könnte ein Reisender sein, der vom Weg abgekommen ist oder eine Bleibe sucht“, erklärte er ruhig. „Ich hatte keine Ahnung, welche Stunde es war, als ich in dunkler Nacht aufwachte. Da ich die anderen Leute nicht aufwecken wollte und nicht wusste, ob es Feind oder Freund war, der vor der Eingangstür stand, bin ich zur Küchentür gegangen. Ich habe nach draußen geschaut und gesehen, dass in einer solchen Nacht kein klar denkender Mensch unterwegs ist.“ Seine Miene verdüsterte sich. „So wie es aussieht, werden wir morgen früh auch nicht weiterreisen können.“

„So hoch liegt der Schnee bestimmt nicht“, versicherte sie.

„Vielleicht. Ich hoffe es. Meine Feinde werden sich meines Landes bemächtigen, wenn ich zu lange hier aufgehalten werde.“ Sie wunderte sich, wer wohl diese Feinde sein mochten, kam aber nicht dazu zu fragen, denn er sprach schon weiter. „Und weshalb seid Ihr durchs Haus gewandert?“

„Ich bin aufgewacht, weil der Wind den Fensterladen gegen die Mauer schlug. Ich konnte ihn wieder befestigen. Danach habe ich bemerkt, wie hungrig ich bin, und wollte mir etwas zu essen holen.“

„Ach ja, natürlich, Ihr habt das Abendessen verschlafen. Es ist noch genug übrig geblieben.“

Cecily sah eine weiße, gesunde Zahnreihe im Feuerschein glänzen, spürte, wie sein Griff sich lockerte, und sprang wie von der Tarantel gestochen mit einem Satz von seinen Knien. „Ich will Euren Schlaf nicht weiter stören, Lord Mackillin.“

Sie ging zum Tisch und lehnte sich Halt suchend gegen die Kante. Misstrauisch beobachtete sie Mackillin aus dieser Distanz und wartete angespannt, dass er nun endlich die Küche verließ. Doch er rührte sich nicht. Sie versuchte, sich zu beruhigen, und ging langsam zur Feuerstelle, in der ein riesiges Holzscheit lag, dessen Unterseite rot glühte. Es glimmte die ganze Nacht über und musste am Morgen nicht erneut entfacht werden, was manchmal durchaus keine leichte Aufgabe war. Ein paar Schritte neben der Feuerstelle lag ihr Lieblingshund. Er zuckte im Schlaf.

„Ihr erinnert mich an die Nacht … ganz schwarz und silbern“, sagte Mackillin plötzlich.

Autor

June Francis
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