Romana Extra Band 139

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RENDEZVOUS IM WEINBERG von RONA WICKSTEAD
Nichts wie weg aus London: Die junge Sängerin Elise flieht vor ihrem übergriffigen Manager ins herrliche Burgund. Wo sie dem breitschultrigen Winzer Alain begegnet! Erst ist er verschlossen, dann zärtlich und sinnlich – aber warum hat Alain Angst vor der großen Liebe?

WEIHNACHTSZAUBER IN SEATTLE von TRACI DOUGLASS
Ihre erste Aufgabe als PR-Direktorin am Krankenhaus: Ayanna soll einen Weihnachts-Benefizball organisieren. Auch wenn sie selbst nichts mit Weihnachtsromantik im Sinn hat! Bis sich eine Fahrstuhltür öffnet und sie mit dem attraktiven Dr. Max Granger zusammenprallt …

VERLOCKENDES ANGEBOT FÜR DEN MILLIARDÄR von SUZANNE MERCHANT
Eine bittere Entscheidung! Cassandra muss ihr Hotel in Cornwall verkaufen. Hauptinteressent ist Milliardär Matheo Chevalier, der es schon lange darauf abgesehen hat! Doch so leicht will Cassandra es ihm nicht machen. Sie schlägt ihm einen verführerischen Deal vor …


  • Erscheinungstag 28.10.2023
  • Bandnummer 139
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517522
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rona Wickstead, Traci Douglass, Suzanne Merchant

ROMANA EXTRA BAND 139

1. KAPITEL

Der goldfarbene SUV raste viel zu schnell über den vom Regen ausgewaschenen Feldweg. Es tat Alain fast körperlich weh, mitanzusehen, wie das teure Auto polternd all die Schlaglöcher traf, die er selbst immer vorsichtig umfuhr. Was zum Teufel dachte sich der Fahrer dabei? Warum hatte er es so eilig? Das hier war ein Privatweg zwischen den burgundischen Weinbergen und nicht die Autobahn Richtung Mittelmeer!

Der Geländewagen kam kurz hinter seinem Traktor zum Stehen. Englisches Kennzeichen und das Steuer auf der rechten Seite – Touristen also. Ärgerlich zog er die Stirn in Falten. Wenn die Leute ihm jetzt schon mitten am Tag bis auf seine Felder folgten, nur um ein paar Flaschen Wein zu kaufen, dann ging das endgültig zu weit. Schließlich standen die Öffnungszeiten der Probierstube groß und deutlich auf dem Werbeschild!

Die Fahrertür öffnete sich, und eine Frau stieg aus. Sie war so dünn, dass er ihre Taille vermutlich mit beiden Händen umspannen könnte. Das weite Shirt, das sie zu ihren Jeans trug, ließ keine weiblichen Formen erkennen. Die ursprünglich blonden Haare, in die sie jetzt ihre Sonnenbrille schob, waren rosa gefärbt. Alain verfolgte missmutig, wie sie näher kam. Die Frau war keine der typischen Weinkunden, die, ohne mit der Wimper zu zucken, die Preise für seine teuren Lagen zahlten.

„Sind Sie Monsieur Charpentier?“, fragte sie mit leichtem englischen Akzent.

Alain nickte schweigend. Bloß nichts tun, was sie ermutigte, ihm länger als nötig auf den Wecker zu fallen.

„Ich habe gehört, Sie haben ein kleines Ferienhaus“, fuhr sie fort und wies mit der Hand auf das Gebäude hinter ihm. „Ist es das?“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“

„Angelique aus dem Office de tourisme“, antwortete sie unbeeindruckt. „Ich möchte es gern mieten. Für zwei Wochen. Mindestens.“

„Es ist im Moment nicht zu vermieten.“

Sie sah ihn bestürzt an. „Was? War jemand schneller als ich? Ich bin sofort hergekommen!“

„Nein, ich vermiete schon seit drei Jahren nicht mehr“, knurrte er.

„Aber das heißt, das Haus ist frei?“ Ihre leuchtend blauen Augen strahlten ihn hoffnungsvoll an. „Könnte ich es mir mal ansehen?“

„Mademoiselle, das Haus wurde seit drei Jahren nicht benutzt. Sie können da nicht wohnen.“ Er kreuzte abweisend die Arme vor der Brust.

„Lassen Sie mich wenigstens mal einen Blick hineinwerfen“, bat sie und ging an ihm vorbei auf das Haus zu. „Haben Sie den Schlüssel?“

In der Tat trug er den immer noch an seinem Schlüsselbund. Und da sie jetzt mit energischen Schritten auf das Häuschen zustrebte, blieb ihm nichts anderes übrig, als hinterherzugehen. Immerhin konnte er so ihren wohlgeformten, wenn auch schmalen Po begutachten. Ihre Füße steckten in klobigen Schnürstiefeln, mit denen sie ordentlich Tempo machte. Die Frau hatte einen Plan.

„Das sieht doch super aus!“, rief sie, als sie das Haus erreichte und dessen Fassade gründlich in Augenschein nahm. „Kann ich mal hineingehen? Bitte!“

Er hatte keine Ahnung, wie es innen aussah, weil er sich seit Langem nicht darum gekümmert hatte. Vermutlich war in den letzten drei Jahren darin nichts passiert, und das würde hoffentlich diese merkwürdige Engländerin vertreiben. Zumindest dicke Staubschichten würden sie erwarten, vielleicht auch Schlimmeres. Wahrscheinlich war es an der Zeit, dass er endlich mal nachschaute. Er schloss die Haustür auf und ließ sie eintreten.

Staubig war es in der Tat. Und es roch muffig, kein Wunder. Aber in der Küche schien es keine Katastrophen gegeben zu haben. Der Kühlschrank war ausgeschaltet, die Tür stand ein Stückchen offen. Alain schloss daraus, dass sich Stella, die Haushälterin seiner Familie, darum gekümmert haben musste. Offensichtlich erzählte sie ihm nicht alles – vielleicht wollte sie keine alten Wunden aufreißen, denn dieses Häuschen hatte viel zu viel mit Madeleine zu tun, und die Erinnerung an sie schmerzte nach wie vor.

„Ist doch bestens!“, fand die Engländerin und lief weiter in den Wohnraum. Auch dort sah es bis auf ein paar vertrocknete Zimmerpflanzen erträglich aus, aber darin standen ja auch nur eine Sitzgruppe und das Sideboard mit den gewellten Taschenbüchern. Die Fenster mussten dringend geputzt und jede Menge Spinnweben entfernt werden, das zeigte die Nachmittagssonne sehr deutlich.

Schon hatte sie die Holztreppe entdeckt, die nach oben führte. „Da geht es zum Schlafzimmer?“

Es war überhaupt nicht nötig, ihr die Räumlichkeiten zu erklären. Sie erkundete sie schneller, als Alain hinterherkam. Er hatte auch überhaupt kein Interesse daran, die Vorteile anzupreisen – sie sah ja selbst, was hier los war. Sie warf einen schnellen Blick auf das Doppelbett mit dem nicht bezogenen Bettzeug und den Kleiderschrank. Blieb nur noch das Badezimmer.

Er schluckte. Das hatte er damals selbst gefliest, schlichte weiße Kacheln, die sich gegen den dunklen Fußboden abhoben. Aber jetzt sah es nicht mehr neu aus. Im Waschbecken saß eine dicke Spinne, und auf der Fensterbank lagen jede Menge tote Fliegen.

„Sie sehen, es ist nicht in einem Zustand, in dem man es vermieten kann“, sagte er.

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Das stimmt doch gar nicht. Hier muss nur ein wenig geputzt werden, aber das würde ich selbst erledigen. Kann ich direkt hierbleiben?“

„Sie haben mich nicht verstanden“, entgegnete er. „Ich vermiete das Haus nicht mehr.“

„Aber Sie könnten es mir vermieten“, widersprach sie. „Ich habe kein Problem damit, dass es nicht vorbereitet ist. Ich werde Ihnen weder eine schlechte Bewertung im Internet schreiben noch Sie bei der Touristeninformation anschwärzen. Ich brauche nur Bettzeug und Handtücher, sonst werden Sie gar nicht merken, dass ich hier bin.“

Alain starrte sie ungläubig an. Er hatte schon lange niemanden mehr getroffen, der mit solcher Selbstverständlichkeit all das ignorierte, was er sagte. „Hören Sie, Mademoiselle …“

„Ich heiße Elise und Sie?“

„Alain“, antwortete er automatisch, bevor ihm klar wurde, dass sie das überhaupt nicht wissen musste. „Und ich will dieses Haus nicht vermieten, also …“

Sie fixierte ihn eindringlich mit ihren blauen Augen. „Ja, das sagten Sie schon, Alain, aber ich brauche einen Platz, wo ich bleiben kann. Vielleicht wissen Sie, dass in Beaune gerade dieses Jazzfestival stattfindet, und es gibt einfach keine freien Zimmer mehr. Deshalb hat Angelique mich hergeschickt, es war das Letzte, was ihr eingefallen ist. Also springen Sie endlich über Ihren Schatten und lassen Sie mich hierbleiben. In der Liste stand, es kostet dreihundertfünfzig pro Woche in der Nebensaison?“

„Elise, verstehen Sie doch …“, versuchte er es erneut, doch sie funkelte ihn ärgerlich an und schnitt ihm das Wort ab.

„Nein, ich verstehe nicht. Sie haben eine leere Ferienwohnung und müssen nichts weiter tun, als mir den Schlüssel zu geben. Ich bin bereit, mich um alles zu kümmern. Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin seit über zwei Stunden auf der Suche nach einer Unterkunft. Und Sie wollen mich nur aus Trotz wegschicken?“

„Es ist immer noch mein Haus“, gab er unwillig zurück.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann helfe ich Ihnen mal ein bisschen dabei. Denn mein Auto steht immerhin Ihrem Traktor im Weg, und ich werde es nicht wegfahren, bis Sie eingewilligt haben.“

Alain traute seinen Ohren nicht. „Sie wollen mir Druck machen? Meinen Sie nicht, dass Sie da ein bisschen zu hoch pokern?“

„Ist das eine Drohung, Alain? Was wollen Sie tun? Mir den Autoschlüssel mit Gewalt abnehmen?“

Elise hoffte, dass der Franzose nicht mitbekam, wie ihr Herz pochte. Tatsächlich musste sie sich schwer zusammenreißen, um angesichts seiner finsteren Miene nicht einzuknicken. Aber sie hatte keine Wahl. Sie brauchte diese Bleibe, denn für die Weiterfahrt nach Mâcon oder sogar Lyon hatte sie nicht mehr genug Benzin, und wenn sie den SUV volltankte, fehlte ihr wiederum Geld für die Übernachtung.

Tapfer hielt sie Alains Blick stand. Die Frage war, wie lange sie das durchhalten konnte. In dieser Beziehung ging es ihr wie früher im Sportunterricht: Sie war eine Sprinterin, schnell auf der Kurzstrecke, aber auf längeren Distanzen ging ihr rasch die Puste aus. Das hatte auch Ritchie gewusst und ausgenutzt, und ihr war klar, dass er sie vermutlich schnell nach London zurückholen würde, sobald er herausfand, wo sie sich gerade befand.

Aber im Moment wusste er es nicht, und wenn sie in diesem Haus unterkommen könnte, würde es noch eine Weile so bleiben. Vielleicht würde ihr dann auch einfallen, wie es weitergehen sollte. Aber das Wichtigste zuerst – ein Dach über dem Kopf, ein Bett, in dem sie sich unter der Decke verkriechen und erst einmal zwölf Stunden schlafen konnte.

Dieser Alain war ein ziemlich kräftiger Kerl. Bestimmt einen Meter neunzig groß, und er hatte breite Schultern wie ein amerikanischer Footballspieler. Dass er viel im Freien arbeitete, verriet seine wettergegerbte Haut – Elise vermutete, dass er jünger war, als er auf den ersten Blick schien. Seine rötlichblonden Haare und sein wilder Bart hätten mal wieder einen Friseurbesuch vertragen können. Seine Erscheinung erinnerte sie sehr an einen kriegerischen Gallier, dessen Vorbild er mit seinem Gesichtsausdruck alle Ehre machte: stolz und unbezwinglich. Stand nur zu hoffen, dass er sich nicht benahm wie ein Gallier und das tat, was sie gerade so spöttisch angedeutet hatte: Gewalt anwenden, um sie loszuwerden.

Sie kannte Männer, denen würde sie es zutrauen, aber dieser burgundische Winzer war ein anderer Typ, davon war sie überzeugt. Augenscheinlich wirkte er sauer, was in Anbetracht der Lage verständlich war, aber sie nahm an ihm zudem eine deprimierte Resignation wahr, so als würde er denken: Ich habe schon genug zu tragen, und jetzt kommst du auch noch daher und nervst.

Sie wusste nicht, wie lange ihr schweigendes Blickduell gedauert hatte, doch schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte: „Ach, zum Teufel, was soll’s. Dreihundert die Woche, wenn Sie selber putzen. Und mit der Poolbenutzung, die im Angebot steht, wird es auch nichts, der ist im Moment außer Betrieb.“

Elise atmete erleichtert aus. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. „Hier gibt es einen Pool? Ich sehe keinen.“

„Der gehört zum Haupthaus, hinter diesem Hügel. Setzen Sie Ihre Karre beiseite und fahren Sie mir nach, dann können Sie direkt die Bettwäsche mitnehmen.“

„Geht klar.“ Sie stapfte eilig an ihm vorbei zu ihrem Auto, bevor er es sich noch anders überlegen konnte, und fuhr mit dem SUV rückwärts bis zur nächsten Weggabelung. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie es geschafft hatte. Autofahren war nicht ihre Stärke, in London brauchte sie keinen Wagen, und überhaupt fuhr Ritchie meistens, wenn sie irgendwohin mussten. Es war sehr anstrengend gewesen in den letzten zwei Tagen, das fremde Auto und der für sie ungewohnte Rechtsverkehr, bei dem sie sich dauernd konzentrieren musste. Aber nicht mehr lange, und sie konnte sich ausruhen.

Sein Traktor sah irgendwie witzig aus, schmaler als die Modelle der englischen Farmer, sodass er damit zwischen den Weinstock-Reihen hindurchfahren konnte. Elise begriff, dass er vermutlich ohne Probleme hätte wegfahren können, auch wenn ihr Wagen im Weg stand. Seltsam. Warum hatte er sie nicht einfach stehen lassen und sich davongemacht? Sie hätte keine Möglichkeit gehabt, ihn zu einer Vermietung zu zwingen.

Als sie über den Hügel kam, konnte sie das Haupthaus erkennen. Im Grunde handelte es sich nicht nur um ein Haus, sondern um ein Weingut, dessen Gebäudeensemble von einer soliden Mauer umschlossen war. Der hohe Torbogen trug die Aufschrift Domaines Charpentier. Alain steuerte durch das offene Tor auf einen Unterstand zu, in dem er den Traktor abstellte.

Elise folgte ihm und parkte den SUV mitten auf dem Hof. Zu ihrer Rechten befand sich offensichtlich das Wohnhaus, ein großer zweistöckiger Bau mit Blumenkästen vor den Fenstern, einer breiten Freitreppe und den bunten, geometrisch angeordneten Dachziegeln, die sie hier in der Gegend immer wieder sah. Nach links schlossen sich diverse Wirtschaftsgebäude an, bis zu dem Unterstand in dem eine Sammlung landwirtschaftlicher Maschinen untergebracht war.

„Kommen Sie mit“, knurrte Alain jetzt und ging vor ihr her die Treppe hinauf Richtung Wohnhaus. Er öffnete die Tür in eine kühle Eingangshalle mit Steinfußboden und einigen alten Möbeln. „Stella!“, rief er mehrmals, bis eine ältere Frau in einem weißen Arbeitskittel erschien. Elise schätzte sie auf Ende fünfzig. Die Dame war klein und drahtig, hatte graues Haar und ein sorgfältig geschminktes Gesicht.

„Was ist los, Alain? Du bist früh zurück!“

„Ich bin auch gleich wieder weg“, erwiderte er. „Das hier ist Elise, sie hat das Ferienhaus gemietet und braucht dafür Wäsche.“

Stella hob erstaunt die Augenbrauen. „Das Ferienhaus? Das hast du wieder vermietet? Das steht doch schon so lange leer!“

„Sie hat mir keine Ruhe gelassen“, knurrte er. „Also gib ihr bitte Bettwäsche und Handtücher, um alles andere kümmert sie sich selbst.“

Stella fixierte Elise kritisch. „Sind Sie allein oder in Begleitung?“

„Allein.“ Elise räusperte sich nervös.

„Na schön. Dann warten Sie bitte hier.“ Sie verschwand in einem Raum, der von dem Eingangsbereich abging.

Alain wandte sich an seine Mieterin. „Brauchen Sie den Vertrag sofort, oder hat das Zeit bis morgen?“

„Ich brauche überhaupt keinen Vertrag“, sagte sie hastig. „Und ich zahle bar.“ Sie steckte die Hand in die Hosentasche und zog eine Handvoll Geldscheine hervor. Sechs Fünfzigeuroscheine streckte sie ihm entgegen, die beiden Zehner stopfte sie wieder zurück. „Für die erste Woche.“ Sie hatte keine Ahnung, wie sie die nächste Woche bezahlen sollte, aber das musste er ja nicht wissen.

Er nahm das Geld mit einem brummigen Nicken und löste den Schlüssel von seinem Bund. „Hier, nicht verlieren – ich müsste den anderen erst im Büro suchen. Wenn sonst noch was ist, fragen Sie Stella oder rufen Sie mich auf dem Handy an.“

„Die Nummer?“, fragte sie vorsichtig.

„Steht draußen auf dem Schild. Ich muss wieder los.“ Er nickte ihr knapp zu und verließ das Haus.

Nicht gerade von der herzlichen Sorte, diese Burgunder, dachte Elise. Aber das war jetzt auch nicht wichtig. Sie drehte sich auf der Stelle und sah sich um. Dies war offensichtlich ein altes Haus, aber es wirkte weder dunkel noch altmodisch. Und obwohl sie sich mit solchen Dingen nicht auskannte, spürte sie eine wohlhabende Gediegenheit im gesamten Ambiente. Diese Leute protzten nicht mit ihrem Geld, aber es war eindeutig, dass sie welches hatten.

Die energisch wirkende Haushälterin kam zurück mit einem Arm voller Wäsche, die sie Elise überreichte. „O je, hat er Sie einfach hier stehen lassen? Sehen Sie es ihm nach, er hat es im Moment nicht leicht.“

Ich auch nicht, dachte sie. Aber immerhin hatte sie sich durchgesetzt und dem mürrischen Winzer das Ferienhaus abgeschwatzt. „Vielen Dank. Ich habe ihm versichert, dass ich ihm keine Arbeit machen will.“

„Trotzdem weiß er eigentlich, was sich gehört“, sagte Stella kopfschüttelnd. „Brauchen Sie sonst noch etwas?“

„Ich weiß nicht, welche Putzmittel im Haus zur Verfügung stehen. Es müsste schon ein wenig sauber gemacht werden.“

„Ganz bestimmt!“, bekräftigte die ältere Frau. „Ich gebe Ihnen das Wichtigste mit. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich mich drum gekümmert. Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass er es wieder vermietet hat.“

Elise grinste. „Ich glaube, er war selber überrascht. Ich habe ihn dazu überredet.“

Stella grinste zurück. „Darauf können Sie sich etwas einbilden, ma chère. Die Charpentiers sind nicht einfach zu etwas zu überreden, glauben Sie mir.“

Missmutig war Alain zu seinem Fahrzeug zurückgekehrt, nur um festzustellen, dass er versehentlich den Schlüssel auf dem Sideboard im Haus liegen gelassen hatte. Natürlich wäre es kein Problem, rasch zurückzugehen und ihn zu holen, aber dann würde er der kleinen Engländerin wieder begegnen … und er wusste nicht, ob er das wollte. Diese Frau löste in ihm sehr widersprüchliche Empfindungen aus, und er war sich nicht sicher, ob es ratsam war, ihnen nachzugehen.

Er beschloss, ein paar Kleinigkeiten in seiner Werkstatt zu erledigen, bis sie vom Hof fuhr. Aber er wurde den Gedanken an sie nicht los. Wie hatte sie es bloß geschafft, ihm diese Vermietung aufzuschwatzen? Drei Jahre lang hatte er beharrlich allen Anfragen widerstanden, sogar als seine Geschwister ihm zuredeten, das Haus wieder zu vermieten. „Du hast so viel Geld und Zeit hineingesteckt“, hatte seine Schwester Magali argumentiert. „Bestimmt würde Madeleine nicht wollen, dass das alles vergeblich war.“

Und sein Bruder Nicolas, der Rechtsanwalt war, hatte hinzugefügt: „Du weißt, dass es keinem Haus guttut, wenn es lange leer steht. Wenn du willst, suche ich eine Tourismusfirma, die es vermarktet.“

Aber die beiden hatten keine Ahnung, wie es sich anfühlte, das Haus zu betreten, in jedem Quadratzentimeter wieder Madeleine zu begegnen und den Plänen, die sie damit gehabt hatte. Unwillkürlich trat ihm ihr Bild vor Augen: ihre große, schlanke Gestalt, die langen dunklen Haare und ihr feines Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen, ruhig und zurückhaltend, aber mit klaren Vorstellungen. Eine Frau, die genau wusste, was sie wollte – nämlich mit ihm zusammen das Weingut noch einen großen Schritt weiterzubringen. Eine Strategin, die langfristig dachte und deshalb aus der alten Bruchbude mitten in den Weinbergen zunächst ein Ferienhaus machen wollte, bevor sie später ihren Schwiegereltern nahelegen würde, es als Alterssitz zu verwenden und der nächsten Generation im Gutshaus Platz zu machen.

Aber so weit war es nicht gekommen. Stattdessen wohnte er jetzt allein mit seinem Vater dort, jeder in seiner eigenen Etage, und arbeitete täglich so lange und schwer, dass er abends völlig erschöpft ins Bett fiel, ohne an diese Dinge denken zu müssen.

Und dann kam plötzlich diese englische Touristin in ihrem Angeber-SUV daher. Was waren das für Leute, die ein Vermögen für so ein Auto ausgaben und es dann in einer derart geschmacklosen Farbe bestellten?

Es ging ihn nichts an. Diese Frau ging ihn nichts an. Abgesehen davon, dass sie jetzt seine Mieterin und er somit zuständig für sie war. Wobei der Ausdruck „Frau“ kaum passte, denn so klein und zierlich, wie sie war, wirkte sie eher wie ein Mädchen. Aber das hatte sich spätestens in dem Moment verflüchtigt, als sie ihn mit diesem herausfordernden Blick angesehen und ihm unterstellt hatte, er würde sie unter Gewaltanwendung von seinem Land vertreiben.

Niemals könnte er so etwas tun! Aber woher sollte sie das wissen? Sie konnte nicht ahnen, dass er nur so unbesiegbar und unnahbar tat. Dass er sich oft genug fragte, ob das Leben für ihn jemals mehr zu bieten haben würde als die tägliche Arbeit und die Verantwortung, die das Weingut mit sich brachte.

Jetzt hörte er, wie der Motor des SUV angelassen wurde. Als er aus der Werkstatt trat, konnte er beobachten, wie sie vom Hof fuhr und dabei nur haarscharf einen der Torpfosten verfehlte. Ein Wunder, dass sie es überhaupt hierher geschafft hatte!

Hoffentlich würde sie keine zusätzlichen Schwierigkeiten verursachen – das wäre das Letzte, was er gebrauchen konnte. Hatte er den Gasanschluss des Herds überprüft? Nein, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Er seufzte tief. Damit war sein Vorhaben, ihr möglichst nicht mehr zu begegnen, schon jetzt hinfällig geworden. Noch eine Sache, um die er sich kümmern musste.

Mit Bettwäsche, Handtüchern und Putzmitteln bewaffnet kehrte Elise zu ihrem Ferienhaus zurück. Sie empfand einen gewissen Stolz, als sie die Eingangstür öffnete – bisher hatte sie noch nie allein in einem richtigen Haus gewohnt, und ganz gleich wie die Umstände waren, das müsste eigentlich gefeiert werden. Motiviert begann sie mit den Reinigungsarbeiten.

Bestimmt würde diese Ferienunterkunft nicht den Preis für das Luxus-Apartment des Jahres gewinnen, aber Elise mochte den Stil des Hauses. Schlichte Holzdielen, weiß verputzte Wände und helle Möbel waren auf jeden Fall wohltuender als manches andere, was sie im Laufe ihres Lebens zu sehen bekommen hatte. Ritchie zum Beispiel bevorzugte schwere Wohnlandschaften und Messinglampen und …

Stopp, befahl sie sich selbst. Sie wollte nicht ständig an ihn denken. Aber es zeigte, wie viel Einfluss er inzwischen auf ihr Leben hatte.

Sie erinnerte sich daran, dass ihre Sachen noch im Auto lagen. Sie hatte sie erst nach ihrer Reinigungsaktion holen wollen, und das wäre jetzt. Aber sie war so müde …

Sie musste kurz auf dem Sofa eingedöst sein, denn ein forsches Klopfen an der Eingangstür schreckte sie auf. Sofort pochte ihr Herz wieder schnell und laut. Was bedeutete das?

„Elise?“, rief eine Männerstimme, und sie beruhigte sich wieder. Natürlich, es war ihr Vermieter.

Sie raffte sich auf und öffnete die Tür. „Hier ist alles bestens, Alain. Überzeugen Sie sich selbst.“

„Deshalb komme ich nicht“, gab er zurück. „Aber mir fiel ein, dass Sie zum Kochen eine Gasflasche brauchen.“ Er trug den Behälter an ihr vorbei in die Küche, öffnete eine Klappe neben dem Herd und schloss die Flasche an.

„Ja, stimmt“, stotterte Elise verlegen. Über die Zubereitung von Mahlzeiten hatte sie noch gar nicht nachgedacht, aber bei der Erinnerung meldete sich ihr knurrender Magen. „Sagen Sie, wo ist denn der nächste Supermarkt?“

„Sie sind doch sicher durch den Ort gefahren. Wenn Sie sich an der Kirche Richtung Volnay halten, kommen Sie direkt am Carrefour vorbei. Aber es ist schon nach sieben, da wird er geschlossen sein.“

„Die Läden schließen hier schon um sieben?“, fragte sie entsetzt.

Er schaute sie ein wenig mitleidig an. „Das hier ist nicht London oder Paris, wissen Sie? Vielleicht sind die Läden in Beaune länger geöffnet, da kenne ich mich nicht so aus. Aber zur Not finden Sie auch ein paar ordentliche Restaurants in der Gegend.“

„Aha“, murmelte sie etwas ratlos. Das waren sicher gute Tipps für normale Touristen. Aber zu denen zählte sie nicht.

Alain richtete sich auf. Er probierte kurz eine Herdplatte aus, ließ die kleine bläuliche Flamme züngeln und drehte sie dann wieder ab. „So, das war’s. Dann sperre ich nur noch den Schuppen auf, in dem sich die Gartenstühle befinden. Ach so … ja, ich vergaß zu sagen, dass das hier eine Nichtraucher-Unterkunft ist.“

„Das ist kein Thema für mich“, versicherte sie. „Ich rauche nicht, ich trinke nicht …“

„Sie trinken keinen Alkohol?“, wiederholte er ungläubig. „Ist das Ihr Ernst?“

Elise nickte. „Ich glaube, über ein Bier mit Limo drin bin ich bisher nicht hinausgekommen.“

„Und dann kommen Sie hierher, in eine Gegend, in der jeder nur für den Wein lebt?“ Die Vorstellung schien ihn ein wenig fassungslos werden zu lassen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht wegen des Weins hier.“

Er schüttelte den Kopf. „Tja, das ist für Leute wie mich schwer vorstellbar. Mein ganzes Leben orientiert sich am Wein.“ Er wandte sich zur Tür, so als könnte er unter diesen Umständen nicht weiter mit ihr reden. „Dann noch einen schönen Abend.“ Die Tür schlug hinter ihm zu.

Schöner Abend, dachte sie wenig erfreut. Du hast gut reden, du bekommst vermutlich gleich eine anständige Mahlzeit serviert, und ich … Ihr fielen die beiden Schokoriegel ein, die sie noch hatte, was sie wiederum an ihr Gepäck erinnerte. Sie griff nach dem Schlüssel für den SUV.

Draußen traf sie noch einmal auf Alain. Er hatte gerade die Gartenstühle und eine Liege aus dem Schuppen geholt und auf die Terrasse vor dem Wohnzimmer gestellt. Dieses Mal war er mit einem alten Land Rover gekommen, der neben dem goldglänzenden SUV wirkte wie abgetragene Gummistiefel neben einem Paar Designerboots.

Sie drückte die Fernbedienung und öffnete den Kofferraum.

„Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?“, fragte er höflich.

Elise lachte auf. „Das wird nicht nötig sein. Ich habe nicht viel.“ Vermutlich nahm er automatisch an, dass eine Frau mit einem SUV auch über eine Wagenladung voller Gepäckstücke verfügte. Sie griff zuerst nach der Reisetasche und hob dann liebevoll den Gitarrenkoffer aus dem Auto. Das war auch schon alles.

„Oh“, sagte er überrascht. „Sind Sie etwa wegen des Jazzfestivals hier?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, davon wusste ich gar nichts. Reiner Zufall.“

Er nickte und stieg in seinen Geländewagen, ohne das weiter zu kommentieren.

Während er davonfuhr, nahm sie die beiden Teile und trug sie ins Haus. Und auch wenn es vielleicht sinnvoller wäre, ihre Tasche auszupacken und sich wenigstens die Schokolade als Abendessen zu gönnen, öffnete sie zuerst den Gitarrenkoffer und holte ihre geliebte Gibson-Gitarre heraus. Liebevoll strich sie über die Saiten, stimmte ein wenig nach und begann zu spielen.

Wenigstens etwas Tröstliches in einer Welt voller Unwägbarkeiten und Gefahren.

2. KAPITEL

Am vorigen Abend hatte Elise nur noch das Nötigste erledigt, ihre letzten beiden Schokoriegel gegessen und das Bett bezogen, in das sie dann todmüde gefallen war. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, die Vorhänge zuzuziehen, sodass ihr jetzt die Morgensonne direkt ins Gesicht schien. Zeit, aufzustehen und Pläne zu schmieden. Irgendwie musste es weitergehen.

Sie stellte sich unter die Dusche und wusch sich die Haare. Es würde noch eine Weile dauern, bis diese schreckliche Tönung verblasst wäre, aber das war immer noch besser als Ritchies Vorschlag, ihre Haare schwarz zu färben.

Nein! Sie schüttelte energisch den Kopf. Nicht schon wieder Ritchie und seine Pläne! Das war weit weg. Jetzt war sie hier im Burgund, in einem hübschen kleinen Ferienhaus, und hatte Zeit und Ruhe für neue Ideen. Auf sie warteten einige praktische Herausforderungen, und auch wenn sie nicht der Typ war, der sich ordentliche To-do-Listen schrieb, stachen zwei Aufgaben heraus:

1. Etwas zu essen besorgen

2. Einen Job finden, um Geld zu verdienen

Während sie noch überlegte, ob genügend Benzin im Auto war oder ob sie besser zu Fuß in den Ort gehen sollte, hörte sie Stimmen aus der Entfernung. Sie blickte aus dem Fenster und erkannte ihren Vermieter sowie zwei weitere Männer. Jeder von ihnen ging durch eine Reihe im Weinberg und schien gelegentlich zwischen den Pflanzen etwas mit einer Schere abzuknipsen.

Sie ließ den Blick weiter schweifen. Am Fuße des Weinbergs, in dem ihr Ferienhaus stand, lag der Ort, eine Ansammlung sandfarbener Gebäude, die sich um die Kirche mit ihrem spitzen Turm gruppierte. Dahinter erhob sich eine weitere Hügelkette mit Weinbergen. Unter dem wolkenlos blauen Himmel wirkten sie beinahe wie ein grüner Teppich, der sich aus vielen Elementen mit schnurgeradem Streifenmuster zusammensetzte – die einzelnen Parzellen, in denen Winzer wie Alain ihre Trauben anbauten.

Als Stadtkind verstand Elise nicht viel vom Weinanbau. Sie wusste, dass im Herbst geerntet wurde – das hatte sie in alten Filmen gesehen. Allerdings waren die Leute da noch barfüßig in Fässer gestiegen, um die Trauben zu zertreten. Was alles zu der modernen Bewirtschaftung eines Weinguts gehörte, war ihr vollkommen fremd. Die Charpentiers widmeten sich der Sache offenbar seit Generationen, davon zeugte nicht nur das altehrwürdige Haus, in dem sie gestern gewesen war, sondern auch das Schild am Eingang.

Wenn sie Alain so bei seiner Arbeit beobachtete, bestand kein Zweifel daran, dass er wusste, was er tat. Und seine augenblickliche Beschäftigung schien nicht übel zu sein. Es wirkte beschaulich, eine ruhige Tätigkeit an der frischen Luft – das komplette Gegenteil all der Jobs, die sie bisher ausgeübt hatte. Könnte sie womöglich bei ihm arbeiten, als Aushilfe auf dem Weingut, und damit etwas Geld verdienen? Lag die Möglichkeit für sie direkt vor ihrer Tür? Dann wäre das wohl ihre erste Wahl.

Kurz entschlossen zog sie ihre Jeans und ein T-Shirt an, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ das Haus. Alain arbeitete am weitesten entfernt von ihr, sodass die beiden anderen Männer ihr neugierige Blicke zuwarfen, als sie in seine Richtung marschierte.

„Guten Morgen, Alain!“

„Elise.“ Er würdigte sie kaum eines Blickes. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Er ging einen Schritt weiter und entfernte mit seinem Knipser ein bestimmtes Blatt, ohne dass sich ihr der Grund dafür erschloss.

„Ja, alles bestens, danke.“ Sie folgte ihm in gleich bleibendem Abstand. „Ich habe Sie gerade gesehen und gedacht … Ich habe gedacht, vielleicht können Sie mir erklären, was Sie da machen?“

„Ich arbeite an meinem Pinot Noir, wie Sie sehen.“

„Was ist Pinot Noir?“

Jetzt hielt er doch einen Augenblick inne. „Sie kennen Pinot Noir nicht? Ach, ich vergaß – Sie trinken keinen Wein.“

„Wollen Sie mir das zum Vorwurf machen?“

„Nein, nein, schon gut. Pinot Noir ist die wichtigste Rotweintraube in dieser Region. Das Burgund ist dafür berühmt. Zumindest bei den Leuten, die Wein trinken.“

„Aha“, sagte sie. „Und was genau machen Sie da? Ernten können Sie jedenfalls noch nicht, oder?“

Das rang ihm ein kurzes Lachen ab. „Oh nein, das dauert noch ein bisschen. Schauen Sie, die Trauben sind winzig. Im Moment schneiden wir Blätter weg, die ihnen die Sonne nehmen. Wir hatten einiges an Regen in den letzten Wochen, da besteht immer die Gefahr von Botrytis. So nennt man es, wenn die Trauben faulen.“

Das sieht so leicht aus, dachte sie, einfach durch die Reihen zu spazieren und ab und zu ein Blatt zu entfernen. Aber tatsächlich bewegte er sich ganz schön flott, und es ging bergauf. Die Sonne hatte bereits viel Kraft, vielleicht war es später am Morgen, als sie gedacht hatte. Aber sie folgte ihm konsequent, sie musste schließlich lernen, was er da tat, auch wenn es ganz schön schwierig war, die französischen Fachbegriffe zu verstehen und abzuspeichern.

Überraschenderweise hatte Alain kein Problem damit, ihre Fragen zu beantworten. So abweisend und kurz angebunden er gestern gewesen war, so gesprächig zeigte er sich jetzt. Seine Stimme klang nicht mehr grummelig, sondern warm und melodisch, und wenn er sich zu ihr umwandte, war sein Gesichtsausdruck offen und freundlich. Gelegentlich lächelte er sogar.

Und Elise verstand. Sie begriff, dass das hier mehr für ihn war als seine Arbeit. Sie spürte zwischen den Worten die Liebe, die er für die Sache empfand. Wein zu produzieren bestand für ihn nicht allein aus versierter Technik und dem Umsetzen von Erfahrungswerten, es bedurfte einer tiefen Verbindung zwischen dem Mann und dem Land. Sie beobachtete, wie seine Hände arbeiteten, große, von der Sonne gebräunte Hände, die vermutlich kräftig zupacken konnten und doch die Pflanzen so behutsam behandelten wie ein empfindliches Gut.

Sie verstand, weil sie das Gefühl kannte. So wie er mit seinen Weinstöcken umging, behandelte sie ihre Instrumente. Sie wusste genau, mit wie viel Druck die Saiten angeschlagen werden wollten, um ihren vollen Klang zu entfalten. Sie erspürte mehr, als willentlich zu entscheiden, wie sie eine Melodie zupfen musste, um eine ganz bestimmte Stimmung zu erzeugen. Und wenn sie sang, dann war es nicht einfach ein Lied, sondern eine Geschichte, die sich zwischen den Zeilen entspann, ein geheimnisvoller Teil von ihr, den sie auf keine andere Weise ausdrücken konnte.

Sie hatten jetzt das obere Ende der Reihe erreicht, nun ging es wieder bergab. Elise stapfte weiter hinter Alain her und sog auf, was er ihr erklärte. Vermutlich könnte sie es eine Stunde später nicht mehr wiederholen, es war ein sehr spezielles Thema, zu dem sie wenig Zugang hatte, aber der Klang seiner Stimme zog sie weiter, der Wunsch, ihre eigenen Empfindungen in seinen gespiegelt zu wissen, so unterschiedlich die Bereiche auch waren.

Jetzt hatte sie einen guten Blick über das Tal, über die Dächer des um den Kirchturm versammelten kleinen Ortes, das satte Grün der Weinberge, deren Weinstockreihen wie mit einem Lineal in exakte Streifen gezogen waren. Alain hatte gerade beschrieben, dass das Erbrecht über viele Generationen an diesem Flickenteppich schuld war, hier ein kleines Stück Land und dort wieder eines. Es sei lästig, ja, aber niemand würde einer Gebietsreform zustimmen, denn dafür hingen die Menschen zu sehr an jedem Fleckchen, weil sie es in- und auswendig kannten.

Es war wunderschön hier, ein gesegnetes Stück Erde, das bei der richtigen Behandlung den besten Wein der Welt hervorbrachte. Behauptete Alain zumindest, der nach wie vor völlig unbeeindruckt von der Mittagshitze weiterging, die Elise inzwischen zu schaffen machte. Wenn sie wieder unten angekommen waren, würde sie sich verabschieden müssen, so leid es ihr tat. Aber sie sollte zumindest mal ein Glas Wasser trinken und sich einen Moment setzen, bis ihr nicht mehr so schwindlig war.

Schade eigentlich. Aber so langsam kamen seine Worte nicht mehr klar in ihrem Kopf an, weil sie sich zu sehr darauf konzentrieren musste, das Gleichgewicht zu halten. Wenn sie nicht auf ihre Füße schaute und genau darauf achtete, wohin sie trat, schwankte alles um sie herum bedenklich. Ein Geländer zum Festhalten wäre jetzt gut …

In diesem Moment übersah sie eine Wurzel und stolperte, und so sehr sie sich bemühte, ihre Knie gaben unter ihr nach, und sie sackte einfach in sich zusammen.

Alain war irritiert. Gerade war die Engländerin noch hinter ihm gewesen, und eine Sekunde später war sie verschwunden. Er blieb stehen und sah sich um. Und da lag sie, einige Meter entfernt, bewegungslos und still. Es war ein erschreckender Anblick, der ihn an den grauenhaften Tag erinnerte, an dem er schon einmal gezwungen gewesen war, sich über eine reglose Frau zu beugen – einen Moment, der sein Leben für immer verändert hatte. Er hatte das niemals wieder erleben wollen. Und nun …

Panik durchschoss ihn, während er zu ihr eilte. Was war passiert? Er bückte sich und griff ihr Handgelenk. Ja, da war ein Puls, und jetzt flatterten auch ihre Augenlider. Aber für eine Weile war sie bewusstlos gewesen, und das jagte ihm Angst ein. Er brauchte nicht noch mehr Katastrophen in seinem Leben! Und da war es egal, ob diese junge Frau eine Fremde war oder nicht. Er würde sich um sie kümmern müssen und konnte nur hoffen, dass es eine harmlose Erklärung für ihre Ohnmacht gab. Bei seinem Glück in den letzten Jahren wäre das allerdings nicht der Fall.

Er hob sie hoch. Sie war leicht wie eine Feder. Ihr Gesicht wirkte durchscheinend, der Teint blass, beinahe grünlich. „Was machen Sie denn für Sachen?“, stieß er hervor.

Jetzt starrte sie ihn mit ihren riesigen blauen Augen an und krächzte: „Es geht schon wieder. Mir war nur ein bisschen flau.“

„Himmel noch mal“, knurrte Alain. Er richtete sich auf und rief über die Weinstöcke hinweg: „Jean-Luc!“

Der stämmige junge Mitarbeiter mit den modisch gegelten Haaren hob den Kopf und schaute neugierig zu ihm herüber. Bestimmt wäre er am liebsten sofort hergekommen und hätte sich selbst um die junge Frau gekümmert, aber da er seinen Chef besser kannte, wagte er es nicht. „Ja, Boss, was ist?“

„Ich muss kurz weg, die Touristin ist umgekippt. Macht ohne mich weiter, ich bin gleich zurück.“

„Geht klar, Boss.“

Alain packte Elise fester und trug sie wieder den Hügel hinauf zu der Stelle, an der sein Land Rover stand. Sie schien es auch zu erkennen.

„Was haben Sie vor?“

„Da ich Sie nicht einfach im Weinberg liegen lassen kann, muss ich Sie ja wohl zum Arzt bringen.“

Er spürte, wie sie in seinen Armen erstarrte. „Nein, nicht zum Arzt! Das ist nicht nötig. Es geht mir schon wieder besser.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Um das zu demonstrieren, stellte er sie unvermittelt auf die Füße, und wie vermutet, schwankte sie und musste sich an ihm festhalten. „Sehen Sie? Nicht besser.“

„Trotzdem“, beharrte sie. „Ein Arzt wäre völlig übertrieben. Ich muss mich nur eine Weile in den Schatten setzen …“

„Na gut“, lenkte er ein. Schließlich wäre es auch für ihn ein gewisser Aufwand, sie zur nächsten Praxis zu fahren. „Aber den Schatten können Sie auch bei uns haben, dann kann Stella Sie im Auge behalten.“

„Alain …“

„Keine Widerrede“, beschied er mit rauer Stimme und hob sie wieder hoch. Er trug sie zu seinem Auto, setzte sie hinein und kletterte hinter das Steuer. „Schnallen Sie sich an, wir fahren.“

„Geht klar, Boss“, seufzte sie.

Die kurze Strecke bis zum Gut war rasch überwunden. Alain hielt vor der Freitreppe des Wohnhauses an, hob Elise aus dem Auto und trug sie zur Eingangstür.

„Ich kann alleine gehen“, protestierte sie, fing sich aber nur einen skeptischen Blick ein.

„So geht’s jedenfalls schneller.“ Er drückte die Türklinke mit dem Ellbogen auf und trug sie weiter durch die Eingangshalle bis in einen Raum, der sich als Küche herausstellte. Dort drückte er sie mit sanfter Gewalt auf einen der Stühle, die um den langen Esstisch standen. „Sitzen bleiben!“, befahl er. Mit wenigen Schritten war er bei einem Schrank, nahm ein Glas heraus und ließ kaltes Leitungswasser hineinlaufen. Gleichzeitig rief er nach der Haushälterin, die kurz darauf herbeigeeilt kam.

„Was gibt’s?“

Alain drückte Elise das Glas in die Hand. „Trinken Sie“, sagte er, dann wandte er sich an Stella. „Sie ist im Weinberg zusammengeklappt. Ich dachte, du kannst vielleicht erst mal ein Auge auf sie haben. Ich muss wieder zurück.“

„Natürlich, ich kümmere mich um sie“, erwiderte die ältere Frau sofort, während er schon auf dem Weg nach draußen war.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, betrachtete Stella sie prüfend. „Was war das? Könnte es sein, dass Sie schwanger sind?“

Elise zuckte zusammen. „Definitiv nicht!“, versicherte sie. „Ich habe nur nicht viel gegessen in letzter Zeit. Gestern Abend war es zu spät zum Einkaufen, und heute Morgen habe ich Alain im Weinberg getroffen, ich hatte keine Kopfbedeckung, und …“

Stella winkte ab. „Schon gut. Ich glaube, wir fangen mal mit einem Frühstück an. Wenn ich es mir genau überlege, könnte ich auch einen Kaffee vertragen.“

„Kaffee klingt gut“, musste Elise zugeben.

Die Haushälterin nahm die Kaffeemaschine in Betrieb und holte Brot aus einem Fach. In schneller Folge stellte sie einige Lebensmittel auf den Tisch. „Greifen Sie zu!“

Elise verzog verlegen den Mund. „Das ist mir jetzt richtig unangenehm. Ich möchte Ihnen doch keine Umstände machen.“

Stella hielt mitten in der Bewegung inne. „Ich sag Ihnen mal was, Kindchen. Das hier ist mein Job. Und Sie machen mir deutlich mehr Umstände, wenn Alain mitkriegt, dass ich Sie ohne eine Mahlzeit wieder weggehen lasse, denn dann wird er mir endlose Vorträge halten. Also essen Sie jetzt was, damit Sie wieder fit werden.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Sie haben doch keine Essstörung oder so was?“

„Nein, wirklich nicht!“ Um sie zu beschwichtigen, griff Elise rasch nach einer Scheibe Weißbrot und strich großzügig Marmelade darauf. Wenn sie ehrlich war, ging es aber ebenso sehr darum, ihren knurrenden Magen zu beschwichtigen. Der erste Bissen war ein einziger Genuss, und ihr war klar, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht in wilder Gier alles in sich hineinzuschlingen, was Stella ihr hingestellt hatte.

Jetzt kam noch eine große Tasse Milchkaffee hinzu. Sie war im Paradies angekommen. „Oh, das ist wundervoll!“

Stella setzte sich ihr mit ihrem eigenen Kaffee gegenüber. „Sie sind also Engländerin.“

Aha, jetzt kam die Befragung. „Ja, aber ich habe auch mal eine Weile in Paris gelebt. Eine tolle Stadt.“ Vielleicht wäre das ein gutes Thema, um von weiteren Fragen abzulenken?

„Das erklärt, warum Sie so gut Französisch sprechen. Und Sie sind ganz allein unterwegs?“

„Ja, warum nicht? Ich musste einfach mal raus. Es wurde mir alles zu viel.“ Was für großartige Phrasen. Und wie hervorragend sie die Sache trafen, ohne dass sie wirklich verrieten, was dahintersteckte.

„Einfach mal raus, ja?“, wiederholte Stella nachdenklich. „Dann sehen Sie mal zu, dass Sie sich hier auch erholen. Ich schlage vor, Sie setzen sich ein wenig in den Salon, da gibt es auch Zeitschriften, wenn Sie etwas lesen möchten. Auf der Terrasse steht momentan die Sonne, da ist es erst am Nachmittag angenehm, es ist ja sehr heiß für Juni.“

„Oh, aber ich …“, stotterte Elise überrumpelt, „ich werde gleich wieder rüber in mein Ferienhaus gehen.“

„Nicht so schnell“, widersprach Stella. „Ich sagte doch, ich kriege Unannehmlichkeiten, wenn ich nicht auf Sie achtgebe. Und das bedeutet, dass Sie zum Mittagessen bleiben. Alain kann Sie dann nach dem Essen drüben absetzen. Aber auf keinen Fall lasse ich Sie alleine gehen. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.“

„Mittagessen“, murmelte Elise ungläubig. Und sie hatte sich gerade den Bauch vollgeschlagen, weil sie dachte, es würde für sie keins geben.

„Aber ja! Ich mache Cassoulet, kennen Sie das? Ein einfacher Eintopf mit Bohnen und Fleisch. Die Männer brauchen was Nahrhaftes bei der Arbeit. Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin?“

„O nein, ich esse alles“, versicherte Elise. Frühstück. Kaffee. Eintopf. Womit hatte sie all diese Wohltaten verdient? Die Leute kannten sie überhaupt nicht! „Aber ich kann Ihnen doch wenigstens helfen, Stella. Geben Sie mir was zu tun. Müssen dazu Kartoffeln geschält werden? Soll ich spülen?“

„So weit kommt das noch!“, rief Stella empört. „Los, los, ab mit Ihnen! Da geht’s lang zum Salon. Nehmen Sie Ihren Kaffee mit. Ich sage Bescheid, wenn wir essen können.“

Ein wenig überwältigt tat Elise wie geheißen. Der Salon war ein großzügig geschnittener Raum mit einer Schiebetür, die ihn von einer Art Arbeitszimmer trennte. Voluminöse Brokatvorhänge rahmten die bodentiefen Fenster ein, die nach draußen auf eine Terrasse führten – Stella hatte recht, der Sitzplatz lag in der prallen Sonne.

Aber auch drinnen gab es reichlich Sitzgelegenheiten, plüschige Sessel und ein altmodisches Sofa unter dem Portrait einer Dame in Abendrobe in einem wuchtigen Bilderrahmen. War das Alains Einrichtungsstil? Sie konnte es nicht recht glauben. Sie würde ihm eher eine moderne Art zu wohnen zuschreiben, vielleicht in der Art des Ferienhäuschens. Sie ging weiter bis zum Kamin, der mit einer ganzen Ansammlung von Familienfotos dekoriert war. Sie blickte auf Hochzeitsbilder aus unterschiedlichen Epochen, Kinder mit Zahnlücken, Schnappschüsse von Familienfeiern, ein Gruppenbild unter dem Torbogen mit der Aufschrift Domaines Charpentier. Ein Foto stach ihr ins Auge, weil sie meinte, Alain darauf zu erkennen, mit kürzeren Haaren und ohne Bart, zusammen mit einem dunkelhaarigen Mann, der ihm ähnelte, und zwei jungen dunkelhaarigen Frauen.

Es fiel Elise immer schwer, sich so etwas anzusehen, weil sie selbst nie eine richtige Familie gehabt hatte. Sie wandte sich wieder ab und näherte sich dem Möbelstück, das den Raum unzweifelhaft dominierte: ein glänzender schwarzer Flügel.

Musikinstrumente hatten immer schon eine magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Sie hatte noch nie einen Flügel in einem Privathaushalt gesehen – selbst in den Hallen, in denen sie spielte, gab es längst nicht immer welche. Und dieser hier war wunderschön, so glänzend und elegant. Nicht ein Stäubchen trübte seine Oberfläche – vermutlich sorgte Stella dafür.

Elise strich verlangend über den Lack. Nach einigem Zögern konnte sie nicht anders, sie musste wenigstens den Deckel aufklappen. Vorsichtig drückte sie eine Taste – ein wundervoll weicher Ton erklang. Sie schlug mit zwei Fingern eine Terz an. Der Flügel schien einigermaßen gestimmt zu sein. Ihr Bedürfnis, ihn zu spielen, wurde immer größer, und so setzte sie sich auf den davorstehenden Hocker. Sie musste nicht lange überlegen, denn sie hatte kein definiertes Repertoire, keine Übungsstücke – wenn sie wie jetzt ganz allein war, spielte sie nur, was ihr gerade in den Sinn kam.

Schon erfüllte eine träumerische Melodie den Raum. Sie erzählte von der Sonne über dieser Landschaft mit ihren Weinbergen und den dazwischen verstreuten Orten, von einer lange vermissten Leichtigkeit und der Sehnsucht, sie hier wiederfinden zu können. Elise schloss die Augen, während ihre Finger über die Tasten glitten und immer neue Variationen der Melodie entwickelten. Schon lange war sie nicht mehr so gelöst gewesen, so ruhig.

Dann durchdrang ein schräger Ton die Harmonie. Die Schiebetür wurde mit einem leisen Quietschen aufgeschoben, und ein alter, leicht gebückt gehender Mann erschien und schaute sie fragend an. War das Alains Vater? Bisher hatte sie niemand über die Familienverhältnisse in diesem Haus aufgeklärt.

Erschrocken nahm Elise die Hände von der Tastatur. „Verzeihen Sie, Monsieur, ich wollte Sie nicht stören.“

Der Mann lächelte und schüttelte den Kopf. „Oh bitte, spielen Sie weiter, Mademoiselle. Ich setze mich hierhin, damit ich Ihnen besser zuhören kann.“ Er ließ sich etwas umständlich auf einem der Sessel nieder.

„Wenn Sie es wünschen, Monsieur. Dies ist ein wundervoller Flügel, ich konnte einfach nicht anders.“

„Das verstehe ich“, sagte der alte Mann. „Er gehört meiner Frau und wird regelmäßig gestimmt, das ist ihr wichtig. Sehen Sie – das ist sie. Aber sie spielt nicht mehr.“ Er wies mit der Hand auf das Gemälde über dem Sofa.

Elise betrachtete es erneut. Tatsächlich handelte es sich um eine schöne Frau mit ausdrucksvollen Augen und einem milchweißen Dekolleté, das von einer Pelzstola eingefasst wurde. Das Bild hätte nur einen schlichteren Rahmen gebraucht, damit es besser zur Geltung käme. „Ich weiß nicht, ob ich mich mit dieser Dame messen kann“, sagte sie.

„Versuchen Sie es“, ermunterte er sie. „Spielen Sie etwas, das ihr gefallen würde.“

Sein Wunsch überraschte sie. Eher hätte sie damit gerechnet, dass er sie um ein spezielles Stück bitten würde – außerdem kannte sie seine Frau ja überhaupt nicht. Ratlos schaute sie das Gemälde an. Ja, da war etwas in ihrem Blick, das sie ermutigte …

Elise improvisierte erneut, und plötzlich hatte sie ein klares Thema, eine Struktur, um die herum sie ihre Tonfolgen anordnen konnte. Als sie zwischendurch zu dem alten Herrn hinüberschaute, stellte sie fest, dass er zufrieden lächelte.

Das ermunterte sie. Ihre Musik wurde schneller, temperamentvoller, dann wieder leiser und verspielter, bis sie schließlich in einem harmonischen Finale endete und sie erneut ihren Zuhörer ansah, um seine Reaktion mitzubekommen.

„Wer sind Sie?“, fragte er.

„Ich heiße Elise“, antwortete sie.

„Elise“, wiederholte er. „Beethoven hat ein Stück für Elise geschrieben.“

„Ich weiß.“ Sie nickte und spielte die bekannte Melodie an. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass jemand diese Verbindung herstellte.

„Das ist aber nicht die Originalkomposition“, stellte er fest. „Bei Ihnen klingt es anders.“

„Sie haben recht, Monsieur. Das liegt daran, dass ich leider nicht nach Noten spielen kann. Ich gebe nur wieder, was ich gehört habe.“

„Das ist auch eine Gabe, Elise, für die Sie sich nicht schämen sollten. Wissen Sie, wahre Künstler können sich vermutlich nie vollkommen an die Vorlage halten. Es ist wie beim Wein – den letzten Schliff muss man einfach selbst spüren, das kann man nicht nachmachen.“

„Ein interessanter Vergleich, Monsieur. Ich schätze, man braucht für beides Talent und Hingabe.“

„Talent und Hingabe, sagen Sie.“ Er schien die Begriffe gedanklich abzuwägen. „Und Mut und Kraft. Und das Letzte ist dann ein Quäntchen Glück, nicht wahr? Spielen Sie davon, Elise. Ich höre Ihnen zu.“

Alain dachte zuerst, irgendwo im Haus würde ein Radio laufen, ehe er begriff, dass die Musik aus dem Salon kam. Während Jean-Luc und Bruno sich noch draußen die Schuhe auszogen, stürmte er direkt in die Küche, in der Stella gerade den langen Esstisch deckte. „Hast du ihr erlaubt, den Flügel von Maman zu spielen?“, rief er empört. „Das darf doch nicht wahr sein! Sie muss sofort damit aufhören, Papa wird wütend werden.“

„Das solltest du dir noch mal überlegen“, sagte Stella ungerührt, während sie das Besteck verteilte. „Am besten schaust du mal in den Salon und machst dir selbst ein Bild.“

Missmutig machte er sich auf den Weg. Es war keine Überraschung, Elise am Flügel vorzufinden – was ihn verblüffte, war der Eindruck, den sie erweckte, so als wäre sie plötzlich größer, kraftvoller, als füllte sie zusammen mit ihrer Musik den Raum aus. Das war nicht die erschöpfte Touristin, die er durch seinen Weinberg getragen hatte.

Und auch der Anblick seines Vaters war eine Offenbarung. Er sah geradezu glücklich aus, auf eine Weise, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Sein Blick ruhte wohlwollend auf der jungen Frau am Flügel, sein Kopf nickte fast unmerklich im Takt.

Elise bemerkte ihn zuerst und ließ die Musik ausklingen.

„Ah, Alain!“, rief sein Vater munter. „Bist du Elise schon begegnet? Sie hat wieder Musik ins Haus gebracht, es ist ein Wunder.“

Das ist es in der Tat, dachte Alain. „So leid es mir tut, ich muss euer Privatkonzert beenden. Stella bittet zu Tisch.“

„Nun gut“, antwortete der alte Mann unbekümmert, „dann wollen wir mal in die Küche gehen.“ Überraschend agil erhob er sich aus dem Sessel und bot Elise höflich seinen Arm an. Sie hängte sich lächelnd bei ihm ein und ließ sich aus dem Raum führen.

Alain folgte ihnen kopfschüttelnd. Da hatte seine Mieterin ja eine Eroberung gemacht! Wenn man bedachte, wie widerborstig und abweisend sein Vater anderen Menschen oft begegnete, seit …

Nun, es hätte auch anders ausgehen können. Alain hätte eher erwartet, dass sein alter Herr einen Wutanfall bekam. Nicht nur einmal war es vorgekommen, dass er Besucher vom Hof gejagt hatte.

In der Küche war alles für das Essen vorbereitet, und es duftete köstlich, während Stella noch einmal das Cassoulet umrührte. „Wie ich sehe, haben Sie Monsieur Charpentier père bereits kennengelernt, Elise“, wandte sich die Haushälterin an ihren Gast. „Was meinen Sie, Pierre, lassen wir Mademoiselle Elise zu Ihrer Rechten Platz nehmen?“

Alain beobachtete seinen Vater gespannt. Meistens schätzte er diese Art von Veränderungen in seinem geregelten Ablauf nicht. Aber jetzt nickte er zustimmend. „Selbstverständlich“, erwiderte er und setzte sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches.

Die beiden Vorarbeiter Jean-Luc und Bruno hatten schon ihre üblichen Plätze eingenommen und beäugten die Besucherin mit unverhohlener Neugier, während Stella die Teller mit dem Eintopf verteilte. „Sie sind Engländerin?“, war die fast unvermeidliche Frage, mit der der vorwitzige Jean-Luc sie ansprach. „Kommen Sie aus London?“

Elise nickte. „Ja, ich wohne in Chelsea.“

„Und sind Sie je der Queen begegnet? Oder Elton John?“

„Leider nein“, lachte sie. „Da muss ich Sie enttäuschen.“

„In Chelsea gibt es einen berühmten Fußballverein“, steuerte Bruno jetzt bei. „Gehen Sie manchmal zu denen ins Stadion? Ich hatte mal eine Karte, als sie gegen Olympique Lyon gespielt haben. Leider hat Lyon verloren.“

„Tut mir leid, ich habe nicht so einen Draht zu Fußball.“

Stella warf den beiden Angestellten einen strengen Blick zu. „Jetzt lasst die arme Frau erst mal in Ruhe essen.“

Gehorsam senkten beide den Kopf, wie Alain amüsiert feststellte. Das Mittagessen konnte in Ruhe weitergehen.

Erst als Stella die leeren Teller zusammenstellte und die beiden Mitarbeiter aufstehen wollten, um draußen eine Zigarette zu rauchen, sprach Alain sie wieder an. „Ihr macht gleich drüben beim Gamay in der oberen Lage weiter, okay? Ich habe nur noch ein paar Reihen im Pinot, das schaffe ich allein, und dann kommt um 16 Uhr die Gruppe, die sich für die Verkostung angemeldet hat.“

„Alles klar, Boss.“ Die beiden schlurften auf Socken aus der Küche.

„Stellst du mir wie immer Brot und Käse bereit?“, fragte Alain als Nächstes an Stella gewandt. „Ich trinke nur noch schnell einen Kaffee. Ich kann Sie dann mitnehmen und am Ferienhaus absetzen, Elise.“

Jetzt kam Bewegung in Pierre. „Das geht nicht“, verkündete er. „Elise muss hierbleiben. Wenn sie wegfährt, wird sie sterben.“

„Aber Papa!“, wandte Alain ein. „Das wird sie nicht. Es ist nur ein kurzes Stück, sie wohnt drüben im Haus im Weinberg.“

„Nein!“, brüllte Pierre und stampfte mit dem Fuß auf. „Alle Frauen sterben, wenn sie wegfahren! Elise darf nicht wegfahren!“

„Mach dir keine Sorgen, Papa“, sagte Alain beruhigend. „Elise wird nichts passieren, ganz bestimmt. Du legst dich jetzt ein wenig hin, ja? Vielleicht kommt sie ja morgen wieder vorbei, damit du dich selbst überzeugen kannst.“ Er warf einen bittenden Blick zu ihr hinüber. Ihrem Gesichtsausdruck konnte er ansehen, wie verunsichert sie über Pierres Ausbruch war, und er bewunderte, wie ruhig sie trotz alledem blieb. Andere Besucher hatten in ähnlichen Situationen schon viel erschrockener reagiert.

Sie nickte. „Aber ja!“, bestätigte sie in Pierres Richtung. „Ich komme Sie wieder besuchen, Monsieur, wenn Sie mögen.“

Aber Pierre hörte gar nicht zu. „Nein! Nein! Nein!“, rief er aufgebracht. „Sie muss hierbleiben! Sie darf nicht sterben!“

Alain und Stella tauschten einen besorgten Blick.

Elise wandte sich an den alten Mann und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Kein Grund zur Aufregung“, sagte sie eindringlich. „Ich bleibe bei Ihnen, wenn Sie möchten. Sollen wir zurück in den Salon gehen?“

„Sie bleiben hier?“, wiederholte er beschwörend.

„Natürlich“, versicherte sie. „Wissen Sie, was? Sie legen sich ein wenig auf das Sofa, und ich spiele Ihnen was vor. Ich dachte nämlich, wenn Ludwig ein Stück für Elise geschrieben hat, vielleicht kann Elise auch ein Stück für Ludwig spielen? Würde Ihnen das gefallen?“ Sie war aufgestanden und half ihm nun dabei, sich ebenfalls aus dem Stuhl zu erheben. Gemeinsam verließen sie die Küche.

Alain und Stella sahen ihnen nach. „Das glaube ich jetzt nicht“, raunte er perplex.

„Ich habe es dir gesagt“, erwiderte die Haushälterin. „Es war Liebe auf den ersten Ton, wenn man das so ausdrücken möchte.“

„Unfassbar“, seufzte er. „Da engagiere ich eine Betreuerin nach der anderen, und nie funktioniert es. Und dann kommt diese essgestörte Engländerin …“

„Oh, die ist nicht essgestört“, widersprach Stella. „Hast du gesehen, wie die zugelangt hat? Die hat ganz andere Probleme.“

„Meinst du wirklich?“ Aus dem Salon war wieder Klaviermusik zu hören. Sehr angenehme Musik. Die Frau mochte Probleme haben, aber sie besaß eindeutig Talent.

„Ich kann’s nicht beweisen, aber ich glaube, sie macht nicht einfach nur Urlaub hier. Mein Gefühl sagt mir, sie hat irgendwelchen Ärger … und ich vermute, sie ist auch knapp bei Kasse.“

Merde!“, stieß er hervor. „Und ausgerechnet so jemanden muss ich mir ins Haus holen.“

Stella klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. „Mach das Beste draus.“

„Und das wäre?“

„Frag sie, ob sie für ein paar Wochen bereit ist, Zeit mit deinem Vater zu verbringen. Du hast doch gesehen, wie sehr er sie mag – und sie scheint sein Verhalten akzeptieren zu können, statt wie die vorige Betreuerin sofort aufzugeben. Klar, es ist nichts Langfristiges, aber es entlastet uns wenigstens für eine Weile und gibt dir Zeit, dir etwas einfallen zu lassen.“

Er verzog skeptisch das Gesicht. „Ich weiß nicht – wir wissen doch nichts über sie.“

„Wenn du eine polnische Pflegekraft anheuerst, ist das nicht anders“, konterte sie. „Und diese Frau spricht wenigstens vernünftig Französisch und kommt mit Pierre zurecht. Und im Zweifelsfall bin ich ja auch noch da.“

„Vielleicht hast du recht.“ Alain atmete tief durch. „Ich glaube, heute brauche ich meinen Kaffee mehr denn je.“

„Wie ich dich kenne, würdest du jetzt viel lieber ein Glas Chardonnay trinken“, entgegnete sie lachend, während sie bereits die Kaffeemaschine einschaltete.

„Allerdings, aber mitten am Tag … Und dann kommt nachher ja noch diese Reisegruppe, da muss ich einen klaren Kopf bewahren. Ich finde, die sollten mindestens zehn Kisten kaufen, um mich für diesen Tag zu entschädigen.“

„Dann gib dir Mühe“, versetzte Stella und stellte ihm die Tasse auf seinen Platz. „Die gehören alle zu diesem feinen Herrenclub, Geld haben sie mit Sicherheit genug.“

Kaum hatte er seinen Kaffee ausgetrunken, endete auch die Klaviermusik, und Elise kam zurück in die Küche.

„Ihr Vater schläft jetzt“, teilte sie ihm mit. „Ich denke, dann verabschiede ich mich auch. Ich kann zu Fuß gehen, es ist ja wirklich nicht weit.“

„Nicht so hastig.“ Er stand auf und deutete Richtung Tür. „Kommen Sie doch rasch mit in mein Büro, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“

Er ging voran und zeigte ihr den Weg in das Nebengebäude, in dem sich die Probierstube und der Verkaufsraum befanden. „Das ist ja fast ein kleiner Laden“, stellte sie überrascht fest. „Sie verkaufen auch Marmelade und Küchenhandtücher?“

„Die Kunden lieben das“, sagte er schulterzuckend. „Und wenn es sie animiert, dazu auch genügend Wein zu kaufen, soll es mir recht sein.“ Er öffnete eine Tür. „Hier entlang.“

Dieser Raum sah wirklich aus wie ein Büro – an den Wänden erstreckten sich Regale und Schränke voller Aktenordner, und in der Mitte stand ein Schreibtisch mit einem PC. Alain zog eine Schreibtischschublade auf und nahm die zerknüllten Geldscheine heraus, die sie ihm gestern gegeben hatte.

„Oh nein!“, rief sie energisch. „Sie machen nicht alles rückgängig! Ich will hier wohnen bleiben. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen heute früh Umstände gemacht habe, es wird nicht wieder vorkommen.“

„Hören Sie mir doch erst mal zu“, knurrte er. „Ich wollte Ihnen einen ganz anderen Vorschlag machen. Es geht um meinen Vater.“

„Was ist mit ihm?“

„Sie haben ja mitbekommen, er … er ist nicht immer so ganz auf der Höhe. Seit dem Tod meiner Mutter pendelt er ständig zwischen depressiven Zuständen und Wutanfällen, und es ist niemand da, der sich tagsüber um ihn kümmern kann. Stella tut, was sie kann, aber sie muss auch das Telefon bedienen und die Besucher betreuen, die außerhalb der Geschäftszeiten kommen … Na ja, Sie scheinen sich ja ganz gut mit ihm zu verstehen, da dachte ich … vielleicht könnten Sie das eine Weile übernehmen? Ich biete Ihnen freies Wohnen und natürlich auch ein tägliches Mittagessen.“

Elise schluckte. „Ich habe so was noch nie gemacht – was muss ich denn dann alles tun?“

„Einfach nur da sein, wie jetzt gerade. Er ist nicht körperlich pflegebedürftig. Sprechen Sie mit ihm, gehen Sie mit ihm spazieren, wenn er mag, spielen Sie für ihn Klavier … Ich hätte nie gedacht, dass er so positiv darauf reagiert.“

„Der Flügel hat Ihrer Mutter gehört?“, fragte sie leise.

Alain nickte mit zusammengepressten Lippen. „Meine Mutter war Konzertpianistin, bevor sie meinen Vater heiratete. Sie ist später nur noch gelegentlich aufgetreten, aber gespielt hat sie regelmäßig.“

„Und wie lange ist sie schon tot?“

„Drei Jahre“, antwortete er mit rauer Stimme. „Sie hatte einen Autounfall. Zusammen mit meiner Frau.“

3. KAPITEL

Elise sah ihm an, dass er sofort bereute, das gesagt zu haben. Und sie kannte den Grund: Die meisten Leute reagierten ziemlich betreten, wenn sie so etwas hörten, wussten nicht, ob sie ihr Beileid ausdrücken oder tröstende Sprüche anbringen sollten wie: „Das Leben muss weitergehen.“

„Wie lange waren Sie verheiratet?“, fragte sie stattdessen.

„Ich? Ein gutes Jahr. Meine Eltern über dreißig. Mein Vater hat es sehr schlecht verkraftet, Sie haben ihn ja kennengelernt. Er hat sich von jetzt auf gleich aus dem Geschäft zurückgezogen und war nicht mehr der Mann, den wir kannten. Sie hätten ihn mal vorher erleben sollen, er hat dieses Weingut wie ein Fürst regiert. Aber seit dem Verlust hat er immer mehr abgebaut.“

„Und dann haben Sie übernommen?“

„Ich war zum Glück schon vorher eingestiegen, sonst wäre es vermutlich total schiefgegangen. Im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder, der Rechtsanwalt ist, wollte ich nie etwas anderes tun, auch wenn ich mir die Übernahme etwas anders vorgestellt hatte. Wissen Sie, Winzer zu sein ist nicht einfach eine Berufswahl, dafür muss man geboren sein. Es ist gleichzeitig harte Arbeit und eine Kunst.“

Sie nickte. Diesen Eindruck hatte sie bereits heute Morgen gewonnen.

„Aber wenn Sie tagsüber bei uns im Haus sind“, fuhr er fort, „dann muss ich ein wenig mehr über Sie wissen. Haben Sie einen Ausweis bei sich?“

„Zufällig ja.“ Sie griff in ihre Jeanstasche und zog ihr Portemonnaie hervor. Eigentlich war es Blödsinn, es immer mitzuschleppen – die Kreditkarten waren gesperrt, und Bargeld hatte sie kaum noch, aber es widerstrebte ihr, Führerschein und Ausweis irgendwo aufzubewahren, wo sie nicht direkt Zugriff dar...

Autor

Rona Wickstead
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