Romana Extra Band 121

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AUF DER LIEBESINSEL DES STOLZEN GRIECHEN von ANNE TAYLOR
Der smarte Investor Nick Stephens hat alles, was man sich wünschen kann: Macht, Geld und Anerkennung. Nur eine Familie wollte er nie. Aber für einen Besuch bei seinen Eltern in Griechenland braucht er Frau und Kind. Kann seine tüchtige Assistentin Annabelle ihm helfen?

FLAMENCO UND HEISSE LEIDENSCHAFT von FIONA MCARTHUR
Wie er Flamenco tanzt, überwältigt sie. Mit dem spanischen Arzt Felipe erlebt die junge Hebamme Cleo eine leidenschaftliche Nacht, in dem Glauben, ihn nie wiederzusehen. Doch am nächsten Tag bittet Felipe sie, ihn nach Barcelona zu begleiten – allerdings rein beruflich…

TRAUE NIEMALS EINEM MILLIARDÄR von CAROL MARINELLI
Lydia ist verzweifelt. Um ihre Familie vor dem Ruin zu retten, soll sie einen Wildfremden heiraten! In Rom trifft sie Milliardär Raul Di Savo – den Erzfeind ihres zukünftigen Mannes. Mit ihm verbringt sie unvergesslich sinnliche Stunden. Und die bleiben nicht ohne Folgen …

PRICKELNDES SPIEL MIT DEM RIVALEN von JOSS WOOD
Winzer Muzi will seinen Erfolg mit einer seltenen Rebsorte sichern. Die befindet sich jedoch auf dem Weingut der süßen Ro. Kann Muzi sie zum Verkauf bewegen? Dass seine Rivalin heiße Gefühle in ihm weckt, ist nicht hilfreich. Muzi braucht einen klaren Kopf – oder alles ist vorbei!


  • Erscheinungstag 07.06.2022
  • Bandnummer 121
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508179
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Taylor, Fiona McArthur, Carol Marinelli, Joss Wood

ROMANA EXTRA BAND 121

ANNE TAYLOR

Auf der Liebesinsel des stolzen Griechen

Eine Reise auf eine griechische Trauminsel – zusammen mit ihrem sexy Boss Nick Stephens! Annabelle kann ihr Glück kaum fassen. Allerdings darf Nick auf keinen Fall ihr Geheimnis erfahren …

FIONA MCARTHUR

Flamenco und heiße Leidenschaft

Felipe Gonzales hält nichts von Romantik. Als Arzt hat er genug mit den Problemen seiner Patienten zu tun. Bis die junge Cleo sinnliche Gefühle in ihm entfacht. Aber eine Beziehung? Niemals!

CAROL MARINELLI

Traue niemals einem Milliardär

Sie ist blond, schön, atemberaubend – und die zukünftige Frau seines Erzfeindes. Wenn Milliardär Raul Di Savo die umwerfende Lydia verführt, könnte er seinen Gegenspieler empfindlich treffen …

JOSS WOOD

Prickelndes Spiel mit dem Rivalen

Die junge Ro hat ein Vermögen geerbt, trotzdem ist sie nicht glücklich. Erst der attraktive Winzer Muzi lässt sie wieder an die Liebe glauben. Doch sie spürt: Er verbirgt etwas vor ihr!

1. KAPITEL

„Ich verstehe dich, Elena. Und ich werde mein Möglichstes tun …“

„Das reicht nicht! Du musst kommen, Nikos! Die Feier ist schon nächste Woche.“ Die Stimme seiner Schwester klang drängend, fast flehentlich. „Du weißt, wie viel es ihnen bedeuten würde, endlich deine Frau und dein Kind kennenzulernen. Vor allem, seit Carla zurück nach Athen gegangen ist. Unsere Eltern haben doch nur noch uns beide. Und deine Familie!“

Nick stand vom Schreibtisch auf und wandte sich zum Fenster um. Von seinem Büro aus konnte er das Londoner Regierungsviertel mit den Houses of Parliament und dem berühmten Big Ben überblicken. Auf der anderen Seite der Themse ragte ein Rohbau auf, umgeben von Gerüststangen und eingehüllt in grüne Netze: der Stephens-Tower. Sein Turm. Sein Vermächtnis an diese Stadt.

Hier war er Nick Stephens, der prominente Investor, der jedes seiner Projekte zum Erfolg führte, und nicht mehr Nikos Stepanides, der Bauernsohn von einer winzigen Insel in der griechischen Ägäis.

Vor fünfzehn Jahren war er vollkommen mittellos nach England gereist. Heute zählte er zu den bekanntesten und wohlhabendsten Bürgern der Stadt. Mit dem Stephens-Tower würde er ihr nun sogar ein neues Wahrzeichen verschaffen. Die gebogene Glasfassade verlieh dem Turm den Anschein, als wäre er ein Segel, das sich im Wind blähte. Nick zweifelte nicht daran, dass der Stephens-Tower zu den beliebtesten Fotomotiven der Stadt zählen würde, sobald die Bauarbeiten abgeschlossen waren.

Er konnte wirklich stolz auf sich sein. Darauf, was er in diesen fünfzehn Jahren erreicht hatte. Die Redewendung vom Tellerwäscher zum Millionär hatte er buchstäblich erfüllt. Tatsächlich war sein erster Job in der Kantine jener Firma gewesen, die er vor fünf Jahren übernommen hatte. Mit Fleiß, Mut und Durchhaltevermögen hatte er sich das Wissen angeeignet, das er brauchte, um sich die Karriereleiter ganz nach oben zu arbeiten. Seine Investmentfirma operierte weltweit und hatte zahlreiche internationale Niederlassungen. Und als CEO der Stephens Corporation war er gefürchtet, geachtet und respektiert.

„Nikos!“, durchbrach Elenas Stimme seine Überlegungen. „Bitte, denk darüber nach. Wir können es alle kaum erwarten, dich wiederzusehen! Wie lange ist das schon her?“

„Zwei Jahre“, antwortete er mechanisch. Seit …

„Natürlich, seit Alexandros’ Begräbnis“, sprach sie seinen Gedanken laut aus. „Sie haben es immer noch nicht verwunden, dass ihr ältester Sohn tot ist. Wie auch. Keiner von uns kann es glauben. Sie brauchen dich! Du bist jetzt ihr einziger Sohn. Ihre ganze Stütze. Es hat sie tief getroffen, als du damals weggegangen bist und Illios den Rücken gekehrt hast. Lass sie nicht noch einmal im Stich …“

„Ich verstehe dich ja“, wiederholte er, ohne wirklich auf ihre Worte einzugehen. „Aber wie ich schon sagte, ich weiß nicht, ob ich es so kurzfristig einrichten kann. Ich habe im Moment mit dem Bau des Stephens-Tower alle Hände voll zu tun. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Ja, natürlich. Danke.“

Er merkte, dass er Elena verletzt hatte. Alles ruhte in diesen Tagen auf ihren Schultern. Seit Alexandros’ Unfall war sie die Einzige, die sich um ihre Eltern kümmern konnte. Nur ihr Mann Christianos unterstützte sie dabei. Doch er arbeitete als Lehrer an der Inselschule und hatte kaum Zeit für den Hof. Soweit Nick informiert war, hatte Elena inzwischen die Leitung des Betriebs übernommen. Ihre Eltern betrieben auf Illios eine Olivenplantage, so wie schon ihre Eltern und deren Eltern vor ihnen. Die Stepanides waren Oliven-Bauern, und diese Tradition musste aufrechterhalten werden, wenn es nach seinem Vater ging.

Dass Nick mit dieser Tradition gebrochen hatte, dass er Illios verlassen und sein Glück in England gesucht hatte, war immer noch ein wunder Punkt zwischen seinem Vater und ihm. Trotz allem, was er erreicht und sich aufgebaut hatte, hofften seine Eltern immer noch, dass er nach Illios zurückkehren und in den Familienbetrieb einsteigen würde. Umso mehr, seit sein älterer Bruder Alexandros bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Offenbar hatte dessen Witwe Carla nun auch ihre Koffer gepackt und war mit den beiden Kindern zu ihrer Familie nach Athen zurückgekehrt. Ein weiterer schmerzhafter Abschied für seine Eltern …

Nick seufzte. Wie sollte er ihnen nur verständlich machen, dass er niemals zurückkehren würde? Dass er nicht vorhatte, sein luxuriöses Leben in London gegen die harte Arbeit auf dem Hof zu tauschen? All sein Geld und seine Erfolge zählten nichts im Vergleich zur Familientradition.

Bei Alexandros’ Beerdigung hatte es deshalb einen Streit gegeben – der zu jener Behauptung geführt hatte, die ihm jetzt zum Verhängnis zu werden drohte …

Ein Klopfen an der Bürotür ließ ihn herumfahren. Gary Carlisle, der Architekt des Stephens-Tower und sein bester Freund, steckte den Kopf durch den Spalt.

„Störe ich dich gerade, Nick?“

„Nein, natürlich nicht. Komm rein.“

Rasch trat er vom Fenster zurück. Die Arbeit rief, und er war froh, seine Gedanken auf etwas anderes als seine vertrackte Situation konzentrieren zu können.

„Ich brauche dein Okay für eine kleine Änderung“, erklärte Gary und breitete einen Plan des Towers auf dem Besprechungstisch aus.

Nicks Büro erstreckte sich über die halbe Etage des Gebäudes. Gary merkte nur allzu oft an, dass man in dem Raum wunderbar Fußball spielen könnte. Kein Wunder, schließlich war er Fan des FC Chelsea und ließ kein Spiel seiner Mannschaft aus. Nick musste zugeben, dass sein Freund nicht ganz unrecht hatte. Er wusste die Großzügigkeit seiner Räumlichkeiten sehr zu schätzen. Die Außenwand des Büros war von der Decke bis zum Boden verglast und erweckte den Eindruck, als würde man über der Stadt schweben.

„Ich möchte in der obersten Etage des Stephens-Tower eine Verbindungstür einbauen“, fuhr Gary fort. „Es wäre keine große Sache. Siehst du, hier!“ Er deutete mit dem Finger auf die Stelle im Plan, die er meinte.

Nick beugte sich über die Zeichnung. Es faszinierte ihn noch immer, wie die zahllosen Striche und Linien auf dem Papier sich in das imposante Gebäude auf der anderen Seite des Flusses verwandelt hatten. Fast wie von Zauberhand.

Wenn sich nur alles im Leben so wundersam lösen ließe! Seufzend fuhr er mit der Hand durch sein dichtes dunkles Haar, so wie er es immer tat, wenn ihn ein Problem umtrieb. Auch Gary fiel die Geste auf.

„Gibt es Schwierigkeiten? Du wirkst etwas bedrückt.“

„Nein, nein. Es ist nur …“ Nick überlegte. Gary war sein bester Freund. Genau genommen war er der einzige Freund, den er in dieser Stadt hatte. Sie hatten sich kennengelernt, kurz nachdem Nick nach London gekommen war. Damals hatte er seine Abende regelmäßig in der öffentlichen Bibliothek verbracht, um Wirtschaftsratgeber zu wälzen, während Gary sich auf die letzten Prüfungen seines Architekturstudiums vorbereitet hatte. Wenn er Gary nicht vertrauen konnte, wem dann? „Um ehrlich zu sein – ich brauche eine Frau!“

Gary starrte ihn perplex an. „Ich hätte nicht gedacht, dass das für dich ein Problem wäre. Ich meine – deine Kontaktliste muss doch überquellen vor interessierten Frauen. Hattest du nicht erst vor zwei Tagen ein Date mit diesem Model – wie war noch mal ihr Name? Ich habe die Fotos in der Zeitung gesehen …“

„Ich meine nicht so eine Frau“, unterbrach Nick ihn ungeduldig. „Ich meine – eine Frau und ein Kind.“

Garys Blick wurde immer ungläubiger. „Ein Kind? Wieso das denn? Was willst du mit einem Kind? Brauchst du es für eine Werbekampagne? Ich bin sicher, es gibt da Agenturen …“

„Nein, nein, es ist …“ Genervt fuhr Nick sich durchs Haar. Nun, da er es aussprach, merkte er selbst, wie verrückt das Ganze klang. Wie hatte er nur auf so eine Idee kommen können? „Ich nehme an, ich sollte am Anfang beginnen. Du weißt ja, dass ich vor zwei Jahren zu Hause auf Illios war, richtig?“

„Zum Begräbnis deines Bruders“, ergänzte Gary. „Ja, ich erinnere mich. Das muss schlimm gewesen sein für deine Familie. Es gibt nichts Schrecklicheres für Eltern, als ein Kind zu verlieren.“ Er klang betroffen. Vermutlich dachte er an seine Frau, die gerade mit ihrem ersten Kind schwanger war.

„Meine Eltern waren völlig am Boden zerstört“, bestätigte Nick. „Sie hatten ihre ganzen Hoffnungen auf Alexandros gesetzt. Du musst wissen, dass mein Vater ein Patriarch der alten Schule ist. Tradition ist für ihn das Wichtigste. Und die Stepanides sind und waren immer Olivenbauern, schon seit vielen Generationen. Dass irgendwann kein Stepanides mehr auf Illios lebt und Oliven anbaut, ist für meinen Vater einfach unvorstellbar.“

„Und jetzt bist du der letzte männliche Nachfolger“, meinte Gary.

„Allerdings“, bestätigte er grimmig. „Als ich zum Begräbnis auftauchte, dachten sie, ich würde jetzt für immer bleiben und das Familiengeschäft übernehmen.“

„Was ist mit deiner Schwester? Elena? Soviel ich weiß, arbeitet sie doch auch auf der Plantage.“

„Sie arbeitet dort“, betonte Nick. „Aber mein Vater würde den Betrieb nie an sie weitergeben.“

„Warum? Weil sie eine Frau ist?“, fragte Gary empört. „Das ist doch mittelalterlich!“

Nick hob die Schultern. „Auf Illios ticken die Uhren anders. Oder vielmehr könnte man sagen, dort ist die Zeit stehengeblieben. Alles wird so gemacht, wie es schon immer gelaufen ist. Es gibt keine Veränderung, geschweige denn Fortschritt!“

Ihm war bewusst, dass seine Stimme bitter klang. Wie oft hatte er als junger Mann versucht, gegen diese starren Regeln anzurennen? Und wie oft hatte er sich den Kopf angeschlagen an dieser Mauer aus Tradition und Sturheit, die sein Leben auf Illios umgab.

„Deshalb hast du damals Griechenland verlassen“, stellte Gary fest.

„Ich musste. Sonst wäre es mir wie meinen Eltern ergangen. Sie haben der Familie stets alles untergeordnet. Und was haben sie davon? Ihr ganzes Leben lang haben sie Opfer gebracht. Ihre eigenen Wünsche oder Träume zählten nie.“ Er schüttelte den Kopf. „Das war nichts für mich. Ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Frei sein von Verpflichtungen und Verantwortung für andere.“

„Und nun bist du ein unverbesserlicher Junggeselle, ich weiß“, bestätigte Gary. „Obwohl ich dir die Ehe wirklich ans Herz lege. Ich kann mir mittlerweile nicht mehr vorstellen, was ich ohne Marcia machen würde. Aber gerade deshalb verstehe ich nicht, weshalb du jetzt plötzlich eine Frau willst. Und ein Kind!“

Nick starrte auf den Plan, der auf dem Tisch lag. Der Tower stand für seinen Traum! Das Leben hier, das nicht das Geringste mit Griechenland und Illios zu tun hatte. Aber seine Eltern wollten ihn nicht verstehen. Wenn die Familie rief, hatte man ihr zu folgen.

„Ich … ich wollte damals beim Begräbnis meinen Vater nicht verletzen“, gestand er zögernd. „Nicht in diesem Augenblick, in seiner Trauer um Alexandros. Aber ich konnte ihm auch keine Hoffnungen machen, oder ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. Also habe ich …“

Gary beugte sich neugierig vor. „Also hast du was?“

„Behauptet, ich hätte eine Frau und ein Kind in London“, erklärte er knapp.

„Oh!“ Gary musterte ihn nachdenklich. „Im Grunde keine schlechte Idee. Es bedeutet, dass du den beiden gegenüber eine Verpflichtung hast, der du dich nicht entziehen kannst. Eine Verpflichtung, die schwerer wiegt als die Wünsche deiner Eltern.“

„Genau“, pflichtete er seinem Freund bei. „Allerdings …“

„Allerdings pflegen solche Lügen über kurz oder lang aufzufliegen“, kommentierte Gary leicht sarkastisch.

Nick grinste ihn verlegen an. „Ich habe gerade mit Elena telefoniert. Sie hat mich angefleht, zum siebzigsten Geburtstag meines Vaters nächste Woche nach Illios zu kommen. Mit meiner Frau und meiner Tochter. Meine Eltern wollen sie unbedingt kennenlernen.“

Gary stieß einen Pfiff aus. „Oh Mann, du steckst in Schwierigkeiten. In richtig fetten Schwierigkeiten.“

„Danke für deine Anteilnahme“, erwiderte Nick sarkastisch. „Von einem Freund hätte ich mir ein bisschen mehr Mitgefühl erwartet. Und vor allem Hilfe.“

„Hilfe?“ Gary breitete die Arme aus. „Was soll ich denn tun? Eine Frau herbeizaubern? Wenn ich das könnte, wäre ich längst Millionär. Und bevor du fragst: Marcia steht nicht zur Verfügung, das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen!“

Wenn es um seine Ehefrau ging, legte Gary einen sehr altmodischen Beschützerinstinkt an den Tag. Nick schüttelte den Kopf. „Daran würde ich nie im Leben denken, das weißt du. Aber was soll ich denn jetzt machen?“

„Ihnen die Wahrheit sagen“, schlug Gary pragmatisch vor.

„Das kann ich nicht. Zumindest wäre das der allerletzte Ausweg für mich. Kannst du dir vorstellen, wie verletzt sie wären, wenn ich ihnen erzähle, dass ich sie angelogen habe? Angelogen, um meine Ruhe vor ihnen zu haben?“

„Nein, das kannst du nicht tun“, gab Gary zu.

„Ich würde sie vor den Kopf stoßen und endgültig mit ihnen brechen. Das haben sie nicht verdient, egal, wie uneinsichtig und stur sie sind. Sie haben mich großgezogen und mir alles mitgegeben, was ich brauchte, um meinen eigenen Weg zu gehen. Ich schulde ihnen zumindest Respekt“, erklärte Nick.

„Indem du sie belügst? Ganz kann ich deiner Logik nicht folgen.“

Er seufzte. „Ich weiß. Ich kann es ja nicht einmal selbst. Ich bin sämtliche Frauen durchgegangen, die ich kenne oder mal gekannt habe – keine von ihnen würde in den Augen meiner Eltern als Mutter meiner Kinder infrage kommen. Aber ich brauche eine Frau, oder ich verliere das letzte bisschen Kontakt, das ich zu meiner Familie habe!“

Verzweifelt raufte Nick sich die Haare. In dem Moment klopfte es wieder an der Bürotür.

„Oh, ich fürchte, das ist leider zu viel für mich. Das kann ich mir unmöglich leisten. Aber haben Sie vielen Dank für Ihre Bemühungen.“

Annabelle sprach mit gedämpfter Stimme in ihr Handy, auch wenn sie ganz allein in dem großen Vorzimmer saß. Ihr Schreibtisch mit Computer, Monitor und Telefonanlage nahm die eine Hälfte des Raumes ein, während ihr gegenüber eine gemütliche Sitzgarnitur aus hellem Leder stand, auf der üblicherweise die Besucher warteten, die einen Termin mit Nick Stephens hatten.

Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, diesen Job bei der Stephens Corporation ergattert zu haben. Als Assistentin des Chefs wurde sie gut bezahlt. Allerdings reichte ihr Gehalt nicht, um die Londoner Wohnungspreise zu decken, wie sie soeben wieder hatte feststellen müssen.

Das kleine Apartment in der Nähe des Marble Arch, das sie vor ein paar Tagen besichtigt hatte, wäre ideal für Mia und sie gewesen. Mias Kindergarten hätte direkt auf ihrem Arbeitsweg gelegen. Aber der Mietpreis war exorbitant. Ihnen wäre kaum noch etwas zum Leben übrig geblieben. Also hatte sie schweren Herzens abgesagt.

Sie musste weitersuchen, auch wenn die Zeit allmählich knapp wurde. In zwei Monaten würde sie ihr derzeitiges Apartment räumen müssen. Darüber hatte ihr Vermieter sie vor vier Wochen informiert. Seither sah sie sich verzweifelt nach einer neuen Unterkunft um.

Ihren Schwestern Sam und Carolyn hatte sie ihr Wohnungsproblem bisher verschwiegen. Die beiden hatten genügend eigene Sorgen. Und wenn sie gewusst hätten, in welchen Schwierigkeiten Annabelle steckte, hätten sie sich vermutlich geweigert, London zu verlassen, um ihre Karrieren zu verfolgen: Carolyn in Italien, wohin ihr Arbeitgeber sie vor drei Tagen geschickt hatte, und Sam bei ihrer Tante in Frankreich.

Sam und Carolyn hatten schon genug für sie getan. Sie hatten Mia zum Kindergarten gebracht, wann immer es sich einrichten ließ, und hatten den Babysitter gespielt, wenn Annabelle wieder einmal länger im Büro bleiben musste. Ohne die beiden hätte sie es in den letzten Jahren nicht geschafft, Mia großzuziehen und gleichzeitig einem Job nachzugehen, der so fordernd war wie dieser.

Nick Stephens verlangte von seinen Mitarbeitern hundertprozentigen Einsatz. Überstunden oder ungeplante Eilaufträge waren an der Tagesordnung. Deshalb hatte sie bei ihrer Bewerbung auch wohlweislich verschwiegen, dass sie ein Kind hatte. Zu groß war ihre Angst gewesen, den Job dann vielleicht nicht zu bekommen.

Aber was sollte sie tun, wenn sie jetzt ihr Apartment verlor? Ihren Schwestern gegenüber hatte sie vorgegeben, es wäre kein Problem, Ersatz zu finden. Die beiden sollten sich unbelastet ihren Aufgaben widmen. Sam hatte alle Hände voll zu tun, ihre Tante Edith in der kleinen Pension zu unterstützen, die diese auf einer Insel an der Côte d’Azur betrieb. Und Carolyn hatte einen wichtigen Auftrag von dem Auktionshaus erhalten, für das sie arbeitete. Sie sollte im Schloss eines italienischen Grafen an der Amalfi-Küste dessen Antiquitäten bewerten und für eine Versteigerung vorbereiten. Das könnte einen wichtigen Karrieresprung für sie bedeuten.

Nein, Annabelle musste mit ihren Problemen allein fertigwerden, so viel stand fest. Seufzend packte sie ihre Handtasche zusammen. Sie musste Mia bei der Tagesmutter abholen und dann mit ihr für das Abendessen einkaufen. Und sich anschließend wieder auf die Wohnungsanzeigen im Internet stürzen. Nachdem sie den Computer ausgeschaltet und den Schreibtisch aufgeräumt hatte, klopfte sie an Nick Stephens’ Bürotür.

„Brauchen Sie mich heute Abend noch, Mr. Stephens?“

Sie spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen schoss, als sie bemerkte, dass ihr Chef sie anstarrte, als würde er einen Geist sehen. Der intensive Blick seiner dunklen Augen ließ ihre Knie weich werden. Verlegen wollte Annabelle sich zurückziehen, da sie ihn offensichtlich gestört hatte, doch Nick rief sie zurück: „Einen Moment noch, Ms. Whitmore!“

„Ja bitte?“

Annabelle fühlte sich unbehaglich. Er starrte sie immer noch eindringlich an.

„Sagen Sie, haben Sie in den nächsten Tagen schon etwas vor?“

„Ich? Nein, ich … natürlich nicht“, stotterte sie unsicher. Und betete insgeheim: Keine Überstunden am Abend! Wo sollte sie dann Mia unterbringen?

Stattdessen fragte Nick Stephens: „Könnten Sie sich vorstellen, meine Frau zu werden, Ms. Whitmore?“

2. KAPITEL

In dem Augenblick, als seine Sekretärin den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, war Nick klargeworden, dass Annabelle Whitmore die Idealbesetzung für die Rolle seiner Ehefrau war. Zumindest, wenn es darum ging, seine Eltern zu überzeugen. Sie war der Inbegriff der tüchtigen Mitarbeiterin: stets freundlich, ruhig und kompetent. In den zwei Jahren, die sie nun schon für ihn arbeitete, hatte er noch nie Grund zur Klage gehabt. Ganz im Gegenteil: Ohne seine einfühlsame Assistentin konnte er sich sein Arbeitsleben kaum noch vorstellen. Und er war sicher, dass Annabelle ihn auch in dieser schwierigen Situation nicht im Stich lassen würde.

An ihrem ungläubigen, erschrockenen Blick erkannte er allerdings, dass er seine Frage etwas unglücklich formuliert hatte. Auch Gary starrte ihn überrascht an. Nick räusperte sich. „Was ich sagen will, Ms. Whitmore … würden Sie sich kurz setzen?“

Sie sah ihn mit einer Mischung aus Sorge und Zuneigung an, die sein Herz erwärmte. Ihre Augen waren nicht braun, wie er bisher immer angenommen hatte, sondern strahlten ihm im Abendlicht, das durch die Bürofenster hereinfiel, in einem satten Grün entgegen. Die Farbe bildete einen aparten Kontrast zu ihrem rotbraunen Haar. Wie üblich trug sie es zu einem akkuraten Pferdeschwanz zusammengefasst, doch er konnte sich vorstellen, wie es üppig über ihre Schultern fiel und ihr herzförmiges Gesicht einrahmte.

Er blinzelte irritiert. Warum fielen ihm all diese Dinge plötzlich auf? Dafür hatte er sich noch nie zuvor interessiert. Alles, was er über seine Mitarbeiter wissen musste, war, ob sie ihre Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigten. Für persönliche Gefühle oder gar Sentimentalität war nie Platz gewesen. Dabei löste Annabelles Anblick alles andere als Sentimentalität in ihm aus. Sie hing gebannt an seinen Lippen, ihre eigenen waren rot und voll und leicht geöffnet wie in Erwartung eines Kusses …

Entschlossen schob Nick den Gedanken zur Seite und erzählte seiner Sekretärin dieselbe Geschichte wie kurz zuvor Gary. Er berichtete von seiner patriarchalischen Familie, seinem Entschluss, Griechenland den Rücken zu kehren, und vom Tod seines Bruders, der nicht nur ein schlimmer Verlust war, sondern darüber hinaus auch seine Situation dramatisch verändert hatte.

Annabelle hörte aufmerksam und mit angespannter Miene zu. Als er Alexandros erwähnte, glaubte er, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Gleichzeitig spürte er einen Stich in seinem Herzen. Offensichtlich war Ms. Whitmore mit dem Gefühl von Verlust ebenso vertraut wie er.

„Und deshalb“, schloss er seine Erläuterungen, „brauche ich für meine Reise nach Illios eine Frau und ein Kind … die meine Familie spielen. Um meine Eltern zu beruhigen und ihnen eine Enttäuschung zu ersparen. Was sagen Sie dazu, Annabelle?“

Sie blickte erschrocken auf, als er sie mit ihrem Vornamen ansprach, da sie bisher immer sehr förmlich miteinander umgegangen waren. Aber nach allem, was er ihr eben erzählt hatte, fand Nick diese Anrede nur selbstverständlich.

Annabelle stammelte: „Ich … ich verstehe das nicht ganz, Mr. Stephens. Was soll ich wozu sagen?“

„Dazu, mich nach Griechenland zu begleiten und sich als meine Frau auszugeben!“

„Ich?“ Sie sprang auf und griff nach ihrer Handtasche, so als müsste sie sich schützen.

Nick machte einen Schritt auf sie zu. Sie duftete ganz zart nach Veilchen und Vanille, eine sehr anregende Mischung. „Bitte, Annabelle, Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen.“

„Aber, ich …“ Ihr Blick wich seinem aus und irrte durch den Raum, als würde sie nach einem Fluchtweg suchen. „Ich kann nicht einfach …“

„Es wäre nur für eine Woche. Nach der Geburtstagsfeier meines Vaters reisen wir sofort wieder ab. Und ich würde natürlich dafür bezahlen. Zwanzigtausend Pfund – und sämtliche Auslagen, die Sie haben. Falls Sie sich für den Anlass etwas Neues zum Anziehen zulegen müssen oder …“

„Aber das …“, sie ließ sich zurück in den Sessel sinken und wirkte nun nachdenklich, das kann doch niemals funktionieren. „Niemand würde glauben, dass wir beide – Sie und ich …“

„Warum nicht? Wer sollte daran zweifeln, wenn wir behaupten, dass es so ist? Abgesehen davon sind Sie eine sehr attraktive Frau … ich meine, jeder Mann könnte sich glücklich schätzen …“

Er geriet ins Stottern. Zugegeben, er hatte unterschätzt, wie schwer es sein würde, eine wildfremde Frau davon zu überzeugen, sich als seine Partnerin auszugeben. Auch wenn Annabelle natürlich keine Wildfremde war. Schließlich arbeiteten sie schon seit zwei Jahren Tag für Tag zusammen. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass er kaum etwas über sie wusste. Vielleicht war sie ja in einer Beziehung? Diese Möglichkeit hatte er gar nicht bedacht. Er war einfach davon ausgegangen, dass es niemanden in ihrem Leben gab, weil – warum eigentlich? Weil sie immer da war, still und kompetent, ohne jemals etwas Persönliches preiszugeben. Aber dafür hatte es auch nie eine Gelegenheit gegeben. Die Vorstellung, sie könnte vergeben sein, irritierte ihn, und nicht nur, weil das seinem Plan in die Quere kommen würde.

„Aber Ihre Eltern werden sicher Fragen stellen. Über uns!“

„Ich sehe da kein Problem. Meine Eltern sprechen nur ein paar Brocken Englisch. Und wir werden nicht sehr viel Zeit mit meiner Familie verbringen. Ich werde Zimmer in einem Hotel auf Kreta buchen. Auf Illios werden wir nur für die Feier sein. Ansonsten können Sie ein paar schöne Urlaubstage auf Kreta verbringen.“

„Und das – das Kind?“

Es schien sie Überwindung zu kosten, das Wort auszusprechen. Nick runzelte die Stirn. „Darüber habe ich schon nachgedacht. Wenn wir dafür keine Lösung haben, erzählen wir einfach, es wäre krank geworden und wir hätten es in der Obhut der Nanny in London gelassen.“

Annabelle sah ihn mit geröteten Wangen an. Sie wirkte regelrecht verlegen. „Ich – ich hätte vielleicht ein Kind.“ Sie schluckte. „Meine Schwester musste beruflich verreisen, nach Italien. Ich habe versprochen, in der Zwischenzeit auf ihre kleine Tochter aufzupassen.“

„Das wäre großartig!“, rief Nick. „Sie sind meine Rettung, Annabelle! Ich weiß nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte.“

Annabelle lächelte. Der rosige Schimmer, der ihre Wangen glühen ließ, stand ihr ausgezeichnet. „Aber ich – ich bin nicht sicher, ob das wirklich funktionieren kann. Warum haben Sie Ihren Eltern nur eine solche Lüge aufgetischt?“

Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Das missfiel ihm. Er ließ sich nicht vereinnahmen. Von niemandem. Niemals. „Meine Eltern können nicht verstehen, dass ich mein eigenes Leben lebe. Meinen eigenen Weg gehe. Für sie zählt nur die Familie. Sie erwarten von mir, dass ich ihre Traditionen fortführe. Aber ich bin kein Familienmensch. Ich brauche meine Freiheit. Ich lasse mich nicht einschränken!“

„Hätten Sie ihnen das nicht erklären können?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie hätten es nicht verstanden. Es wäre unweigerlich dazu gekommen, dass ich mich vollends von ihnen abgewandt hätte. Und das wollte ich Ihnen nicht antun. Nicht, nachdem sie bereits einen Sohn verloren haben.“

„Ja, das kann ich verstehen“, gab Annabelle zu. Ihre Stimme hatte den warmen, mitfühlenden Klang zurückgewonnen. „Aber ich – muss darüber nachdenken. Und mit meiner Schwester und Mia sprechen. Das ist meine … Nichte.“

„Natürlich.“

„Ich gebe Ihnen spätestens morgen Bescheid“, versprach sie und stand auf.

Etwas in ihrer Stimme vermochte Nick nicht einzuordnen. Zweifel, Erleichterung, Unsicherheit – es schien eine Mischung aus all diesen Dingen zu sein.

Als sie das Büro verlassen hatte, wandte er sich an Gary. „Ich hoffe, sie sagt zu. Annabelle wäre perfekt für die Rolle. Und wenn sie auch noch ein Kind an der Hand hat …“

„Ja, wirklich eigenartig“, gab Gary zu.

„Wie meinst du das? Eigenartig?“

„Es passt ein bisschen zu gut, findest du nicht? Warum sollte sie das tun? Engagierte Sekretärin hin oder her!“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte Nick eine Spur gereizt. „Ich nehme an, es ist das Geld, das sie interessiert. Ist das nicht für die meisten Menschen ein starkes Motiv?“

„Du glaubst, sie tut es nur wegen des Geldes?“

„Natürlich. Warum sonst?“ Warum sonst sollte sich eine Frau, die er kaum kannte, bereit erklären, sich als seine Partnerin auszugeben? Auch wenn er sonderbarerweise eine Spur von Enttäuschung bei diesem Gedanken verspürte – Geld regierte schließlich die Welt.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, gab Gary zur Antwort.

Annabelle hatte weiche Knie, als sie das Bürogebäude verließ. Sie fühlte sich wie in einem Traum und erwartete jeden Moment, daraus aufzuwachen. Hatte Nick Stephens ihr wirklich angeboten, sie mit nach Griechenland zu nehmen, wo sie vor seinen Eltern seine Frau spielen sollte? Konnte so eine verrückte Idee überhaupt wahr sein?

Als sie an der Haltestelle auf den nächsten Bus wartete, kniff sie sich fest in den Arm. Nein, sie träumte nicht! Sie stand tatsächlich im Berufsverkehr an der Straße, während ein leichter Nieselregen einsetzte und die Scheinwerfer der Autos, die an ihr vorbeifuhren, in verschwommene Lichtscheiben verwandelte.

Zwanzigtausend Pfund!

Sie schüttelte den Kopf. So viel Geld, nur damit sie ihren Chef zu einer Familienfeier begleitete. Es klang einfach zu fantastisch.

Dieses Geld würde die Lösung all ihrer Probleme bedeuten. Sie könnte ohne Weiteres eine anständige Wohnung für ihre Tochter und sich finden. Und darüber hinaus Zeit mit Mia verbringen, auf einer griechischen Insel! Erst einmal waren sie zusammen in den Urlaub gefahren. Im Vorjahr hatten sie ein paar Tage in Brighton an der englischen Südküste verbracht. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, unbeschwert und frei von den alltäglichen Sorgen.

Wie sehr sehnte sie sich nach etwas Entspannung und Erholung! Nur für kurze Zeit loszulassen, nicht ständig die Verantwortung zu spüren, die sie für Mia hatte. Und ihre Schwestern. Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie sehr ihr Leben sich seit jenem Sonntag vor fünf Jahren verändert hatte, als sie die schreckliche Nachricht erhielten. Der Busfahrer, mit dem ihre Eltern zu einem gemütlichen Ausflug nach Wales unterwegs gewesen waren, hatte die Kontrolle verloren, und der Bus war in eine Schlucht gestürzt. Sieben Insassen waren damals ums Leben gekommen. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter befanden sich unter den Opfern.

Immer noch spürte Annabelle Tränen in den Augen brennen, wenn sie daran dachte. Damals hatte sich ihre heile Welt von Grund auf verändert. Nichts war mehr so gewesen wie zuvor. Sie hatte ihr Studium abgebrochen und einen Job angenommen, um Carolyn die Ausbildung zur Kunstrestauratorin zu ermöglichen. Gemeinsam hatten sie ihre kleine Schwester Sam großgezogen, die kurz nach dem Unfall siebzehn geworden war. Was für eine trostlose Geburtstagsfeier das gewesen war … Die erste ohne ihre geliebten Eltern. Wenn Annabelle heute daran zurückdachte, schmerzte es sie sehr, dass sie auch nie ihr Enkelkind kennengelernt hatten.

Ihre Eltern hatten einen kleinen Pub in Hackney betrieben, das Three Crowns. Annabelle und ihre Schwestern hatten den größten Teil ihrer Teenagerjahre hinter dem Tresen verbracht. Sie erinnerte sich an rauchgeschwängerte Luft, den Geruch von Bier und Fritten, an Wärme, Lärm und Lachen. Wie sehr sie das alles vermisste! Die warmen Augen ihres Vaters, wenn er sie ansah, die liebevollen Umarmungen ihrer Mutter …

Sie hatten nie viel Geld gehabt, das Lokal war nur gepachtet, und das wenige, das ihre Eltern ihnen hinterlassen hatten, reichte gerade aus, um die Begräbniskosten zu bezahlen. Aber die Liebe und Zuneigung, die sie ihren Kindern geschenkt hatten, würde Annabelle ihr Leben lang im Herzen tragen. Dieses Gefühl von Familie war der Grundstein für den Zusammenhalt der drei Schwestern. Sie waren immer und überall füreinander da.

Annabelle blinzelte die Tränen fort. Sie wünschte, Sam und Carolyn wären jetzt hier, damit sie mit ihnen sprechen und sich beraten könnte. Aber die beiden durften nichts von alledem erfahren. Sie würden sich nur unnötig Sorgen machen. Das wollte sie auf keinen Fall.

Sie musste allein zu einem Entschluss kommen. Aber gab es überhaupt etwas zu überlegen für sie? Sie brauchte das Geld, das Nick Stephens ihr anbot. Dringender als irgendetwas sonst. Alles andere war im Moment unwichtig.

Wie in Trance stieg sie in den Bus und suchte sich einen Platz. Das Gesicht ihres Chefs tauchte vor ihr auf, seine dunklen Augen und das schwarze lockige Haar, das er immer mit derselben Geste zurückstrich, wenn er angestrengt nachdachte. Seine scharf geschnittenen Züge und der sonnengebräunte Teint, die seine griechischen Wurzeln nicht verleugnen konnten. Der Gedanke, eine ganze Woche mit ihm in Griechenland zu verbringen, löste ein unkontrolliertes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Sie und Nick Stephens!

Auch wenn ihr klar war, dass die Vorstellung absurd war. Er ging mit den schönsten Frauen der Stadt aus. Er hatte einen Ruf als Playboy und hielt nichts von dauerhaften Bindungen. Hatte er ihr das nicht eben deutlich erläutert? Er hätte ihr niemals auch nur einen zweiten Blick geschenkt, wenn diese verrückte Geschichte nicht wäre. Für ihn war sie nichts weiter als seine brave, kompetente Sekretärin, auf deren Hilfe er sich stets verlassen konnte.

Annabelle seufzte. Wenn er wüsste … Seit zwei Jahren träumte sie jede Nacht von ihm. Bekam feuchte Hände, wenn er sie in sein Büro rief. Schon sein Anblick ließ ihre Knie weich werden. Und die Aussicht, seine Frau zu spielen, fühlte sich an, als würden ihre Träume wahr …

Was für kindische Schwärmereien, rügte sie sich. Dafür war jetzt kein Platz. Das Ganze war eine rein geschäftliche Angelegenheit. So sah ihr Chef es, und genauso sollte auch sie es sehen. Sie tat das für Mia. Nur ihr hatte Annabelles Sorge zu gelten. Mia war das Wichtigste in ihrem Leben. Ihr gesamter Alltag drehte sich nur um sie.

Das fing morgens an, wenn sie aufstanden und sie ihre Kleine für den Kindergarten fertig machte. Entweder lieferte sie Mia auf dem Weg zur Arbeit selbst dort ab oder eine ihrer Schwestern kam vorbei, um das zu erledigen. Dann blieb Annabelle noch Zeit für eine zweite Tasse Kaffee, bevor sie ins Büro musste. Nachmittags wurde Mia von einer Tagesmutter betreut, die sie auch aus dem Kindergarten abholte und ihr Essen machte. Und abends waren wieder Carolyn oder Sam zur Stelle, wenn Annabelle aufgehalten wurde. Zu dritt hatten sie es immer geschafft, Mia nie allein zu lassen.

Wie sie das alles bewältigen sollte, nachdem Sam vor ein paar Wochen an die Côte d’Azur aufgebrochen war und nun auch Carolyn nicht mehr zur Verfügung stand, wusste Annabelle nicht. Aber sie konnte ihren Schwestern auf keinen Fall im Weg stehen, also hatte sie vorgegeben, alles wäre in Ordnung.

Sie holte tief Luft. Tatsächlich war Nick Stephens’ verrückter Plan ihre Rettung. Sie konnte gar nicht ablehnen, wenn ihr die Zukunft ihrer Tochter am Herzen lag.

An der nächsten Haltestelle stieg sie aus und eilte zum Haus der Tagesmutter. Sally begrüßte sie bereits ungeduldig, und Mia kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegengelaufen. „Mummy! Mummy!“

„Schätzchen!“ Überglücklich schloss sie ihre Tochter in die Arme. Was für ein wundervolles Gefühl, sie an sich zu drücken, ihr kleines Gesicht an ihrer Wange zu spüren! Nichts auf der Welt ließ sich damit vergleichen.

Mit Mias Vater hatte Annabelle nur eine kurze Beziehung geführt. Sie hatte ihn nach dem Tod ihrer Eltern kennengelernt. Damals hatte sie verzweifelt Halt und Liebe gesucht, aber noch vor Mias Geburt hatten Martin und sie sich wieder getrennt. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Aber die gemeinsame Zeit hatte sie nie bereut, denn er hatte ihr diesen Schatz geschenkt, für den sie unendlich dankbar war.

Nachdem sie sich von Sally verabschiedet hatten, gingen sie zu Fuß das letzte Stück zu ihrer Wohnung. Aufgeregt erzählte Mia ihr, was sie am Tag alles erlebt hatte. Annabelle wurde warm ums Herz, als sie dabei Mias Gesicht betrachtete, das vor Eifer und Aufregung glänzte. Ihre kastanienbraunen Locken waren wie immer wild und ungebändigt, ihre Augen funkelten. Die tiefblauen Augen hatte Mia von ihrem Großvater geerbt, so wie auch Carolyn und Sam. Annabelle kam mehr nach ihrer Mutter, die eine waschechte Irin aus dem Herzen von Dublin gewesen war.

Sie seufzte tief. Wenn sie doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Wenn sie auf dem Weg in das Three Crowns wären, um dort eine saftige Portion Fish and Chips zu genießen. Ihr Vater würde hinter dem Tresen Gläser polieren, und ihre Mutter würde ein altes irisches Volkslied vor sich hin summen und sich mit Mia im Rhythmus der Melodie wiegen.

„Woran denkst du, Mummy?“, wollte Mia neugierig wissen.

„Ach, gar nichts“, gab Annabelle hastig zurück. „Sag mal, wie würde es dir gefallen, nach Griechenland zu fahren?“

„Nach Griechenland?“ Mia runzelte die Stirn. „Was ist das?“

Annabelle lachte. „Das ist ein wunderschönes Land, das am Mittelmeer liegt. Ich habe dir doch schon vom Mittelmeer erzählt. Dort ist auch Tante Sam.“

„In Griechenland?“

„Nein, Sam ist in Südfrankreich. Das ist ein anderes Land. Aber in Griechenland ist es genauso schön wie bei Tante Sam. Du erinnerst dich doch an die Bilder, die sie geschickt hat? Das blaue Meer und den Strand?“

Mias Augen glänzten. „Oh ja, das wäre toll!“

„Mein Chef, Mr. Stephens, hat mich gebeten, ihn nach Griechenland zu begleiten. Er will dort seine Familie besuchen. Und ich soll dich auch mitnehmen. Allerdings …“

Mia neigte den Kopf zur Seite und blickte fragend zu ihr auf.

Annabelle kniete sich neben ihr nieder. „Es ist so … Mr. Stephens würde gerne ein Spiel spielen.“

„Ein Spiel?“ Mia schaute irritiert. Dass Erwachsene offenbar auch Spiele spielten, so wie Kinder, wollte ihr wohl nicht ganz einleuchten.

„Weißt du, die Eltern von Mr. Stephens sind schon sehr alt. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ein Enkelkind zu haben. Deshalb will Mr. Stephens ihnen eine Freude machen. Wir sollen so tun, als wäre er dein Daddy und seine Eltern deine Großeltern. Was hältst du davon?“

„Aber hat Mr. Stephens denn kein eigenes Kind?“, wollte Mia pragmatisch wissen.

„Leider nicht. Er sieht seine Eltern nicht sehr oft, und deshalb hat er sich überlegt …“

„Ach so“, meinte Mia ernsthaft. „Er denkt, dass sie bald sterben werden, und dann können sie ihr richtiges Enkelkind nicht mehr sehen. So wie Grandpa George und Grandma Helen.“

Annabelle schluckte. Wie selbstverständlich ihre Tochter vom Tod der Großeltern redete. Aber Kinder hatten wohl ein anderes Verständnis vom Tod als Erwachsene. Sie nickte. „Ja, genau. Das ist der Grund für dieses Spiel. Würdest du das machen? Würdest du Daddy zu Mr. Stephens sagen und seine Eltern Oma und Opa nennen? Nur während wir in Griechenland sind!“

„Ja, sicher“, erklärte Mia leichthin. „Das ist nicht schwer! Aber du wirst auch dabei sein?“

„Natürlich. Ich bin immer bei dir“, versprach sie. „Wir werden eine tolle Zeit dort haben und jeden Tag zum Strand gehen, das verspreche ich.“

Mia klatschte begeistert in die Hände. „Dann will ich ganz viele Wochen da sein!“

Annabelle schmunzelte. „Ich denke, eine Woche wird genügen. Wenn wir zu Hause sind, rufe ich gleich Mr. Stephens an und sage ihm, dass wir einverstanden sind.“

Vergnügt hüpfte Mia vor ihr her bis zu ihrem Wohnhaus. Annabelle folgte ihr nachdenklich. Für Mia war das Ganze offensichtlich ein aufregendes Spiel. Und für Nick Stephens war es ein Geschäft, mit dem er seine Interessen wahren wollte. Er bezahlte sie, damit sie ihn vor seinen Eltern gut dastehen ließ. Und sie? Was war diese Geschichte für sie?

Es ist eine Investition in die Zukunft meiner Tochter, sagte Annabelle sich nüchtern. Und es ist eine Möglichkeit, Nick Stephens nahe zu sein, flüsterte eine sehnsüchtige Stimme tief in ihrem Inneren. Auch wenn es verrückt und völlig unmöglich war.

Abgesehen davon war die Sache ein Schwindel. Sie hintergingen seine Eltern, und der Gedanke daran plagte ihr Gewissen.

3. KAPITEL

„Aber ja, Carolyn, es geht uns gut. Sehr gut sogar! Ich habe ein paar Tage frei bekommen, und Mia und ich haben uns spontan entschieden, nach Griechenland zu fliegen. Es war ein Last-Minute-Angebot … Wenn wir uns wiedersehen, erzähle ich dir mehr darüber. Hab einen schönen Aufenthalt in Italien. Und alles Gute für deine Arbeit!“

Rasch beendete Annabelle das Gespräch, bevor ihre Schwester weitere Fragen stellen konnte. Es verursachte ihr Unbehagen, Carolyn anzulügen. Obwohl es nicht wirklich eine Lüge war. Schließlich flog sie tatsächlich mit Mia für ein paar Urlaubstage nach Griechenland. Nur war es eben nicht die ganze Wahrheit. Aber die konnte sie Carolyn unmöglich erzählen. Schon gar nicht am Handy. Dafür brauchte es eine ruhige Stunde und vielleicht ein Glas Rotwein zur moralischen Stärkung. Aber diese Möglichkeit gab es im Augenblick nicht, also war es besser, ihre Schwester nicht zu beunruhigen.

Außerdem wartete Nick Stephens schon auf sie. Er stand neben Mia an einem Privatgate des Flughafens. Hinter den automatisch aufgleitenden Glastüren war ein schlanker Jet zu sehen, Nicks Privatjet, der sie nach Kreta bringen sollte. Von dort war es nur ein Katzensprung nach Illios, Nicks Heimatinsel.

Annabelle spürte ein flaues Gefühl im Magen. Sollte sie sich tatsächlich auf dieses verrückte Abenteuer einlassen?

Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Alles war bereit zum Abflug.

Neben Nick und Mia türmte sich ihr Gepäck. Nick hatte darauf bestanden, dass Annabelle sich in einer exklusiven Boutique in der Oxford Street neu einkleiden ließ. Auch Mia hatte neue Sachen bekommen, über die sie sich riesig freute. Den rosafarbenen Rucksack mit dem Einhorn-Emblem, den die Kleine sich ausgesucht hatte, trug sie heute stolz umher.

Das alles hätte Annabelle ihrer Tochter nie aus eigenem Antrieb bieten können. Sie sollte glücklich sein über diese Chance. Trotzdem fühlte sie sich wie Cinderella, kurz bevor die Turmuhr zwölf schlug. Irgendwann würde dieser Traum wieder vorbei sein. Sie konnte nur hoffen, dass es kein böses Erwachen für sie geben würde.

„Entschuldigt“, rief sie atemlos zu Nick und Mia hinüber. „Ich musste noch rasch etwas erledigen!“

Es wärmte ihr Herz, die beiden zusammen zu sehen. Mia stand völlig unbefangen und vertrauensvoll neben Nick Stephens und blickte neugierig zu ihm auf. Sie schien spontan Zutrauen zu ihm gefasst zu haben. Nick bemühte sich, zu lächeln, doch Annabelle konnte sehen, dass er angespannt war. Offenbar bereitete ihm diese Reise mehr Unbehagen, als er zugeben wollte. Außerdem schien er nicht viel Erfahrung im Umgang mit Kindern zu haben und nicht recht zu wissen, was er mit Mia anfangen sollte.

„Gut“, meinte er erleichtert. „Dann sollten wir jetzt starten.“

Er wandte sich zur Tür, während ein Flughafen-Angestellter herbeieilte, um ihr Gepäck an Bord zu bringen. In diesem Moment trat Mia auf Nick zu und griff nach seiner Hand. Überrascht blickte er zu ihr hinunter.

„Mummy sagt, ich soll immer ihre Hand halten, wenn wir außerhalb des Hauses sind“, erklärte Mia. „Und du bist doch jetzt mein Dad, oder?“

„Ja, natürlich, das bin ich“, gab Nick mit einem Anflug von Überraschung in der Stimme zu. „Und deine Mum hat völlig recht. Es ist sicherer, an der Hand eines Erwachsenen zu gehen.“

„Aber ich darf nicht mit Fremden gehen“, fuhr Mia nachdenklich fort. „Aber du bist ja kein Fremder, oder?“

Nick lächelte. „Nein, das bin ich nicht. Du, Annabelle und ich, wir sind jetzt eine Familie. Bist du damit einverstanden?“

„Natürlich“, erwiderte Mia. „Das hat mir Mummy alles erklärt!“

„Dann gehen wir.“ Nick trat durch die Glastür und führte Mia, immer noch an seiner Hand, die Gangway hinauf.

Annabelle folgte ihnen. Es war, als würde sie Schritt für Schritt in eine neue Welt eintauchen. Der Privatjet war luxuriös ausgestattet, mit gemütlichen hellen Ledersitzen. Hinter der Sitzgruppe befand sich ein Schreibtisch, an dem Nick offensichtlich während seiner Geschäftsreisen zu arbeiten pflegte. Eine Flugbegleiterin erwartete sie und half Mia und Annabelle, ihr Handgepäck zu verstauen und sich anzuschnallen.

Nick verschwand im Cockpit. Er wollte einen Teil der Strecke selbst fliegen, da er einen Pilotenschein besaß, wie Annabelle wusste.

Neben ihr schaute Mia mit glänzenden Augen um sich. Sie war noch nie in ihrem Leben geflogen. Diese Reise musste ihr wie ein großes Abenteuer vorkommen.

Und selbst Annabelle verspürte eine Mischung aus Neugier und Anspannung. Es war eine Reise ins Ungewisse, die sie da antrat, und das war etwas völlig Neues für sie. Normalerweise verließ sie sich lieber auf das Bekannte und Vertraute in ihrem Leben. Aber manchmal, wurde ihr klar, musste man ins kalte Wasser springen. Trotzdem fragte sie sich beklommen, was am Ende dieses Fluges wohl auf sie warten mochte. War sie zu naiv und vertrauensselig gewesen, einfach so in diesen Deal einzuwilligen? Immerhin wusste sie kaum etwas über Nick Stephens persönlich, geschweige denn über seine Familie.

Instinktiv griff sie nach Mias Hand und hielt sie fest, während der Jet auf die Startbahn rollte. Immer stärker beschleunigte er, bis sie spüren konnte, wie er abhob. Mia neben ihr schnappte überrascht und erfreut nach Luft.

„Wir fliegen, Mummy“, flüsterte ihre Tochter ihr zu. „Ist das nicht toll?“

„Ja, das ist es“, gab Annabelle zurück. Mias Begeisterung steckte auch sie an. Die Kontrolllampe für das Anlegen der Sicherheitsgurte erlosch, und die Flugbegleiterin erschien an ihrer Seite.

„Darf ich Ihnen den Lunch servieren?“, fragte sie, und Mia nickte eifrig.

Nachdem sie köstlichen gebratenen Lachs auf Curryreis verzehrt hatten, widmete Mia sich der Aussicht. Sie hatten inzwischen den Ärmelkanal hinter sich gelassen und überquerten das europäische Festland. Unter ihnen erstreckte sich eine Schachbrettlandschaft aus Rechtecken in verschiedenen Grün- und Braunschattierungen.

„Sieh nur die Häuser, Mummy!“, rief Mia und deutete nach unten. „Das sieht aus wie mein Spielzeug-Bauernhof!“

Tatsächlich wirkten die Gebäude, die sie vom Flugzeug aus sehen konnten, wie Spielzeug, das auf einem bunten Teppich ausgebreitet war. Staunend presste Mia ihre Nase gegen das Fenster.

„Ich hoffe, Sie genießen den Flug“, ertönte plötzlich Nick Stephens’ Stimme neben Annabelle. Erschrocken fuhr sie zusammen. Beinahe hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.

„Oh ja – es ist wunderbar. Mia ist noch nie in ihrem Leben geflogen“, stammelte sie hastig.

„Noch nie? Möchtest du gerne den Piloten im Cockpit besuchen, Mia?“, fragte Nick sofort.

Die nickte mit großen Augen. Sie sah Annabelle an. „Darf ich?“

„Natürlich.“ Sie half ihrer Tochter, den Sicherheitsgurt zu lösen.

„Ms. Mitchell wird dich begleiten“, erklärte Nick. Die Flugbegleiterin griff nach Mias Hand und verschwand mit ihr in Richtung Cockpit. Nick ließ sich auf den frei gewordenen Platz neben Annabelle sinken. „Was für ein zauberhaftes Kind. Wie alt ist sie?“

„Vier.“

„Und Ihre Schwester war einverstanden, dass sie uns begleitet?“

„Natürlich“, murmelte Annabelle und vermied es, ihn anzusehen. „Sie freut sich, dass Mia diese Möglichkeit bekommt. So einen Urlaub könnte sie sich niemals leisten.“

„Was macht Ihre Schwester beruflich?“

„Sie arbeitet für ein Auktionshaus in London. Die Arbeit ist sehr interessant, aber sie wird nicht allzu gut bezahlt.“

„Das kann ich mir vorstellen“, meinte er. „Haben Sie noch mehr Geschwister?“

„Noch eine Schwester“, erzählte sie. Allmählich gelang es ihr, sich etwas zu entspannen. Sie war erleichtert, dass Nick so gut mit Mia auskam. Und dass er keine weiteren Fragen über sie stellte. „Sam ist die jüngste von uns dreien. Sie arbeitet zurzeit in Südfrankreich im Hotel unserer Tante.“

„Und was machen Ihre Eltern?“

Annabelle schluckte. „Unsere Eltern leben nicht mehr. Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“

„Das tut mir sehr leid!“ Er klang betroffen. „Das wusste ich nicht. Es muss schwer für Sie drei sein, allein zurechtzukommen.“

Annabelle nickte und spürte dabei den unangenehmen Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. „Wir unterstützen uns gegenseitig, so gut es geht. Das würden unsere Eltern sich so wünschen.“

„Ja, das würden sie vermutlich“, murmelte Nick nachdenklich. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber in diesem Moment kam Mia mit der Flugbegleiterin zurück.

„Mummy, ich durfte das Flugzeug steuern!“

„Was du nicht sagst!“ Annabelle schloss sie in die Arme. Geistesgegenwärtig fragte sie: „Weißt du denn auch noch, wie du Mr. Stephens nennen sollst?“

„Natürlich. Ich soll Daddy zu ihm sagen.“ Stolz schaute Mia ihn an. Er nickte zufrieden.

„Du bist ein sehr kluges Mädchen!“

„Ich weiß“, erklärte Mia und grinste. „Ms. Mitchell will mir noch ihre Küche zeigen. Und ich bekomme Orangensaft!“

Fröhlich hüpfte sie an Ms. Mitchells Hand davon.

„Sie kann das schon sehr gut“, stellte Nick anerkennend fest. „Da müssen wir beide wohl noch etwas üben.“

„Was üben?“, fragte Annabelle.

„Uns bei unserem Vornamen anzusprechen. Und einander zu duzen.“

„Oh ja, natürlich.“ Sie spürte, wie sie rot wurde. Nick Stephens duzen! Das erschien ihr sehr intim.

„Also?“ Er sah sie erwartungsvoll an.

Annabelle blinzelte verwirrt. „Ja?“

„Willst du mich nicht Nick nennen?“ Er sah sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. Täuschte sie sich, oder schwang bei der Frage ein Hauch von Zärtlichkeit in seiner Stimme mit?

Sie räusperte sich. „Natürlich, Nick …“

Er hielt ihren Blick immer noch fest. „Sehr gut, Annabelle“, meinte er mit rauer Stimme. „Das klingt wirklich sehr gut!“

Was ist nur mit mir los? fragte Nick sich irritiert. Es schien, als könnte er sich nicht von Annabelle Whitmores grünen Augen losreißen. Als würde er darin versinken. Und der Klang ihrer sanften Stimme, wenn sie seinen Vornamen aussprach, erzeugte ein Kribbeln in seinem Körper, das er sich nicht erklären konnte.

Er sollte sich lieber konzentrieren. Schließlich würden sie bald Griechenland erreichen. Dann war es nicht mehr lange bis zum Wiedersehen mit seinen Eltern.

Würden sie wirklich glauben, dass Annabelle und er ein Ehepaar waren? Das Ganze erschien ihm plötzlich zu fantastisch, um funktionieren zu können. Aber nun hatte er einmal diesen Weg eingeschlagen und konnte nicht mehr zurück. Er konnte nur beten, dass Annabelle und ihre Nichte seine Familie überzeugen würden.

Nachdem sie in Chania im Nordwesten von Kreta gelandet waren, fuhren sie als Erstes in das Hotel, in dem Nick eine Suite für sie gebucht hatte. Es war ein elegantes dreistöckiges Gebäude in der Altstadt von Chania, mit dem Flair eines venezianischen Palazzos. Rasch machten sie sich frisch, dann ging es weiter zum Hafen. Eine Fähre, die in regelmäßigen Abständen fuhr, brachte sie auf seine Heimatinsel Illios.

Es war ein prachtvoller Frühsommertag. Die Sonne brannte noch nicht zu heiß, sodass sie die Fahrt mit der Fähre an Deck genießen konnten. Mia stand an der Reling und starrte fasziniert auf das schäumende Wasser, das der Rumpf des Schiffes aufwühlte. Möwen kreisten am Himmel und erfüllten die Luft mit ihren schrillen Schreien. Der Wind trug den Geruch nach Fisch und Salzwasser mit sich.

Auch Annabelle beugte sich über die Reling und drehte ihr Gesicht in den Wind, der mit ihrem rotbraunen Haar spielte. Sie hatte es zwar mit einer Spange festgesteckt, doch einige Strähnen lösten sich und umschmeichelten ihre Wangen, die von der frischen Seeluft gerötet waren.

Nick hatte während der Überfahrt Zeit, seine Sekretärin eingehender zu betrachten. Sie trug ein weißes Seidentop, das sanft ihre Rundungen umschmeichelte. Dazu eine lässig geschnittene blaue Hose und eine leichte helle Jacke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte. Außerdem flache Ballerinas. Sie war praktisch und trotzdem ungemein schick gekleidet. Noch nie zuvor war ihm aufgefallen, was für eine wunderschöne Frau sie war.

Nicht ganz sein Typ, musste er sich eingestehen. Sie war bestimmt nicht an einem flüchtigen Abenteuer interessiert. Wenn Annabelle Whitmore jemals ihr Herz verschenken würde, dann vermutlich für immer.

Er blinzelte irritiert. Wie kam er auf so einen Gedanken? Er hatte nicht die Absicht, irgendetwas mit Annabelle anzufangen. Es war schließlich eine rein geschäftliche Übereinkunft, die sie getroffen hatten.

Langsam schlenderte er zu ihr und lehnte sich neben ihr an die Reling. Annabelles grüne Augen strahlten. „Was für ein wundervoller Tag!“, rief sie begeistert. „Und das Meer! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wirklich so blau ist!“

„Du bist noch nie zuvor am Meer gewesen?“, fragte Nick überrascht.

„Nur in England. Im Sommer sind unsere Eltern ein paarmal mit meinen Schwestern und mir nach Brighton oder Bournemouth gefahren. Aber am Mittelmeer war ich noch nie!“

Nick lächelte. Ihre Begeisterung war ansteckend. „Ich habe es auch immer geliebt. Als Kind war ich den ganzen Tag über am Wasser zu finden, bin getaucht und geschwommen.“

„Das muss herrlich gewesen sein.“

„Ja, das war es“, stellte er nachdenklich fest. Tatsächlich hatte er eine unbeschwerte Kindheit auf Illios verlebt. Von den Sorgen und Kämpfen seiner Eltern hatte er nicht viel mitbekommen. Als Junge war für ihn jeder Tag ein großes Abenteuer gewesen. Er spürte einen Anflug von Melancholie, wenn er daran zurückdachte. Auch wenn er sein Bestes tat, jede Verantwortung und Verpflichtung von sich fernzuhalten, war sein Leben bei Weitem nicht mehr so frei und unbekümmert wie damals.

Mia stieß einen Schrei aus. „Da! Ein Delfin!“

Wirklich, einer der eleganten Meeressäuger hob seine graue Rückenflosse für einen Augenblick aus den Wellen und tauchte wieder unter. Mehrere Minuten lang schwamm er neben der Fähre her, während sich die Passagiere an Deck drängten, um ihn zu filmen und zu fotografieren. Auch Annabelle hielt den besonderen Anblick mit ihrem Handy fest.

„Das muss ich meinen Schwestern schicken!“, rief sie aufgeregt. „Sie werden mir nie glauben!“

Nick streckte den Arm aus. „Da vorne ist schon Illios!“

Am Horizont tauchte ein brauner Streifen aus dem Meer auf und wurde rasch größer. Neugierig spähten Mia und Annabelle in die Ferne. Nick spürte, wie die Anspannung in ihm wuchs. Was würde ihn zu Hause erwarten? Warum konnte er nie hierher zurückkehren, ohne ein Gefühl der Beklommenheit zu verspüren?

Der Hafen von Illios kam in Sicht. Daran grenzte eine kleine Ortschaft, die Illios-Stadt genannt wurde, mit ein paar Geschäften, Lokalen und einem Postamt. Den Mittelpunkt bildete die Kirche, neben der die Insel-Schule untergebracht war. Als die Fähre anlegte, sah er seine Schwester Elena an der Absperrung warten. Aufgeregt winkte sie ihm zu. Sobald sie die wackelige Gangway überquert hatten, stürzte Elena auf sie zu.

„Nikos, wie schön dich wiederzusehen! Ich freue mich so.“ Impulsiv fiel sie ihm um den Hals. Er bemühte sich, ihre herzliche Umarmung zu erwidern, aber er konnte nicht verhindern, dass er das Gesicht verzog. Nikos! Seine Familie konnte – oder wollte – sich einfach nicht an seinen selbst gewählten englischen Namen gewöhnen. Für sie würde er wohl immer der griechische Junge Nikos bleiben.

Elena drehte sich zu Mia und Annabelle um, die hinter ihm standen. Sofort wechselte sie zu perfektem Englisch. „Und das ist deine Frau! Und dein Kind!“ Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf die beiden zu. „Willkommen auf Illios. Ich bin Elena, Nikos’ Schwester.“

„Ich bin Annabelle. Und das ist meine – unsere Tochter Mia. Wir freuen uns sehr, hier zu sein.“

„Ich habe einen Delfin gesehen“, verkündete Mia mit großen Augen.

„Tatsächlich? Es gibt einige Delfine in der Ägäis, aber leider sind sie schon sehr selten geworden. Du hattest Glück, einen zu entdecken. Das musst du mir unbedingt genauer erzählen.“

Die beiden gingen voraus zu Elenas Wagen, einem altersschwachen grauen Kombi, der von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Aufgeregt schilderte Mia ihre Begegnung mit dem Delfin. Nick und Annabelle folgten ihnen mit einigen Schritten Abstand. „Meine Schwester habt ihr offensichtlich überzeugt“, raunte er. „Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.“

Annabelle stieß einen tiefen Seufzer aus. „Eigentlich …“, wiederholte sie mit zweifelnder Stimme.

Nick ertappte sich dabei, dass er gerne nach ihrer Hand greifen wollte, um sie aufzumuntern, aber er wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde. Sie hatten nicht abgesprochen, wie weit sie seiner Familie gegenüber Nähe oder Zuneigung demonstrieren sollten. Langsam dämmerte ihm, wie viel er bei diesem Plan nicht bedacht hatte.

Die Fahrt in Elenas Wagen führte durch eine karge, steinige Landschaft, die nur gelegentlich von schmalen Streifen Vegetation unterbrochen wurde. „Die meisten Leute hier bauen Oliven an“, erklärte Elena. „Es ist das Einzige, was auf diesem trockenen Boden wächst.“

Nach etwa fünfzehn Minuten erreichten sie ein weitläufiges Anwesen. Das Haupthaus und die Nebengebäude waren aus dem grauen Stein gemauert, der überall auf der Insel zu finden war. Dahinter erstreckte sich eine Olivenplantage mit Hunderten grau-silbernen Bäumen. Vor dem Wohnhaus stand eine ältere Frau, die aufgeregt ihre Finger knetete. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne und war erst von wenigen weißen Haaren durchzogen.

„Nikos! Nikos!“ Mit raschen Schritten eilte sie herbei, als sie ausstiegen. Sie schloss Nick in die Arme und überschüttete ihn mit einem Schwall griechischer Worte. Mit Mühe löste er sich aus ihrer Umklammerung.

„Mama, das ist Annabelle, meine Frau“, verkündete er, so feierlich er konnte. „Und das ist Mia.“

Nicks Mutter ergriff ehrfürchtig Annabelles Hand und hielt sie lange in der ihren. Tränen schimmerten in ihren dunklen Augen. „Willkommen, ich bin Maria“, murmelte sie in gebrochenem Englisch. „Ich freue mich. Ich freue mich!“ Sie beugte sich zu Mia und strich ihr über die kastanienbraunen Locken. „Mia“, wiederholte sie. „So schön, dich zu sehen.“ Dann schaute sie sich um. „Wo Koffer?“, fragte sie irritiert.

„Ich habe ein Zimmer auf Kreta gebucht“, erklärte Nick. „Wir wollen euch keine Umstände machen.“

„Umstände?“ Seine Mutter schüttelte entschlossen den Kopf. „Keine Umstände. Familie gehört zusammen. Ihr wohnt hier!“

Sie machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Erschrocken warf Annabelle Nick einen raschen Blick zu. Er nickte kaum merklich und beugte sich zu ihr. „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte er. „Ich kriege das schon hin!“

Mit seinen Eltern unter einem Dach zu wohnen, gehörte definitiv nicht zu seinem Plan. Sollten sie tatsächlich gezwungen sein, über längere Zeit auf engstem Raum zusammenzuleben, drohte diese Urlaubsreise schwieriger zu werden als gedacht.

4. KAPITEL

Mit einem Seufzen sah Annabelle sich in dem Schlafzimmer mit dem riesigen Doppelbett um, das für sie und Nick vorgesehen war. Eine Verbindungstür führte in einen zweiten, kleineren Raum, der liebevoll als Kinderzimmer eingerichtet worden war. Vermutlich war es Elenas altes Zimmer. Mia hatte sofort ihren Rucksack auf das Bett geworfen und es sich auf der Tagesdecke bequem gemacht.

Natürlich hatte sich Nicks Mutter nicht umstimmen lassen. Alles war extra für sie vorbereitet worden: Die Vorhänge waren gewaschen, die Betten frisch bezogen, und in jedem Zimmer stand ein selbst gepflückter Blumenstrauß. Ein Junge, der auf der Plantage aushalf, war zum Hafen geschickt worden, um mit der nächsten Fähre nach Kreta zu fahren und das Gepäck zu holen.

Sosehr die Fürsorge und der Eifer von Nicks Mutter Annabelle rührten, so unwohl fühlte sie sich bei dem Gedanken, mehrere Tage hier zu verbringen, so nahe bei Nick. Außerdem würden sie seine Eltern auf Dauer doch nie täuschen können …

„Ich werde in Elenas Zimmer übernachten“, raunte er ihr zu. „Mia und du könnt im Doppelbett schlafen. Es ist nur für eine oder zwei Nächte. Bis die Geburtstagsfeier vorbei ist. Das verspreche ich.“

„Wusstest du davon?“ Sie konnte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme nicht verbergen.

„Natürlich nicht. Ich habe nur nicht mit der Hartnäckigkeit meiner Mutter gerechnet!“

„Das sehe ich“, erwiderte Annabelle mit einem Lächeln. Ihre Mutter hätte genauso gehandelt. Es wäre undenkbar für sie gewesen, dass ihre Kinder bei einem Besuch nicht in ihrem Haus übernachteten.

Tatsächlich erinnerte sie vieles hier an ihre eigene Familie. Und ihr wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie das alles vermisste. Umsorgt und verwöhnt zu werden. Zu wissen, dass es da jemanden gab, auf den sie sich immer verlassen konnte. Das herzliche Willkommen, das Nicks Familie ihnen entgegenbrachte, tat ihr unglaublich gut.

„Kommt ihr?“, rief Mia, nachdem sie die Zimmer erkundet hatte. „Tante Elena hat gesagt, sie zeigt mir die Tiere auf dem Hof!“

Mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes hatte die Kleine ihre neue „Familie“ akzeptiert. Annabelle wünschte, sie könnte das auch. Sie wollte diesen Aufenthalt einfach nur genießen, ohne sich ständig Sorgen darüber machen zu müssen, dass sie ertappt wurde.

Während sie nach unten gingen, schaute Annabelle sich weiter aufmerksam um. Die Treppe führte in einen weitläufigen Wohnraum, dessen Fenster den Blick nach allen Seiten freigaben. Ein offener Durchgang führte in die Küche, wo sie Maria geschäftig hantieren hörte. Offensichtlich war sie mit Eifer dabei, das Abendessen vorzubereiten. Das Haus war einfach, aber gemütlich eingerichtet, mit bunten Teppichen und Vorhängen und einem Sammelsurium an Möbelstücken, die nicht zusammenzugehören schienen, aber trotzdem ein harmonisches Ganzes ergaben.

Elena zog sie ins Wohnzimmer, wo ein weißhaariger alter Mann in einem Lehnstuhl am Fenster saß. Obwohl er gebrechlich wirkte, sprachen aus seiner Haltung und seiner Miene Stolz und Unbeugsamkeit. Die Ähnlichkeit zwischen Nick und ihm war verblüffend.

„Papa, sieh nur, Nikos ist nach Hause gekommen!“, rief Elena und umarmte den alten Mann. „Mit seiner Frau Annabelle und ihrer Tochter Mia!“

„Nikos?“ Verwirrt blickte der Mann von einem zum anderen. „Nikos sollte doch bei der Arbeit sein! Die Olivenbäume müssen beschnitten werden!“

„Natürlich, Papa“, erwiderte Elena geduldig. „Das werden wir so schnell wie möglich erledigen. Ruh dich jetzt aus. Du bist sicher müde.“

Verlegen führte Elena sie wieder hinaus. „Der Arzt sagt, er leidet an beginnender Demenz“, flüsterte sie ihnen zu. „An manchen Tagen ist er ganz normal, und an anderen scheint er sich an kaum etwas zu erinnern. Dann lebt er ganz in der Vergangenheit. Seit Alexandros’ Tod ist es deutlich schlimmer geworden.“

„Das tut mir sehr leid“, erwiderte Annabelle. „Es muss schwer für Maria und dich sein, dabei zuzusehen.“

„Das ist es“, gab Elena zu. „Aber umso mehr freue ich mich, dass ihr nun hier seid. Schließlich sind wir eine Familie!“

Annabelles Herz machte einen Sprung. Wieder Teil einer Familie zu sein, bedeutete ihr sehr viel. Auch wenn es nur eine Familie auf Zeit war. Und sie fühlte wirklich mit Elena mit. Sich vorzustellen, ihr Vater hätte sich nicht mehr an sie erinnern können, war schmerzhaft. Sie konnte nur ahnen, wie es Elena und ihrer Mutter dabei erging.

„Kann man nichts dagegen tun?“, fragte Nick. Auch er wirkte betroffen. Offensichtlich hatte er nichts von der Erkrankung seines Vaters gewusst.

Elena schüttelte den Kopf. „Er bekommt ein paar Medikamente, aber nichts hilft wirklich. Es ist ein langsamer Prozess. Trotzdem ist er leider unaufhaltsam. Ich hatte gehofft, dass euer Besuch ihn ein wenig wachrüttelt, aber wie man sieht …“

„Vielleicht ist er nur müde“, meinte Annabelle mitfühlend. „Er hat die Aufregung, die unser Besuch verursacht hat, sicher mitbekommen.“

„Ja, du hast recht“, sagte Elena mit neuer Zuversicht. „Vielleicht geht es ihm am Abend wieder besser.“

Sie führte sie hinaus auf den Hof, und Mia lief begeistert zu einem Zaun, hinter dem sich Hühner und Gänse tummelten. Mit Elenas Hilfe durfte sie die Tiere füttern. Währenddessen sah Annabelle sich um. Alles wirkte sehr einfach und ländlich hier, aber es strahlte Wärme und Geborgenheit aus. Allerdings konnte sie spüren, dass Nick angespannt war. Es schien ihm unangenehm zu sein, an seine Wurzeln erinnert zu werden.

Annabelle konnte das nicht verstehen. Auch sie kam aus einfachen Verhältnissen, trotzdem hatte sie in ihrer Kindheit nie das Gefühl gehabt, dass ihr etwas fehlte. Im Gegenteil, sie hatte sich immer gern an die glückliche Zeit mit ihren Eltern und Schwestern zurückerinnert. Aber Nick als erfolgreicher Geschäftsmann sah das wohl anders. Er bewegte sich in London in vornehmen Kreisen, verkehrte mit Politikern und Stars. Kein Wunder, dass er sich hier auf Illios mittlerweile fehl am Platz fühlte.

„Wenn ihr wollt, zeige ich euch gerne die Olivenplantage“, schlug Elena vor.

„Sehr gern“, antwortete Annabelle. Nicks Schwester wurde ihr immer sympathischer. Sie war ihren eigenen sehr ähnlich. Auch auf Elena schien man sich bedingungslos verlassen zu können.

Sie führte sie hinter das Haus, wo sich auf mehreren Terrassen, die in den kargen Felsen gehauen waren, Reihen um Reihen von silbergrau schimmernden Olivenbäumen erstreckten.

„Olivenbäume gehören zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschen“, erklärte Elena. „In Griechenland baut man Oliven schon seit etwa viertausend Jahren an. Sie sind das wichtigste landwirtschaftliche Produkt hier auf den Inseln. Allerdings ist der Weltmarktpreis für Olivenöl in den letzten Jahren stark gefallen. Nur die wenigsten können vom Olivenanbau leben.“

„Das ist schade“, meinte Annabelle. „Olivenöl ist doch sehr gesund.“

Nachdenklich betrachtete sie den Olivenbaum, vor dem sie standen. Er war erstaunlich hoch, sicher an die zwei Meter, mit glatter Rinde und spitz zulaufenden graugrünen Blättern, die an der Unterseite silbrig glänzten.

„Allerdings.“ Elena seufzte. „Am härtesten trifft es die Frauen hier auf Illios. Die meisten Männer arbeiten ohnehin auf Kreta und betreiben den Olivenanbau nur als Nebenerwerb. Aber für die Frauen gibt es keine andere Möglichkeit, Geld zu verdienen.“

„Könnte man nicht etwas für sie tun?“, fragte Annabelle besorgt. Sie wusste, was es bedeutete, jeden Penny umdrehen zu müssen, um den Lebensunterhalt für die eigene Familie sicherzustellen.

Elena freute sich offensichtlich über ihr Interesse. „Ich hatte schon daran gedacht, eine Kooperative zu gründen. Ich würde gerne die Verarbeitung der Oliven auf andere Bereiche ausweiten und zum Beispiel Kosmetikprodukte aus Olivenöl herstellen. Die Frauen könnten sich mit ihrer Arbeitskraft in die Kooperative einbringen und einen Anteil am Gewinn bekommen.“

„Das wäre eine wunderbare Idee“, meinte Annabelle.

Elena seufzte. „Leider will Papa nichts davon hören. Der Olivenanbau ist in seinen Augen reine Männersache, und er wird so betrieben, wie es seit Jahrhunderten üblich ist. Da ist er stur.“

Spontan griff sie nach Elenas Hand und drückte sie. „Das tut mir leid. Ich finde deine Ideen wirklich vielversprechend.“

Elena schenkte ihr einen warmen Blick. „Danke, das freut mich.“ Sie drehte sich einmal um sich selbst und breitete dabei die Arme aus. „Weißt du, ich bin auf Illios geboren und habe den größten Teil meines Lebens hier verbracht. Das ist meine Heimat. Ich würde sehr gerne etwas für die Menschen hier tun, der Insel etwas zurückgeben.“

Annabelle drehte sich zu Nick um, der etwas abseits von ihnen stand. „Kann man euren Vater nicht umstimmen? Um die Zukunft von Illios zu sichern?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, es ist sehr schwierig, unseren Vater von etwas zu überzeugen, das er nicht will. Ich habe dir ja gesagt, dass er ein Patriarch der alten Schule ist. Und in seinem momentanen Zustand ist es vermutlich noch schwerer geworden, vernünftig mit ihm zu reden. Außerdem … wenn etwas einfach nicht mehr rentabel ist, sollte man besser die Finger davon lassen.“

Annabelle sah ihn erschrocken an. Wie konnte er Elena so etwas ins Gesicht sagen? Offensichtlich hing sie mit ganzem Herzen an der Plantage und der Insel und wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. Sie hatte eine Chance verdient, fand Annabelle.

Aber Nick war ein erfahrener Geschäftsmann. Und vermutlich hatte er recht. Was verstand sie schon von diesen Dingen? Trotzdem hätte sie seiner Schwester gerne geholfen. Auch in Elenas Gesicht standen Betroffenheit und Enttäuschung. Und wenn Annabelle nicht alles täuschte, erkannte sie sogar einen Funken Verzweiflung. Wie es schien, kämpfte Nicks Schwester schon seit Langem gegen Windmühlen an.

„Wir sollten besser zurückgehen“, meinte Elena seufzend. „Mutter wird sich schon Sorgen machen, wo wir stecken. Kann ich noch einen Moment allein mit dir reden, Nikos?“

„Wir gehen schon vor“, sagte Annabelle hastig. Sie konnte spüren, dass Nick das bevorstehende Gespräch gerne vermieden hätte. Aber er schuldete es seiner Schwester, sie zumindest anzuhören. Ob ihm das, was sie zu sagen hatte, nun passte oder nicht.

Nachdenklich blickte Nick hinter Annabelle her, als sie mit Mia an der Hand durch den Olivenhain davonging. Im Gegensatz zu ihm fühlte sie sich hier auf der Insel anscheinend sehr wohl und nahm großen Anteil an den Problemen der Bewohner. Einmal mehr wurde ihm bewusst, was für eine herzliche, großzügige Frau seine Sekretärin war. Eigenschaften, die ihm auch im täglichen Geschäftsleben zugutekamen. Nur waren sie ihm bisher nie so deutlich aufgefallen.

So wie ihm vieles an Annabelle Whitmore bisher nicht aufgefallen war. Dieser wiegende Gang zum Beispiel, der ihre Proportionen so überaus reizvoll betonte. Ihr kastanienbraunes Haar, das sie jetzt offen trug, schimmerte in der Sonne. Wie ein seidener Umhang fiel es über ihren Rücken.

„Und?“, fragte Elena ohne Überleitung. „Willst du mir verraten, wer sie ist?“ Mit verschränkten Armen stand sie vor ihm und sah ihn herausfordernd an.

Nick blinzelte irritiert. „Wer?“

„Annabelle. Sie ist nicht deine Frau, so viel ist klar.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte er überrascht.

Elena warf ihm einen schiefen Blick zu. „Auch wenn du wenig Interesse an deiner Familie hast, beruht das nicht auf Gegenseitigkeit. Ich verfolge dein Leben sehr wohl in den Medien. Wir haben Internet hier auf Illios, weißt du? Und ich sehe, mit welchen Frauen du üblicherweise ausgehst. Annabelle gehört nicht zu diesem Typ.“

„Welchen Typ meinst du?“

„It-Girls und Modepüppchen“, erklärte sie trocken.

Nick musste zugeben, dass sie damit nicht unrecht hatte. Einige seiner Dates würden in diesem steinigen Gelände in ihren geliebten High Heels vermutlich keine zwei Meter weit kommen, anders als Annabelle, die sich für flache Sandaletten entschieden hatte.

Nein, sie entsprach wirklich nicht seinem üblichen Beuteschema. Mit diesen anderen Frauen hatte er nie ernste Absichten verfolgt. Und das wussten sie auch. Mit Annabelle wäre es anders, das war ihm klar. Natürlich hatte er keineswegs vor, eine Beziehung mit ihr einzugehen. Das war nie Teil seiner Überlegungen gewesen. Auch wenn die Vorstellung etwas durchaus Prickelndes hatte …

Elena hob abwehrend die Hände. „Keine Angst, ich werde dich nicht bloßstellen. Mama und Papa freuen sich riesig über deine sogenannte Familie. Ich will ihnen die Illusion nicht nehmen. Sie leiden genug darunter, dass Carla mit den Kindern zurück nach Athen gegangen ist, zu ihrer eigenen Familie. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wie ich schon sagte: Es gibt hier auf Illios nichts, womit eine Frau sich ihren Lebensunterhalt verdienen könnte. Das gilt bald auch für mich.“

„Wie meinst du das?“, fragte Nick. Gegen seinen Willen ließ er sich von Elena wieder in die Angelegenheiten der Familie und der Insel hineinziehen, obwohl er sich geschworen hatte, sich aus allem herauszuhalten. Er war nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft. Er gehörte nicht hierher.

Elena seufzte. „Der Betrieb ist pleite. In fünf Tagen wird das alles hier zwangsversteigert.“

Er starrte sie fassungslos an. „Was? Warum hat mir keiner etwas davon gesagt?“

„Wozu? Damit du uns großzügig eine Finanzspritze zukommen lässt? Wir brauchen dein Geld nicht. Mama und Papa brauchen jemanden, der sie unterstützt. Der die Verantwortung übernimmt. Aber das war ja noch nie deine Stärke, nicht wahr? Verantwortung zu übernehmen oder gar Verpflichtungen einzugehen, hast du immer gemieden wie der Teufel das Weihwasser.“ Wütend blitzte sie ihn an.

Nick ignorierte ihre Anschuldigungen und ging stattdessen zum Gegenangriff über. „Ist dir überhaupt klar, was ihr da von mir erwartet? Ich lebe seit fünfzehn Jahren in London. Ich habe mir dort erfolgreich ein Unternehmen aufgebaut. Denkst du wirklich, ich lasse das einfach sausen, um hier auf Illios Oliven anzubauen?“

Sie atmete tief durch und strich sich mit derselben fahrigen Bewegung die Haare aus dem Gesicht, wie er es oft tat. „Natürlich nicht. Es ist nur … ich weiß langsam nicht mehr weiter. Aber vielleicht ist es ja am besten so. Dann bekommt Sophia endlich, was sie will, und alles ist vorbei!“

Nick hob ruckartig den Kopf. „Sophia? Was hat Sophia damit zu tun?“

Ein längst vergessenes Bild aus der Vergangenheit tauchte vor seinem inneren Auge auf: Sophia Kuturis und er auf einem Felsen am Meer, eine Flasche Ouzo zwischen ihnen, wie sie lachten und Pläne für die Zukunft schmiedeten. Sophia war seine erste Liebe gewesen: frech, rebellisch und unbekümmert, genau die Art von Frau, die ihn schon immer angezogen hatte. Die viel gab und wenig erwartete. Oder zumindest schien es ihm so.

Doch dann wollte sie doch mehr. Einen Verlobungsring, um ihren Ruf zu wahren, wie sie sagte. Sie fing an, von einer Familie und Kindern zu reden. Das war der letzte Tropfen gewesen, der Nicks Verlangen nach Freiheit und einem Leben außerhalb von Illios zum Überlaufen brachte. Heimlich hatte er seine Sachen gepackt und die Insel ohne ein Wort des Abschieds verlassen. Erst als er schon in England gewesen war, hatte er sich bei seinen Eltern gemeldet, um ihnen zu sagen, dass es ihm gut ging.

Ja, seine Schwester hatte recht: Verantwortung und Verpflichtungen hatten nie ganz oben auf seiner Prioritätenliste gestanden. Und daran hatte sich auch nichts geändert. Trotzdem wies er ihre Vorwürfe von sich. Er war seiner Familie nichts schuldig.

„Sophia besitzt die größte Olivenplantage auf Illios“, unterbrach Elena seine Gedanken. „Sie kauft alle kleineren Betriebe auf. Wenn sie bei der Zwangsversteigerung auch unsere Anlage erwerben kann – und ich bezweifle, dass irgendjemand sonst ein Interesse daran hat –, ist sie die alleinige Olivenproduzentin auf der Insel. Was dann aus uns wird …“ Hilflos zuckte Elena mit den Schultern. „Ich werde Mama und Papa zu Christianos und mir holen. Unser Haus in Illios-Stadt ist groß genug. Aber es wird schwer für die beiden werden, ihre Heimat, ihr Zuhause zu verlassen …“

Nick spürte, wie sich Widerstand in ihm regte. Elena konnte ihn nicht für die Misswirtschaft seiner Eltern verantwortlich machen. Oder dafür, dass ihr Produkt auf dem Markt einfach nicht mehr konkurrenzfähig war. So lief das Geschäftsleben nun einmal. Er musste sich selbst Tag für Tag damit auseinandersetzen. Und er wollte nicht von ihr in Angelegenheiten hineingezogen werden, die ihn nichts angingen und an denen er auch kein Interesse hatte. Zu hart hatte er in den letzten fünfzehn Jahren um seine Unabhängigkeit gekämpft.

Abrupt wandte er sich ab. Es fiel ihm schwer, Elena bei seinen nächsten Worten in die Augen zu sehen. Sie war seine Schwester, sein Fleisch und Blut. Er hätte sie gerne unterstützt, aber er musste auch an sein eigenes Leben denken …

„Es tut mir sehr leid“, sagte er, harscher als beabsichtigt, „aber wenn ihr mein Geld nicht annehmen wollt, dann weiß ich beim besten Willen nicht, was ich tun soll!“

5. KAPITEL

Als Annabelle am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie war. Auf Illios. Im Haus von Nick Stephens’ Eltern. Und Nick schlief im angrenzenden Zimmer. Konnte das wirklich wahr sein?

Es hatte am vergangenen Abend lange gedauert, bis sie endlich in den Schlaf gefunden hatte. Zu viele Dinge waren ihr durch den Kopf gegangen. Sie hatten mit Nicks Familie Abendbrot gegessen. Dabei hatte sie auch Elenas Mann Christianos kennengelernt, der als Lehrer an der Schule von Illios-Stadt arbeitete. Die beiden hatten keine Kinder, was vermutlich der Grund war, warum Elena sich so leidenschaftlich für ihre Heimatinsel und den Fortbestand des Familienbetriebs einsetzte. Es gab ihr eine Lebensaufgabe.

Nicks Vater war beim Essen wieder deutlich munterer und orientierter gewesen. Seine Freude darüber, Nick und seine kleine „Familie“ zu sehen, hatte Annabelle sehr berührt. Vor allem mit Mia hatte Dimitrios sich angefreundet. Die zwei hatten sich angeregt mit Händen und Füßen und in gebrochenem Englisch unterhalten.

Genüsslich streckte und rekelte Annabelle sich in ihrem Bett. Sie konnte nicht leugnen, dass sie sich auf Illios wohlfühlte. Alle hatten sie so herzlich aufgenommen. Und in Nicks Nähe zu sein, mit ihm zu lachen und Zeit zu verbringen, hatte ihr Herz mehr als einmal ins Stolpern gebracht. Auch jetzt spürte sie bei dem Gedanken, dass er nur ein paar Schritte entfernt war, ein erregendes Prickeln.

Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich nach Nähe und Zärtlichkeit sehnte. Nach jemandem, der sie in den Arm nahm und festhielt. Einem Mann wie Nick Stephens. In den letzten Jahren hatte sie wie eine Nonne gelebt. Eigentlich hatte ihr das nicht allzu viel ausgemacht. Der Alltag mit Mia hatte sie voll und ganz in Anspruch genommen. Doch jetzt regten sich plötzlich Gefühle und Bedürfnisse in ihr, die sie längst vergessen zu haben schien.

Das ist doch verrückt, sagte sie sich. Das ist nicht real, sondern nur ein Spiel! Sobald wir wieder in London sind, ist das Märchen ausgeträumt. Dann verwandelt die Prinzessin sich wieder in Aschenputtel. Aber solange es dauerte, würde sie diese Verrücktheit genießen. Sie konnte gar nicht anders.

Dann fiel ihr auf, dass Mia nicht neben ihr lag. Rasch sprang sie auf und zog sich an. Als sie in die Küche kam, saßen ihre Tochter und Dimitrios einträchtig bei einer Tasse Kakao nebeneinander und betrachteten ein altes Fotoalbum. Mia deutete auf eins der Fotos.

„Sieh mal, Mummy, das ist Nick als kleiner Junge – ich meine, Papa“, verbesserte sie sich hastig.

Neugierig setzte Annabelle sich zu den beiden an den großen Holztisch. Die verblasste Fotografie zeigte einen etwa zehnjährigen Jungen mit dichtem schwarzem Haar, der vorwitzig in die Kamera grinste. Ja, das war unverkennbar Nick! Schon damals hatte er dieses abenteuerlustige Funkeln in den Augen und diesen herausfordernden Blick gehabt. Annabelle lächelte nachdenklich. Er war einen weiten Weg gekommen, seit diese Fotografie aufgenommen worden war. Da war es wohl kein Wunder, dass er sich seiner Vergangenheit nicht mehr allzu verbunden fühlte.

„Annabelle, guten Morgen! Bitte, Frühstück!“

Nicks Mutter Maria trat mit einer Kanne frisch gebrühtem Kaffee in der Hand zu ihr. Dankbar ließ sich Annabelle von ihr einschenken und bestrich eine Scheibe Brot mit Butter und Honig. Alles hier schmeckte viel frischer und intensiver, als sie es von London gewohnt war. Auch die Luft hatte diesen prickelnden, leicht salzigen Geruch.

„Guten Morgen!“

Annabelle fuhr herum, als Nick die Küche betrat. Er trug ein helles Hemd, das weit offen stand, und lässige graue Chinos. Sein Haar glänzte noch feucht vom Duschen. Der Anblick zauberte ein scheues Lächeln auf ihre Lippen. Gleichzeitig fühlte sie heiße Röte in ihre Wangen steigen. Himmel, sie musste aufhören, sich wie ein verliebter Teenager aufzuführen!

„Nikos, setz dich zu Annabelle“, befahl seine Mutter resolut. „Hier, trink Kaffee. Du siehst müde aus.“

Sie zwinkerte ihm mit einem wissenden Lächeln zu, und Annabelle senkte rasch den Kopf, um ihr glühendes Gesicht zu verbergen. Gott, wie peinlich!

Auch Nick schien die Situation unangenehm zu sein. Er rührte in seinem Kaffee und vermied es, sie anzusehen.

„Ich muss ein paar dringende Telefongespräche führen“, erklärte er ohne Überleitung. „Ich werde mich auf die Veranda setzen. Dort habe ich vermutlich den besten Empfang.“

Bevor irgendjemand etwas darauf erwidern konnte, stand er auf und verließ die Küche. Annabelle knabberte sorgenvoll an ihrer Unterlippe. Was war nur los mit ihm? So unruhig und angespannt kannte sie ihren Chef gar nicht. Setzte ihm diese ganze Familiengeschichte so zu? Aber er hatte doch erklärt, sich aus allem heraushalten zu wollen …

„Oma Maria und ich gehen die Hühner füttern!“, rief Mia in diesem Augenblick. „Kommst du mit, Mummy?“

„Natürlich! Gerne.“

Rasch stellte Annabelle ihr Frühstücksgeschirr in das Spülbecken und folgte den beiden nach draußen. Maria holte einen Korb, der mit Körnern und Krumen gefüllt war. Sie zeigte Mia, wie sie das Futter ausstreuen musste, damit alle Hühner etwas davon abbekamen. Begeistert machte sich die Kleine an die Arbeit.

Maria legte ihre Hand auf Annabelles Arm. „Sie ist bezaubernd“, erklärte die alte Frau mit belegter Stimme. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Ist dir sehr ähnlich.“

Annabelle schluckte. Aber Maria sollte ja glauben, dass Mia ihre Tochter war. Nur Nick durfte nichts davon erfahren. „Vielen Dank“, flüsterte sie.

„Wir haben gehofft, dass Nikos uns ein Enkelkind schenkt“, fuhr Maria fort. „Ich danke dir! Ich danke dir so sehr!“

„Ich freue mich, hier zu sein“, erwiderte sie verlegen. „Es ist wundervoll auf Illios. Und du und Dimitrios – ihr seid eine wundervolle Familie. Nick kann sich glücklich schätzen, euch zu haben!“

„Wo leben deine Eltern?“, fragte Maria neugierig.

Annabelle senkte den Kopf. „Sie sind gestorben. Beide. Bei einem Verkehrsunfall vor fünf Jahren.“

„Das tut mir leid“, meinte Maria betroffen. „Ich bin froh, dass du Nikos hast. Er liebt dich sehr, das sehe ich.“

Annabelle warf ihr einen raschen Blick zu. Wie kam sie darauf?

Natürlich ging sie davon aus, dass sie ein glückliches Paar waren – daran musste es liegen. Sie nickte nur und bemühte sich, seine Mutter nicht anzusehen.

„Du gehörst jetzt zu unserer Familie“, fuhr Maria fort. „Und ich wäre so froh, wenn ihr bleiben würdet. Vielleicht kannst du Nikos überreden …“

Annabelle hob den Blick und schaute in Marias flehende Augen. Es war Maria und Dimitrios nicht zu verdenken, dass sie auf die Hilfe ihres Sohnes hofften. Sie waren alt und gebrechlich. Man konnte sehen, dass ihnen alles zu viel wurde.

Unbehaglich zog Annabelle die Schultern hoch und stammelte: „Ich … wir leben in London. Dort hat Nick seine Firma. Ich bin mir nicht sicher …“ Verlegen brach sie ab. Und sie verfluchte sich selbst, dass sie sich auf diesen Betrug eingelassen hatte. Zu viele Menschen drohten dabei verletzt zu werden. Und nicht zuletzt war ihr eigenes Herz in Gefahr.

„Ok, das geht so in Ordnung, Craig. Sie können den Vertrag unterschreiben und zurückschicken. Sollte es noch Fragen geben, können Sie mich jederzeit erreichen.“

Nick beendete das Gespräch mit seinem Stellvertreter Craig Wesson. In London lief alles nach Plan, trotzdem war er unruhig und gestresst. Vielleicht lag es daran, dass er in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Zu viele Erinnerungen waren auf ihn eingestürmt. Zu vieles nagte an ihm, sosehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte. Blicklos starrte er über die karge Landschaft, die das Anwesen seiner Eltern umgab. Was war nur los mit ihm?

Als er den Kopf zur Seite wandte, sah er Annabelle mit Mia und seiner Mutter neben dem Hühnerstall stehen. Annabelle trug ein leichtes Sommerkleid, blau mit weißen Punkten, das sanft ihre Figur umschmeichelte. Ihr rotbraunes Haar schimmerte im Sonnenlicht. Heißes Verlangen schoss durch seinen Körper. So wie er es auch in der vergangenen Nacht verspürt hatte, als er daran gedacht hatte, dass Annabelle im Nebenzimmer schlief. Die Vorstellung hatte merkwürdige Gefühle in ihm geweckt. Gefühle, die er so nicht kannte.

Wenn er eine Frau begehrte, dann versuchte er üblicherweise, dieses Verlangen zu stillen. Indem er mit ihr ausging und die Nacht mit ihr verbrachte. Damit war die Sache für ihn erledigt. Aber ihm war klar, dass Annabelle für einen One-Night-Stand nicht zu haben war. Oder doch?

Was wusste er schon von ihr? Es wunderte ihn, dass sie keinen Partner hatte. Sie war eine hübsche, liebenswerte Frau, die Verehrer mussten doch Schlange bei ihr stehen. Nachdenklich musterte er ihre schlanke Figur, die Rundungen an all den richtigen Stellen. Wieder spürte er dieses Ziehen in den Lenden, wieder beschleunigte sich sein Herzschlag. Er konnte sich nicht erklären, warum ihm nie zuvor aufgefallen war, wie unglaublich anziehend sie war.

Womöglich lag es ja nur daran, dass sie gemeinsam hier auf dieser Insel gestrandet waren, ohne irgendeine Alternative. Er fragte sich, ob er sie in London immer noch genauso attraktiv finden würde, wenn das alles vorbei war. Wenn er wieder ihr Boss und sie seine Sekretärin war. Aber konnten sie wirklich wieder in ihre alten Rollen zurückschlüpfen, nach all dem? Er wusste nicht, ob er jemals vergessen würde, wie bezaubernd Annabelle Whitmore aussah, als sie hier auf dem Hof seiner Eltern im warmen Sonnenlicht stand und Hühner fütterte. Wie sie sich zu Mia hinunterbeugte und ihr eine Strähne der widerspenstigen Locken aus dem Gesicht strich. Wie sein Körper auf ihren Anblick reagierte, auf ihren Duft, ihren Gang, ihr Lächeln.

Unvermittelt wurde er durch sich nähernde Schritte aus den Gedanken gerissen. Seine Schwester trat auf die Veranda. Sie legte verschwörerisch einen Finger an die Lippen und deutete ins Wohnzimmer, wo ihr alter Herr im Lehnstuhl eingenickt war. Dann eilte sie zu ihrer Mutter und Annabelle, die immer noch beim Hühnergehege standen. Elena beugte sich zu Mia und flüsterte etwas in ihr Ohr.

Sofort rannte die Kleine los und stürmte an Nick vorbei ins Haus. Durch das offene Fenster konnte er beobachten, wie sie sanft seinen Vater weckte und auf ihn einredete. Sie zog an seiner Hand, bis er sich erhob und sich mit ihr auf den Weg in Richtung des Strandes machte, der nur etwa hundert Meter vom Hof entfernt lag.

„Ich habe Mia gebeten, Papa für eine Weile zu beschäftigen“, erklärte Elena, als sie mit ihrer Mutter und Annabelle näher kam. „Wir haben noch viel für die Geburtstagsfeier vorzubereiten.“

Nick griff nach seinem Laptop. „Dann werde ich mich wohl besser verziehen. Ich möchte euren Arbeitseifer nicht bremsen.“

„Oh, du kannst uns gerne helfen“, meinte Annabelle unvermittelt und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. Als sie seinem Blick begegnete, erschienen rote Flecken auf ihren Wangen. Offenbar war sie selbst überrascht von ihrem Übermut.

Nick erwiderte ihr Lächeln. „Warum nicht“, antwortete er leichthin. „Ich fürchte allerdings, was Hausarbeit betrifft, habe ich zwei linke Hände.“

„Wir finden schon eine Aufgabe für dich, bei der du nicht allzu viel Schaden anrichten kannst“, versprach Elena und lachte. „Du könntest mit Konstantin die Tische aus dem Schuppen tragen.“

Während die Frauen im Haus verschwanden, machte Nick sich daran, mit dem jungen Mann, der auf der Plantage arbeitete, mehrere Klapptische und Bänke aufzustellen, die in einem der Nebengebäude gelagert wurden. Als sie fertig waren, erschien Annabelle mit einem Eimer und Lappen, um die Garnitur sauber zu wischen und vom Staub zu befreien.

Fasziniert beobachtete Nick, wie selbstverständlich sie der Arbeit nachging. Offensichtlich war sie an einfache Arbeit gewöhnt. Eindeutig kein It-Girl, musste er seiner Schwester recht geben. Und trotzdem bewegte sie sich mit einer Eleganz und Sinnlichkeit, die ihm den Atem verschlug. Er spürte das Verlangen, sie in seine Arme zu ziehen, ihren warmen, wohlgeformten Körper an seinem zu fühlen. Seine Hände in ihren Haaren zu vergraben und sie …

„Würdest du mir helfen, die Tischtücher aufzulegen?“, unterbrach Annabelle seine erregenden Fantasien. Der Klang ihrer hellen, weichen Stimme bescherte ihm eine wohlige Gänsehaut. Er hatte Mühe, seine Stimme zu finden.

„Ja, natürlich, gerne.“

Als sie sich über die Tischplatte beugte, um den Stoff glattzustreichen, erhaschte er einen Blick auf ihr Dekolleté. Feste, perfekt gerundete Brüste zeichneten sich unter dem dünnen Stoff ihres Kleides ab. Nick fühlte sich wie ein Teenager, der eine verbotene Zeitschrift las, und ein neuerlicher Hitzeschwall jagte durch seinen Körper.

Verdammt, Annabelle war nicht die erste Frau, die er zu Gesicht bekam. Er war an den Anblick schöner, verführerischer Frauen gewöhnt. Trotzdem konnte er seine Augen nicht von ihr abwenden. Genauso wenig wie er verhindern konnte, dass sich seine Erregung deutlich unter seiner Hose abzeichnete.

An dem verlegenen Blick, den Annabelle ihm zuwarf, als sie den Kopf hob, erkannte er, dass auch sie es bemerkt hatte. Rasch wandte er sich ab und tat so, als müsste er einen der Tische zurechtrücken. Auch wenn eigentlich ja nichts dabei war. Warum sollte es ihm peinlich sein, auf sie zu reagieren? Sie waren zwei erwachsene Menschen. Sex gehörte zu ihrem Leben dazu. Das konnte auch Annabelle nicht leugnen.

Doch als er sich wieder umdrehte, um etwas zu sagen, war sie bereits im Haus verschwunden.

So ist es vermutlich besser, stellte er mit einem tiefen Atemzug fest. Es hatte keinen Sinn, die Dinge unnötig zu verkomplizieren. Es war nur ein Deal, eine Geschäftsvereinbarung, die ihn mit Annabelle verband.

Zwei Stunden später hatte sich der Hof in den Schauplatz eines bunten Spektakels verwandelt. Farbenfrohe Girlanden spannten sich von einem Gebäude zum anderen, Luftballons wiegten sich in der sanften, aber stetigen Meeresbrise. Die Tische waren festlich gedeckt und bogen sich unter den zahllosen Schüsseln und Platten, die mit Köstlichkeiten aller Art gefüllt waren. Aus einem alten Radio tönte griechische Volksmusik. Auch die Gäste hatten sich bereits eingefunden. Freunde und Nachbarn von der ganzen Insel waren gekommen, um Dimitrios zu feiern.

Zusammen mit Elena und Maria begrüßte Annabelle die Neuankömmlinge, die sie herzlich umarmten und küssten. Als alles bereit war, wurde Konstantin zum Strand geschickt, um Mia und das Geburtstagskind zu holen.

Dimitrios hatte Tränen in den Augen, als er die vielen Gratulanten sah. Nachdem ihm jeder Glück und Gesundheit gewünscht hatte, setzte sich die Gesellschaft zu Tisch. Es wurde viel durcheinandergeredet und gerufen, gesungen und gelacht.

Annabelle saß neben Nick. Mia hatte einen Ehrenplatz neben Dimitrios’ Sessel erhalten, wo sie wie eine Prinzessin thronte. Liebevoll betrachtete Annabelle ihre Tochter. Sie schien sich durch und durch wohlzufühlen. Kein Wunder, dachte sie. Mia hatte ihre Großeltern nie kennengelernt. Von Dimitrios und Maria erhielt sie die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die für ein Enkelkind üblicherweise selbstverständlich waren.

Gleichzeitig war sich Annabelle auf ihrem Platz deutlich Nicks Nähe bewusst. Sein Körper strömte eine Wärme und Energie aus, die sie deutlich spürte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie fühlte Hitze in sich aufsteigen. Als Nick nach einer Schüssel mit frittierten Calamari griff, streifte er ihren Arm. Er beugte sich zu ihr, um ihr auch von den Calamari anzubieten. „Möchtest du?“

Autor

Anne Taylor
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