Romana Exklusiv Band 370

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VERZAUBERT VON DIR UND VENEDIG von LUCY GORDON

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  • Erscheinungstag 13.01.2024
  • Bandnummer 370
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523950
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Liz Fielding, Renee Roszel

ROMANA EXKLUSIV BAND 370

1. KAPITEL

„Wow! Casanova! Stell dir nur vor!“

Der junge Mann schien den Inhalt des Buches zu verschlingen, und sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung. Neben ihm im Flugzeug saß Sally, seine Schwester. Sie betrachtete ihn neugierig.

„Wovon redest du, Charlie?“

„Von Casanova, dem berühmten Liebhaber. Er kam aus Venedig. Das steht hier.“ Charlie hielt den schmalen Reiseführer hoch. „Er hatte tausend Frauen und verspielte jeden Abend ein Vermögen.“

„Klar, dass dir das gefällt“, sagte sie trocken.

Charlie war erst achtzehn, doch seine Spielschulden stiegen bereits rasant. Was ihn allerding nicht weiter störte, denn bisher konnte er sich stets darauf verlassen, dass seine Schwester ihm aus der Klemme half. Jetzt aber rebellierte Sally. Beunruhigt von seiner beginnenden Abhängigkeit und den finsteren Gestalten, die ihnen in letzter Zeit ungebetenen Besuch abstatteten, hatte sie ihn eilig aus London fortgeschafft. Nun saßen sie im Flugzeug und näherten sich Venedig. Es sah aus wie Urlaub, doch tatsächlich waren sie auf der Flucht.

„Er hat nicht nur gespielt“, sagte Charlie. „Er konnte auch jede Frau haben, die er wollte, und in Venedig ist seine Geschichte immer noch lebendig. Ach, komm, das interessiert dich doch.“

„Ruhe!“

„Wie kannst du nur so kaltherzig sein?“, fragte er mit gespielter Verzweiflung. „Da besuchst du die romantischste Stadt der Welt, und es ist dir völlig egal.“

„So, wie es dir völlig egal ist, was du mit dem Glücksspiel anrichtest. Versuch nicht, mir auszuweichen, kleiner Bruder. Denn sonst …“

„Sonst was? Willst du mich aus dem Flugzeug werfen?“

„Nein, schlimmer. Sonst drehe ich dir den Geldhahn zu, und du suchst dir einen Job.“

„Ahhh! Wie grausam du bist!“

Sie plauderten scheinbar ungezwungen, doch hinter dem Geplänkel verbarg sich eine bittere Realität. Seitdem ihre Eltern sieben Jahre zuvor verstorben waren, war Sally für ihren Bruder verantwortlich. Das Ergebnis machte sie nicht gerade stolz. Charlie zeigte keine Anstalten, erwachsen zu werden.

Tatsächlich reisten sie jetzt in eine der hinreißendsten Städte der Welt: Venedig. Über hundert kleine Inseln waren durch Kanäle und Brücken verbunden. Ein Ort von atemberaubender Schönheit und zauberhaft romantischer Atmosphäre. Wenn ihr das „völlig egal“ war, lag das möglicherweise daran, dass es in ihrem Leben nur wenig Romantik gegeben hatte. Zwar war sie nicht unattraktiv, doch ihr Aussehen war alltäglich und keineswegs verführerisch. Die Männer lagen ihr nicht zu Füßen, und als sie einmal geglaubt hatte, verliebt zu sein, hatte es ein schmerzliches Ende genommen. Sie gab sich nicht der Illusion hin, dass sich an ihrem Leben auf dieser Reise etwas ändern würde.

„Warum wolltest du ausgerechnet nach Venedig?“, fragte Charlie neugierig.

„Weil eine meiner Freundinnen eine Reise gebucht hat und im letzten Augenblick absagen musste. Ich konnte Hotelzimmer und Flugtickets von ihr übernehmen.“

Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um schnell und billig wegzukommen. Andernfalls hätten sie diese Reise wohl kaum im Januar unternommen.

Eine Stimme aus dem Lautsprecher kündigte an, dass das Flugzeug gleich zur Landung ansetzen würde. Bald darauf sahen sie den Flughafen „Marco Polo“ an der Grenze zum Festland. Zum Greifen nah lagen das Meer und der drei Kilometer lange Fahrdamm unter ihnen. Der Damm verlief über das Wasser zu der Vielzahl kleiner Inseln, die zusammen die Stadt Venedig ergaben.

„Warte mal“, sagte Charlie. „Hier steht, dass es in Venedig keine Autos gibt. Heißt das, wir müssen über den Damm laufen?“

„Nein, es gibt Parkplätze auf der Piazzale Roma am Stadtrand. Ein Taxi wird uns bis dahin bringen. Den Rest des Weges legen wir in einem Boot zurück.“

Während des Sinkflugs blickte sie aus dem Fenster und war wie verzaubert von der glitzernden See. Sie erstreckte sich bis zum Horizont, wo unter einem leichten Dunstschleier die Lagunenstadt lag. Nach der Landung stellte sie erleichtert fest, dass es etliche Taxis gab, und bald fuhren sie in einem davon über den Fahrdamm.

Vor ihnen wurde nun die Stadt in all ihrer legendären Schönheit sichtbar. Das Taxi bog auf die Piazzale Roma ab und hielt in der Nähe des Wassers. Hier gab es eine Menge Motorboote, die venezianischen Taxis. Sally nannte dem Fahrer das Hotel Billioni als Ziel. Gleich darauf fuhren sie hinaus auf den Canal Grande, die elegante, breite Wasserstraße, die das Zentrum von Venedig teilt. Endlich bog das Boot in einen schmalen Seitenkanal ab und hielt vor einer Treppe, die bis ins Wasser reichte. Der Bootsführer nahm ihr Gepäck und begleitete sie auf den wenigen Metern zum Hotel.

Nachdem sie eingecheckt hatten, wurden sie die Treppe hinauf zu den beiden Zimmern geführt, in denen sie wohnen würden. Sally öffnete sofort das Fenster.

Der kleine Kanal unter ihr wirkte in der hereinbrechenden Dunkelheit still und geheimnisvoll. Nur die sanften Lichtstrahlen aus den Fenstern des Hotels beleuchteten das Wasser.

Bisher hatte sie wenig von Venedig gesehen, doch das reichte, um den romantischen und mystischen Ruf der Stadt zu bestätigen. Kein Wunder, dass sie Liebende in den Flitterwochen anzog.

Das Wort „Flitterwochen“ lenkte ihre Gedanken auf Frank, obwohl sie es nicht wollte. Denn schließlich hatte sie sich entschlossen, ihn aus ihrem Leben zu verbannen.

Sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt. Zu gern hatte sie ihn geküsst, doch aus irgendeinem Grund widerstand sie seinem Drängen, noch weiter zu gehen.

„Ach, komm, Sally“, hatte er gesagt. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Küsse sind nicht genug.“

Das stimmte natürlich in gewisser Weise, doch irgendetwas hielt sie zurück. Als sie ihn mit einer anderen Frau erwischte, tat es weh, doch wirklich überrascht war sie nicht.

Er hat mir vorgeworfen, ich sei kalt. Und vielleicht bin ich das auch. Werde ich je einen Mann so sehr begehren, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann?

Sie lachte spöttisch.

Nein, ich bin einfach zu vernünftig. Schließlich musste ich das immer sein.

Sie hörte, dass Charlie sich im Zimmer nebenan zu schaffen machte, und das erinnerte sie daran, wozu sie ihren gesunden Menschenverstand gebraucht hatte. Für ihn hatte sie viele Opfer gebracht. Selbst die Tatsache, dass sie hier waren, war ein Opfer. Immerhin würde sie das möglicherweise um einen fantastischen Arbeitsplatz bringen. Sie war Steuerberaterin und arbeitete freiberuflich mit annehmbarem Erfolg. Doch plötzlich winkte eine Stelle in einer bedeutenden Firma in London. Wenn sie zu Hause geblieben wäre, hätte sie das Angebot sofort annehmen können.

Charlies Kopf erschien in der Tür.

„Ich sterbe vor Hunger“, sagte er. „Komm, essen wir zu Abend.“

Das Restaurant im Erdgeschoss summte vor Betriebsamkeit. Köstliche Düfte drangen aus der Küche, und sie verbrachten genüsslich mehrere Minuten damit, ihre Gerichte auszuwählen.

„Und das ist erst der Anfang“, sagte Charlie. „Wir werden uns großartig amüsieren.“

„Du vielleicht. Ich werde damit beschäftigt sein, auf dich aufzupassen.“

„Ha! Wenn du meinst. Aber wir sind hier in der Stadt von Casanova. Du wirst dich gegen jede Menge Männer zur Wehr setzen müssen.“

Ein Kichern hinter ihnen verriet, dass eine der Kellnerinnen ihn gehört und verstanden hatte.

„Casanova ist mir egal“, sagte Sally. „Ich will jetzt etwas essen.“

„Fisch!“, rief Charlie begeistert. „Hast du schon einmal so viel Fisch auf einer Speisekarte gesehen?“

„Wir haben alles, was Sie wünschen, signore“, erklärte die Kellnerin.

„Was für ein Glück, dass Sie alle so gut Englisch verstehen“, sagte Sally. „Sonst wären wir nämlich aufgeschmissen.“

„Menschen aus der ganzen Welt kommen nach Venedig. Wir müssen mit ihnen sprechen können. Also, was darf ich Ihnen bringen?“

„Ich nehme den Kabeljau mit Olivenöl, Knoblauch und Petersilie.“

„Ich auch“, verkündete Charlie.

„Due baccalà mantecati“, sagte die Kellnerin zufrieden und lief eilig davon.

„Haben wir das bestellt?“, fragte Charlie.

„Vermutlich.“

„Klingt großartig. Allmählich finde ich es gut, dass du mich hierhergeschleppt hast.“

„Und ich war allmählich etwas besorgt wegen der vielen Anrufe von Leuten, die sich nicht mit Namen vorgestellt haben. Einer hieß angeblich Wilton, aber die anderen wollten sich nicht zu erkennen geben.“

„Wilton … hm … ja.“

„Scheint ein ziemlich übler Kerl zu sein.“

„War das der einzige Grund? Wolltest du nicht auch Frank loswerden?“

„Welchen Frank?“

Amüsiert musterte Charlie sie. „Erst willst du nichts von Casanova wissen. Dann nichts mehr von Frank. Vielleicht sollte sich das gesamte männliche Geschlecht vor dir in Acht nehmen.“

Doch dann legte er ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. So jung und egozentrisch Charlie auch war, er konnte dennoch mitfühlend sein.

Den Rest des Abendessens verbrachten sie damit, die Besichtigungen für den nächsten Tag zu planen.

„Wir nehmen ein vaporetto“, sagte sie. „Das ist wie ein Bus auf dem Wasser. So sehen wir den Canal Grande und die großartigen Brücken. Und danach besichtigen wir den Markusplatz.“

Schließlich stiegen sie wieder die Treppe hinauf zu den Zimmern.

„Gute Nacht.“ Er küsste sie flüchtig auf die Wange. „Schlaf gut. Und morgen erobern wir Venedig im Sturm.“

Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Arm und ließ ihn allein. Bevor sie zu Bett ging, genoss sie die Aussicht auf den kleinen Kanal. Unter sich konnte sie einen schmalen Gehsteig erahnen und eine Treppe, die ins Wasser führte. Die Stimme eines Mannes schien aus dem Innern des Hauses zu kommen. Er klang verärgert.

Plötzlich flog eine Tür auf, und der Mann verließ das Hotel. Von oben konnte Sally nur sehen, dass er groß, dunkelhaarig und ungefähr Mitte dreißig war. Sein Gesicht wäre attraktiv gewesen, wenn es nicht so grimmig gewirkt hätte. Er sprach Italienisch, was sie nicht verstand, bis er jemanden anschnauzte: „Lei parla come un idiota.“

Was das bedeutet, weiß ich, dachte sie ironisch. Er nennt jemanden einen Idioten. Diesem Burschen möchte ich lieber nicht im Dunkeln begegnen. Wahrscheinlich ist er der Rausschmeißer.

Der Mann stürmte zurück ins Haus und knallte die Tür zu. Sally schloss das Fenster und legte sich ins Bett.

In der Nacht regnete es. Am nächsten Morgen hatte es zwar aufgehört, doch die Straßen glänzten noch nass. Sie verbrachten den Tag damit, Venedig zu entdecken, und wanderten durch schmale Gassen, die Charlies Fantasie Flügel verliehen.

„All diese Kurven und Windungen“, schwärmte er. „Wenn du hier jemanden verfolgst, bemerkt er dich nicht.“

„Du bist eben von Natur aus verschlagen.“ Sie lachte.

„Was sich durchaus als nützlich erweisen könnte“, erwiderte er, nicht im Geringsten beleidigt.

Sie stiegen in ein vaporetto, fuhren den Canal Grande entlang, besuchten die Rialtobrücke und nahmen schließlich ein Wassertaxi.

„Sie können am Ende dieses Kanals aussteigen“, sagte der Bootsmann. „Von dort ist es nur ein kleiner Spaziergang zum Markusplatz.“

Tatsächlich erreichten sie den Platz sehr zügig. An einer Seite erhob sich eine riesige und reich verzierte Kathedrale, und die restliche Piazza war gesäumt von Läden und Cafés, die Tische und Stühle hinausgestellt hatten.

„Setzen wir uns dort hin“, sagte Sally.

Sie fanden einen freien Tisch und bestellten Kaffee.

„Sieh mal“, sagte sie plötzlich, „der hübsche Hund dort drüben.“ Ein braun-weißer Springer Spaniel vergnügte sich in den Pfützen.

„Du bist so verrückt nach Hunden“, sagte Charlie. „Ich verstehe gar nicht, warum du keinen hast.“

„Weil ich ihn zu oft allein lassen müsste. Jacko hast du nicht mehr kennengelernt, stimmt’s?“

„Der Hund, den du als kleines Mädchen hattest?“

„Genau. Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Er hatte einen freundlichen Charakter, genau wie der hier.“ Sie wandte sich dem Hund zu, der nahe genug war, um sie zu hören. „Hallo, du Süßer! Ja, genau, mit dir rede ich. Du bist schön.“

Er spitzte die Ohren, und im nächsten Augenblick rannte er auf sie zu und sprang ihr auf den Schoß. Kaffee ergoss sich über ihre Kleider.

„Hey, sieh dir nur deine Jacke an!“, rief Charlie.

„Grundgütiger! Ach, egal. Es ist nur eine Jacke. Außerdem ist es meine Schuld – schließlich habe ich ihn gerufen.“

Plötzlich zerriss ein Schrei die Luft. „Toby! Toby!“

Ein kleiner Junge kam über die Piazza auf sie zugerannt, wedelte mit den Händen und schrie. Dicht hinter ihm lief eine Frau mittleren Alters. Ihr Gesicht war rot vor Zorn.

„Toby!“, kreischte das Kind. „Vieni qui!“

Dann war er bei Sally und umschlang den Hund so heftig, dass sie die Balance verlor und umgefallen wäre, wenn Charlie ihren Stuhl nicht rechtzeitig festgehalten hätte.

Die Frau schimpfte laut auf Italienisch. Obwohl sie die Worte nicht verstand, war Sally klar, dass sie wütend war.

„Alles in Ordnung“, sagte Sally mit fester Stimme. „Es war ein Unfall.“

Als sie sie Englisch sprechen hörte, antwortete die Frau ihr in derselben Sprache.

„Er ist ein böser Hund. Er ist nicht gut erzogen, und es wird Zeit, dass etwas geschieht.“

„Nein!“, brüllte der Junge und schlang die Arme fester um das Tier. „Er ist nicht böse.“

„Natürlich ist er das“, sagte die Frau. „Signore, mi appello a Lei.“

Der Mann, den sie ansprach, war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sally blickte auf und glaubte, in ihm den Mann zu erkennen, den sie am Abend zuvor vor dem Hotel gesehen hatte. Aber es war dunkel gewesen. Schwer zu sagen, ob er es wirklich war.

„Papa!“, rief der kleine Junge laut.

Dieser mürrische Mensch war also der Vater des Jungen. Dann konnte ihn nur noch eine geschickte Reaktion retten. Sie blickte dem Mann ins Gesicht.

„Das Ganze ist ein Missverständnis“, sagte sie und hoffte inständig, dass er Englisch sprach. „Ich weiß nicht, was Sie gesehen …“

„Ich habe gesehen, dass der Hund sich auf Sie gestürzt und Sie mit Dreck bespritzt hat“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

„Er freut sich doch nur. Es war meine Schuld, weil ich ihn gerufen habe.“

Zu ihrer Erleichterung nickte er. „Das ist sehr großzügig von Ihnen. Danke. Sind Sie verletzt?“

„Überhaupt nicht.“ Sie tätschelte den pelzigen Kopf. „Es ist nicht deine Schuld, stimmt’s?“

Der Hund bellte.

„Sehen Sie? Er stimmt mir zu.“

Der Junge kicherte. Die Miene des Mannes entspannte sich, und er legte dem Kind eine Hand auf die Schulter. Die Frau hingegen starrte wütend den Hund an, drehte sich auf dem Absatz um und ging.

„Sie hasst Toby“, klagte der Junge.

„Wie kann man Toby denn hassen?“, fragte Sally. „Er ist wundervoll.“

„Er macht im Haus alles schmutzig“, sagte der Mann. „Meistens an Stellen, wo sie gerade geputzt hat. Pietro, ich glaube, du musst dich bei jemandem entschuldigen.“

Das Kind nickte, nahm einen tiefen Atemzug und blickte ihr ins Gesicht. Schützend hatte er die Arme um Toby gelegt. „Es tut uns leid, was passiert ist, signorina.“

„Schon in Ordnung.“ Sie beugte sich über den Hund. „Hauptsache, Toby hat sich nicht wehgetan.“

„Erlauben Sie mir, Sie auf eine Tasse Kaffee einzuladen?“, sagte der Mann. „Und dann bringe ich Sie zum Hotel zurück. Natürlich bezahle ich die Reinigung.“

„Danke.“

„Wo wohnen Sie?“

„Im Billioni.“

„Aha.“

„Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich Sie dort gestern Abend gesehen habe. Sie haben jemanden einen Idioten genannt. Sind Sie der Manager?“

„Ich bin der Inhaber.“

„Oh … ähm … es ist ein sehr schönes Hotel.“

„Wir arbeiten noch daran.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich bin Damiano Ferrone.“

„Und ich Sally Franklin.“ Herzlich schüttelten sie sich die Hände.

„Und der junge Mann dort? Ihr Ehemann?“

„Um Himmels willen, nein. Er ist ja kaum richtig erwachsen. Das ist mein Bruder Charlie.“

„Machen Sie hier zusammen Urlaub?“

„Wir haben uns entschlossen, ein wenig die Welt zu erkunden. Ich weiß, die meisten Leute fahren nicht im Januar in Urlaub …“

„Aber Venedig ist das ganze Jahr über schön. Viele Leute kommen im Winter. Aber vielleicht bedauern Sie, dass es regnet.“

Er musterte die feuchten Pfotenabdrücke auf ihrer Jacke.

„Ich bedaure nichts, was dazu führt, dass ich einem solch fantastischen Hund begegne“, sagte sie. „Ich liebe Hunde.“

„Das habe ich gesehen. Sie sind bereits der Liebling meines Sohnes.“

Sie lachten. Es ist bemerkenswert, dachte sie, wie sanft sein strenges Gesicht wird, wenn er von dem Kind spricht.

„Stören seine Mutter die schlammigen Pfoten?“, fragte sie.

„Er hat keine Mutter. Meine erste Frau ist vor neun Jahren bei seiner Geburt gestorben. Er hatte eine Stiefmutter, aber sie hat uns verlassen.“

„Kommt sie manchmal, um ihn zu besuchen?“

„Nie.“

„Macht ihm das etwas aus? Ich meine … haben sie sich nahegestanden?“

„Eigentlich nicht, aber sie war die einzige Mutter, die er je hatte, deshalb hat er an ihr gehangen. Aber als unsere Ehe endete …“

Lautes Gelächter unterbrach ihn. Sie blickten in die Richtung, wo Pietro mit Toby spielte.

„Der Hund gehörte Pietros richtiger Mutter. Er ist alles, was sie ihm hinterlassen hat.“

„Dann ist es klar, dass er ihn liebt … Ja, Toby, hier bin ich!“

Sie erhob die Stimme, als der Hund erneut auf sie zurannte und sich wieder in ihre Arme stürzte. Begeistert hüpfte Pietro auf und ab. Damiano lächelte liebevoll, als er sah, wie glücklich sein Sohn war.

„Ich glaube, Toby will Ihnen etwas sagen.“

„Na ja, er scheint mich zu mögen“, sagte Sally zögernd.

„So sehr, dass ich Sie heute Abend zu uns nach Hause zum Essen einladen möchte … um mich dafür zu entschuldigen, dass er Ihre Kleider ruiniert hat. Bitte kommen Sie.“

„Sehr gern“, sagte sie. „Stimmt’s, Charlie?“

„Klar, gern.“

Pietro und sein Vater strahlten. Und Sally überkam Heiterkeit angesichts der Situation, in die sie völlig unerwartet geraten waren. Für jemanden, der sein Leben mit Zahlen und sorgfältiger Planung verbrachte, war es ein ungewohntes Vergnügen, auf diese Weise überrascht zu werden.

„Ich gehe nur kurz zurück ins Hotel, um mich umzuziehen“, sagte Sally.

„Das ist nicht nötig“, erwiderte Damiano und bot ihr seinen Arm. Sie nahm gerne an.

Vom Markusplatz aus gelangten sie schnell zum Wasser. Dort nahmen sie ein Taxi.

„Ist es weit zu Ihnen?“, fragte sie.

„Sie können es schon sehen.“

Beim Anblick des Gebäudes, dem sie sich nun näherten, blieb ihr vor Staunen der Mund offen stehen. Zwar wusste sie, dass er reich genug war, um ein Hotel zu besitzen. Dieses Haus jedoch war riesengroß und kunstvoll gestaltet.

„Das da?“ Sie rang nach Luft. „Aber das sieht aus wie ein Palast.“

„Es ist ein Hotel.“

„Gehört das auch Ihnen?“

„Ja, es gehört mir. Ich wohne gleich nebenan.“

Sein Haus war kleiner als das Hotel, aber dennoch beeindruckend. Eine breite Treppe führte von der großen Halle zum Obergeschoss, wo durch hohe und prächtig verzierte Fenster das Licht hereinfiel.

Die Frau, die auch auf dem Markusplatz gewesen war, eilte auf sie zu.

„Nora kennen Sie bereits“, sagte er. „Sie wird Ihnen alles zeigen.“

Sally meinte, Verwirrung im Blick der Haushälterin zu sehen, weil sie sich auf diese Weise wiedersahen. Doch Nora grüßte nur freundlich und brachte sie zu einem Zimmer im Erdgeschoss.

„Machen Sie es sich bis zum Abendessen hier bequem“, sagte sie. „Nebenan ist ein Badezimmer.“

Der Raum war prächtig, die Möbel antik und teuer.

Als die Haushälterin gerade gehen wollte, murmelte Charlie: „Ich könnte einen Drink vertragen.“

„Folgen Sie mir, signore.“

Zusammen verließen sie das Zimmer.

In einem Wandspiegel überprüfte Sally ihr Äußeres. Die Jacke sah schrecklich aus. Ihre restliche Kleidung war zwar in Ordnung, aber einfach und bescheiden. Sie fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, wie sie in dieser wohlhabenden Umgebung darin wirken würde. Doch dann schob sie die Bedenken beiseite. Sie hatte ohnehin keine Kontrolle über das, was passierte. Also war es sinnlos, sich Sorgen zu machen.

Sie ging zum Fenster, vor dem ein kleiner Balkon den Blick auf einen schmalen Kanal freigab. Eine Gondel glitt vorbei. Lächelnd ging sie wieder in das Zimmer zurück.

Und blieb wie erstarrt stehen.

Die Kreatur vor ihr war klein, aber entsetzlich. Hörner ragten aus der Stirn hervor, und aus riesigen Augen starrte sie Sally bedrohlich an.

Das Wesen war unbemerkt in den Raum geschlichen, und nun stand es vor ihr wie eine tödliche Bedrohung.

Endlich begann es zu sprechen.

„Ich bin es nur“, sagte es.

2. KAPITEL

Im ersten Augenblick begriff Sally nicht. In ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken.

Dann aber nahm das Wesen die furchterregende Maske ab, und Pietros Gesicht kam zum Vorschein.

„Ach, du bist es“, hauchte sie atemlos und setzte sich rasch erleichtert nieder.

Der Anblick der Fratze hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

„Habe ich Sie erschreckt?“, fragte er.

„Nur ein bisschen.“

Er kam näher und lächelte so schelmisch, dass sie sich entspannte.

„Ich wollte Ihnen nur meine Maske zeigen“, sagte er.

„Die ist sehr … wirkungsvoll“, erwiderte sie.

„Ja, ich werde sie zum Karneval tragen. Ich habe mehrere Masken, aber die hier gefällt mir am besten.“

Er setzte sie wieder auf.

„Ahhh!“, rief sie laut und warf die Hände in die Luft, als fürchte sie sich sehr. Pietro lachte vor Entzücken.

„Was ist denn hier los?“, fragte Damiano, der in der Tür stand. „Pietro, das ist das zweite Mal, dass du unserem Gast einen Schrecken einjagst.“

„Keine Sorge, damit werde ich schon fertig“, meinte Sally. „So sind Jungs eben. Wenn sie zu artig sind, macht es keinen Spaß.“

„Dann werden Sie hier reichlich Spaß haben“, sagte Damiano ironisch. Er blickte seinen Sohn an und deutete auf die Tür. „Raus! Und benimm dich … wenn du kannst.“

Als Pietro verschwunden war, schmunzelte Sally: „Falls er es kann, wird er es nicht zugeben, stimmt’s?“

„Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Aber jetzt muss ich Sie allein lassen und einen dringenden Telefonanruf erledigen. Das Speisezimmer liegt auf der anderen Seite der Halle. Der Tisch wird gerade gedeckt.“

Und damit verschwand er.

An diesem wunderschönen Ort war Sally bewusster denn je, wie alltäglich sie aussah.

Viele Frauen beneideten sie um ihre schlanke Figur, doch sie selbst betrachtete sich voller Missbilligung.

Die fremde Frau in Franks Armen hatte üppige Kurven. Ach, verdammt! Was kümmert mich das noch?

Sorgfältig frischte sie ihr Make-up auf. Gleich darauf klopfte es an der Tür, und Pietro stand im Zimmer. Er nahm sie bei der Hand, und gemeinsam betraten sie das Speisezimmer. Charlie und Toby folgten ihnen.

Das Abendessen bestand aus feinen venezianischen Gerichten. Damiano war aufmerksam und fragte sie mehrmals, ob er ihr noch etwas bringen sollte. Sie genoss es sehr und konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so verwöhnt worden war.

Auch Charlie amüsierte sich prächtig. Er plagte Damiano mit Fragen, was es in Venedig noch alles zu genießen gab.

„Es gibt viel zu sehen“, sagte Damiano. „Die Palazzi, Denkmäler …“

„Ich meinte etwas Lebhafteres. Orte, wo man Spaß haben kann.“

„Es gibt La Fenice“, sagte Damiano nachdenklich. „Ich war selbst schon oft dort, und es hat mir immer gefallen.“

„Gehen dort viele Leute hin?“

„Ungefähr tausend jeden Abend.“

„Wow! Und was machen die da?“

„Sie sitzen still da und sehen sich die Aufführung an“, mischte Sally sich ein, bevor Charlie sich weiterhin lächerlich machte. „Es ist ein Opernhaus.“

„Oper …? Also … ernstes Zeug?“ Sein Tonfall verriet, was er von diesem sogenannten ernsten Zeug hielt.

Sally und Damiano wechselten einen Blick, und sie unterdrückte ein Lachen.

Pietros Anwesenheit machte den Abend vergnüglich. Er hatte Sally in sein Herz geschlossen, nachdem sie ihn und Toby so tapfer verteidigt hatte.

„Ich habe noch eine Maske“, sagte er. „Dann bin ich eine Maus. Wollen Sie die mal sehen?“

„Oh ja, unbedingt. Aber nicht jetzt“, fügte sie rasch hinzu. „Iss erst zu Ende.“

Pietro warf seinem Vater einen verstohlenen Blick zu und antwortete mit betont gehorsamer Miene: „Ja, signorina.“

„Oh bitte, nicht signorina. Ich heiße Sally, und so möchte ich von meinen Freunden genannt werden. Wir sind doch Freunde, stimmt’s?“

Pietro nickte eifrig und aß weiter.

Doch bald begann er wieder zu plaudern, sodass niemand anders zu Wort kam. Damiano nahm es nachsichtig hin. Als er schließlich sanft mahnte, dass es Zeit sei, zu Bett zu gehen, protestierte der Junge. Dabei fielen ihm vor Müdigkeit schon die Augen zu.

„Komm mit“, sagte sein Vater. „Sag Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Papa.“ Pietro wandte sich Sally zu. „Gute Nacht, Sally.“

„Gute Nacht, Pietro. Gute Nacht, Toby.“

„Kommst du uns wieder besuchen?“

„Ja“, warf Damiano rasch ein. „Das tut sie.“

Doch Pietro hielt ihre Hand fest, als sei er sich noch nicht sicher.

„Hör mal“, sagte sie. „Ich komme einfach mit nach oben und sage dir dort Gute Nacht. Einverstanden?“

Er nickte.

Dann umarmte er flüchtig seinen Vater und griff wieder nach Sallys Hand. Zusammen gingen sie die Treppe hinauf.

Als sie Pietros Zimmer betrat, sah sie zwei große Fotografien auf einem Regal stehen. Beide zeigten Frauen. Eine hatte ein schönes, sanftes Gesicht. Die andere sah zwar gut aus, doch sie wirkte eher intelligent als hübsch. Wahrscheinlich waren das Damianos Ehefrauen.

Pietro kuschelte sich in die Bettdecke.

„Kommst du uns auch wirklich noch einmal besuchen?“

„Ja.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Sie blieb bei ihm, bis er schlief. Dann küsste sie ihn auf die Wange und verließ leise das Zimmer.

Das Speisezimmer war leer, doch am anderen Ende stand eine Tür offen, als wollte sie Sally anlocken. Sie ging hindurch und betrat einen großen Raum. Damiano saß neben einem deckenhohen Fenster vor einem kleinen Balkon. Mit einer Geste bedeutete er ihr, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.

„Ich habe gehofft, dass Sie hereinkommen“, sagte er und hob sein Weinglas. Er zeigte auf ein zweites Glas auf dem Tisch und goss Rosé hinein.

„Wo ist Charlie hin?“

„Er schaut sich nebenan ein spannendes Fußballspiel im Fernsehen an – das wird ihn eine Weile unterhalten.“

Sally schmunzelte in sich hinein.

„Mit der Oper haben Sie Charlie wirklich überrumpelt“, sagte sie.

„Ja. Deshalb ist er garantiert nicht in Venedig.“

„Wie haben Sie das nur erraten?“ Sie kicherte, und auch er musste lachen.

„Aber warum ist er dann hier? Er ist ein junger Mann, der sich amüsieren will. Auf Stadtbesichtigungen legt er bestimmt keinen Wert.“

„Allerdings.“ Sie seufzte. „Er fing an, sich allzu gut zu amüsieren. Er ist erst achtzehn und …“

„Verstehe. Ich habe einen jüngeren Bruder, wegen dem ich mir oft die Haare raufe. Und ich selbst war mit achtzehn auch kein Heiliger.“

„Und jetzt?“ Sie konnte nicht widerstehen, ihn zu necken.

„Jetzt auch nicht! Aber erzählen Sie mir mehr über Charlie.“

„Er ist zu weit gegangen. Also habe ich ihn gezwungen, mir endlich zu gehorchen.“

„Zu gehorchen? Ich dachte, Sie sind seine Schwester, nicht seine Mutter.“

„Das stimmt, aber unsere Eltern sind vor Jahren gestorben. In gewisser Weise bin ich ihm eine Mutter. Ich kümmere mich seit seinem elften Lebensjahr um ihn.“

„Haben Sie keine Familie? Onkel, Tanten, Großeltern …?“

„Niemanden. Außer Charlie habe ich niemanden.“

Er runzelte die Stirn. „Heißt das, Ihre Sorge um ihn hat dazu geführt, dass Sie kein eigenes Leben führen?“, fragte er. „Keine Karriere, nichts?“

„Oh nein, ich bin Steuerberaterin. Im Augenblick bin ich freiberuflich tätig, aber wahrscheinlich bekomme ich bald einen sehr guten Job bei einer großen Firma.“

„Aber Sie sind nicht verheiratet?“

„Nein.“

„Verzeihen Sie, ich will nicht neugierig sein, aber sicher gibt es doch zu Hause in England einen Mann, der darauf wartet, dass Sie ihn heiraten?“

„Nein“, sagte sie kurz angebunden. Flüchtig dachte sie an Frank und verbannte ihn sofort wieder aus ihrem Kopf.

„Also konzentrieren sich all Ihre Hoffnungen auf die Arbeit?“

„Signore …“

„Moment mal. Sie haben meinem Sohn gesagt, dass Sie Förmlichkeit nicht mögen. Ihre Freunde nennen Sie Sally. Meine Freunde nennen mich Damiano.“

„Damiano“, sagte sie nachdenklich. „Den Namen habe ich noch nie gehört.“

„Meine Feinde behaupten, dass er zu mir passt. Er stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚der Mächtige‘, ‚der Bezwinger‘.“

„Ihre Feinde? Haben Sie denn welche?“

„Etliche.“

„Etliche?“

„Ich bin Geschäftsmann. Wenn man erfolgreich ist, hat man auch Feinde.“

„Sie haben also viele Leute verärgert und sind stolz darauf. Und Ihre Feinde sagen: ‚Das wird Damiano noch leidtun!‘“

Er grinste. „Genau so funktioniert das.“

„Ich lerne hier wirklich hinzu. Vielleicht hilft es mir in meinem eigenen Berufsleben.“

„Auf Ihr Wohl!“

Er erhob sein Glas, und sie stießen an.

Draußen ertönte wohlklingender Gesang. Damiano öffnete die Tür zum Balkon und schob Sally hinaus. Unter ihnen fuhr auf dem schmalen Kanal eine Gondel. Darin saß eng umschlungen ein junges Paar, versunken in sein Glück, in die romantische Umgebung und den Gesang des gondoliere, der das Boot vorwärtstrieb.

„Übrigens ist es faszinierend, wie viele Touristen aus Ihrem Heimatland herkommen. Sie wirken so kühl, aber Venedig bringt eine andere Seite an ihnen zum Vorschein … eine, die sie sonst lieber verbergen.“

„Sie scheinen viel über Engländer zu wissen.“

Er nahm Platz und deutete auf den Stuhl neben sich. Plötzlich klang seine Stimme nicht mehr amüsiert.

„Ich weiß nur, dass ich sie mag“, sagte er leise. „Meine erste Frau, Pietros Mutter, kam aus England. Aber wie gesagt, sie ist gestorben, bevor er sie wirklich kennenlernen konnte, und seine Stiefmutter hat ihn einfach verlassen.“

„Armer Junge“, murmelte Sally. „Meldet sie sich nie bei ihm?“

„Nein, nie. Sie sagt, so sei es besser für ihn. Aber ihr geht es nicht um Pietros Wohl, sondern um ihre eigene Bequemlichkeit. Sie hat ihn nie geliebt. Er hat nur mich.“

„Ihnen bedeutet er dafür alles, stimmt’s?“

„Ja. Um seiner selbst willen und weil …“ Seine Stimme erstarb.

„Wegen seiner Mutter?“, fragte sie sanft.

Er nickte. „Wegen Gina“, sagte er leise. „Wir hatten nur so wenig Zeit miteinander. Pietro wurde einen Monat zu früh geboren. Dabei ist Gina gestorben, und auch das Baby hätte fast nicht überlebt.“

Sally überkam ein Gefühl, als hätte die ganze Welt sich plötzlich verändert. Das lag nicht nur an dieser unvergleichlichen Stadt. Den Mann, der mit sanfter Stimme zu ihr sprach, kannte sie erst seit wenigen Stunden. Und doch vertraute er ihr auf eine Weise, als stünden sie sich ganz nah.

„Ich hielt Gina bis zum Schluss in meinen Armen“, fuhr Damiano leise fort. „Aber dann … in den letzten Minuten ihres Lebens hat sie verzweifelt versucht, mir etwas mitzuteilen. Doch sie starb, bevor sie die Worte herausbringen konnte. Und ich werde mich mein Leben lang fragen, was sie mir unbedingt noch sagen wollte.“

„Sie wollte sagen, dass sie Sie liebt“, sagte Sally. „Was sollte es sonst gewesen sein?“

Er hob den Kopf, und sein Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. Ein Gefühl, das sie noch nicht kannte, stieg in ihr auf … eines, von dem sie wünschte, dass es nie mehr vergehen würde.

„Ich glaube“, sagte er sanft, „Sie sind der liebenswürdigste Mensch auf dieser Welt.“

„Unsinn.“ Plötzlich bereitete die Stärke ihrer Empfindungen ihr Unbehagen.

„Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nicht liebenswert sind. Das glaube ich nicht.“

„Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Oh doch“, sagte er. „Ich kannte Sie schon, als wir uns auf dem Markusplatz begegnet sind.“

Es verschlug ihr die Sprache. Ein Teil ihres Selbst fühlte genauso. Doch ein anderer Teil sagte ihr, dass er ein Mann voller Geheimnisse und Widersprüche war, den sie niemals wirklich durchschauen würde.

Die nächsten Worte schienen von selbst zu kommen, ohne dass sie sich bewusst dafür entschieden hatte.

„Sie glauben, mich zu kennen. Dabei kenne ich mich nicht einmal selbst.“

Er lächelte. „Das geht jedem Menschen so. Aber ich bin überzeugt, dass Sie hier am richtigen Platz sind. Ich habe Pietro versprochen, dass Sie uns noch einmal besuchen werden. Ziemlich unhöflich von mir, ohne Sie vorher zu fragen …“

„Das macht nichts. In seiner Anwesenheit konnten Sie mich schlecht fragen“, sagte sie und lächelte.

„Danke. Sie sind sehr verständnisvoll. Wenn Sie uns also das nächste Mal besuchen, verbringen wir ein wenig Zeit miteinander und … wer weiß? Vielleicht gelingt es mir, Sie mit sich selbst bekannt zu machen.“

Seine Stimme hatte einen scherzhaften Unterton, doch gleichzeitig klang sie verführerisch.

Plötzlich erklangen die Glocken des Markusdoms.

„Himmel, ist es schon so spät?“ Sally blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich hatte ja keine Ahnung.“

Damiano straffte die Schultern. „Ich rufe den Fahrer. Wir bringen Sie ins Hotel zurück.“ Er zog sein Handy hervor und sprach einige Worte auf Italienisch.

„In wenigen Minuten wird er hier sein“, sagte er, als er aufgelegt hatte.

Sie holten Charlie, und zu dritt gingen sie zur Tür hinaus.

Damiano half ihr, in das Motorboot zu steigen. Charlie folgte, und sie fuhren den schmalen Wasserweg zum Canal Grande hinunter. Um diese nächtliche Stunde war er noch immer hell erleuchtet, und Musik trieb aus der Ferne auf sie zu. Es war, als erkundeten sie eine andere Welt.

Einerseits bedauerte sie es, schon gehen zu müssen. Andererseits jedoch war sie froh darüber. Denn so konnte sie der Frage ausweichen, die sie nicht mehr losließ. Wenn sie ihm hätte antworten müssen … Was hätte sie gesagt? Wer war sie wirklich?

Sie hatte keine Ahnung.

3. KAPITEL

Endlich hielt das Boot an, und Damiano half Sally beim Aussteigen. Als sie das Hotel betraten, nahm die Rezeptionistin respektvoll Haltung an und widmete ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit.

Also gehört ihm das Hotel tatsächlich.

Plötzlich murmelte Charlie: „Um Himmels willen! Wie konnte das passieren?“

„Wie konnte was passieren?“, fragte Sally und blickte sich in der Lobby um.

Dann entdeckte sie den Grund für seine Beunruhigung. Hinter einer offenen Tür stand ein Mann, dessen Gesicht sie nun mit Schrecken erkannte. Er war in den Dreißigern, nachlässig gekleidet und unrasiert. Und sie hatte ihn bereits in der Nähe ihres Hauses in England herumlungern sehen. Dass er hier auftauchte, verhieß nichts Gutes.

„Charlie, wer ist das? Charlie?

Doch der hatte sich heimlich davongemacht, und Damiano war noch ins Gespräch vertieft. Also ging sie allein auf die Tür zu, um den Mann zur Rede zu stellen.

„Sie habe ich schon einmal gesehen“, sagte sie. „In England.“

„Ich bin Ken Wilton. Wo ist Ihr Bruder?“

„Und was wollen Sie von ihm?“

„Was glauben Sie denn? Er ist abgehauen, obwohl er mir eine Menge Geld schuldet. Und das will ich jetzt haben.“

Damit bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Mutig reckte sie das Kinn und blickte ihm ins Gesicht.

„Charlie hat all seine Schulden bezahlt.“

„Das glauben Sie“, sagte Wilton und grinste höhnisch. „Wahrscheinlich haben Sie ihm das Geld gegeben, stimmt’s?“

„Ja. Und es war mehr als genug, um all seine Schulden zu bezahlen.“

„Das hat er gesagt? Nun, dann sage ich Ihnen, dass er noch wesentlich mehr Schulden hat. Und die werde ich jetzt eintreiben. Andernfalls gibt es Schwierigkeiten. Also holen Sie ihn endlich.“

„Ich werde nichts dergleichen tun. Denn ich glaube nicht, dass er Ihnen noch etwas schuldet.“

Wilton kam näher. „Tatsächlich?“ Erneut grinste er spöttisch. „Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis Sie Ihre Meinung ändern.“

Sally versuchte, sich wegzudrehen, doch er fasste sie hart am Arm. „Wo ist Ihr Bruder?“

Mühsam gelang es ihr, sich loszumachen, doch da verpasste Wilton ihr plötzlich einen heftigen Schlag. Sie taumelte zurück. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf, als er gegen die Wand schlug.

Jemand brüllte: „Sally! Sally!“

Auf einmal kniete Damiano neben ihr. Im nächsten Augenblick war der Angreifer aus dem Fenster gesprungen, und sie hörten Wasser platschen, als er im Kanal landete.

Damiano stürzte zum Fenster, spähte hinaus und blickte dann wieder zu Sally, die auf dem Boden kauerte. Ein Türsteher hatte den Lärm gehört und war ihnen gefolgt. Damiano bellte ihm Befehle zu. Sanft nahm er Sally in die Arme.

„Was hat er mit Ihnen gemacht?“, knurrte er.

„Es geht mir gut“, sagte sie. „Wirklich. Nur eine kleine Beule.“

„Warten wir ab, was der Arzt dazu sagt“, erwiderte Damiano. „Ich nehme Sie mit zu mir nach Hause. Hier können Sie nicht bleiben.“

„Er ist hinter Charlie her“, murmelte sie. „Charlie …“

„Ich bin hier.“ Unversehens tauchte er vor ihr auf. „Wilton ist abgehauen.“

„Je eher wir gehen, desto besser“, sagte Damiano.

Er stand auf, zog Sally sanft auf die Füße und hob sie hoch.

„Keine Sorge. Sie kommen mit mir. Dort sind Sie in Sicherheit.“

Ihr Instinkt sagte ihr, dass er recht hatte. Beinahe gegen ihren Willen entspannte sie sich in seinen Armen und ließ zu, dass er sie aus dem Hotel trug.

„Packen Sie Miss Franklins Sachen und schicken Sie sie zu mir nach Hause“, befahl er der Rezeptionistin mit barscher Stimme.

„Meine Rechnung …“

„Schon erledigt. Machen Sie sich keine Gedanken.“

Ihr Kopf schmerzte heftig. Sie konnte nichts tun, als sich an seine Schulter zu lehnen und sich in ihr Schicksal zu fügen. Damiano ließ sie in das Motorboot hinab und setzte sich neben sie. Ihnen gegenüber saß Charlie. Als sie abfuhren, tätigte Damiano einen weiteren Anruf mit seinem Handy.

„Der Doktor wartet schon auf uns“, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte.

Als sie ankamen, war der Arzt bereits vor Ort. Damiano trug sie die Treppe hinauf in ein Zimmer. Er legte sie auf das Bett und trat einen Schritt zurück.

Der Arzt erklärte, die Beule an ihrem Kopf sei zwar nichts Ernstes, doch ein paar Tage Ruhe würden ihr guttun.

„Hier hat sie alles, was sie braucht“, sagte Damiano. „Kommen Sie bitte morgen wieder.“

„Natürlich. Ich habe Schmerzmittel mitgebracht, die sollte sie jetzt nehmen. Und dann braucht sie gutes Essen und genügend Schlaf.“

„Sie wird doch wieder gesund, stimmt’s?“, fragte Pietro, der plötzlich in der Tür stand. „Sie stirbt doch nicht?“

„Ganz bestimmt nicht“, sagte der Doktor freundlich. „Sie muss sich nur etwas schonen.“

Pietro lächelte ängstlich, und Sally reichte ihm die Hand.

„Ich bin stärker, als ich aussehe“, beruhigte sie ihn. „Mach dir keine Sorgen um mich.“

Pietro warf sich in ihre Arme. „Vorsichtig, nicht so heftig“, ermahnte Damiano ihn.

„Ist schon gut“, sagte Sally rasch. „Er tut mir nicht weh.“

Nora brachte ein wenig Wasser, mit dem Sally die Schmerzmittel hinunterschluckte. Dann verließen die Männer das Zimmer, und sie deckte Sally mit dem Federbett zu. Bald wurde sie schläfrig, und endlich löste die Welt sich in nichts auf.

Als sie aufwachte, saß Damiano an ihrem Bett.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte er.

„Besser. Mein Kopf tut nicht mehr weh. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.“

„Reden Sie keinen Unsinn.“ Seine freundliche Stimme stand im Gegensatz zu seinen Worten.

„Aber dieser Mann … Wilton … was ist mit ihm?“

„Er ist verschwunden, aber die Sicherheitskräfte des Hotels werden ihn schon finden.“

„Woher wollen sie wissen, wie er aussieht?“

„Die Kamera vor dem Eingang nimmt jeden Besucher auf“, erklärte Damiano. „Sie werden ihn finden und davon überzeugen, Sie lieber nicht mehr zu belästigen.“

Sie fragte nicht, was „überzeugen“ bedeutete. Dieser Mann hatte gewiss seine eigenen Methoden … Im Nachhinein überwältigte sie plötzlich der Schrecken über das, was geschehen war. Sie zitterte am ganzen Körper, ballte die Fäuste und kämpfte um Selbstbeherrschung.

„Komm her“, sagte Damiano leise.

Im nächsten Augenblick hielt er sie in den Armen, hüllte sie in Trost und Wärme.

„So ist es gut“, murmelte er. „Halte dich an mir fest. Ich werde auf dich aufpassen.“

Und das glaubte sie ihm. Sie schmiegte sich an ihn, legte den Kopf an seine Schulter und wünschte, so könnte es für immer bleiben.

Einige Minuten lang bewegte sich keiner von ihnen. Dann ließ er sie sanft auf das Kopfkissen niedersinken.

„Ich möchte alles verstehen“, sagte er. „Diesen Typen loszuwerden, war erst der Anfang. Was kann ich noch für dich tun?“

Sie zögerte. Zwar war sie froh, seine Kraft und Unterstützung zu spüren, doch sie wollte ihm nichts mehr über Charlie erzählen.

„Du hast schon genug …“

„Ich will wissen, was dahintersteckt, und du wirst es mir sagen.“ Seine ruhige Stimme duldete keinen Widerspruch.

Sie seufzte. „Es geht um Charlie. Wilton ist hinter ihm her, und ich glaube nicht, dass er so schnell aufgibt.“

„Ich verspreche dir, wenn ich mit ihm fertig bin, wird er aufgeben“, sagte Damiano. „Wo ist Charlie jetzt?“

„Sicher untergebracht im Zimmer nebenan. Erzähl mir mehr von ihm. Du hast angedeutet, dass er allzu leichtsinnig ist.“

„Er meint es nicht böse. Er ist noch jung und denkt die Dinge nicht zu Ende. Aber er spielt viel, und dabei verliert er leider oft.“

„Ach, und wer hilft ihm dann aus der Klemme?“, fragte Damiano trocken.

„Ich weiß, so wird er sich nie ändern“, sagte sie zerknirscht. „Aber niemand beschützt ihn, und das ist ganz allein meine Schuld.“

„Das glaube ich nicht. Hör auf, dich selbst zu beschuldigen.“

„Vor sieben Jahren bin ich auf der Straße zusammengeschlagen worden. Meine Eltern waren auf dem Weg zum Krankenhaus. Ein Lkw ist in ihren Wagen gekracht, und sie waren beide auf der Stelle tot.“

„Und dafür gibt du dir die Schuld?“, fragte er.

„Wenn ich nicht gewesen wäre, wären sie nicht ins Auto gestiegen, und mein elfjähriger Bruder wäre nicht zur Waise geworden.“

„Wie alt warst du damals?“

„Einundzwanzig.“

„Erst einundzwanzig, und schon war dein Leben zu Ende.“

„Nein … eigentlich nicht. Die Leute erwarten eben von einem, dass man Opfer für diejenigen bringt, die man liebt.“

„Aber sie erwarten nicht, dass man wie in einem Gefängnis lebt. Ist dein Leben nicht ein Gefängnis? Und Charlies Bedürfnisse sind der Schlüssel dazu?“

So war es. Noch nie hatte sie sich das eingestanden, doch Damiano sah alles klar und deutlich.

„Aber bei dir dreht sich doch auch alles um Pietros Bedürfnisse.“

„Das tun Väter eben für ihre Söhne. Aber als Schwester hast du das Recht auf ein eigenes Leben. Eines Tages wird Charlie erwachsen sein und ebenfalls eigene Wege gehen, und du bleibst in einer Wüste zurück. Kein Ehemann, kein Liebhaber, keine Kinder.“

„Was soll ich machen? Er braucht mich. Und er glaubt, ich mache aus einer Mücke einen Elefanten.“

„Aber kannst du ihn verteidigen? Wenn diese Männer auftauchen, kannst du sie vertreiben?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, vermutlich nicht.“ Ein spöttisches Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Also, falls du jemals einen Job als Leibwächter brauchst – bei mir ist einer frei.“

„Ich komme darauf zurück“, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. „Aber wenn ihr wieder in England seid und der Bursche euch weiterhin belästigt …“

„Nicht!“, rief sie. „Mir ist schon ganz schwindelig. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“

„Vielleicht wird das Schicksal es dir zeigen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss die Dinge selbst in Ordnung bringen. Ich weiß nur nicht, wie.“

„Hab Geduld und warte, was passiert. Und jetzt musst du etwas essen. Nora hat gekocht.“

Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und Pietro stand mit einem Teller in der Hand im Zimmer. Er stellte das Essen auf einen kleinen Tisch neben dem Bett. „Geht es dir wieder besser?“, fragte er ängstlich.

„Mir geht es gut.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich. Oh, das sieht aber gut aus!“

Während sie aß, packte Nora die Taschen aus und verstaute den Inhalt in den Schubladen einer Kommode. Dann verließ sie mit Pietro das Zimmer.

„Bist du satt?“, fragte Damiano sie.

„Ja, es schmeckt sehr gut, aber ich kann nicht mehr.“

Er nahm ihr das Tablett ab und setzte sich zu ihr auf das Bett. „Schlaf noch ein bisschen“, befahl er. Dann nahm er sie in die Arme. Sie blickte zu ihm auf, und sein Gesicht wirkte sanfter als je zuvor. Seine Lippen waren nur Zentimeter von ihrem Mund entfernt, als er flüsterte: „Ich bin dein Freund, und du kannst mir vertrauen. Vergiss das nicht.“

Sie nickte.

Er lächelte, und einen Augenblick lang glaubte sie, dass seine Lippen ihren Mund berühren würden. Sie hielt den Atem an, denn sie wusste nicht, ob sie diesen Kuss wollte oder nicht …

Doch er streifte ihre vom Schlag noch geschwollenen Lippen so sanft, dass sie es kaum spürte.

„Tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen“, murmelte er. „Habe ich dir wehgetan?“

„Nein“, flüsterte sie.

„Gute Nacht, Sally. Wir können morgen weiterreden.“

„Ja … morgen …“

„Sicher geht es dir dann schon besser. Und bis dahin seid ihr bei mir sicher, Charlie und du. Vertrau mir.“

Sie sah ihn zur Tür hinausgehen. Dann schloss sie die Augen und sank langsam in den Schlaf.

Am nächsten Morgen brachte Nora ihr das Frühstück und sorgte dafür, dass Sally ihre Tabletten nahm. Charlie schaute herein, dann kamen Damiano und Pietro vorbei. Der kleine Junge schien sich zu freuen, sie bei bester Laune zu sehen, und er umarmte sie.

„Ich muss jetzt zur Schule“, sagte er und gähnte. „Aber du bist doch noch hier, wenn ich wiederkomme, stimmt’s?“

„Natürlich ist sie das“, sagte Damiano. „Komm, gehen wir.“

„Du musst mich nicht bringen. Ich kann allein gehen.“

„Na ja, vielleicht …“

„Ich bin kein kleines Kind mehr, Papa.“

Sally war überrascht, ihn so mürrisch zu sehen. Spielt er jetzt schon den Macho?

Ohne auf die Antwort seines Vaters zu warten, verschwand Pietro. Sie blickte Damiano in die Augen.

„Er wird unabhängig“, meinte sie.

„Vermutlich. Aber ich verstehe nicht, warum ich ihn auf einmal nicht mehr zur Schule begleiten soll.“

„Ist der Weg lang?“

„Nein, nur ein paar Straßen weiter. Und in Venedig gibt es keine Autos, vor denen man sich fürchten müsste.“

„Er will eben zeigen, was er kann.“

„Aber er ist erst neun …“

„Und er ist wie sein Vater“, neckte sie ihn. „Er besteht darauf, die Dinge auf seine Weise zu tun.“

„Wie ich zu sein, ist bestimmt kein Segen“, erwiderte er trocken.

„Was meinst du damit genau?“

„Eine ganze Menge, aber das will ich jetzt nicht erklären. Also, heute bleibst du im Bett. Der Arzt kommt später noch.“

„Und Charlie?“

„Überlass Charlie mir. Wir gehen ins Hotel nebenan. Ich habe neue Pläne … ein kleines Theater, ein Casino. Vielleicht hat er ein paar Ideen.“

„Danke, dass du ihn unter deine Fittiche nimmst.“

„Mach dir keine Sorgen. Und jetzt auf Wiedersehen.“

Sie verbrachte den Tag damit, englische Zeitungen durchzublättern, zu essen und gelegentlich einzunicken. Der Arzt besuchte sie und erklärte, sie dürfe am nächsten Tag aufstehen.

Einmal ging sie zum Fenster. Dabei sah sie zufällig Damiano und Charlie in der Gasse unter sich, ins Gespräch vertieft.

Er ist in Sicherheit, dachte sie beruhigt. Wie gut, dass wir diesen Mann getroffen haben.

Dann legte sie sich wieder ins Bett und schlummerte noch eine Stunde. Ein leises Klopfen an der Tür weckte sie.

„Herein.“

Es war Pietro. Er hielt einen Becher in der Hand. „Englischer Tee“, verkündete er stolz. „Vorsicht!“

Das letzte Wort galt Toby, der in das Zimmer gerast kam und auf das Bett sprang, sodass Pietro zurückweichen und den Tee in Sicherheit bringen musste.

„Alles okay, ich habe ihn“, sagte sie und hielt Toby fest.

Der Hund bellte fröhlich, dann leckte er ihr die Hand.

„Der wickelt mich wirklich um den Finger.“ Sie lachte.

„Das macht er nur, weil er dich liebt.“

„Und ich liebe ihn.“ Sie umarmte den Hund. „Er erinnert mich an meinen süßen Jacko.“

„Du hast einen Hund?“

„Früher mal. Er ist gestorben. Aber ich werde ihn nie vergessen, denn er war der Einzige, der mich wirklich geliebt hat.“

Pietro starrte sie an. „Haben deine Eltern dich nicht geliebt?“

„Doch, auf ihre Weise schon, aber … ich glaube, es war eine große Enttäuschung für sie, dass ich ein Mädchen war.“

„Aber das ist ungerecht“, rief er empört.

„Das Leben ist oft ungerecht“, sagte sie knapp. „Mit manchen Dingen müssen wir uns eben abfinden. Und ich hatte ja Jacko. Mit ihm konnte ich reden.“

Pietro nickte. „Hunde verstehen alles.“

„Sicher sprichst du auch viel mit Toby.“

„Ja, und er hört mir zu.“

Er klang ein wenig verloren. Sanft berührte sie ihn an der Schulter.

„Was ist los, Pietro? Bist du unglücklich?“

Er antwortete nicht, sondern blickte sie nur verwirrt an. Vermutlich wusste er nicht, ob er ihr vertrauen sollte.

„Willst du es mir nicht erzählen? Ich bin eine gute Zuhörerin. Fast so gut wie Toby.“

Er lächelte schüchtern. Offenbar beruhigte ihn ihr Verständnis, doch noch immer schien er nicht reden zu wollen.

4. KAPITEL

Als Pietro nicht antwortete, fragte sie: „Willst du nicht versuchen, mir zu vertrauen? Vielleicht kann ich dir ja helfen.“

Doch er schüttelte den Kopf. „Niemand kann mir helfen.“

„Hat es etwas mit der Schule zu tun? Ich weiß noch, als ich zur Schule ging, war vieles nicht in Ordnung. Dauernd hatte ich Streit.“

Pietro sog hörbar die Luft ein, und sein erstaunter Blick verriet ihr, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

„Also, was ist los?“, fragte sie mit sanfter Stimme.

„Die anderen lachen mich aus“, sagte er missmutig.

„Warum?“

„Ihretwegen. Weil sie weggelaufen ist.“

„Sie? Meinst du deine Stiefmutter?“

„Ja, sie. Es war beim Schulkonzert. Ich sollte ganz allein ein Lied vorsingen. Sie und Papa sollten dort sein, aber sie kam nicht. Sie hatte uns verlassen.“

Sally atmete tief ein. „Du wusstest nicht, dass sie gehen würde?“

„Nein. Als ich an dem Tag zur Schule ging, war sie zu Hause. Aber sie ist nicht zu dem Konzert gekommen. Ihr Stuhl war leer, und sie haben mich ausgelacht.“

„Wer hat das getan?“

„Die anderen in meiner Klasse. Vor allem Renzo. Wenn er lacht, lachen alle.“

Der Schulhoftyrann, dachte Sally sarkastisch. Davon habe ich einige kennengelernt.

„Aber er lacht jetzt sicher nicht mehr, oder?“, fragte sie vorsichtig.

„Er findet immer wieder einen Grund, mich zu verspotten. Er sagt, ich muss ein Monster sein, wenn sogar meine Mutter mich verlässt.“

„Hast du deinem Vater davon erzählt?“

„Nein, nein!“, rief er, plötzlich aufgeregt. „Er darf es nicht wissen.“

„Warum denn nicht?“

„Dann weiß er, dass mich alle für einen Dummkopf halten.“

„Aber er ist auf deiner Seite. Er würde nicht zulassen, dass sie dich quälen.“

„Papa mag nur starke Leute. Versprich mir, dass du ihm nichts sagst.“ Er umklammerte ihren Arm und rief: „Versprich es mir! Versprich es!“

Bestürzt nahm sie ihn in die Arme und hoffte, ihn damit zu trösten. Sollte sie Damiano das Unglück seines Sohnes verschweigen? Andererseits: Konnte sie Pietro eine so dringende Bitte abschlagen? Verzweifelt blickte sie auf.

Und sah Damiano in die Augen.

Mit verblüffter Miene stand er in der Tür. Instinktiv hob sie die Hand und gab ihm ein Zeichen zu verschwinden. Sofort zog er sich zurück.

„Versprich es mir“, forderte Pietro noch einmal und blickte zu ihr auf.

„In Ordnung, ich verspreche es. Ich glaube, dein Vater sollte es wissen, aber du musst es ihm selbst sagen.“

„Nein. Das kann ich nicht. Er wird mich für einen Dummkopf halten.“

Er zog sich von ihr zurück und setzte ein trotziges Gesicht auf, als wollte er den Augenblick der Schwäche ungeschehen machen.

„Ich gehe jetzt“, sagte er. „Vergiss nicht deinen Tee.“

„Nein. Danke, Pietro. Das war sehr nett von dir.“

Ohne ein weiteres Wort verließ er sie. Sally lauschte und fragte sich, ob er seinen Vater im Flur entdecken würde. Doch es war nichts zu hören. Kurz darauf erschien Damiano. Er schloss die Tür hinter sich und sah sie fragend an.

Die Trauer in seinem Gesicht weckte einen Moment lang ihr Mitleid. Er wirkte wie ein Mann, dem man einen brutalen Schlag in die Magengrube verpasst hatte.

„Hat Pietro dich gesehen?“, fragte sie besorgt.

„Nein. Ich habe mich versteckt. Ist das zu fassen? Ich habe mich vor meinem kleinen Sohn versteckt. Was bin ich für ein Feigling!“

„Es hätte ihn aufgeregt, dich zu sehen. Und es ist nicht feige, Rücksicht auf die Gefühle deines Kindes zu nehmen.“

„Danke. Aber ich habe es um meiner eigenen Gefühle willen getan, nicht seinetwegen. Wenn er wüsste, dass ich alles gehört habe, würde er mich hassen.“

„Setz dich“, sagte sie und klopfte auf die Bettdecke. „Wir müssen miteinander reden.“

Schwer ließ er sich auf das Bett sinken und stützte den Kopf in die Hände. „Ich hatte ja keine Ahnung. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass …“ Er stöhnte.

„Hast du alles gehört?“

„Jedes einzelne Wort.“

„Aber du wusstest, dass er traurig ist, weil seine Stiefmutter ihn verlassen hat. Hast du an jenem Tag nicht damit gerechnet, dass sie gehen würde?“

„Nein, sie war gerissen genug, nichts zu sagen. Wir wollten uns in der Schule treffen. Als sie nicht auftauchte, dachte ich, dass sie sich eben verspätet hatte. Aber als wir nach Hause kamen, lag dort ein Abschiedsbrief.“

„Und nichts für Pietro?“

„Nichts. Kein Wort, kein Geschenk. Nichts. Eine Nachbarin kam vorbei und sah, was vor sich ging. Sie hat einen Sohn auf derselben Schule. So hat sich die Sache herumgesprochen. Aber ich wusste nichts von Pietros Problemen.“

Verzweiflung lag in seinem Blick. „Er muss doch wissen, dass ich ihn liebe. Warum hat er mir nichts gesagt?“

„Weil er befürchtet, schwach zu wirken.“

„In seinem Alter? Er ist noch ein Kind.“

„Hast du dich selbst in seinem Alter als Kind betrachtet?“

„Nein.“ Er stöhnte. „Ich wäre zu stolz gewesen, um Hilfe zu bitten, genau wie er. Natürlich konnte er mir nichts sagen. Aber ich habe gesehen, wie er sich in deine Arme geworfen hat …“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Was soll ich nur tun?“

Traurig, weil er sich solche Vorwürfe machte, streckte sie die Hand nach ihm aus. Er spürte die sanfte Berührung und lehnte sich an sie, bis sein Kopf beinahe an ihrer Schulter lag.

Plötzlich kam es ihr vor, als seien der befehlsgewohnte Mann und das verletzbare Kind ein und dieselbe Person.

Doch im nächsten Augenblick entzog er sich ihr und schlug sich mit der Faust auf die Knie.

„Ich glaube, ich weiß, was du tun musst“, sagte sie. „Rede mit ihm über deine eigene Kindheit. Wenn er spürt, dass du ihn verstehst, wird er dir sein Vertrauen schenken.“

Einen Moment lang dachte er nach. Schließlich nickte er. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich kann mich nicht erinnern …“

„… dass du jemals unterlegen warst?“, fragte sie. „Irgendetwas wird dir schon einfallen. Und wenn nicht, dann erfindest du eben etwas.“

Er lächelte. „Dank sei dem Himmel, dass du hier bist. Und je länger du bleibst, desto besser, denn offenbar brauche ich deinen Rat.“

„Eine Weile bleibe ich noch. Damit Wilton uns in England nicht so bald findet.“

„Genau. Hier geht es euch besser. Außerdem habe ich versprochen, auf Charlie aufzupassen.“

„Danke.“

Er stand auf, doch an der Tür blieb er stehen. „Sag mir eines. Wenn ich euch nicht belauscht hätte … hättest du dein Versprechen gehalten und mir nichts gesagt?“

„Zumindest eine Zeit lang, bis ich ihn davon überzeugt hätte, es dir selbst zu erzählen.“

„Und wenn nicht?“

Sie zögerte. „Ich weiß es nicht. Wenn ich mein Versprechen gebrochen hätte, dann hätte ich ihn betrogen. Wie seine Stiefmutter.“

„Genau das habe ich mir gedacht“, sagte er ironisch. Und ging ohne ein weiteres Wort.

Langsam trank sie ihren Tee und versuchte, vollständig zu begreifen, was an diesem Tag geschehen war. Es gelang ihr nicht ganz.

Ich muss aufstehen. Ich bin vollkommen hilflos, und das kann ich mir überhaupt nicht leisten.

Bevor sie sich bewegen konnte, klopfte es an der Tür, und Charlie kam herein.

„Nora will wissen, ob du zum Abendessen herunterkommst.“

„Ja, ich komme. Warte, Charlie. Ich möchte dich etwas fragen. Woher wusste Wilton, wo du bist?“

„Er kennt einen Privatdetektiv. Der schuldet ihm auch Geld, und er bezahlt, indem er uns andere jagt.“

„Und wie soll es jetzt weitergehen?“

„Über...

Autor

Lucy Gordon

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