Romana Exklusiv Band 325

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GESTÄNDNIS IM ORCHIDEENGARTEN von NINA HARRINGTON

Sara ist so ganz anders als die Frauen, die Topmanager Leo sonst kennt. Sie lebt auf dem Land und züchtet Orchideen. Je mehr ihn ihre Anmut bezaubert, desto heftiger quält ihn, was er ihr gestehen muss: Seine Familie plant einen Hotelbau. Dort, wo Saras geliebter Orchideengarten liegt ...

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  • Erscheinungstag 24.07.2020
  • Bandnummer 325
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748913
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nina Harrington, Myrna MacKenzie, Marion Lennox

ROMANA EXKLUSIV BAND 325

1. KAPITEL

„Guten Tag, ist das hier das Büro von Sara Jane Fenchurch? Der Frau, die es soeben in die engere Wahl zur Unternehmerin des Jahres geschafft hat? Am Telefon wartet das Orchid Growers Monthly-Magazin, sie wollen unbedingt ein Exklusivinterview. Sind Sie das, Miss Fenchurch? Sehe ich da ein zufriedenes Grinsen auf Ihrem Gesicht?“

Sara lehnte sich in den alten Bürostuhl zurück, den sie neulich aus einem Abfallcontainer geangelt hatte, und ließ spielerisch einen Stift durch ihre Finger gleiten. Ihre beste Freundin Helen stöckelte auf gefährlich hohen Absätzen herein, wischte mit perfekt manikürten Händen den Staub von einem alten Esszimmerstuhl und ließ sich geziert auf der Kante nieder.

„Meinen Sie mich?“, fragte Sara mit gespieltem Erstaunen und legte affektiert ihre Hand auf die Brust. Dann klimperte sie dramatisch mit den langen Wimpern und sah auf den Zeitungsausschnitt an der Wand des kleinen Holzkabuffs, das ihr als Büro diente. Das Bild hatte ein Fotograf der Lokalpresse genau in dem Moment geschossen, als sie vom Vorsitzenden der Jury beglückwünscht wurde. Sie sah so erschrocken in die Kamera wie ein vom Scheinwerferlicht geblendetes Reh.

„Vielleicht hole ich dieses Jahr den Preis. Das wäre gut fürs Geschäft. Cottage Orchids könnte ein wenig Werbung gebrauchen.“

Helen schnaubte spöttisch und wischte eine Spinnwebe vom Rock ihres tadellos gepflegten bordeauxroten Kostüms. „Natürlich gewinnst du, und deine Orchideen werden weggehen wie warme Semmeln. Allerdings …“, mit strengem Blick musterte sie die Freundin, „… musst du mehr auf deinen Stil achten, wenn du die Jury überzeugen willst. Fangen wir doch gleich bei diesem komischen Kugelschreiber an.“

Sie versuchte, ihr den Stift aus der Hand zu nehmen, doch Sara war viel zu geschickt und hielt ihn nun außerhalb von Helens Reichweite in die Luft.

„Lass mir ja meinen Lieblingsstift.“

„Er ist giftgrün und hat eine Plastikblume als Aufsatz. Das wirkt nicht besonders professionell.“

„Er lag einer Bestellung von Orchideenerde als Werbegeschenk bei und schreibt wunderbar. Teure Füller sind was für verwöhnte Luxusgören. Ich muss jeden Penny umdrehen, um endlich mit dem Betrieb expandieren zu können.“

Seufzend schüttelte Helen den Kopf. Dann grinste sie Sara an und sagte mit gespielt hoher, übertrieben damenhafter Stimme: „Nein, dieser Mangel an Eleganz – es ist eine Schande!“

Sara prustete vor Lachen, steckte den Stift mit dem Blumenende nach vorn hinters Ohr und stemmte die Ellbogen auf den dicken Stapel Unterlagen, der auf dem alten Küchentisch, an dem sie arbeitete, lag. Die Rektorin der Schule, auf der sie und Helen sich kennengelernt hatten, war eine ehemalige Schauspielerin und liebte es, ihren Ermahnungen stets den nötigen dramatischen Akzent zu verleihen. Helen konnte sie hinreißend nachmachen.

„Immerhin hat ihr eine von uns beiden in der Hinsicht keine Schande gemacht.“ Lachend kniff Sara die Augen zusammen und fügte hinzu: „Du bist viel zu gut gelaunt für eine Frau, die eben ein Jahr älter wurde. Was führst du im Schilde? Lass mich raten: Du willst die Geburtstagsfeier hier in meinem idyllischen kleinen Heimatdorf abblasen und lieber mit deinem geliebten Caspar auf eine einsame Insel im Pazifik fliegen.“

„Spinnst du? Ich liebe dieses Fleckchen Erde, seit sich deine Großmutter während unserer Schulferien so liebevoll meiner erbarmte.“ Sie setzte einen unschuldigen Blick auf. „Nein. Es geht eher um dich.“

Grinsend ließ sie ihre teuer gepflegten, makellosen Zähne blitzen. „Es hat ein wenig Überzeugungsarbeit gebraucht, aber am Ende konnte Caspar seinen Kollegen Leo doch überreden, zu meiner Geburtstagsfeier zu kommen. Ist das nicht großartig?“

Sara schüttelte ganz langsam den Kopf. „Oh nein, das tust du mir nicht an. Nicht schon wieder. Nur weil ich keinen Freund habe, heißt das noch lange nicht, dass du mir jeden alleinstehenden, geschiedenen oder aus anderen Gründen freilaufenden Mann andrehen musst.“

Helen seufzte resigniert. „Er würde perfekt zu dir passen. Sieh es als kleines Dankeschön dafür, dass du uns das Hochzeitsbouquet gestaltest. Außerdem hat Caspar nicht viele Freunde, Leo Grainger wird also auch unser Trauzeuge sein. Komm schon. Ich finde die Vorstellung, dass ich heirate, während du noch nicht einmal einen Liebhaber hast, bestürzend. Vielleicht amüsiert ihr euch ja prächtig?“

Sara nahm einen Stapel hoch und ließ ihn geräuschvoll wieder auf den Tisch krachen. „Ich hab wirklich Wichtigeres zu tun. Gut, dass du erst in vier Wochen heiratest. Morgen Vormittag habe ich ein Treffen mit dem Veranstaltungsmanager des Hotels, um einen wichtigen Auftrag an Land zu ziehen. Ich habe wenig Zeit für Romantik im Augenblick. Außerdem war meine letzte Beziehung nicht gerade ein Volltreffer, wie du weißt.“

Helen hüstelte. „Das ist drei Jahre her, und ich will von dem Dreckskerl wirklich nichts mehr hören. Er hat dich damals auf übelste Weise sitzen lassen.“

„Abgehauen nach Australien, mit seiner kleinen Büroleiterin.“ Sara presste kurz die Lippen zusammen. „Nein, meine Liebe. Herzlichen Dank, aber kein Bedarf. Caspars Freund wird sich sicher auch ohne mich und meine langweiligen Geschichten übers Orchideenzüchten amüsieren.“

Helen schniefte dramatisch und sagte dann pikiert: „Wie du willst. Aber es ist der letzte Abend, den wir beide zusammen in Freiheit verbringen könnten, denn bereits in ein paar Wochen werde ich Mrs. Caspar Kaplinski sein. Ich muss mich schon sehr anstrengen, um zu verstehen, dass du diese letzte Gelegenheit, noch dazu an meinem Geburtstag, nicht mit mir teilen willst. Ich werde es kaum ertragen, dass meine geliebte Brautjungfer heute Abend einsam und verlassen in ihrer Bude sitzt, während wir uns amüsieren.“

Sie schluchzte und betupfte dann bühnenreif die inneren Augenwinkel mit einem seidenen Taschentuch.

„Das ist seelische Erpressung. Und mein hübsches Häuschen hier ist keine Bude! Bis eben fandest du es allerliebst.“

„Dann sind wir uns ja einig“, sagte Helen mit einem breiten Grinsen und sprang auf. „Du spielst heute nicht Aschenputtel, sondern bereitest dich auf einen großen Auftritt vor. Ich erwarte dich um acht am Hintereingang mit den Kleidern und Requisiten. Leo wird bei deinem Anblick dahinschmelzen. Es wird ein unvergesslicher Abend, glaub mir.“

„Höre ich da Verkleidung? Helen, warte doch!“

Während Sara auf den Stuhl starrte, auf dem Helen eben noch gesessen hatte, war diese schon zur Tür hinaus. Was sollte das werden? Ein Kostümball oder ein Blind Date? Sie schloss die Augen und hatte den schrecklichen Verdacht, dass sie den Abend noch bereuen sollte.

„Hey, alter Knabe“, erklang Caspars Stimme durch die Freisprechanlage seines Autos. „Wo bist du, Leo? Helen ist schon panisch, weil sie fürchtet, du drückst dich vor deinem Blind Date heute Abend. Bitte hilf mir, sie zu beruhigen.“

„Du glaubst ja wohl nicht, dass ich vor einer schönen Frau davonlaufe?“ Leo stutzte. „Aber es ist doch hoffentlich nicht schon wieder eine von Helens alten Schulfreundinnen?“

Das Schweigen am Ende der Leitung bestätigte seine schlimmsten Vermutungen. „Aber sie ist anders als die anderen Mädchen vom Lande, sie ist wirklich smart und echt klasse.“

„Schon wieder ein Landei?“ Leo lachte auf. „Du weißt doch, dass ich ein Stadtmensch bin und Landpomeranzen nicht mein Ding sind. Hält Helen mich für dermaßen verzweifelt? Oder sattelt sie gerade um auf professionelle Kuppelei?“

„Helen ist ein Juwel! Sie sorgt sich eben aufopfernd um ihre Freunde. Aber mal im Ernst: Wann kommst du ungefähr an? Ich muss dein Kostüm noch besorgen.“

Leo sah aufs Navigationsdisplay. „In etwa zehn Minuten bin ich bei dir. Hotel Kingsmede Manor war schon am Ortseingang ausgeschildert.“ Dann hielt er inne. „Moment mal, Caspar. Hast du gerade Kostüm gesagt?“

„Großartig, dann klingle durch, sobald du dein Hotelzimmer bezogen hast.“

Caspar legte auf, und Leo fuhr die sonnendurchflutete Allee entlang, bis er das einzige Hotel dieses verschlafenen Nests erreicht hatte.

Ein Blind Date! Caspar hatte gut daran getan, es ihm erst wenige Minuten vor Ankunft mitzuteilen. Im Augenblick hatte er wirklich Wichtigeres zu tun, als sich auf solch einen Unfug einzulassen.

Doch er würde der Höflichkeit halber mitspielen und einen der seltenen Abende, die er mit Caspar verbringen konnte, trotzdem genießen. Zudem hatte Helen heute Geburtstag. Der Rest des Wochenendes würde allerdings harte Arbeit werden.

Er hatte Caspar bisher verschwiegen, dass er im Grunde wegen etwas anderem hier war. Seine Tante Arabella hatte ihn gebeten, mit niemandem darüber zu sprechen. Vor drei Jahren hatte sie Kingsmede Manor gekauft und für die Sanierung und Umgestaltung zu einem Hotel zusätzlich viel Geld bezahlt. Nun hatte sie seine Beratungsfirma für ein Erweiterungsprojekt beauftragt.

Sie war fest entschlossen, den maximalen Gewinn aus ihrer Investition herauszuholen. Der neueste Plan war, das Grundstück neben dem Hotel aufzukaufen und darauf einen Spa- und Wellnessbereich zu erbauen. Doch Arabella wollte eine zweite Meinung einholen, bevor sie den Startschuss gab, nämlich seine Meinung.

Normalerweise schickte er für solche Zwecke einen Mitarbeiter, doch in dem Fall verhielt es sich anders. Er verdankte seiner Tante so viel, er würde es ihr kaum je zurückzahlen können. Darum machte er sich persönlich auf den Weg in die Provinz und hinterließ einen Schreibtisch in London, auf dem sich die Arbeit türmte. Die letzten Monate waren extrem arbeitsintensiv und anstrengend gewesen.

Und nun musste er hier innerhalb von knapp einer Woche einen tragfähigen Erweiterungsplan ausarbeiten. Am nächsten Freitag wollte der Vorstand der Hotel-Gruppe in Kingsmede Manor tagen, um sich seine Vorschläge anzuhören.

Das an sich war für Leo nicht ungewöhnlich.

Als Unternehmensberater war er erfolgreich und wurde von vielen Firmen dafür bezahlt, in schwierigen Zeiten harte Entscheidungen zu treffen, um deren wirtschaftliches Überleben zu sichern. Er war bekannt dafür, genau das höchst professionell auszuführen. Doch diesmal hatte die Sache einen persönlichen Hintergrund.

Er umklammerte das Lenkrad.

Der Rizzi-Gruppe gehörten viele der schönsten Boutique-Hotels auf der Welt. Im Grunde war es ein Familienunternehmen, das von einer Person beherrscht wurde: von seinem Großvater Paolo Leonardo Rizzi. Dem Mann, der wie selbstverständlich davon ausging, dass jeder auf sein Kommando hörte, ganz besonders seine Familie. Dem Mann, den Leo für seine Unbarmherzigkeit hasste.

In Paolo Rizzis Welt gab es keinen Platz für Emotionalität oder Rücksichtnahme, alles, was zählte, war Business und sein Hotel-Imperium.

Seine Tante Arabella erwartete von ihm am Freitag also einen besonders ausgeklügelten Plan für die Weiterentwicklung des Hotels. Ein raffinierter Schachzug von ihr, denn so erhielt er endlich Gelegenheit, eine alte Rechnung mit dem Großvater zu begleichen, der vor vielen Jahren seine eigene Tochter und deren Familie verstoßen hatte.

Leo war entschlossen, ihm zu zeigen, dass er damals einen großen Fehler begangen hatte.

Er würde ihnen einen grandiosen Vorschlag unterbreiten, wie Kingsmede Manor mehr Profit abwerfen konnte, und bis Freitag würde er kein Sterbenswörtchen darüber verlieren, zu niemandem. Ganz einfach.

Leo verlangsamte das Tempo, um in die Hotelauffahrt einzubiegen, einer von Birken gesäumten Allee. Die Wipfel der alten Bäume bildeten ein grünes Dach, die tagsüber die Augen vor der Sonne schützten. Jetzt, um acht Uhr abends, zauberten sie ein prachtvolles Lichtspiel auf die Windschutzscheibe seines Sportwagens.

Diese Bäume waren ganz bestimmt schon vor langer Zeit gepflanzt worden, um die damals noch mit Kutschen vorfahrenden Gäste zu beeindrucken. Im Dossier zu Kingsmede Manor, das seine Tante ihm geschickt hatte, stand, dass das Hotel einst der Privatwohnsitz einer adligen Familie gewesen war, die vor drei Jahren hatte verkaufen müssen.

Das war ein wichtiger Punkt auf seiner Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal für das Hotel. Amerikanische Touristen waren ganz vernarrt in englische Gutshäuser, besonders wenn sie unter Denkmalschutz standen und früher einmal kauzigen Adligen gehörten.

Leo kniff die Augen zusammen, als am Ende der Allee das Hotel in den Blick rückte. Vor dem Eingang war eine große Brunnenanlage mit einer beeindruckenden Fontäne.

Leo lächelte anerkennend. Sehr beeindruckend. Kein Wunder, dass seine Tante sofort zugegriffen hatte. Sie hatte einen untrüglichen Geschäftsinstinkt und Geschmack obendrein.

Wenig später parkte er den Wagen vor dem Eingang, öffnete die Autotür und schwang sich mit den schwarzen Designerstiefeln voran elegant aus seinem Sportwagen, der Rest seines über eins fünfundachtzig großen, durchtrainierten Körpers folgte. Leo wusste genau, wie man ein kommerzielles Unternehmen auf Vordermann brachte; was er anpackte, wurde ein Erfolg. Jedenfalls stand das oft auf den Wirtschaftsseiten der internationalen Presse zu lesen.

In der globalen Geschäftswelt war sein Faible für edles Design bekannt, und er pflegte dieses Image. Seine Kunden erwarteten Prestige und Resultate auf höchstem Niveau, und beides bekamen sie von ihm. Ihnen war es gleichgültig, ob er einst, als Handlanger seiner Tante in einem ihrer Hotels in London angefangen hatte. Er wurde von ihnen bezahlt, um ihre Unternehmen voranzubringen, um den Gewinn zu steigern oder die Rendite zu erhöhen, alles andere war unwichtig. Es ging ums Geschäft, nicht um sein Privatleben.

Und so wollte er es auch im Fall von Kingsmede Manor halten.

Er öffnete den Kofferraum, um seine Reisetasche aus Leder herauszuholen. Er hoffte, dass sich dieses Hotel wenigstens dadurch auszeichnete, ausnahmsweise nicht überall diese langweiligen Orchideen auszustellen, die im Augenblick dem internationalen Standard und Geschmack zu entsprechen schienen. Jedenfalls daran gemessen, wie viele Hotels weltweit diese komischen Pflanzen herumstehen hatten. Sein Ding waren sie nicht.

Gegen neun Uhr abends durchquerte Sara in ihren Riemchensandaletten das Foyer mit dem weißen Marmorboden. Am Fuß der weit geschwungenen Flügeltreppe hielt sie inne, um den Schriftzug auf dem vom Geländer herabhängenden roten Spruchband zu lesen. Sie musste grinsen.

„Hollywood Nights“ war das Motto, das in goldenen Lettern dort prangte. Nichts Geringeres als Hollywood, schon gar nicht an Helens Geburtstag.

Fröhlich den Kopf schüttelnd ging sie weiter und nahm dabei wahr, dass die prachtvollen Orchideen, die sie vor ein paar Tagen angeliefert hatte, sehr prominent platziert waren.

Diese Nachtfalterorchideen waren ein Traum. In der Mitte der elfenbeinfarbenen Blüte prangte die purpurne Lippe mit goldgelben Sprenkeln. Natürlich ahnte hier niemand, wie viel Mühe und Zeit sie in die Zucht eines solchen Prachtexemplars steckte. Das Ergebnis konnte sich jedenfalls sehen lassen. Zuerst hatte sie eine andere Sorte vorgeschlagen, doch der Veranstaltungsmanager bestand auf der Nachtfalterorchidee. Das zarte Elfenbein korrespondierte perfekt mit dem Holz der großen antiken Konsole im Foyer und dem goldverzierten Spiegel, der einst ihrer Großmutter gehörte.

Ihr brach es damals fast das Herz, als das schöne Familienmobiliar an fremde Menschen versteigert wurde. Doch in dem Fall hatte ihre Mutter recht behalten: Um gebührend zur Geltung zu kommen, mussten schöne Möbel in großen Räumen stehen, nicht in winzigen Wohnungen oder Cottages. Außerdem hatten sie das Geld damals dringend gebraucht.

Die neuen Eigentümer von Kingsmede Manor waren klug genug, sich bei der Versteigerung die schönsten Stücke zu sichern.

Durch die große Eingangstür wehte frische Abendluft herein. Neue Gäste waren eingetroffen, die Sara jedoch nicht kannte. Das war auch kein Wunder, denn vor drei Jahren war sie bereits aus London weggezogen, wo sie sich mit Helen eine kleine Wohnung geteilt hatte. Ihre Freundin war danach ins Schmuckdesigngeschäft eingestiegen und verkehrte nun in völlig anderen Kreisen.

Sara blickte in den Spiegel über den Orchideen und strich die kurzen Fransen aus der Stirn. Früher war sie ein echtes City Girl gewesen, hatte teure Klamotten und hochhackige Schuhe getragen und sich einen Luxusfriseur geleistet. Jetzt konnte sie froh sein, dass verwuschelte Kurzhaarschnitte wieder in Mode kamen.

Sie sah auf die Uhr und merkte, dass sie spät dran war. Sehr spät sogar. Wahrscheinlich wartete ihr komisches Date schon längst auf sie und fühlte sich von ihr versetzt. Oder fürchtete den Moment der Begegnung genauso wie sie?

Sie reckte das Kinn, setzte ein Lächeln auf und betrat den einstigen Salon ihrer Großmutter. Auf Zehenspitzen hielt sie über die Köpfe der anderen hinweg nach ihrer Freundin Ausschau.

Helen war kaum über eins fünfzig groß, und neben ihr fühlte sich Sara immer wie eine Bohnenstange. Deshalb hatte sie die flachen Sandaletten zu dem raffiniert einfachen schwarzen Abendkleid gewählt, das sie – nebst anderen schönen Dingen – von ihrer Großmutter geerbt hatte. Von Helen stammten die Perlenkette und eine große Sonnenbrille, das ebenfalls angebotene unechte Diadem hatte Sara jedoch abgelehnt. Die langen schwarzen Satinhandschuhe und eine Zigarettenspitze reichten ihr, um Audrey Hepburn für eine Nacht zu werden.

Am anderen Ende des Raumes winkte jemand aufgeregt.

Sara arbeitete sich durch die kostümierte Menge zu Helens Tisch an der offenen Terrassentür vor. Von draußen wehte ein lauer Abendwind herein, es war herrlich.

„Wie gut, dass du endlich hier bist“, rief Helen. „Wir müssen sicherstellen, dass wir den Karaokewettbewerb später wirklich gewinnen. Du bist die Einzige im Team, die wenigstens einen Ton halten kann.“

Helen war als Dorothy aus dem Zauberer von Oz verkleidet und sah reizend aus, angefangen beim altmodischen Kleiderrock über ihre roten Glitzerschuhe bis hin zum Körbchen mit dem Stoffhund, der nicht fehlen durfte.

„Na prima, Dotty.“ Kichernd beugte sich Sara zu ihr hinab, um ihr, ohne die aufgemalten Bäckchen zu verschmieren, einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Ich musste meinen alten Kater noch zur Mäusejagd animieren. In den Gewächshäusern wimmelt es nur so davon, doch er war nicht aus seinem Katzenkorb zu bewegen.“

Sie zeigte auf die Kratzspuren am Unterarm. „Hat mich viel Make-up gekostet, um das zu vertuschen. Zum Glück hab ich die langen Handschuhe.“

Helen wedelte mit einer Hand in der Luft. „Ach, vergiss die blöde Katze und konzentriere dich ganz auf die Party. Unser Tisch muss siegen, also streng dich bitte besonders an.“ Sie stippte sich ungelenk mit dem Zeigefinger an die leicht gerötete Nase, und Sara fragte sich, wie viele Gläser Schampus sie wohl schon intus hatte.

Ein großer, breitschultriger Mann im Nadelstreifenanzug und schwarz-weißen Halbschuhen, mit Filzhut und Augenmaske kam auf sie zu. Er tippte an seine Krempe, griff nach Helens Hand, verbeugte sich hüftsteif und küsste sie auf die Handfläche. „Na, Puppe, wie wär’s denn mit uns zwei?“ Er versuchte, einen amerikanischen Gangsterjargon zu imitieren. „Darfst dein olles Schoßhündchen auch mitnehmen.“

„Hallo Caspar, du siehst wirklich elegant aus.“

Enttäuscht schob er die Maske hoch.

„Was hat mich verraten? Na sag schon, Sara?“

Sie deutete auf sein Handgelenk. „Ich glaube, solche Designeruhren waren den Herren des organisierten Verbrechens ziemlich unbekannt.“

Er knurrte leise. „Geschieht mir recht. Warum nehme ich auch von jeder Schmuckdesignerin, die ich heiraten will, Geschenke an?“ Helen und er strahlten sich an.

„Aber du siehst auch umwerfend aus.“

„Helen bestand auf meine Anwesenheit. Sie meint, es ist die letzte Gelegenheit, noch einmal Spaß zu haben, bevor sie sich endgültig vom jungen und freien Teil der Menschheit verabschiedet und sich dir für immer an den Hals wirft.“

Caspar schielte bereits hinüber zur Bar und nickte den Weinkellner mit den Champagnergläsern heran.

„Ich betrachte es als süße Pflicht, meiner zukünftigen Frau bei der Verwirklichung ihrer Ziele nicht im Weg zu stehen. Bin gleich wieder da mit frischen Drinks. Macht euch auf den berüchtigten Kaplinski-Cocktail gefasst.“ Dann schlappte er gangstermäßig mit wiegendem Gang und dramatischen Schulterbewegungen über den glatt polierten Holzfußboden in Richtung Bar.

Sara seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Dieser Mann ist fast zu gut für dich. Wie geht es dem Geburtstagskind?“

Ein wenig unsanft klopfte Helen ihr auf die Schulter. „Fantas-tisch. Ich werde mal eben nach dem Buffet sehen, und schauen, wo dein Blind Date abgeblieben ist. Du rührst dich nicht vom Fleck.“

„Du wirst mich doch nicht hier alleine stehen lassen?“, fragte Sara mit leiser Verzweiflung in der Stimme.

„Natürlich nicht, du musst dich nur ein bisschen unters Volk mischen, dann bist du nicht allein“, erwiderte sie. „Also nur zu, bin in fünf Minuten wieder zurück.“

Sara schüttelte lächelnd den Kopf, während sie Helen hinterhersah, die sofort von einem schwertbewehrten Piraten in ein Gespräch verwickelt wurde.

Dann stand sie auf, schulterte ihre Abendtasche und nahm sich eisgekühlten Champagner von einem Silbertablett, das ein Kellner herumreichte. Er zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte zurück. Es war der Postbeamte des Dorfs, und am Buffet sah sie auch schon dessen Frau mit Platten hantieren. Beide besserten ihr Einkommen auf, indem sie bei besonderen Anlässen im Hotel aushalfen.

Sara war froh, bekannte Menschen zu sehen, mit ihnen konnte sie sich später ein wenig unterhalten.

In dem Augenblick betrat ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann in einem eleganten schwarzen Anzug und einem auffälligen Cape mit rotem Innenfutter, das gut zu Graf Dracula passte, den Saal. Manieriert und etwas steif schritt er durch den Raum, als gehöre er ihm. Er wirkte gebieterisch und unnahbar und sah so unverschämt gut aus, dass Sara fast die Kinnlade herunterfiel. Die Genfee hatte diesen Burschen sehr gern gehabt und verwöhnt.

Er wirkte wie ein Prototyp der modernen, urbanen, internationalen Führungselite, zu der er zweifellos auch gehörte. Aalglatt und stahlhart, ein Mann, der an sich glaubte und gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen, wahrscheinlich ein echter Industriekapitän.

Sara schnaubte leise bei der Erinnerung an all die Männer, mit denen sie früher hin und wieder ausgegangen war, die wie Klone dieses Prototyps aussahen. Sie kannte sie alle, war sie leid und immer wieder enttäuscht worden von den Typen, die in ihr nur die Tochter von Lady Fenchurch sahen und sich im Grunde für sie als Person nicht interessierten.

Zum Landadel zu gehören hatte eben auch seine Nachteile. Zumal sie nicht einmal einen eigenen Adelstitel hatte.

Caspar stürzte sich auf den Fremden, begrüßte ihn überschwänglich und schob ihn dann in Richtung Bar. Als er sich umdrehte, erhaschte sie einen kurzen Blick auf Graf Draculas Gesicht, in dem sie sich für den Bruchteil einer Sekunde wiedererkannte. Auch er kam sich hier sehr alleine, lächerlich und fehl am Platze vor. Als hätte ihn jemand gegen seinen Willen hergeschleppt und mit diesem Kostüm verkleidet.

Leo sah sich erst um und starrte dann mit Schrecken auf den dampfenden Drink, den ihm Caspar eben vor die Nase gestellt hatte. „Du bist dir hoffentlich bewusst, dass niemand außer dir es schaffen würde, mich in einem so lächerlichen Aufzug auf eine Geburtstagsfeier zu locken? Ich mache das Helen zuliebe. Nur dass das klar ist.“

„Wozu hat man Freunde?“ Caspar schwenkte seinen Kaplinski-Cocktail großspurig in der Hand. „Mach dich locker. Und übrigens: Nein, ich habe absolut nichts damit zu tun, dass Helen dir ein Blind Date mit ihrer Schulfreundin aufs Auge gedrückt hat. Sorry, Kumpel, sie allein hat es eingefädelt. Sieh es als Geste der Dankbarkeit, dass wir dein Hotel für die Feier nutzen dürfen.“

Leo tippte sich an die Stirn und hob sein Glas, um mit Caspar anzustoßen. „Es ist mir ein Vergnügen. Das Hotel gehört zwar nicht mir, aber es bleibt in der Familie. Gern geschehen. Helen sieht reizend aus in ihrem Kostüm.“

„Sie sieht immer reizend aus.“ Er klopfte Leo auf den Rücken, der deshalb fast seinen Drink verschüttete. „Am besten du fängst beim Buffet an, während ich meine zukünftige Frau suche. Sie hat noch eine Überraschung im Ärmel, und ich möchte gern vorbereitet sein. Bin gleich wieder zurück.“

Der Gangster schob sich durch die Menge, und seine Schultern schwankten theatralisch mit bei jedem Schritt.

Skeptisch betrachtete Leo den Cocktail, bevor er vorsichtig einen Schluck nahm und sofort würgte. Er griff nach dem nächstbesten Glas Wasser, um nachzuspülen. Der Kellner sah ihn grinsend an. Was brachte einen ansonsten völlig normal funktionierenden Anwalt wie Caspar bloß dazu, ein solch widerliches Zeug zu trinken? Lieber wollte er nüchtern bleiben und sich über die Canapés hermachen.

Dann blieb sein Blick an einer bemerkenswerten Szene hängen. Eine sehr elegante Frau sprach angeregt mit einer Bedienung, die gerade leere Teller und Platten abtrug. Und zwar ganz freundlich, mit viel Gelächter und überhaupt nicht überheblich. Sie war äußerst attraktiv, und ihre Füße wippten mit im Takt der Musik.

Ein ironisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Als er seine Lehrjahre als Kellner und Handlanger im Hotel seiner Tante absolvierte, hatte er es meistens mit furchtbar arroganten, unhöflichen Gästen zu tun. Damals war er zwar froh über den Job, aber er konnte sich nie daran gewöhnen, übergangen oder angeschnauzt zu werden.

Freundliche Gäste, die Hotelangestellte wie Menschen behandelten, waren die Ausnahme. Wie diese schlanke Brünette dort am Buffet mit den kurzen Haaren. Sie sah wirklich gut aus in ihrem kurzen Schwarzen mit den langen Satinhandschuhen und der Perlenkette, die nicht fehlen durfte. Extravagant, cool und irgendwie unbefangen. Ja, das war es. Sie wirkte, als sei sie mit sich im Reinen. Nicht der geleckte, zurechtgemachte Typ Frau, sondern auf natürliche Art hübsch und ganz entspannt.

Die langen, schlanken Beine waren nur ein zusätzlicher Bonus. Das war garantiert kein Mädchen vom Lande, sondern eine elegante, stilbewusste Großstadtlady, die es, wie ihn, aus unbekannten Gründen in dieses gottverlassene Nest verschlagen hatte.

Wahrscheinlich war sie die Einzige, mit der man auf dieser Party ein anständiges Gespräch führen konnte.

2. KAPITEL

Am opulenten Buffet schaufelte Sara eine Delikatesse nach der anderen auf ihren Teller. Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche, und nach drei Kaplinski-Cocktails brauchte sie dringend etwas in den Magen. Das Sandwich heute Mittag war keine ausreichende Grundlage, außerdem war sie nicht einmal sicher, ob sie es aufgegessen hatte. Mit den Satinhandschuhen konnte sie die Buffetzangen zwar nicht richtig greifen, aber der Hunger war größer.

Beim Essen würde sie auf die eleganten Handschuhe wohl verzichten müssen. Doch die leckeren Happen waren es wert.

Gerade als sie ein paar Minipizzen auf den Teller legte, erklang eine vertraute Melodie, die einen wahren Gefühlssturm und leichte Beklommenheit in ihr auslöste. Nur wenige Songzeilen und ein Studioorchester genügten, um sie fast zum Weinen zu bringen.

Das war schon immer so. Mit einer bestimmten Musik assoziierte sie stets bestimmte Menschen und Ereignisse, sie konnte es nicht ändern. Sobald sie erklang, wurde sie zurückversetzt in Momente in der Vergangenheit, die ihr etwas bedeuteten.

Zu blöd, dass das ausgerechnet jetzt passieren musste!

Sie war müde, die Woche war anstrengend gewesen, und das Letzte, was sie nun brauchte, war eine Party, auf der die Songs des Lieblingsmusicals ihrer Großmutter gespielt wurden. Ihre Augen füllten sich mit Tränen bei der Erinnerung, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer geliebten Grandma zu genau dieser Musik durch genau diesen Saal getanzt war und dabei so viel Spaß gehabt hatte.

Sie wollte diese Erinnerung nicht mit fremden Menschen teilen. Nicht auf dieser Party.

Nein, ermahnte sie sich, du wirst jetzt nicht weinen, nicht an Helens Geburtstag.

Außerdem waren ja die Orchideenhäuser als Erinnerung an die Großmutter noch da, die ihr mehr wert waren als das ganze Gutshaus mit all dem kostbaren Mobiliar zusammen. Von ihrer Mutter wurde sie deshalb immer belächelt, aber ihr bedeutete der Auftrag ihrer Grandma, sich um die Orchideen zu kümmern, sehr viel. Genau deshalb hatte sie ihr kleines Unternehmen Cottage Orchids gegründet.

Sie hatte doch allen Grund, zufrieden zu sein und sich toll zu fühlen. Nein, sie würde Helen heute nicht enttäuschen, nicht, nach all dem, was sie für sie getan hatte. Ihr Blind Date war offensichtlich auch noch nicht aufgekreuzt, sie hatte also noch einen Augenblick für sich allein.

Sie brauchte nur einen Drink, um den Kloß im Hals runterzuspülen, dann war alles wieder gut.

Sara setzte ein Lächeln auf, wandte sich dem Nachtisch am Buffet zu und war gerade dabei, ein leckeres Schokoladencremetörtchen mit einem silbernen Servierlöffel aufzutun, als es in der Lautsprecheranlage plötzlich rauschte und pfiff. Sie hörte Helens Stimme, und kurz darauf sah sie sie in der Mitte des Raums auf einem Stuhl stehen. In der einen Hand schwenkte sie das Hundekörbchen, in der anderen ein Mikrofon.

„Hört mal her, Leute, ich bin’s. Danke, dass ihr alle gekommen seid. In fünf Minuten fängt das Karaokewettsingen an, esst also schnell auf und leert die Gläser, damit ihr kräftig losschmettern könnt zum Sound der Hollywoodmusicals, den ich ausgesucht habe. Das wird garantiert ein Riesenspaß!“

Caspar trabte heran, umarmte sie auf Hüfthöhe und hob sie vom Stuhl herunter. Fröhlich lachend gingen sie Arm in Arm zurück an ihren Tisch. Sie wirkten so glücklich. Sara spürte einen Stich im Herzen. Ob sie jemals einen Mann treffen würde, der in ihr nicht bloß die adlige Vorzeigefrau sah, sondern der sie wirklich liebte?

So in Gedanken versunken, bemerkte sie zu spät, dass gerade ein wahrer Ansturm aufs Buffet – oder dem, was davon noch übrig war – losbrach. Gut, dass sie schon bei der Nachtischabteilung angelangt war. Der wollte sie sich nun erneut zuwenden.

Nur leider stand der Mann im schwarz-roten Cape direkt davor. Als sie sich umwandte, drehte auch er sich gerade um, stieß sie am Arm, und das Schokoladencremetörtchen auf dem Silberlöffel in ihrer Hand landete knapp am Herrenanzug vorbei auf dem Boden.

„Oh, tut mir leid. Wie ungeschickt von mir.“ Sie hatte ihn einfach zu spät bemerkt.

Sie blickte in zwei blaugraue Augen, die im Licht des Kronleuchters umso mehr funkelten. Und sie spürte ein Prickeln. Eigentlich mehrere auf einmal.

Dieser Vampir war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Sein ovales Gesicht, sein energisches Kinn, die hohen Wangenknochen wirkten wie von einem Bildhauer der Renaissance gemeißelt, so perfekt und wohlproportioniert.

Der einzige Grund, warum sie nicht sofort dahinschmolz, waren seine grimmigen Falten auf der Stirn. Vielleicht war auch er kein großer Freund von Karaoke?

Sara blinzelte nervös. Es war sicher keine gute Idee gewesen, Kaplinski-Cocktails zu trinken, nachdem sie die Allergietabletten genommen hatte. Doch er sah sie die ganze Zeit auf eine Art an, die sie verstörte. Hallo, schöner Mann! dachte sie.

„Mein Fehler“, sagte er galant. „Ah, verstehe: Ich stand der nächsten Dröhnung Schokolade im Weg. Ich kann wohl von Glück sagen, dass ich das überlebt habe.“

Er bückte sich nach dem Törtchen, das nun ziemlich schmutzig war von den Fusseln auf dem Boden. Als er es in der Hand hielt, floss ihm die Creme über die weißen Vampir-Handschuhe.

Sara hielt ihm eine Serviette hin. „Ich fürchte, das gibt Flecken.“

Leo nickte vielsagend und wischte die Creme ab. Dann nahm er sich ein neues Stück vom Tablett und biss hinein. „Mmmh, Bitterschokolade mit weißer Glasur, gar nicht schlecht.“

Er nahm das ganze Tablett, verbeugte sich wie ein devoter Kellner und hielt es Sara unter die Nase.

„Bitte, Miss Golightly, versuchen Sie doch auch eines. Und nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe schon einen von Caspars grässlichen Cocktails hinter mir.“

Sara musste laut lachen. Er hob den Kopf und lächelte sie freundlich an, dabei bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen. Sie konnte ihm kaum widerstehen.

„Wenn noch eins übrig ist, gerne, mein lieber Graf. Wie reizend von Ihnen.“

Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Saal. „Sind Sie bereit für die ganz große Partysause? Ich muss Sie warnen, Helen ist unerbittlich. Alle kommen dran.“

Er sah sich verschwörerisch um, dann rückte er näher, und sie roch seinen angenehmen Duft. „Därr Fürrrst därr Finstärrnis macht keine Spärränzchen. Niemals. Äss ist nicht elegant.“

„Wie, kein Ständchen fürs Geburtstagskind?“, fragte Sara und hob die Brauen.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe andere Talente.“ Dann senkte er den Kopf und zischte: „Sämtliche Hunde im Umkreis von hundert Meilen fangen an, den Mond anzuheulen, wenn ich loslege. Ich hab’s ausprobiert. Ich bin absolut unmusikalisch. Will mich heute lieber nicht blamieren.“

Als Sara etwas erwidern wollte, wurde sie von einem Riesen im Gorillakostüm angerempelt und hätte fast den Teller fallen gelassen.

„Ich habe eine Idee“, flüsterte sie konspirativ.

Sie blickte sich um und sah, dass der Ausgang zur Terrasse von der Karaokemaschine versperrt war und Helen bereits dabei war, die ersten Sänger zu rekrutieren. Mist. Ich muss mir was einfallen lassen.

„Ich kenne einen Geheimausgang zum Garten. Wir könnten zusammen fliehen und draußen in Ruhe essen.“

Graf Dracula verlor keine Sekunde, griff mit der einen Hand um ihre Taille, mit der anderen seinen Teller und flüsterte: „Ich würde Ihnen bis ans Ende der Welt folgen, Teuerste. Aber machen Sie schnell. Caspar ist im Anmarsch und sucht Opfer. Er ist mit einer Wasserpistole bewaffnet.“

„Jetzt bin ich aber doch neugierig“, sagte der Ausbrecher zur Ausbrecherin, als sie später auf der großen Terrasse flanierten. Gläserklirren, Gelächter, Musical-Ohrwürmer und erbärmliches Karaokegeträller drangen aus dem Saal herüber. Die Party war in vollem Gang, doch sie hatten es sich in Ruhe draußen schmecken lassen, ganz ohne lästige Satinhandschuhe.

„Woher kannten Sie diese Geheimtreppe?“

Wehmütig lächelnd erwiderte Sara: „Ich kenne in diesem Hotel jeden Winkel. Aber das können Sie nicht wissen. Ich bin eine von hier. Im wahrsten Sinn des Wortes.“

Sie sah seinen verwirrten Ausdruck und sagte beiläufig: „In diesem Haus hier bin ich groß geworden. Kingsmede Manor war mein Elternhaus.“ Sie zeigte auf den ersten Stock. „Sehen Sie das Bogenfenster? Da ganz links mit dem Balkon? Das war mein Zimmer. Von meinem Bett aus konnte ich nachts über die Baumwipfel zu den Sternen sehen. Es war märchenhaft.“

„Moment mal. Dieses Haus hat Ihrer Familie gehört?“

„Genau.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin der letzte Nachfahre einer Familie viktorianischer Exzentriker, die dieses Haus vor vielen Generationen erbauen ließ. Vor drei Jahren ist meine Großmutter gestorben, und meine Mutter hat alles geerbt.“

Sie wandte den Kopf ab, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. Es tat immer noch weh. „Mom hatte keine Lust, hier zu leben, außerdem waren wir hoch verschuldet und hätten uns nicht leisten können, das Gebäude instand zu halten.“ Sie machte eine Handbewegung, dann wandte sie sich ihm wieder zu. „Und jetzt ist es ein schickes Hotel.“

„Wow“, sagte er fast ehrfürchtig. „Ist das wahr? Auf diesem prachtvollen Anwesen sind Sie aufgewachsen?“

„Oh ja. Mit acht kam ich ins Internat, doch in den Schulferien war ich immer hier. Wir hatten kein Geld für Extravaganzen, aber für mich war es das Paradies. Ich habe schöne Erinnerungen an früher.“ Sie lächelte, hob eine Braue und fragte dann: „Und wo steht Ihr Schloss? In Transsylvanien?“

„Nein, ich lebe in einem Verlies. Ist allerdings schwierig, heutzutage ordentliches Personal zu kriegen. Es ist sehr feucht und kalt dort unten ohne Zentralheizung.“

„Verstehe. Der moderne Vampir mag es gern warm.“

„So ist es.“ Graf Dracula lehnte über die gusseiserne Balustrade der Terrasse und sah in die Ferne. „Ich beneide Sie um Ihre Kindheit hier.“

Sara stellte sich neben ihn und hielt sich mit den Händen am Gitter fest. Die Kirschbäume hinter dem Haus waren mit Lichterketten geschmückt, und alles wirkte wie im Märchen. Eine laue Brise wehte den Duft von Rosen und Clematis zu ihnen herüber.

Es war ein wundervoller Abend, schon lange hatte sie sich nicht mehr so gelöst gefühlt. Über ihnen leuchteten die Sterne, und ein fahler Sichelmond zeigte sich am Horizont.

Plötzlich war sie unendlich froh, dass sie Helens Einladung gefolgt war.

In London hatte sie immer Heimweh nach Kingsmede Manor gehabt, deshalb war sie wieder zurück aufs Land gezogen.

Schweigend lehnte sie an der Balustrade, sog die warme Abendluft ein und lauschte dem fernen Partygeschehen. Erst jetzt bemerkte sie, wie nahe sie beieinander standen. Sie hörte seinen Atem und den Wind, der sanft durch sein Seidencape raschelte.

Wie aufregend! Es war lang her, seit sie den letzten Abend mit einem gut aussehenden Mann an ihrer Seite verbracht hatte. Noch dazu mit einem, der die Stille genießen konnte. Er sprach wenig und überließ ihr die Konversation, doch sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart und plauderte über dies und das.

Ob sie ihm von der Orchideenzucht erzählen sollte? Oder würde ihn das in die Flucht schlagen? Helen schickte bestimmt gleich ein Suchkommando los, außerdem wartete da drin noch irgendwo ihr ungewolltes Blind Date.

Leichte Schuldgefühle krochen in ihr hoch. Wahrscheinlich wartete dieser Freund von Caspar schon längst auf sie und fühlte sich von ihr verschmäht. Sie musste wieder hineingehen und sich den unangenehmen Tatsachen stellen.

Gleich.

Gleich würde sie zur Party zurückkehren.

Nur noch ein paar Minuten hier draußen mit ihm, dann würde sie sich wieder unters Partyvolk mischen. Sie wollte sich nicht im Garten verstecken und melancholisch vergangenen Zeiten hinterhertrauern, obwohl sie die Begleitung dieses guten und gut aussehenden Zuhörers sehr genoss.

„Ich war schon lange nicht mehr hier“, sagte sie leise. „Mein kleines Haus liegt dort drüben, ich kann das Hotel von meinem Fenster aus sehen. Doch die Terrasse und der Garten sind nun den Hotelgästen vorbehalten, ich habe hier nichts mehr zu suchen. Es ist also eine seltene Gelegenheit für mich.“

„Sie vermissen den geliebten Ort Ihrer Kindheit wohl sehr“, sagte er mit sanfter Stimme und lächelte, als er ihr überraschtes Gesicht sah. „Das merkt man. Vor allem weil …“

„Weil?“, fragte sie mit bebender Stimme, denn sie war es nicht gewohnt, sich einem wildfremden Mann anzuvertrauen. Doch bei ihm war es anders. Sehr merkwürdig.

„Vor allem, weil man Sie mit acht Jahren von hier fort ins Internat geschickt hat.“ Er schnaubte leise. „Mit acht! Ich kann das nicht begreifen. Sie müssen furchtbar gelitten haben.“

Gelitten? Was wusste er schon von ihrem Leid damals. Von dem traumatischen Moment, als ihre Mutter sie einfach weggab, weil sie nichts mit ihrem Kind anfangen konnte. Damals, als ihr geliebter Vater es für das Beste hielt, sie ihrem Schicksal zu überlassen, um in Südamerika ein neues Leben anzufangen, aus Enttäuschung darüber, dass ihm das Luxusleben, das er sich an der Seite einer adligen Ehefrau erhofft hatte, versagt blieb.

Ihr wurde damals der Boden unter den Füßen weggezogen, und bis heute fiel es ihr schwer, wieder festen Tritt zu fassen. Auch in dem Cottage bei den Orchideen, indem sie seit drei Jahren lebte, fühlte sie sich an manchen Tagen heimatlos und verlassen, obwohl es ihr niemand wegnehmen konnte, weil es ganz allein ihr gehörte. Und die Orchideenhäuser, für die sie alle ihre Ersparnisse geopfert hatte.

Sie blinzelte angestrengt. Normalerweise machte sie sich darüber nicht mehr so viele Gedanken, ihr Alltag war mit so viel Arbeit angefüllt, dass sie im Grunde gar nicht dazu kam. Doch die Unterhaltung mit Dracula hatte alte Wunden aufgerissen und Erinnerungen wachgerufen, die sie schnell wieder dorthin verbannen musste, wo sie hingehörten.

Der Verkauf des Landsitzes hatte ihr und ihrer Mutter die Unabhängigkeit ermöglicht, trotzdem war es sehr schmerzlich gewesen.

Sara spürte seinen Blick auf sich ruhen. Er wartete noch auf eine Antwort.

Sie wandte sich ihm zu, und ihr fiel auf, dass seine Augen eigentlich nicht blaugrau, sondern tiefblau waren, wie das Meer bei Sonnenuntergang. Diese Augen sahen sie nun unverwandt an.

In einem anderen Moment hätte sie wahrscheinlich zugegeben, dass er nicht nur gut, sondern umwerfend gut aussah. Das Cape und den eleganten Anzug trug er wie eine zweite Haut. Er war unglaublich anziehend.

Schade, dass sie sich vorgenommen hatte, so lange mit keinem Mann mehr auszugehen, bis der Orchideen-Betrieb richtig lief. Bis dahin wollte sie mit einem freundlichen Lächeln alles fernhalten, was sie ablenken könnte, und die Einsamkeit ertragen, auch wenn es manchmal schwerfiel.

„Nun, sie hatten ihre Gründe, so schlimm war es nicht, die Ferien konnte ich ja immer hier verbringen. Mit meiner Großmutter habe ich mich wunderbar verstanden, sie hat das alte Haus geliebt, besonders die Gärten.“

„Welche Gärten?“ Er sah nur grünes Gras. „Was war hier denn Besonderes? Mir kommt die Wiese ziemlich normal vor.“

Sie grinste breit. „Damals sah es hier ganz anders aus, unsere Gärten waren einzigartig, ganz außergewöhnlich. Von überall her kamen Leute, um sie zu bewundern.“ Sie deutete auf einige Kirschbäume und weiter die Allee hinunter. „Bis zum Dorf sind es nur ein paar Minuten. Die Gärten zogen sich da entlang, sie waren eine Art Gemeingut. Sämtliche Dorffeste wurden dort gefeiert, Hochzeiten, Geburtstage, Familienfeiern. Die Menschen liebten sie.“

Sie lächelte Dracula an, der sie noch immer nachdenklich musterte. „Ich erinnere mich noch an Großmutters achtzigsten Geburtstag. Die Feier fing schon nachmittags an, das ganze Dorf war gekommen, es wurde getanzt und gesungen, und hinterher gab es ein großes Feuerwerk.“

Sara schüttelte den Kopf, und ihre Stimme wurde ganz leise. „Es war ein rauschendes Fest, aber es markierte auch das Ende einer Ära.“ Mit Tränen in den Augen sah sie zum Himmel, und die Erinnerungen überwältigten sie. Sie sah ihre Großmutter in ihrem Ballkleid und mit den schönen Juwelen vor sich, hörte die Musik und war ganz in die Vergangenheit versunken. Als Dracula näher rückte, wurde sie wieder in die raue Wirklichkeit zurückkatapultiert. Das alles war verschwunden, es gab keine Gärten, keine Feste und auch keine Großmutter mehr.

„Tut mir leid, dass ich Sie mit meinen alten Geschichten belästige. Wie peinlich. Eigentlich habe ich mich damit abgefunden, dass das Haus nun einer Hotelkette gehört. Ich kann sowieso nichts dagegen tun. Danke, dass Sie so geduldig zugehört haben.“

Er neigte den Kopf. „Keine Ursache, ich hatte den Eindruck, dass Sie etwas loswerden mussten. Im Übrigen habe ich mich keine Sekunde gelangweilt.“

Im Halbdunkel auf der Terrasse wirkten seine hohen Wangenknochen noch ausgeprägter, sein Kinn resoluter und kantiger. Obwohl er sehr schlank und groß war, wirkte er keineswegs jungenhaft.

Ganz im Gegenteil. Er war ein beeindruckender Mann, sehr maskulin und gut gebaut, sie konnte sich seiner Ausstrahlung kaum entziehen. Seine Körperhaltung, die Art, wie er den Kopf neigte, und seine mehr blauen als grauen Augen, die sie gebannt anblickten, gaben ihr das Gefühl, als sei er nie zuvor einer so faszinierenden Frau wie ihr begegnet.

Hätte sie gewollt, sie hätte ihn berühren können, so nah war er ihr nun. In der nächtlichen Stille konnte sie seinen Atem hören, fast war ihr, als streichelte er über ihre Haut, während er sie einfach nur ansah. Von Ferne drangen Musik und lautes Gelächter an ihr Ohr, doch ihre Sinne waren nur auf ihn gerichtet.

Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Sie wollte es auch nicht.

Plötzlich tat er etwas Überraschendes. Er beugte sich über sie, ihre Körper berührten sich, und für einen Moment verschlug es ihr vor Aufregung den Atem. Würde er sie nun küssen? Lächelnd reckte er sein Kinn, löste den Blick von ihr und pflückte eine Kletterrose, die sich hinter ihr an der Hauswand entlangrankte.

Mit großen Augen beobachtete sie, wie er zwischen Daumen und Zeigefinger die Dornen am Stängel entfernte.

„Eine wunderschöne Rose für eine wunderschöne Frau. Darf ich?“

Sie hatte keine Ahnung, was er vorhatte, nickte jedoch und war überrascht, als er ihre linke Hand nahm. Ganz sachte klemmte er den kurzen Stiel unter das Diamantarmband ihrer Uhr.

„Ich habe wirklich keine Ahnung von Blumen, aber ich hoffe, dieses Arrangement geht durch als kleines altmodisches Anstecksträußchen“, raunte er ihr zu.

Lächelnd nahm sie seine Geste an, froh, dass er in dem Dämmerlicht nicht sehen konnte, wie sie errötete. „Wie aufmerksam, vielen Dank!“

„Sehr schön“, erwiderte er, trat einen Schritt zurück und breitete beide Arme aus, sodass sein Cape im Wind flatterte. „Nun habe ich nur noch einen letzten heißen Wunsch“, sagte er und verneigte sich theatralisch vor ihr. „Schenken Sie mir den nächsten Tanz, schöne Frau? Ich verspreche, ich werde Ihnen weder auf die Zehen treten noch Ihr wundervolles Kleid mit meinen Schokoladenfingern bekleckern.“

„Ich fürchte, ich bin schon vergeben“, erwiderte Sara mit einem leisen Seufzer und sah zum Ballsaal hinüber. „Aber eine Minute habe ich noch.“

Schon hatte er die rechte Hand um ihre Taille gelegt, nahm ihre Hand mit der linken und begann, mit ihr zu tanzen. „Sie spielen unser Lied!“, sagte er lächelnd und zog sie so nahe an sich, dass sie sein Revers an ihren Brüsten spürte.

„Unser Lied?“, fragte Sara erstaunt, während er sie fest an sich presste. Vor Überraschung schluckte sie heftig.

„Natürlich“, sagte er lachend und wiegte sie im Tanzschritt über die Terrasse. „Hören Sie doch hin!“

Es war ein Walzer. In ihrer Fantasie fühlte sich Sara in ein Wiener Ballhaus um die Jahrhundertwende versetzt, wie sie es in unzähligen Filmen gesehen hatte. Sie war weit weg und völlig verzückt.

Wie selbstverständlich bewegte sie sich zum Takt der Musik in seinen Armen, ließ sich von ihm führen und verzaubern.

„Ich weiß, an was Sie nun denken“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie sah ihn an, und er lächelte. „An die blaue Donau und an den Wienerwald.“

„Erwischt!“, rief sie lachend und war froh, dass er ihre wahren Gedanken nicht erraten hatte, die sich sehr wenig um die Donau und dafür sehr stark um seinen Körper drehten.

„Beantworten Sie mir noch eine Frage? Fällt es Ihnen schwer, in dieses Haus zurückzukehren?“

„Ja“, erwiderte sie ehrlich, „aber heute bin ich Helen zuliebe gekommen. Wir treffen uns nur noch selten.“ Mit leicht geneigtem Kopf sah sie zu ihm hoch. „Und woher kennen Sie Caspar? Ich habe gesehen, wie Sie vorhin mit ihm geredet haben. Nichts für ungut, aber Sie sehen nicht wie ein Anwalt aus.“

Sein linker Mundwinkel verzog sich leicht nach oben zu einem kleinen Lächeln, das sein Gesicht leuchten und die kantigen Konturen weicher erscheinen ließ. Plötzlich wirkte er noch viel attraktiver.

„Caspar war früher einmal mit meiner Schwester zusammen. Achtung, jetzt kommt eine Drehung!“ Er trat zurück, die Musik schwoll an zu einem Crescendo, er hob den linken Arm, und Sara wirbelte lachend und etwas ungelenk einmal um die eigene Achse.

Von drinnen hörte man Applaus und Gelächter. Offenbar waren sie nicht die Einzigen gewesen, die versuchten, ihre Tanzstundenkenntnisse aus der Jugend aufzufrischen.

Der nächste Song war laut und scheppernd, es war die Titelmelodie einer alten Zeichentricksendung. Der Vampir zuckte enttäuscht mit den Schultern.

„Stimmt“, murmelte Sara. „Ich fürchte, diesen Tanz werde ich auslassen. Zeit, sich wieder unters Partyvolk zu mischen. Ich danke Ihnen für die Gesellschaft, werter Graf. Darf ich Sie auch noch etwas fragen?“ Sie hatte das Bedürfnis, die plötzliche Distanz zwischen ihnen durch Reden zu überspielen. „Macht es Ihnen etwas aus, Caspar nun mit einer anderen Frau so glücklich zu sehen?“

„Ich will sehr hoffen, dass die beiden glücklich sind, schließlich bin ich zu ihrer Hochzeit eingeladen! Nein, es ist kein Problem für mich, im Gegenteil, ich freue mich für ihn. Meine Schwester ist schon seit Jahren verheiratet und erwartet gerade ein Kind. Ich bin froh, dass Caspar nun auch die Frau seines Lebens gefunden hat, und wünsche ihnen beiden alles Gute.“

Er lehnte sich lässig gegen die Balustrade. „Sie tanzen wirklich gut. Außerdem muss ich Ihnen dankbar sein, denn Sie haben mich vor einer unangenehmen Situation gerettet.“

Breit grinsend vergrub er die Hände in seiner Anzughose. „Stellen Sie sich vor, die liebe Helen hatte ein Blind Date für mich arrangiert! Diese Schulfreundin von ihr ist bestimmt ganz nett, aber ich habe wirklich kein Interesse an irgendeiner kleinen Landpomeranze, die ohne Helens Zutun keine Abendbegleitung abkriegt. Vielen Dank auch. Ich steh nicht auf kleine Mädchen vom Lande, wissen Sie. Und das wird sich auch nie ändern.“

Vorsichtig hielt sich Sara am Geländer fest und richtete den Blick hinaus ins Weite, um nicht in seine Augen schauen zu müssen. War das wirklich möglich? War das besagter Leo, mit dem Helen sie verkuppeln wollte? Caspars Freund?

Sie unterdrückte ein leises Stöhnen. Natürlich, wer sonst sollte es sein!

Ihre Wangen brannten vor Scham. Wie konnte sie nur so dumm sein. Diese Äußerung würde sie ihm nie verzeihen.

Was sollte sie nun tun? Ihm die Wahrheit sagen? Zugeben, dass sie seine Landpomeranze war, und gemeinsam darüber lachen? Spätestens auf Helens Hochzeit würde sie ihm wieder begegnen, sie kam nicht umhin.

Schon jetzt bereute sie die ausgelassenen Momente mit ihm.

Zwar war der Mann gut aussehend, großzügig und ein aufmerksamer Zuhörer – Helen hatte einen guten Riecher, sie wusste genau, was ihr gefiel –, doch der Beau verschmähte sie, wollte nicht ihr Blind Date sein! Das kränkte sie furchtbar, sodass sie darüber völlig vergaß, dass auch sie ihr Blind Date am liebsten versetzt hätte.

Die ganze Freude war verdorben, die Euphorie wie weggeblasen. Sie fühlte sich traurig und elend.

Draculas Worte hatten sie tief getroffen, und mit einem Mal hatte sie sich tatsächlich in dieses Mädchen vom Lande verwandelt, das seine Aufmerksamkeit nicht verdiente. War sie nicht wirklich linkisch, unkultiviert und unattraktiv? Und würde sie nicht immer allein bleiben, weil sich kein Mann zweimal nach ihr umschaute? Das hatte ihr die Mutter am Tag nach Großmutters Beerdigung verächtlich entgegengeschleudert, als ihr damaliger Freund sie einfach sitzen ließ und in seinem schicken Sportwagen nach London zurückbrauste.

Danke, Mom, du hattest wieder einmal recht.

Die ganze unbewältigte Last ihres Lebens schien nun über ihr zusammenzubrechen, und sie fing an, heftig zu zittern. So konnte sie unmöglich zurück auf die Party.

Es war höchste Zeit, zurück in ihren Kokon zu kehren, sie wollte nach Hause, und zwar definitiv ohne diesen Mann, mit dem sie gerade eine wundervolle Stunde hier auf der Terrasse verbracht hatte. Er sah so unglaublich gut aus und wirkte so smart, während sie nun wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken war.

„Ist Ihnen kalt?“, fragte Dracula und hüllte sie, ohne ihre Antwort abzuwarten, in sein Cape. Sie konnte seine Körperwärme noch spüren, roch seinen Duft. Unwillkürlich schlang sie das Cape enger um ihren Körper, um seine Wärme in sich aufzunehmen. Das Zittern ließ nach.

„Danke“, murmelte sie leise, ohne ihn anzusehen. „Ich fürchte, ich muss jetzt nach Hause, die Woche war anstrengend. Caspar wird Ihnen das Cape zurückgeben. Danke, dass Sie mir hier draußen Gesellschaft geleistet haben.“

„Hey, Cinderella, warten Sie doch!“, rief er, als sie sich zum Gehen wandte. „Sagten Sie nicht, Sie wohnen gleich in der Nähe? Ich werde Sie begleiten. Das ist das Mindeste, was ich tun kann zum Dank, dass Sie mir eine peinliche Situation erspart haben.“

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, war er schon an ihrer Seite. Schweigend überquerten sie die Wiese hinter dem Hotel.

3. KAPITEL

Mit Pauken und Trompeten wurde Sara aus dem Schlaf gerissen.

Gähnend zog sie die Decke über den Kopf. Sie musste unbedingt einen anderen Sender einstellen, Klassik in dieser Lautstärke am Morgen war unerträglich.

Während sie sich wieder ins Kissen kuschelte, spürte sie etwas Störendes am Hals.

Sie fühlte mit den Fingern nach und merkte, dass sie noch die Perlenkette trug.

Das gab unschöne Druckstellen an Hals und Kinn.

Zum Glück war es noch früh am Tag, sie konnte in aller Ruhe die Spuren der gestrigen Nacht tilgen und sich für das Geschäftstreffen mit dem Veranstaltungsmanager des Hotels vorbereiten.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Saft wäre genau das Richtige jetzt, und danach einen schönen, starken Tee.

Langsam öffnete sie die Augen und hob die Bettdecke an. Oha, da gab es noch einigen Erklärungsbedarf. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie aus Müdigkeit das letzte Mal in ihrer Unterwäsche eingeschlafen war. Ihr schwarzes Kleid lag ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl neben dem Bett.

Während sie noch den Kopf über sich selbst schüttelte, war bereits ein dickes braunes Fellknäuel dreist auf ihrem Bett gelandet und verlangte lautstark nach Streicheleinheiten.

„Pasha, du hast hier nichts zu suchen, das weißt du“, sagte sie lachend zu ihrem zimtfarbenen Abessinier-Kater, der sofort anfing zu schnurren.

„Hast du auch Hunger? Ich mache uns nach dem Duschen was zum Frühstück.“

Sie schwang sich aus dem Bett, fühlte sich allerdings recht zittrig und war froh, sich auf den Beinen halten zu können. Heute musste einiges erledigt werden, sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Ihr großer Zeh berührte etwas Hartes auf dem Boden.

Sie wagte es nicht, hinunterzuschauen.

Bitte nicht schon wieder ein unappetitliches Geschenk von Pasha.

„Wenn du wieder im Müll gewühlt hast, gibt’s Ärger!“

Der alte Kater ihrer Großmutter liebte kleine glitzernde Dinge zum Spielen und kramte auch gern in der Abfalltüte nach Fundstücken. Auch alte Nägel, raschelnde Pflanzenmanschetten, Büroklammern und Schmuck waren vor ihm nicht sicher.

„Was ist es diesmal?“

Sie sah hinab.

Und hielt den Atem an.

Es war ein Knopf. Ein großer schwarzer Knopf wie von einem Mantel. Oder wie von einem Cape. Eines von der Sorte, die zum Beispiel Vampir-Grafen nachts ihren Begleiterinnen um die Schultern legten.

Eloise Sara Jane Marchant Fenchurch de Lambert bezweifelte zwar im Leben so einiges, nicht aber die Tatsache, dass sie garantiert kein Kleidungsstück mit solchen Knöpfen besaß.

Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

Denk nach, Mädchen. Denk nach. Was war das Letzte, an das sie sich erinnern konnte?

Die Party. Dracula. Essen auf der Terrasse. Mit Dracula. Tanzen auf der Terrasse. Mit Dracula. Dann verwandelte sich Dracula statt in eine Fledermaus in Caspars Freund Leo und begleitete sie nach Hause. Und dann? Nichts Aufregendes. Sie erreichten ihr Haus, er öffnete ihr. Machte Licht.

Natürlich! Sie hatte das Cape getragen, weil ihr kalt war. Aber sie hatte es ihm zurückgegeben, als sie im Haus waren. Wahrscheinlich ging da der Knopf ab, und Pasha hatte ihn gleich gefunden und später ins Schlafzimmer geschleppt.

Gott, war sie froh. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken.

Dann nahm sie Pasha den Knopf weg, bevor er ihn ruinieren konnte.

„Sorry, aber der muss zurück zu seinem blutsaugenden Besitzer.“

Kopfschüttelnd lief sie ins Badezimmer. Heute Morgen brauchte sie dringend zwei Tassen Kaffee, sonst konnte sie die Unterredung mit dem Hotelmanager am Vormittag vergessen. Es war nicht leicht gewesen, einen Termin am Sonntagvormittag zu bekommen, doch sie wollte ihn unbedingt davon überzeugen, regelmäßig von ihr Orchideen für die Gestecke in Kingsmede Manor zu beziehen.

Natürlich hatte sie vor Helen so getan, als ob finanziell alles in Ordnung war. Sie wollte sie so kurz vor ihrer Hochzeit nicht mit ihren Problemen behelligen. Doch sie brauchte ein verlässliches Einkommen, um besser planen zu können. Sie hatte so viele aufregende Pläne, die sie gerne verwirklichen würde. Dazu brauchte sie dringend mehr Geld.

Sie stellte sich vor den antiken venezianischen Spiegel ihrer Großmutter im Bad. Es war eins der wenigen Stücke, die sie aus Kingsmede Manor in ihr kleines Haus mitgenommen hatte, und das auch nur, weil das Hotel nichts damit anfangen konnte. Der Spiegel hatte nämlich eine kleine Macke, ein Stück Verzierung war irgendwann einmal abgesprungen und nie ersetzt worden. Ihr machte das überhaupt nichts aus.

Sie bürstete sich sorgfältig die Haare und schaute sich an. Eigentlich sah sie ganz manierlich aus, obwohl sie sich nicht einmal abgeschminkt hatte gestern. Der Lippenstift war nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich war alles auf dem Kopfkissen verschmiert. Jetzt aber schnell unter die Dusche, es war bestimmt schon … wie spät war es eigentlich?

Sie suchte nach ihrer Armbanduhr, die sie normalerweise immer vor dem Schlafengehen am Waschbeckenrand ablegte.

Sie lag nicht da.

Stattdessen lag sie auf einem Regal neben dem Spiegel. Und daneben lag ein Platinring mit einem Brillanten in der Mitte.

Mit zittriger Hand griff sie nach dem Ring. Er war ziemlich groß und passte ihr kaum am Daumen – ein Männerring.

Vorsichtig sah sie sich im Bad um, in Erwartung weiterer seltsamer Überraschungen.

Ihr Bademantel hing ordentlich an der Badezimmertür und lag nicht neben der Wanne, wo sie ihn in der Eile gestern Abend vor der Party achtlos hingeworfen hatte. Ihr flauschiges Handtuch hing akkurat mit der lavendelfarbenen Bordüre parallel zum Boden am Halter.

Das sah hübsch aus. Allerdings war es überhaupt nicht ihre Art. Normalerweise hingen ihre Handtücher immer überall, nur nicht am für sie vorgesehenen Halter.

Das bedeutete, jemand Fremdes hatte ihr Handtuch benutzt und ihren Morgenmantel aufgehängt. Und es war bestimmt nicht Helen gewesen, die sich längst an ihre Unordentlichkeit gewöhnt hatte.

Das Einzige, was noch genau so war wie am Abend zuvor, war ihr Wäscheständer, auf dem ihre verwaschenen Spitzen-BHs und seidenen Unterhöschen mit den ausgefransten Rändern vor sich hintrockneten.

Erst dann sah sie, was ihr die ganze Zeit eigentlich schon hätte auffallen können.

Der Klodeckel war hochgeklappt.

Eine Sekunde später schnellte Pasha vor Schreck hoch und versteckte sich rasch unterm Bett wegen des markerschütternden Schreis, den sein Frauchen ausstieß.

„Leo, du Blödmann! Denk nach. Wann hast du ihn das letzte Mal getragen?“

Leo stöhnte leise und rieb sich mit dem Zeigefinger an der Nase. Es gab nur ganz wenige Menschen, die ihn Blödmann nennen durften. Caspar war einer von ihnen, und möglicherweise hatte er sogar recht.

„Ich hab ihn noch gehabt, als ich die weißen Handschuhe für die Party angezogen habe. Später beim Händewaschen hab ich ihn kurz im Bad abgelegt. Danach? Keine Ahnung.“

„Wieso abgelegt? Wer legt denn beim Händewaschen seinen Ring ab?“

„Ich. Du weißt, es ist ein Erbstück meines Vaters. Ich hab sonst wenig von ihm. Deshalb passe ich ganz besonders darauf auf, alles klar?“

„Alles klar.“ Beschwichtigend hob Caspar beide Hände. „Und nach der Party? Du warst doch mit Sara Fenchurch die ganze Zeit auf der Terrasse, vielleicht hast du ihn draußen … Wie? Hey, was hab ich denn gesagt?“

Leo hatte seinen Kopf auf die Tischplatte sinken lassen, ihn mehrmals auf die Frühstücksserviette gehauen, dann gestöhnt und sich mit geschlossenen Augen wieder zurück in den Stuhl fallen lassen. Wie gut, dass sie sich nicht im Speisesaal, sondern auf Leos Zimmer zum Frühstück getroffen hatten.

„Sara Fenchurch? Wie in ‚mein Blind Date Sara Fenchurch‘? War das die Frau in Schwarz gestern Abend?“

Caspar wedelte mit seinem Buttertoast in der Luft. „Na klar. Ich hab euch zusammen am Buffet stehen sehen und später auf der Terrasse …“ Es dämmerte ihm langsam, und er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das hast du gar nicht gewusst?“

Leo schüttelte sehr langsam den Kopf.

„Hat euch Helen denn nicht vorgestellt?“ Dann hellte sich Caspars Miene auf, er lehnte sich hinüber zu Leo und legte ihm die Hand auf den Arm. „Aber du siehst, meine Liebste weiß genau, was sie tut. Ich hab dir ja gesagt, dass Sara eine tolle Frau ist. Helen wird sich freuen. Die beiden sind dicke Freundinnen, anscheinend hat Sara es in letzter Zeit nicht leicht gehabt, doch jetzt habt ihr euch ja gefunden, das ist schön … Was denn? Was ist?“

Leo sah ihn mit kühlem Blick an. „Meinst du, Sara wusste, wer ich bin?“

Caspar zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht, sonst hätte sie wohl nicht mit dir gesprochen. Sie war von Helens Blind-Date-Idee genauso wenig beeindruckt wie du. Warum fragst du? Was macht das für einen Unterschied?“

„Vielleicht einen großen. Es ist schon erstaunlich, was ein Kaplinski-Cocktail, ein bisschen Mondschein und eine schwere Prise Nostalgie mit einem anstellen können. Sie war mit einem Mal total verstimmt, und ich habe sie dann früh nach Hause begleitet.“

Beide schwiegen erst, dann fragte Caspar leise: „Nur nach Hause begleitet?“

Leo nickte ernst.

Caspar sah zur Zimmertür, bevor er sich erkundigte: „Sollte ich noch etwas wissen, bevor Helen kommt? Die beiden Frauen haben keine Geheimnisse voreinander. Ich betone: keine.“ Er blinzelte nervös.

„Ich habe sie ins Haus begleitet, war noch kurz auf der Toilette und bin dann wieder gegangen“, sagte Leo. „Als ich aus dem Bad kam, war sie schon eingeschlafen.“

Caspar seufzte erleichtert und rieb sich die Hände. „Fein, das klingt doch simpel! Du rufst bei Sara an und fragst, ob sie deinen Ring im Badezimmer gefunden hat. Warum schüttelst du den Kopf? Du weißt ja, wo sie wohnt.“

Leo sah seinen Freund an und kniff dabei die Augen zusammen. „Na klar, und dabei erkläre ich ihr ganz beiläufig, dass ich es war, der ihr das Kleid gestern Nacht ausgezogen und sie ordentlich zugedeckt hat, weil sie noch in voller Montur auf dem Bett lag. Das wird sehr lustig, wenn wir beide uns dann auf eurer Hochzeit wiederbegegnen.“

„Du hast sie ausgezogen?“ Caspars Stimme klang fast ehrfürchtig. „Das ist weniger gut. Helen und sie wurden die zwei Musketiere genannt. Weißt du, warum? Eine für alle, beide für eine. Wird die eine blamiert, ist die andere ebenfalls stocksauer.“

„Danke, das macht mir Mut. Ich brauche den Ring unbedingt vor dem Meeting mit dem Familienclan am Freitag. Du musst dafür sorgen, dass Helen mich nicht eigenhändig im Brunnen da draußen ertränkt.“

„Lass mich nachdenken“, sagte Caspar und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Wir brauchen eine Geschichte, die die beiden weder kompromittiert noch blamiert. Etwas, wofür sie dich für ewig lieben werden.“ Caspars Blick blieb an einer kleinen Vase mit drei lachsfarbenen Orchideen hängen. „Natürlich, das ist die Idee, da haben wir es doch schon. Sag’s mit Blumen. Helen macht sich große Sorgen um Saras kleines Blumengeschäft.“

Er beugte sich vor und grinste. „Leo, mein Freund, ich weiß, wie du deinen Ring wiederkriegst und dich gleichzeitig als den edlen Ritter in der glänzenden Rüstung inszenieren kannst. Du musst nur deine Rizzi-Connections spielen lassen, alter Knabe.“

Sara tat, als würde sie etwas in ihrer Aktentasche suchen, und wartete, bis niemand mehr in der Hotellobby war. Dann ging sie langsam zum Büro des Veranstaltungsmanagers und setzte ein Lächeln auf, hoffend, dass man ihr die Aufregung nicht anmerkte.

Sie war etwas zu früh. In zwei Minuten sollte sie Mr. Evans davon überzeugen, sie zu seiner Hauptlieferantin für Orchideen zu machen bei Großveranstaltungen oder Feierlichkeiten im Hotel. Sie wollte ihn als neuen Großkunden gewinnen.

Kundenwerbung war ihr unangenehm, aber Helen sagte immer, es wäre das Allerwichtigste, die Leute von ihrem Produkt zu überzeugen. Und sie hatte recht.

Bis vor drei Jahren hatte sie immer nur getan, was andere ihr aufgetragen hatten. Nun genoss Sara die Unabhängigkeit als freie Unternehmerin. Auf einmal war sie für alle Entscheidungen selbst verantwortlich, egal ob sie richtig oder falsch, gewagt oder eher vorsichtig waren.

Die Veränderung war gut für ihr Selbstvertrauen. Zwar waren die meisten Ersparnisse erst einmal draufgegangen, doch mittlerweile lief der Betrieb ganz ordentlich, und sie konnte davon leben. Nun wollte sie expandieren, ihre Leidenschaft für Orchideen auf eine lukrativere Stufe heben.

Sie war eine Geschäftsfrau, Kundenwerbung gehörte dazu, und dieser Kunde war sehr wichtig.

Kinn hoch, Schultern zurück. Sie wollte da jetzt reingehen.

Da wurde die Tür von innen aufgerissen, und fast hätte sie dem Manager ihre Faust auf die Nase gehauen, weil sie in dem Moment gerade anklopfen wollte.

„Schönen guten Morgen, Miss Fenchurch. Sie sind auf die Minute pünktlich.“ Er schüttelte enthusiastisch ihre Hand, sodass seine modisch bunte Brille auf seiner Nasenspitze tanzte. „Tony Evans. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich bin ein großer Freund von Pünktlichkeit. Darf ich Ihnen Tee oder Kaffee anbieten? Kommen Sie doch rein, ich bitte Sie! Dann können wir gleich loslegen.“

Sara verbarg ihre Überraschung hinter einem freundlichen Lächeln, bei dem sie sich auf die Zunge biss. „Danke, Mr. Evans, aber ich möchte nichts trinken.“

Wie durch ein Wunder gehorchten ihre Beine, und sie folgte ihm in sein prunkvolles Büro, das einst das Zimmer des Butlers war, setzte sich und wartete schweigend, bis er sich ihr gegenüber in einen dicken Ledersessel am Schreibtisch fallen gelassen hatte.

„Wissen Sie, was dieses Hotel zu etwas Besonderem macht, Sara? Ich darf Sie doch Sara nennen? Ich bin mir sicher, wir werden gute Freunde.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Es sind die Kleinigkeiten: Unsere Klientel erwartet Luxus und das gewisse Etwas, und sie bekommen es von uns. Umweltfreundlichkeit, regionale Produkte, lokale Lieferanten. Sie sind die einzige ortsansässige Erzeugerin weit und breit.“

Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er sich nach vorn gebeugt und klatschte in die tadellos manikürten Hände.

„Ich will, dass Sie uns Blumen aus der Region liefern. Ich habe mir Ihr Portfolio angesehen, und es gefällt mir. Sie haben großes Potenzial, junge Frau, ich erkenne Qualität, wenn ich sie sehe. Ich will Ihnen eine Chance geben.“

Sara hielt den Atem an. Das war ja großartig! Nachdem sie seit drei Jahren Tag und Nacht geackert hatte, wollte ihr endlich jemand die Gelegenheit geben, sich mit ihrer Arbeit zu beweisen, mit ihren geliebten Orchideen, den Resultaten ihrer eigenen Hände Arbeit.

Keiner hatte für sie Strippen ziehen müssen, um den Auftrag zu bekommen, oder die Verbindungen zu adligen Kreisen spielen lassen.

Sie allein hatte das geschafft. Ihr Herz schlug wild vor Aufregung.

„Ich will diese Chance nutzen“, sagte sie.

„Bis nächstes Jahr am Valentinstag benötigen wir fast jedes Wochenende neue Gestecke, wir sind restlos ausgebucht. Im Augenblick arbeiten zwei Floristen für uns, die sowohl für die Blumen in den Zimmern als auch für die Gestecke bei Sonderveranstaltungen verantwortlich sind. Sie müssen mich nun überzeugen, dass es möglich ist, bei gleichbleibend hoher Qualität den finanziellen Rahmen nicht zu sprengen. Dann haben Sie den Job.“

Er schob Sara einen blauen Ordner über den Tisch und tippte zur Untermalung seiner Worte mehrmals mit dem Zeigefinger auf den Umschlag.

„Hier sind Unterlagen für die größte Firmenveranstaltung in nächster Zeit. Zeigen Sie mir, dass Sie diesen Großauftrag schaffen, dann unterschreibe ich den Vertrag mit Ihnen.“

Sie blätterte die ersten zwei Seiten durch und hob die Brauen. „Das ist ein ziemlich großes Projekt, aber ich werde Ihnen ein Angebot erstellen und in ein oder zwei Wochen zukommen lassen. In Ordnung, Mr. Evans?“

Er schwieg und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück in seinen Sessel.

„Ich fürchte, so lange kann unser Kunde nicht warten. Er erwartet eine Einzelaufstellung der Kosten bis spätestens Freitag, dann muss Ihr Angebot vorliegen.“

Einen Augenblick lang verschlug es Sara die Sprache. „Mr. Evans, das ist alles wunderbar und aufregend, aber meinen Sie wirklich nächsten Freitag?“

Er nickte und verschränkte die Arme.

Sie schluckte. „Ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen. Aber das sind nur fünf Tage, ich brauche …“

„Die beiden anderen Großfloristen möchten natürlich unbedingt mit uns im Geschäft bleiben. Wie Sie wissen, führen wir zahlreiche Hotels international. Tun Sie mir und sich einen Gefallen, und zeigen Sie ihnen, dass man in der Welt auch als lokaler kleiner Erzeuger mithalten kann.“

Sara blinzelte mehrmals und hätte am liebsten eine Faust in die Luft gereckt. Nur mit Mühe konnte sie einen Triumphschrei unterdrücken. Zahlreiche andere Hotels! Sie würde sie alle beliefern – gar kein Problem!

„Ich habe keinerlei Zweifel, dass Sie mit einem erstklassigen Vorschlag aufwarten werden, Leo Grainger sagt, Sie sind eine der Besten. Und das will etwas heißen …“

Sara sah ihn ungläubig an.

„Leo?“, fragte sie fassungslos und musste sich erst räuspern. „Leo Grainger hat mich empfohlen?“

„Ja, das hat er“, erwiderte Tony Evans und tippte sich mit dem Finger an die Nase. „Mit großem Nachdruck sogar, das macht er sonst selten.“ Er hielt inne und legte die Stirn in Falten. „Natürlich muss man nun sehen, wo Sie neues Land pachten können, so viel ist ja nicht auf dem Markt, das wird ein bisschen Zeit verschlingen. Aber Sie werden uns ja in puncto Standortwechsel auf dem Laufenden halten.“

Jäh schreckte sie aus ihren Träumen und vergaß Leo Grainger sofort wieder. „Standortwechsel?“, fragte sie mit schiefem Lächeln. „Was meinen Sie denn damit? Das muss ein Missverständnis sein, ich habe nicht vor, den Standort zu wechseln.“

Tony Evans klappte der Kiefer herunter, er reckte das Kinn und sagte: „Sie müssten doch das Schreiben von unserem Management bekommen haben. Der Pachtvertrag mit Ihnen wird aufgelöst zum Ende des Jahres. Das ist Teil des Neugestaltungsplans, im Grunde der entscheidende Teil.“

Sara rang mühsam um Fassung und wollte gerade fragen, was das alles zu bedeuten hatte, als das Telefon klingelte. „Tut mir leid, ich muss rangehen“, sagte Tony Evans fast erleichtert. „Ich darf also mit Ihrem Angebot bis Freitag rechnen, Sara? Großartig. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“

Sie war aufgestanden und wollte schon gehen, doch dann wandte sie sich noch einmal um. „Woher kennen Sie eigentlich Leo Grainger?“

„Leo ist anscheinend mit den Besitzern des Hotels verwandt. Er arbeitet als Berater für sie“, antwortete er und zuckte die Schultern. „Also dann, bis Freitag.“

Einen Moment später stand Sara draußen im Flur und hatte das Gefühl, jeden Halt zu verlieren.

Leo Grainger, der sie in ihrem Schlafzimmer ausgezogen, ihre alte Unterwäsche im Bad gesehen und ihre Handtücher fein säuberlich aufgehängt hatte, war der Wirtschaftsberater der Besitzer von Kingsmede Manor.

Schlimmer noch. Er war mit den Rizzis verwandt, denen sie ihr Haus verkaufen mussten.

Deshalb hatte er auch kein Blind Date mit ihr gewollt.

Andererseits hatte er sie dem Veranstaltungsmanager weiterempfohlen.

Was ging hier vor? Hatte er Mitleid mit ihr?

Ihre Finger umklammerten die Aktentasche mit dem Ordner, den Tony Evans ihr eben überreicht hatte. Sie stöhnte.

Sie wusste nicht, ob sie Leo für diesen Auftrag küssen oder in den Hintern treten wollte, weil sie sich als Frau so wertlos und blamiert gefühlt hatte gestern.

Sie schloss die Augen und holte tief Luft.

Im Grunde sollte sie ihm dankbar sein, dass er sie weiterempfohlen hatte, das war nett von ihm.

Dennoch fühlte sie eine große Enttäuschung.

Die Situation war aberwitzig. Eigentlich hatte sie sich gefreut, dass ihre Arbeit endlich wertgeschätzt wurde. Und plötzlich stellte sich heraus, dass die Entscheidung des Veranstaltungsmanagers gesteuert war von mächtigen Leuten, deren Empfehlungen bindend waren.

Doch sie hatte keine Wahl. Sie musste diese großartige Gelegenheit beim Schopfe packen.

Seufzend ging sie zurück in die Lobby. Helen und Caspar wollten zum Mittagessen wieder in London sein, um Caspars Eltern zu treffen. Sie musste ihnen nur noch schnell Leos Ring mitgeben, den sie heute früh im Badezimmer gefunden hatte. Dann konnten sie gemeinsam über das seltsame Blind Date gestern Abend lachen – und die Sache wäre vergessen.

Vielleicht tat ihm sein dummer Kommentar auf der Terrasse auch schon leid? Helen hatte ihn heute Morgen sicher schon über sein Blind Date ausgefragt. Spätestens dann hatte er erfahren, wer sie war.

An der Treppe, die hinauf zu den Gästezimmern führte, hielt sie plötzlich inne und überlegte.

Nein, sie würde ihm seinen Ring nicht zurückgeben. Wenn der große Wirtschaftsberater Leo Grainger ihn wiederhaben wollte, dann musste er zu ihr kommen. So konnte sie sich persönlich bei ihm für die Empfehlung bedanken und alles aufklären.

Vielleicht würde es ein bisschen peinlich werden, aber danach war die Sache bereinigt. Ganz gleich aus welchem Grund Leo ihr geholfen hatte.

In der Zwischenzeit musste sie sich um dieses Gerücht kümmern, dass sie den Standort wechseln wollte. Das schreckte die Kunden nur ab, sie konnte sich das nicht leisten. Was für eine absurde Vorstellung!

Dort, wo ihre Gewächshäuser standen, war früher der Küchengarten des Herrenhauses gewesen. Ihre Großmutter hatte das Land vor Jahren an einen Bauern verkaufen müssen, um Dachreparaturen zu finanzieren, hatte damals aber zur Bedingung gemacht, dass die Orchideenhäuser und das Gärtnerhaus dort stehen bleiben durften.

Hatte der Bauer das Land nun ans Hotel verkauft? Das konnte doch nicht sein.

Autor

Myrna Mackenzie
Myrna Mackenzie wusste in ihrer Jugend zunächst nicht, was sie später einmal beruflich machen wollte. Aber sie wusste, dass sie Geschichten und Happy Ends liebte. Und so war der Schritt zur Liebesroman-Autorin nahezu unvermeidlich.
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