Romana Extra Band 166

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VERFÜHRERISCHES WIEDERSEHEN AM GARDASEE von EMILY LARK

Als Fabienne bei einem Besuch am Gardasee auf ihren Ex Tizio trifft, lodern alte Gefühle auf. Doch kann sie ihm ihr Herz anvertrauen – oder riskiert sie, erneut verletzt zu werden? In der flirrenden Hitze Italiens steht sie vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

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  • Erscheinungstag 22.11.2025
  • Bandnummer 166
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533171
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emily Lark, Amy Ruttan, Lela May Wight

ROMANA EXTRA BAND 166

Emily Lark

1. KAPITEL

Fabienne betätigte den Blinker und lenkte Froggy, ihren grasgrünen Bulli, auf eine der zahlreichen Haltebuchten entlang der Küstenstraße. Sie hatte den alten Bus auf einem ihrer unfreiwilligen Zwischenstopps in Deutschland erstanden, müde von den zahlreichen Zugausfällen oder Verspätungen, die ihr Aufenthalte auf diversen europäischen Bahnhöfen eingebracht hatten.

Die Anschaffung von Froggy hatte einen Großteil ihrer Ersparnisse aufgebraucht. Geld, das ihr vom Verkauf ihrer Pudelzucht in London geblieben war. Aber ihr vorheriges Leben und alles, was damit zusammenhing, war endgültig vorbei.

Sie hatte sich erst nur eine kurze Auszeit nehmen wollen, um Abstand zu den Geschehnissen zu gewinnen, die ihr in der alten Heimat den Boden unter den Füßen weggezogen hatten. Und dann waren aus wenigen Monaten vier Jahre geworden.

Wenn sie in dem alten Gefährt saß, den Geruch von Leder und Benzin in der Nase und das sanfte Brummen des Motors im Ohr, fühlte es sich nach Freiheit und Abenteuer an. Genau die Mischung, die sie sich für ihren Trip um die Welt erhofft hatte.

Dabei waren die Sitze gemütlich und die Fenster so groß, dass sie das ganze Panorama während der Fahrt in sich aufnehmen konnte. Fabienne liebte ihren Bus und hatte sich nach wenigen Kilometern bereits nicht mehr vorstellen können, ohne das grellgrüne Ungetüm auf Reisen zu gehen.

Der Motor erstarb und sie stieg aus. Sie ließ die Fahrertür hinter sich ins Schloss fallen und machte ein paar Schritte um den Bus, bis sie kurz vorm Abgrund stand, der sich unter ihr auftat. Die Fahrt entlang der Gardesana Occidentale, eine Straße, die die beiden italienischen Städte Rezzato und Trient miteinander verband, hatte sie ihren letzten Nerv gekostet.

Vorbei an majestätischen Bergketten und bewaldeten Hängen, die in den azurblauen Himmel ragten, hatte sie das Lenkrad fest umklammert halten müssen, immer bedacht darauf, auf ihrer Seite der Straße zu bleiben. Auf enge, kurvige Abschnitte folgten Tunnel, die in den nackten Felsen gehauen waren und die Berge wie einen Schweizer Käse durchlöcherten. Während die Italiener mit ihren wendigen Kleinwagen keinerlei Probleme auf der Strecke zu haben schienen, war sie an besonders engen Abschnitten tausend Tode gestorben.

Umso mehr freute sie sich über jede Möglichkeit, einen kleinen Zwischenstopp einzulegen und die spektakulären Ausblicke auf malerische Buchten und idyllische Dörfer zu genießen, die sich an das felsige Ufer schmiegten. Die Schönheit der Natur und der grandiose Ausblick entschädigten sie für alle Strapazen, die sie bei der Reise auf sich genommen hatte.

Auch jetzt reckte sie den Kopf, um zwischen den Zweigen einer mächtigen Kiefer hindurchzuspähen. Und dort in der Ferne funkelte er in unterschiedlichen Blautönen, der Gardasee.

Sie konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sie den See vor vier Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Bereits damals hatte das Farbspiel sie fasziniert, die Nuancen von tiefem Blau, Smaragdgrün und klarem Türkis, die je nach Tageszeit oder Wetter variierten. Und die Sonnenaufgänge und -untergänge, die den See in warme, goldene Töne tauchten und sich auf der glatten Oberfläche widerspiegelten.

Der Gedanke an diese Zeit machte sie traurig, und sie blinzelte, um die Erinnerungen zu verdrängen, die beim Anblick der üppigen Landschaft automatisch in ihr aufstiegen. Wie glücklich sie damals gewesen war. Und wie hart das Leben sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte.

Mit einer fahrigen, beinahe wütenden Bewegung wischte Fabienne sich über die Augen, stapfte zur Fahrertür und kletterte zurück auf den Sitz. Dann drehte sie den Zündschlüssel im Schloss und genoss den Moment, als der Motor erneut zum Leben erwachte.

Vorbei an Palmen, Olivenbäumen und Zypressen schlängelte sich die Straße an der Küste entlang, und Fabienne kurbelte ihr Fenster hinunter, um den würzigen Geruch der Pinien tief in sich einzusaugen. Sie brauchte nur wenige Atemzüge, um erneut in Urlaubsstimmung zu kommen. Dabei war sie bereits über tausend Tage auf Reisen. Unterwegs mit ihrem Frosch und zu Hause in einer Welt, in der sie keine festen Wurzeln mehr hatte.

Sie runzelte die Stirn und klopfte ungeduldig mit den Fingern gegen das Lenkrad. Musste sie ausgerechnet wenige Kilometer vor ihrem Ziel nostalgische Anwandlungen bekommen?

Oder liegt es vielleicht gerade an dem Ort, dass ich mich so … wehmütig fühle?

Solange Tausende Kilometer und ein Meer aus Eindrücken zwischen ihr und Italien gelegen hatten, war es ihr leichter gefallen, ihre Vergangenheit weit zurückzudrängen. Doch hier auf der Küstenstraße, nur wenige Kilometer von Limone sul Garda entfernt, hatte sie auf einmal das Gefühl, von alten Erinnerungen übermannt zu werden, die sie längst hinter sich gelassen zu haben geglaubt hatte.

Nach der nächsten Kurve sah sie bereits das Ortsschild des malerischen Städtchens, gelegen am westlichen Ufer des Gardasees, das für seine Zitronengärten bekannt war. Und nur wenige Abzweigungen später rumpelte Froggy bereits auf den Parkplatz kurz vor der Altstadt, die seit einigen Jahren für den Verkehr gesperrt war.

Farbenfrohe Häuser mit kunstvollen Balkonen säumten die Straßen. Kleine Geschäfte, Cafés und Restaurants luden zum Verweilen ein.

Trotz ihrer zwiespältigen Gefühle machte sich prickelnde Aufregung in ihr breit. Leichtfüßig sprang sie aus dem Bus und fand sich inmitten des pulsierenden Lebens wieder.

Ein Mann saß unweit von ihr entfernt auf einem Mauervorsprung und spielte eine muntere Melodie auf seinem Schifferklavier. Menschen bummelten auf der gegenüberliegenden Straßenseite an Souvenirshops und pittoresken Bars vorbei. Und auf den Ästen der Platanen, die sich über den Parkplatz spannten und wie jetzt in den Sommermonaten Schatten spendeten, gurrten zwei Tauben.

Fabienne löste ein Parkticket und entschied sich dafür, ihr Gepäck erst später aus dem Bus zu holen. Jetzt wollte sie jede Minute genießen und das Gefühl voll in sich aufnehmen, endlich wieder hier zu sein – in der Stadt ihrer Träume: Limone sul Garda.

Entschlossen holte sie eine kleine Tüte aus dem Kofferraum und warf einen kurzen Blick auf das Päckchen im Inneren. Eine schwarze Pappschachtel, die mit einer goldenen Schleife verziert und für ihre beste Freundin Lilly bestimmt war. Sie hatte das Geschenk bereits vor Wochen erstanden. Genauer gesagt an dem Tag, als ihr klar geworden war, dass sie es nicht zu deren Hochzeit schaffen würde. Noch immer spürte sie bei dem Gedanken einen kurzen, aber heftigen Stich.

Zu gut wusste sie noch, wie sie beide früher immer über das Heiraten gesprochen hatten. Sie konnte sich noch genau an ihre Träume erinnern und daran, was sie sich gegenseitig versprochen hatten.

Bei Lillys Hochzeit nicht anwesend zu sein, damit hätte Fabienne niemals gerechnet. Aber manchmal hatte das Leben nun mal andere Vorstellungen.

Fabienne überprüfte noch einmal, ob der VW-Bus auch wirklich abgeschlossen war. Dann machte sie sich auf den Weg durch die verwinkelten Gassen, der kleinen Bäckerei entgegen, die ihre Freundin aus einer spontanen Eingebung heraus erstanden und in ein wunderschönes Café verwandelt hatte.

Über vier Jahre war es nun her, dass sie mit Lilly zusammen auf dem Flughafen von Verona gelandet war. Sie hatten ursprünglich nur ein paar Tage Urlaub am Gardasee machen wollen, mit Eisessen, Sonnenbaden und Sightseeing, was eben zu so einem Trip dazugehörte. Doch nur wenige Tage nach ihrer Ankunft hatte sich Lilly verliebt. In den Ort, in eine alte Bäckerei, die sie auf einem Spaziergang durch die Altstadt entdeckt hatte, vor allem aber in Alessandro, den sie geheiratet hatte und von dem sie jetzt ein Kind erwartete. Und ausgerechnet sie, Fabienne, sollte nun die Patentante werden!

Während der Urlaub für Lilly eine so glückliche Wendung genommen hatte, hatten Fabiennes Tage am Gardasee mit einem Anruf aus der alten Heimat ein jähes Ende gefunden. Dabei hatte sie Lilly ursprünglich bei den Plänen rund um das neue Café unterstützen wollen. Doch kurz nach der wundervollen Neueröffnung, zu der sie sich extra noch mal ein paar Tage Urlaub genommen hatte, musste sie überstürzt wieder abreisen, ohne zu ahnen, dass sie erst jetzt wieder zurückkommen würde.

Ich muss die Vergangenheit endlich ruhen lassen! Es hilft nichts, mir Vorwürfe zu machen. Meine Entscheidung, alte Brücken abzubrechen und für unbegrenzte Zeit auf Reisen zu gehen, ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich habe diesen Freiraum gebraucht. Jetzt geht es darum, Lilly zu besuchen und gemeinsam mit ihr eine schöne Zeit zu verbringen.

Trotz aller Trauer, um das, was sie verloren hatte, waren da auch schöne Erinnerungen an diese aufregende und intensive Zeit, die sie in vollen Zügen genossen hatte. Und ohne dass sie es wollte, schob sich plötzlich sein Bild vor ihr inneres Auge.

Wie er sie immer angesehen hatte. So … bewundernd. Als wäre sie das schönste Wesen, das er je in seinem Leben erblickt hatte.

Tizio hatte dem Urlaub eine unverhoffte Wendung gegeben. Sie hatte sich voller Leidenschaft in die wohl aufregendste Zeit ihres Lebens gestürzt, einen Augenblick sogar an eine gemeinsame Zukunft gedacht. Nur um kurz darauf in die bittere Realität zurückgeholt zu werden.

Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen.

Sie wollte gerade an einem der vielen kleinen Weinläden vorbeigehen, doch da stockte ihr beim Blick ins Innere des Ladens plötzlich der Atem und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Das konnte doch nicht sein!

Als hätte sie mit ihren sehnsüchtigen Gedanken einen Geist heraufbeschworen, sah sie hinter der Schaufensterscheibe auf einmal ein ihr bekanntes Gesicht aufblitzen. Schon hatte sich der Mann von ihr abgewandt, und doch meinte sie, den markanten Kiefer, die geschwungenen Augenbrauen – meist spöttisch in die Höhe gezogen – und seinen vollen Mund deutlich erkannt zu haben.

Fabienne schüttelte über sich selbst und ihr seltsames Verhalten den Kopf. Da war sie gerade mal fünf Minuten in Limone sul Garda und erspähte ausgerechnet ihren Ex in einem der Läden?

„Meine liebe Fabienne, du hast eindeutig zu viel Fantasie“, murmelte sie, ehe sie sich näher an den Laden heranpirschte und sich auf die Zehenspitzen stellte, um besser durch das Schaufenster hineinsehen zu können. Selbstverständlich nur, um sicherzugehen, dass ihr die Vorstellungskraft einen Streich gespielt hatte.

Es war dämmrig im Inneren der Bodega. Regale mit ausgewählten Weinen der Region erhoben sich beidseitig der unverputzten Mauern, die Flaschen sorgfältig nebeneinander aufgereiht. Die indirekte Beleuchtung unterstrich die rustikale Ausstattung des Weinladens, der nicht nur bei Touristen beliebt zu sein schien.

Einen sexy Mann mit strahlend blauen Augen, dessen Blick ihre Knie in nur wenigen Sekunden weich werden und ihren sonst so starken Willen dahinschmelzen ließ, konnte sie jedoch nicht erkennen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte in diesem Moment ein älterer Herr mit grauem Schnäuzer, der hinter einem der Verkaufsstände vor dem Laden hervortrat und zielstrebig auf sie zusteuerte.

„Hm“, machte Fabienne, ohne das Innere des Geschäfts aus den Augen zu lassen. „Einen Wein. Ich suche einen Wein.“ Eine Bewegung im Laden lenkte sie von der Antwort des Verkäufers ab. Eine schwarzhaarige Frau tänzelte leichtfüßig an einem der Regale vorbei, doch wo war der Mann geblieben, den sie gerade erst entdeckt hatte?

Suchend reckte sie den Hals und kniff die Augen zusammen. Da, hinter einem Werbeaufsteller, konnte sie eine zweite Person ausmachen, die ihr den Rücken zukehrte. Ein weißes Hemd spannte sich über dem breiten Kreuz. Die Ärmel waren aufgekrempelt und der Hintern steckte in einer lässigen Jeans, eindeutig wohlgeformt. Tizio …

Der Verkäufer neben ihr räusperte sich vernehmlich. Fabienne biss sich auf die Unterlippe und drehte sich widerwillig zu ihm um.

„Es soll also ein Geschenk werden?“, wiederholte er geduldig und sie nickte.

„Ja, ich besuche meine beste Freundin. Wir haben uns vier Jahre lang nicht gesehen.“

„Oh, da habe ich einen besonders feinen Tropfen für Sie!“

Fabienne hatte gehofft, nun endlich in den Laden geführt zu werden, doch sie wurde enttäuscht. Der Verkäufer ging hinter eine improvisierte Theke aus Weinfässern und griff nach einer Flasche, auf der eine Zitrone plakativ abgebildet war. Eindeutig ein Souvenir für Touristen. Umständlich entkorkte er sie, zauberte einen Plastikbecher hervor und schenkte ihr einen Schluck ein.

Fabienne nahm den Becher entgegen und die dunkelrote Flüssigkeit rann durch ihre Kehle. Himmel, war der trocken. Sie musste sich Mühe geben, sich nicht zu schütteln. Dankend lehnte sie ab, doch der Verkäufer ließ sich nicht abwimmeln.

Er nahm die nächste Flasche aus dem Regal. „Wie wäre es mit einem Burgunder? Ebenfalls ein hervorragender Wein aus Frankreich. Fruchtig im Abgang. Besonders gut zu rotem Fleisch.“

„Nein, danke“, sagte sie, den Blick auf die Tür gerichtet. „Es soll ein … Hochzeitsgeschenk sein. Sie haben nicht zufällig etwas … Edleres im Laden?“

„Aber sagen Sie das doch gleich.“ Der Verkäufer strahlte. „Ich weiß genau, was meinen Kunden gefällt. Ich kann es auf Ihrem Gesicht ablesen.“

Na, hoffentlich nicht, dachte Fabienne, als sie dem Mann endlich in den Laden folgte. Bei der Vorstellung, was er von ihr halten mochte, wenn er tatsächlich ihre Gedanken gelesen hätte, wurden ihre Wangen heiß vor Scham.

Der Anblick von Tizios perfektem Körper hatte schon immer die Macht besessen, ihre wildesten Fantasien zu entfachen. Wobei ihre monatelange Enthaltsamkeit sicherlich ihren Anteil an dem prickelnden Gefühl hatte, das in ihrem Schoß pulsierte …

Schwebte nicht noch ein Hauch seines Aftershaves zwischen den Regalen? Diese würzige Note nach Leder, Muskat und … Mann? Fabiennes Herzschlag beschleunigte sich voller Erwartung, und sie beeilte sich, hinter dem Verkäufer herzukommen, der zügigen Schrittes durch den Verkaufsraum eilte. Doch auch als sie um die Ecke bogen, konnte sie niemanden mehr entdecken. Nur eine ältere Frau stand dort und studierte ein Etikett.

Enttäuscht blieb Fabienne stehen und sah sich um. Ob ihr der Verstand einen Streich gespielt hatte? Da kam der Verkäufer auf sie zu, eine Flasche in der Hand, die eindeutig einen exklusiven Eindruck machte.

„Alles klar, die nehme ich“, hörte Fabienne sich sagen. Sie wollte nichts lieber, als so schnell wie möglich aus dem Laden zu verschwinden.

„Gerne! Sie werden begeistert sein. Das ist einer unserer besten Tropfen.“

„Oh“, murmelte Fabienne. Sie folgte dem Verkäufer mit mulmigem Gefühl bis zu einer Kasse, wo er den Preis eintippte und beinahe triumphierend zu ihr aufblickte.

„Das macht dann auf den Cent genau einhundert Euro.“

„Sie meinen für eine Kiste von dem Wein?“

Er lachte und schüttelte dabei den Kopf. „Aber nein. So ein guter Tropfen hat seinen Preis. Für die Flasche natürlich.“

Fabienne starrte den Mann einen Moment lang an, dann zog sie ihr Portemonnaie aus ihrer Umhängetasche. Bis die nächste Abbuchung kam, würde sie hoffentlich wieder etwas Geld auf ihrem Konto haben. Im Moment herrschte dort allerdings gähnende Leere. Wie auch in ihrem Leben.

Die letzten Ersparnisse aus der Pudelzucht waren aufgebraucht, und die Jobs, die sie unterwegs auf ihrer Reise angenommen hatte, hatten nicht den erhofften Verdienst eingebracht. Als Helferin bei der Orangenernte in Andalusien oder bei der Schafschur in Schottland konnte man nicht mehr als Kost, Logis und ein kleines Taschengeld erwarten. Sie würde sich dringend etwas einfallen lassen müssen, wenn sie Froggy über den nächsten Winter bringen wollte. Einen konkreten Plan hatte sie allerdings nicht.

Du musst dich endlich irgendwo niederlassen. Wenn du erst einen festen Job hast, lässt sich das Loch in deinem Konto wieder stopfen. Immerhin bist du über dreißig. Du kannst nicht immer so weiterziehen, als ob du kein Zuhause mehr hättest. Keinen Ort, an den du gehörst.

Aber genau das war ihr Problem. Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, zahlte sie mit ihrer Kreditkarte, nahm die Tüte entgegen und verließ den Laden, mit einer Flasche Rotwein in der Hand, die sie eigentlich gar nicht haben wollte.

Ihre Laune besserte sich erst, als Fabienne in eine der Altstadtgassen einbog. Häuser mit Terrakottadächern und schmucken Balkonen schmiegten sich hier dicht an dicht, umrahmt von blühenden Bougainvilleen in leuchtendem Violett und Weinreben, die die Fassaden emporkletterten. Als Fabienne schnupperte, stieg ihr der Duft von Oleanderblüten in die Nase.

Am Ende der Gasse sah sie ihr Ziel: Lillys Café. Die Vorstellung, endlich wieder ihre beste Freundin in die Arme schließen zu können, entfachte in ihrem Magen ein freudiges Kribbeln und sie ging automatisch schneller, ohne ihren Blick auch nur einen Moment von dem historischen Gebäude zu lösen, dessen Erscheinen sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert hatte.

Die pittoreske, ehemals baufällige Bäckerei hatte ihren Charme durch Lillys liebevolle Renovierung wieder voll entfaltet. Weiße Tische und Stühle empfingen die Gäste im Garten, über dem eine imposante Palme thronte und in der Mittagshitze Schatten spendete. Zarte Gardinen mit einem Blumenmuster umrahmten die Fenster.

Ihr Blick fiel sofort auf die hölzerne Eingangstür, die in einem frischen Mint gestrichen worden war.

Dort stand ihre Freundin, und als Lilly sie erkannte, stieß sie einen Schrei aus und kam auf sie zugelaufen, so schnell ihr bereits deutlich gerundeter Bauch das noch zuließ.

„Du bist da! Endlich bist du da!“

Ehe Fabienne sichs versah, hatte Lilly ihre Arme um sie geschlungen und sie in eine innige Umarmung gezogen.

„Stopp, du erdrückst mich ja!“ Lachend schmiegte sie sich an ihre Freundin, ehe sie schließlich von ihr abrückte und Lilly eine Armlänge von sich entfernt hielt. „Oder sollte ich lieber sagen, ihr erdrückt mich? In welcher Woche bist du doch gleich?“

„Seit gestern in der dreiunddreißigsten.“ Eindeutig stolz strich Lilly mit beiden Händen über ihren Bauch. „Nicht mal mehr zwei Monate und ich habe meinen Krümel im Arm.“

„Das ist ja so aufregend.“

„Und wie.“ Lilly schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Und du wirst die beste Patentante der Welt.“

„Hoffentlich schaffe ich es diesmal, rechtzeitig zum großen Tag hier zu sein.“ Fabienne zog verschämt eine Grimasse. „Ehrlich, Lilly, ich bin immer noch untröstlich, weil ich nicht auf eurer Hochzeit war. Aber …“

„Die Taufe wird langfristig geplant, versprochen.“ Lilly winkte ab und drückte ihr tröstend den Arm. „Aber als ich plötzlich schwanger war … Alessandro wollte keinen Tag länger warten. Ich hoffe, du verstehst das?“

„Als ob du dich entschuldigen müsstest.“ Fabienne wischte sich eine Träne von der Wange. „Seid ihr denn immer noch so unverschämt verliebt wie am Anfang?“

„Jeden Tag noch ein Stückchen mehr“, flüsterte Lilly und lächelte verlegen. „Wenn das überhaupt möglich ist. Ehrlich, er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Und dich hätte er auch rechtzeitig zur Hochzeit einfliegen lassen. Du hättest nur zustimmen müssen, Süße.“

„Das weiß ich doch. Und ich bin euch für das Angebot auch unendlich dankbar, nur …“ Sie rieb sich verlegen über die Nasenspitze.

„… konntest du es damals nicht annehmen?“

„Es war einfach zu viel …“

„Der Tod deines Vaters?“

„Das … auch.“ Fabienne presste die Lippen aufeinander. „Ich musste erst mal für mich sein. Wieder zu mir finden. Verstehst du das?“

Lilly nickte. „Hast du es denn? Ich meine, gefunden, wonach du gesucht hast?“

„Manchmal … hatte ich das Gefühl, beliebig viele Kilometer zurücklegen zu können und meine Probleme trotzdem mitzunehmen. Seltsam, oder?“

Beruhigend legte ihr Lilly eine Hand auf die Schulter. „Ich finde das gar nicht merkwürdig. Wenn mir das passiert wäre … Es war so ein Schock. Für uns alle. Und das, während du hier im Urlaub am Gardasee warst.“

„Das war es wohl“, murmelte Fabienne und hörte selbst, wie bitter ihre Stimme klang. Aber was sollte sie daran ändern? Die Erinnerung an diese Tage, die zu den schlimmsten ihres Lebens gehörten, schmerzte noch immer.

„Und deine Mutter? Hat sie sich mittlerweile daran gewöhnt, allein zu sein?“, fragte Lilly mitfühlend. „Schade, dass wir jetzt so weit auseinanderwohnen. Ich bin immer gerne bei euch vorbeigekommen und hab mich von ihr zum Essen einladen lassen.“

„Du hast während unserer gemeinsamen Schulzeit bald mehr Zeit bei mir verbracht als bei deinen eigenen Eltern“, warf Fabienne ein.

„Das stimmt, es war immer so gemütlich bei euch. Grüß sie doch mal, wenn du sie in London besuchst.“

„Wir … haben seither kaum noch Kontakt.“

„Ach so?“

„Es … ist kompliziert.“ Fabienne legte sich eine Hand an die Stirn. „Hast du vielleicht etwas gegen Kopfschmerzen? Die Fahrt war ein wenig anstrengend, und ich habe in der Nacht schlecht geschlafen. Meine Nachbarn auf dem Campingplatz waren so laut.“

„Oje, du Arme! Ich bin wirklich eine schlechte Gastgeberin. Du bekommst sofort alles, was du möchtest. Wie wäre es mit einer kühlen Limonade?“

Lilly legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie ins Café zu bugsieren, und Fabienne schmiegte sich an sie. Was hatte sie ihre beste Freundin in den vergangenen Jahren vermisst. Doch obwohl der Drang, sich nach den erschütternden Neuigkeiten bei ihr zu verkriechen, damals übergroß gewesen war, hatte sie Zeit für sich gebraucht. Um zu verstehen, was passiert war, und um zu heilen. Ein Vorhaben, an dem sie nach all den Monaten immer noch arbeitete.

In diesem Moment fiel ihr das Geschenk ein, das in der Tüte zu ihren Füßen stand. Froh über einen Grund, endlich ein anderes Thema anzuschneiden, hob sie es auf, reichte Lilly die Tüte und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

„Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht. Willst du es noch schnell auspacken, bevor wir reingehen?“

Lilly riss die Augen auf. „Ein Geschenk?“

„Aber natürlich. Da ich es schon nicht rechtzeitig zur Hochzeit geschafft habe, ist das das Mindeste.“

Gespannt nahm Lilly das Päckchen entgegen, zog beinahe bedächtig an der Schleife und hob den Deckel an. Als sie das Buch hervorholte, das sich im Inneren befand, quietschte sie begeistert auf. „Oh meine Güte, sind das etwa alte Fotos?“

„Jepp.“ Fabienne nickte und konnte nicht vermeiden, dass sich auf ihrem Gesicht ebenfalls ein breites Lächeln zeigte. „Beweisstücke unserer langen Freundschaft. Und damit du mich in deinem neuen Lebensabschnitt nicht vergisst, wenn der neue Erdenbürger erst da ist.“

„Ach, du Dummchen. Das würde ich doch nie tun.“

Es schimmerte verdächtig in Lillys Augen, als sie durch die Seiten blätterte, mal lächelte und dann erneut eine kleine Träne verdrückte.

Energisch wischte sie sich schließlich mit dem Handrücken über die Wange und grinste verlegen. „Diese Schwangerschaftshormone. Es könnte sein, dass ich etwas rührselig geworden bin.“ Fragend deutete sie auf das zweite Paket in Lillys Hand. „Und was ist das?“

„Ach … Das ist für Alessandro. Bei Alkohol fällst du ja gerade aus.“

„Ein Wein?“ Lilly zog eine Braue nach oben. „Das wäre doch nicht nötig gewesen. Der wird dich ein Vermögen gekostet haben. Ich kenne die Marke. Die ist superteuer.“

Fabienne sah auf ihre Schuhspitzen und spürte, wie sie rot anlief. „Möglicherweise war das nicht so geplant. Ich … dachte nur …“ Sie brach ab und fühlte Lillys prüfenden Blick auf sich ruhen.

„Fabs, was ist los? Ich spüre doch, dass da noch was ist.“

„Na ja, der Laden … Es könnte sein, dass ich da jemanden durchs Schaufenster gesehen habe.“ Unter den Wimpern hinweg sah sie, wie ihre Freundin erstaunt die Augen aufriss.

„Jemanden? Du meinst, du bist extra in den Laden gegangen, weil …“

„Weil er dort war. Ausgerechnet Tizio.“

„Oh nein. Und das an deinem ersten Tag!“

Fabienne zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es gut so. Ich werde ihm nicht ewig aus dem Weg gehen können.“

Dabei hatte sie genau das geplant. Bei dem Gedanken, ihm plötzlich gegenüberzustehen, wurde ihr übel vor Nervosität.

2. KAPITEL

„Kommst du noch mit zu mir?“ Julias Hand schloss sich fest und fordernd zugleich um seinen Arm.

Ihre schwarzen Haare flossen wie flüssige Seide über ihre Schultern, und sie warf ihm ein eindeutig laszives Lächeln zu, doch Tizio schüttelte den Kopf.

Beinahe hastig streifte er ihren Arm ab, lenkte den grauen Maserati auf die Straße und gab Gas, als wollte er seiner Vergangenheit entfliehen. Seiner Vergangenheit, die ihm in Form von endlos langen Beinen, feuerroten Locken und moosgrünen Augen begegnet war. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er einen exklusiven Wein für seine künftigen Schwiegereltern hatte aussuchen wollen. Dabei grenzte es an Frevel, dass ausgerechnet er, Tizio Gelmini, Erbe einer geschichtsträchtigen Weindynastie, einen edlen Tropfen im Laden kaufte.

Die Familie seiner zukünftigen Frau hatte allerdings nicht nur bestimmte Ansprüche, die es zu erfüllen galt, wenn es um Alkohol ging. Und der Kauf eines tiefvioletten Weines, dessen Bouquet an schwarze Kirschen, dunkle Waldbeeren und eine Spur von orientalischen Gewürzen erinnerte, war das Mindeste, was er zu seinem künftigen Glück beitragen konnte.

Tizio warf Julia einen Blick zu, die auf dem Beifahrersitz saß und eindeutig einen Schmollmund zog.

„Ach komm, nun sei nicht so“, versuchte er, sie wieder auf seine Seite zu ziehen. „Hast du nicht ohnehin was anderes vor heute Abend?“

„Du meinst die Party im Tennisclub?“ Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt, schaute bei dem Gedanken an die Feier aber wenigstens wieder ein wenig freundlicher drein. „Schon. Aber da kommst du ja ebenfalls nicht mit.“

„Du weißt, wie sehr ich solche Feiern hasse. Immer die gleichen oberflächlichen Gespräche. Das ist so ermüdend.“

„Himmel, was erwartest du denn? Es gab mal eine Zeit, da hattest du Spaß daran, mit mir feiern zu gehen.“

„Man wird halt älter“, murmelte er und zwinkerte ihr dabei zu, um endgültig ihre Laune zu heben, auf die er letztendlich angewiesen war. Immerhin wollte er ihr in wenigen Tagen einen Heiratsantrag machen. Sie war die perfekte Frau, aus einer Familie mit einem ebenso perfekten Stammbaum, ohne nennenswerte Skandale, dafür aber mit einer netten Mitgift. Und obwohl das Geld nicht ausschlaggebend war – er verfügte ebenfalls über genügend finanzielle Mittel –, war Liquidität nicht zu verachten.

So wie sein Vater es sich sicherlich für ihn gewünscht hätte. Wenn er ihn noch hätte fragen können. Doch das war leider nicht mehr möglich.

Tizio hatte schon einige Ideen, in welche Richtung er das Weingut aus dem 16. Jahrhundert ausbauen wollte, das seit gut sechs Jahren nun in seinem Besitz war. Und Julia war die Frau an seiner Seite, die ihn dabei begleiten würde.

Sie sah ihn nun spöttisch an. „Fünfunddreißig nennst du alt? Was soll dann erst mein Vater sagen? Der ist beinahe siebzig und geht fast jedes Wochenende in den Club. Da ist man wenigstens unter sich. Und das Essen ist exzellent.“

Tizio verkniff sich einen Kommentar und seufzte stattdessen so leise, dass Julia es über das Motorengeräusch hinweg unmöglich hören konnte. Obwohl er bereits in seiner Kindheit in die entsprechenden Kreise eingeführt worden war, fühlte er sich in den elitären Strukturen der feinen Gesellschaft nicht wohl, wo es meist um Geld, Luxus und den eigenen Ruhm ging. Umso mehr genoss er die Stunden auf dem Weingut, wenn er mit anpacken und mit seinen Händen etwas erledigen konnte.

Zweifellos kam er ganz nach seinem Vater, der ihm das Arbeiten an der frischen Luft nähergebracht hatte. Doch ohne gesellschaftliche Verbindungen ging es nun mal nicht, weshalb er die Bekanntschaften locker pflegte, die daraus resultierenden Verpflichtungen aber auf ein Minimum begrenzte. Ein wichtiger Grundsatz in seinem Leben, den er auch Julia würde beibringen müssen.

Sie hatten immerhin eine lange Zeit vor sich, die sie – wenn alles gut gehen sollte – zusammen verbringen würden. Ein Gedanke, der ihn augenblicklich unruhig stimmte, was er auf die bevorstehende Verlobung schob. Bekamen nicht alle Männer kalte Füße, sobald es ernst wurde?

„Du wirst heute Abend auch ohne mich eine Menge Spaß haben“, sagte er nun beschwichtigend. „Und in einer Woche fahren wir gemeinsam zu deinen Eltern und sagen es ihnen, ja?“

„So einfach kommst du mir nicht davon. Wenn wir es offiziell machen, möchte ich eine richtige Party feiern. Mit allem Drum und Dran.“

„Bei mir auf dem Gut?“

„Meinetwegen, auch wenn ich das Ritz vorgezogen hätte.“

Julia verdrehte die Augen, die von unendlich langen, künstlichen Wimpern umrahmt wurden und ihn an ein niedliches Rehkitz erinnerten.

„Das Anwesen ist ja ganz hübsch. Ein wenig unmodern an manchen Stellen. Aber es gibt nichts, was mit der passenden Deko nicht ausgebügelt werden könnte. Und die Leute stehen auf antike Dinge. Wir werden so hübsch aussehen vor der Kulisse.“

Er verkniff sich erneut einen Kommentar über das historische Weingut, das für ihn viel mehr als eine Kulisse bedeutete und trotz seiner Jahre durchaus gut in Schuss war. Es war sein Elternhaus. Die Vergangenheit seiner Familie und seine Zukunft.

Für heute hatte er ihre Beziehung jedoch genügend auf die Probe gestellt. Dabei kannte Julia nicht mal den eigentlichen Grund für seine miese Laune: eine attraktive Rothaarige, die ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Er fuhr Julia bis zu der protzigen Villa, die ihre Eltern einige Kilometer von ihrem Weingut entfernt errichtet hatten, und ließ sie aussteigen, wobei sie ihn erneut zum Bleiben zu überreden versuchte. Er lehnte ab, versprach ihr aber, sich am Nachmittag noch einmal zu melden. Erst mal brauchte er dringend Zeit für sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und um sich auf das zu besinnen, was ihm wirklich wichtig war.

Kopfschüttelnd gab er Gas. Im Gegensatz zu Julias Familie, der es mehr um das Geschäft und um Profit zu gehen schien, hatte ihm die Geschichte und die Tradition des Familienunternehmens schon immer viel bedeutet. Auf seinem Grund und Boden angekommen, parkte er den Maserati auf einem unbefestigten Sandplatz am Rande der Weinberge, stieg aus und atmete tief durch. Dann folgte er einem schmalen Weg, der ihn zu den Ländereien führte, die bereits in vierter Generation in Besitz seiner Familie waren.

Endlose Reihen von Reben bedeckten die Erde und standen jetzt im Sommer voll im Saft. Spätestens in zwei Monaten jedoch färbten sich die noch grünen Blätter rot und die Trauben leuchteten ihm dann in sattem Blau entgegen. Dann war die Zeit des Erntens gekommen und die Luft erfüllt von den Düften der süßen Früchte, der Erde und später auch von den Aromen des Weins, der in rustikalen Holzfässern gekeltert wurde.

Tizio hatte jeden Schritt der Traubenlese bereits als kleiner Junge begleitet. Zuerst ging es zur Kelterei, wo der Saft der Trauben maschinell gewonnen wurde, dann zur Gärung. Hefe wandelte den Zucker des Mosts in Alkohol um. Anschließend musste der Wein mehrere Monate oder sogar Jahre lagern, bis er schließlich gefiltert, abgefüllt und etikettiert werden konnte. Wie die benachbarten Weingüter hatte auch seine Familie besondere Rezepte, die seit Generationen weitergegeben wurden und den Charakter des Weins prägen. Geheimnisse, die nun in seiner Verantwortung lagen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich gefragt hatte, ob seine Zukunft tatsächlich hier im Familienunternehmen lag. Eine Zeit, in der er seine Rolle infrage gestellt und gegen den väterlichen Plan rebelliert hatte. Aber taten das nicht alle Jugendlichen in ihrer Pubertät? Eine kurze Phase nur, in der alles Bekannte auf den Kopf gestellt und jede feste Struktur angezweifelt wurde?

Kurz darauf war ihm dieser Gedanke geradezu lächerlich vorgekommen. Denn was dann geschehen war, hatte seine Welt, wie er sie kannte, aus den Angeln gehoben und ihn schneller erwachsen werden lassen, als ihm lieb gewesen war. Plötzlich hatte er nicht nur für das Unternehmen da sein müssen, sondern ebenfalls für seine Schwestern, die sich in dieser schweren Phase voller Zutrauen an ihn geklammert hatten. Er war nun das neue Familienoberhaupt. Und die Antworten auf alle bisherigen Fragen waren ihm plötzlich klar gewesen.

Bis diese rothaarige Schönheit zwei Jahre später in sein Leben getreten – oder sollte er besser sagen, gefegt? – war. Fabienne Bradley. Diesen einen Sommer vor vier Jahren hatte er sich treiben lassen. Hatte gehofft, dass es eine Alternative gab, einen anderen Weg als den, der all die Jahre so klar und deutlich vor ihm gelegen hatte.

Mio Dio, sie hatte ihm mit ihren schlanken Beinen, ihrem spitzzüngigen Humor und ihrer Art, die Welt zu sehen, eindeutig den Verstand geraubt. Einen Moment hatte er sich hinreißen lassen, alle Regeln, die er sich davor selbst gestellt hatte, in den Wind geschrieben und sie mit einer Hingabe geliebt, als ob es keinen Morgen gäbe.

Statt an eine Zweckehe hatte er plötzlich an die Liebe geglaubt. Wie naiv. Und wie egoistisch von ihm, anzunehmen, dass das Leben einen Plan B für ihn bereithielt.

Er war der Nachkomme einer langen Ahnenreihe. Sein Urgroßvater hatte auf dem Land bereits Wein angebaut, Nonno Antonio hatte das Haus beträchtlich erweitern lassen und sein Vater hatte ebenfalls den Beruf des Winzers ergriffen. Nun war er an der Reihe, das Vermächtnis fortzuführen. Und er war nicht gewillt, sich seinen Lebensentwurf zunichtemachen zu lassen. Zumal Fabienne an einer festen Beziehung ohnehin kein Interesse hatte. Das hatte sie ihm mehr als deutlich gemacht.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Als er den Namen seiner kleinen Schwester auf dem Display las, schloss er kurz die Augen. Was war denn nun schon wieder? Eine Sekunde später nahm er das Gespräch entgegen. Sofort ertönte ihr Schluchzen, unterbrochen von abgehackten Worten, die er kaum verstehen konnte.

„Nun mal langsam, Clara. Was ist denn passiert?“

„Es ist zu spät“, schluchzte seine Schwester. „Sie haben gesagt, ich kann es vergessen.“

„Was vergessen?“, fragte er verwirrt. Sie schluchzte bloß. Und obwohl er nach all den Jahren immer noch innerlich erstarrte, wenn ihn ein Familienmitglied aufgelöst anrief und sein Unterbewusstsein das Schlimmste annahm, hatte er mittlerweile genug Erfahrung im Umgang mit seinen Schwestern dazugewonnen. Sein Kopf sagte ihm, dass Clara nur mal wieder einen ihrer emotionalen Ausbrüche hatte. Ein Zustand, der einige Male am Tag vorkommen konnte. Und dem konnte er nur begegnen, indem er selbst ruhig blieb.

„Jetzt mal ganz langsam und von vorn. Erzähl mir in Ruhe, was los ist.“

„Die Schauspielschule. Sie haben gesagt, dass ich für dieses Semester raus bin.“

Er runzelte die Stirn. „Aber ich habe immer regelmäßig die Gebühren überwiesen.“

Bevor Clara antworten konnte, kündigte ihm das Handy den nächsten Anrufer an. Seine älteste Schwester Alice.

„Einen Moment, Clara, wartest du kurz? Alice ist in der anderen Leitung.“

„Was will sie?“

Das werde ich gleich wissen, dachte er grimmig, bevor er auch diesen Anruf entgegennahm. „Alice …“, begann er, kam jedoch nicht weiter, denn ein Wortschwall prasselte auf ihn ein. Stupido, idiota und vigliacco waren die ersten Wörter, die er selektieren konnte. Gut, anscheinend war sie wütend. Und wenn er es richtig verstand, auf ihren Freund, den sie einen Feigling schimpfte.

„Kannst du dir das vorstellen?“, zeterte Alice weiter, bevor er auch nur einen Kommentar loswerden konnte. „Aber ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. So nicht!“

„Okay, wir bekommen das hin. Aber kannst du kurz warten? Deine Schwester ist in der anderen Leitung.“ Bevor Alice etwas erwidern konnte, hatte er bereits umgeschaltet.

Ciao, da bin ich wieder.“

Er hörte, wie Clara theatralisch schnaubte, und unterdrückte ein Seufzen. „Jetzt erzähl doch mal, was los ist.“

„Ich habe mich nicht rechtzeitig für das kommende Semester zurückgemeldet.“ Sie schluchzte erneut auf. „Und da die Frist bereits verstrichen ist …“

„Aber wie kann das sein? Du hattest sechs Wochen Zeit. Und ich habe dir die Unterlagen extra auf den Schreibtisch gelegt.“

„Du hättest mich ruhig mal daran erinnern können.“

Sie schmollte nun eindeutig, und er musste sich zusammenreißen, um ihr nicht deutlich die Meinung zu sagen. Sie war immerhin bereits Mitte zwanzig. Zeit, erwachsen zu werden. Ebenso wie Alice, die nur fünf Jahre jünger war als er und nun am anderen Ende der Leitung auf seine Hilfe hoffte.

Tizio presste kurz die Lippen aufeinander, ehe er sich zu einer ruhigen Antwort durchrang.

„Ich regle das, okay? Vertrau mir.“

„Du bist der Beste.“ Clara wirkte urplötzlich wieder ausgezeichnet gelaunt. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Er grinste grimmig und schaltete erneut um. „Alice?“

„Ach, bist du auch mal da?“

„Falls du dir Sorgen wegen deinem Kind machst …“

„Ich wäre immerhin alleinerziehend.“

„Das war ich doch all die Jahre mit euch auch. Und wir haben es immer gut hinbekommen, dico bene?“, sagte er und zum ersten Mal an diesem Tag musste er wirklich lächeln.

Da kündigte ihm sein Handy einen neuen Anruf an. Felicitas. Die jüngste der drei Schwestern, die gerade ihren Schulabschluss in der Tasche hatte. Das durfte doch nicht wahr sein!

Si?“, sagte er eine Spur zu scharf.

Fratellino?“, säuselte sie ihm ins Ohr.

Oha, wenn sie ihn schon mit einem Kosenamen ansprach, wurde es gefährlich.

Si, mio piccolo angelo?“ Er griff ihren Ton auf. „Was kann ich für dich tun?“

„Du weißt doch, dass heute die Party der Abschlussklasse ist.“

Si …“, sagte er erneut, weil er noch immer nicht wusste, worauf sie hinauswollte.

„Na ja und in meinem Kleiderschrank …“

„Lass mich raten – er ist absolut leer? Und du hast nichts anzuziehen?“

„Woher du das nur wieder weißt.“

„Die Kreditkarte liegt wie immer in der Schreibtischschublade. Aber übertreib es nicht.“

„Du bist der Beste.“ Sie schickte ihm einen Kuss durch den Hörer. „Ti voglio bene, Bruderherz.“

„Ich hab dich auch lieb.“

Ein Klicken in der Leitung verdeutlichte ihm, dass sie aufgelegt hatte.

Kopfschüttelnd steckte Tizio das Handy zurück in seine Hosentasche und atmete erneut tief durch. So waren sie eben. Seine drei Schwestern. Drei Gründe, warum er seinen Platz im Leben nie wieder angezweifelt hatte. Sie hatten nur noch ihn, da seine Eltern seit dem schrecklichen Autounfall vor sechs Jahren nicht mehr da waren. Und er hatte eine Aufgabe, die er erfüllen wollte, so gut es ging.

Kein Grund also, sich den Plan von einer rothaarigen Schönheit durcheinanderbringen zu lassen. So attraktiv und anziehend sie auch sein mochte. Es war an der Zeit, endlich mit dem Thema abzuschließen. Und er wusste bereits, was er als Nächstes tun wollte.

3. KAPITEL

Als Fabienne durch die Tür trat, empfing sie der warme Duft von Schokoladencookies, Zimt und frischem Espresso. Einen kurzen Augenblick blieb sie wie verzaubert auf der Türschwelle stehen und sah sich begeistert um.

Dieser Ort strahlte so viel Charme und Gemütlichkeit aus. Kerzen erhellten den Raum mit ihrem flackernden Licht. Kreisrunde Tische waren mit Spitzentischdecken und zartrosa Blumen dekoriert. Dazu die stilvollen Metallstühle, die allesamt unterschiedlich ausgestaltet waren und aus diversen Antiquitätenläden aus der Region entstammten.

Fabienne konnte sich noch genau an die Eröffnung erinnern – wenige Tage, bevor sie ihren Kurzurlaub abbrechen und überhastet wieder nach Hause fahren musste. Das Café hatte damals bereits eine ganz besondere Atmosphäre verströmt. Heute aber war es perfekt. Ein Ort, an dem man sich sofort wohlfühlen und die Sorgen des Alltags hinter sich lassen konnte.

Sie trat einen Schritt näher und betrachtete die eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Fotografien, die an den Wänden hingen. Beinahe andächtig ging sie von Bild zu Bild, um die Motive auf sich wirken zu lassen, die Impressionen des Gardasees zeigten. Weinstöcke in ihrer Vollendung. Sonnenuntergänge, die in Farbe eingefangen beinahe kitschig wirken mussten, durch die Abstufungen von Schwarz- und Grautönen jedoch ein Gefühl von Sehnsucht in ihr auslösten.

„Wer hat die Bilder hier gemacht?“, fragte sie und betrachtete die Nahaufnahme von Weintrauben, auf denen der Morgentau glitzerte.

Lilly, die sich auf der Anrichte abgestützt hatte, kam langsam zu ihr, die Hände in den Rücken gestützt. „Keine Ahnung. Mein Mann hat sie entgegengenommen. Der Künstler will wohl nicht namentlich erwähnt werden. Deshalb haben wir sie anonym aufgehängt.“

„Ach so?“ Fabienne runzelte die Stirn. „Aber die Fotografien sind toll. Sehr eindrucksvoll. Möchte er – oder sie – dafür denn gar kein Lob einheimsen?“

„Anscheinend nicht. Und solange ich damit das Café schmücken kann, ist mir egal, wer dahintersteckt. Hauptsache, ich darf die Werke hier ausstellen. Die Gäste jedenfalls sind begeistert.“ Sie verzog das Gesicht und legte sich eine Hand auf den Bauch.

Fabienne sah sie besorgt an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Ach, ich weiß auch nicht. Der Bauch wirkt heute nur so hart.“

„Hast du Schmerzen?“

„Zwischendurch. Aber ich war so aufgeregt, dass du zu Besuch kommst. Das lasse ich mir nicht nehmen. Wir waren viel zu lang getrennt.“

Fabienne legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du solltest dich besser setzen. Nicht dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist.“

„Nein, das würde ich merken.“ Lilly strich über ihren Bauch. „Außerdem – wer soll die Arbeit hier machen, wenn ich ausfalle? Ein wenig muss der Krümel noch warten.“

„Na ja, so viel ist hier ja gerade nicht zu tun. Nur zwei Tische sind besetzt, das bekomme ich schon hin. Wird es nachher noch voller?“

Einen Augenblick wirkte es so, als huschte ein Schatten über das Gesicht ihrer Freundin. Doch dann lächelte sie wieder, fröhlich, wie Fabienne es von ihr gewohnt war.

„Direkt am See hat ein neues Café aufgemacht mit unschlagbar günstigen Preisen. Aber Konkurrenz belebt das Geschäft, nicht wahr?“ Mit einem Seufzer zog Lilly einen der Stühle vor und ließ sich schwer darauf nieder. „Vielleicht hast du recht und ich ruh mich lieber ein wenig aus. Du könntest bei den zwei Frauen hinten links abkassieren. Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht.“

„Das mache ich doch gern als zukünftige Patentante.“ Lächelnd nahm Fabienne das Portemonnaie entgegen und machte sich auf den Weg nach draußen.

Die Terrasse war nicht besonders groß, wirkte aber wegen all der Blumen und exotischen Pflanzen, die ringsum in Kübeln aufgestellt waren, wie ein üppiger Blumengarten. Fabienne kannte die Namen der meisten Gewächse nicht, nahm aber den süßen Duft tief in sich auf. Dabei breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Wie schön es hier doch war!

In einer Mischung aus Italienisch und Englisch kassierte sie bei den älteren Damen ab, die den Kuchen in den höchsten Tönen lobten, und räumte auch gleich noch das benutzte Geschirr vom Nachbartisch ab. Als sie ins Innere des Cafés trat, sah sie gerade noch, wie Lilly das Gesicht verzog.

„Du hast doch Schmerzen“, stellte sie fest und eilte schnell zu ihrer Freundin.

„Ein wenig“, gab die zu. „Wird schon nicht so schlimm sein.“

„Vielleicht solltest du lieber zu einem Arzt gehen, Lilly.“

„Fabs, mach dir um mich keine Sorgen.“ Sie deutete nach draußen. „Sieh mal. Da kommen neue Gäste, die du ... Oh …“ Sie brach ab und riss ungläubig die Augen auf.

Fabienne folgte ihrem Blick – und hätte fast die Kaffeetasse in ihrer Hand fallen lassen. Der Typ draußen, der an einem der Tische Platz nahm, war niemand anders als Tizio. Zusammen mit seiner neuen Freundin, wenn sie es richtig interpretierte. Er hatte den Arm um die schwarzhaarige Frau gelegt, die sie bereits in der Weinhandlung gesehen hatte. Er brachte seine neue Liebe ausgerechnet an den Ort, an dem alles mit ihnen beiden angefangen hatte. Der hatte ja Nerven.

„Das musst du nicht tun“, sagte Lilly hastig.

Sie sah so blass um die Nase aus, wie Fabienne sich fühlte. Als ihre Freundin Anstalten machte, sich zu erheben, winkte sie jedoch ab.

„So weit kommt es noch. Ehrlich, Lilly, ich bin erwachsen. Da werde ich es wohl hinbekommen, meinem Ex zu begegnen und ihm einen Kaffee zu servieren. Zumal wir ohnehin nur eine kurze Affäre hatten. Das schaffe ich schon.“

Zweifelnd sah Lilly sie an. Doch da war noch was in ihren Augen, das Fabienne nicht einzuordnen vermochte. War das … Furcht? Bevor sie einen weiteren Gedanken darüber verlieren konnte, hatte die schwarzhaarige Schönheit an Tizios Arm bereits die Hand gehoben.

Senta, possiamo ordinare?

Schnell griff Fabienne nach dem Bestellblock und einem Stift, der auf der Theke neben der Kasse bereitlag, straffte die Schultern und eilte nach draußen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals hinauf, als sie an den Tisch trat. Angestrengt bemühte sie sich um einen unverfänglichen Gesichtsausdruck, der ihr aber vermutlich nicht allzu gut gelang.

„Sie wünschen?“, fragte sie und vergaß vor lauter Aufregung sogar, ins Italienische zu wechseln. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. War es Zufall, dass er ausgerechnet jetzt in Lillys Café aufgetaucht war? Oder hatte er sie etwa vor dem Weinladen gesehen und wollte nun mit ihr reden? Aber warum brachte er dann ausgerechnet seine neue Freundin mit?

Das ist wahrscheinlich die Antwort auf deinen Brief, den du ihm vor langer Zeit geschrieben hast. Er will dir zeigen, dass er dir nicht mehr nachtrauert, sondern längst eine bessere Partie gemacht hat. Tja, selbst schuld. Du hast es nicht anders gewollt.

Tizio hob den Kopf. Sein Blick traf sie mit solcher Wucht, dass sie vor Schreck den Kugelschreiber fallen ließ.

Scusa“, murmelte sie und bückte sich mit hochrotem Kopf, wobei sie fast mit Tizio zusammengestoßen wäre, der ebenfalls nach dem Stift griff.

„So sieht man sich wieder.“

Er raunte ihr das so leise zu, dass sie das Gefühl hatte, sich verhört zu haben. Ihre Blicke versanken ineinander, und einen Moment war er ihr so nah, dass sie nichts anderes tun konnte, als ihn anzustarren, in seine Augen zu schauen, in denen für den Bruchteil einer Sekunde ein Sturm zu tosen schien. Der Moment verging.

Scheinbar unbeteiligt reichte Tizio ihr den Kuli und legte besitzergreifend einen Arm um die Schwarzhaarige.

„Was möchtest du trinken, Cioccolatino?“, fragte er.

Fabienne musste sich Mühe geben, nicht die Augen zu verdrehen. Bei so viel Süßholzgeraspel wurde ihr schlecht.

Als die Frau sie mit merklichem Missmut ansah, fiel ihr auf, dass sie anscheinend deren Antwort nicht gehört hatte. „Scusa“, murmelte sie erneut, woraufhin die Schwarzhaarige unwillig die Lippen aufeinanderpresste.

„Einen Cappuccino mit Hafermilch und ein Zitronencookie, bitte.“

Die Fremde sagte das so langsam, als wäre Fabienne schwer von Begriff. Mit zittrigen Händen nahm sie die Bestellung entgegen und notierte für Tizio einen doppelten Espresso, schwarz, ohne Zucker. Wenigstens daran hatte sich nichts geändert.

Beim Rückweg ins Café musste sie sich Mühe geben, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Allerdings zitterten ihr die Knie und sie hatte das Gefühl, keinen Schritt weitergehen zu können.

Meine Güte. Hatte er schon immer so eine Wirkung auf sie gehabt? Sie benahm sich ja wie ein verunsicherter Teenager. Dabei war sie es, die die Affäre beendet hatte. Alles andere hätte zu viele Komplikationen mit sich gebracht. Und noch mehr Probleme hatte sie zu dem Zeitpunkt damals definitiv nicht gebrauchen können.

Sie eilte hinter den Tresen, stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine und legte zwei Cookies auf einen der Teller, der mit einem zarten Blumenmuster verziert war und hervorragend zur Einrichtung passte.

Wie Tizio sie angesehen hatte, als ob … als hätte er die Zeit mit ihr ebenfalls nicht vergessen.

Verträumt starrte Fabienne auf den Kuchen, der unter einer Haube auf dem Tresen stand, und dachte an die Wochen zurück, als sie die Frau an seiner Seite gewesen war.

Aufmerksam, charmant und … unglaublich aufregend. So würde sie ihn mit wenigen Worten beschreiben. Sie hatte das Zusammensein mit ihm genossen. Es war wie ein Feuerwerk, das in den leuchtendsten Farben am Himmel explodierte. Bis … diese Nacht über ihr Leben hereingebrochen war und alles Licht mitgerissen hatte.

Blinzelnd kam Fabienne wieder zurück in die Realität. Sie hatte gerade die aufgeschäumte Milch in die zweite Tasse gefüllt, da stieß Lilly einen Schmerzenslaut aus. Erschrocken fuhr sie zu ihrer Freundin herum.

„Meine Güte, was ist mit dir?“

„Es … ich weiß auch nicht. Es tut so weh.“ Lilly hielt sich mit verkrampftem Gesicht den Bauch.

Fabienne wurde übel vor Angst. „Du fährst jetzt ins Krankenhaus. Keine Widerrede.“

„Aber Alessandro ist nicht da. Er kommt erst am Abend wieder. Und ich weiß nicht …“

„Dann rufe ich einen Rettungswagen.“ Fabienne zückte ihr Handy.

„Okay. Ich leg mich so lange auf die Liege im Büro.“

„Warte, ich helfe dir.“ Fabienne half ihr auf die Beine und führte sie in den benachbarten Raum, in dem eine schmale Pritsche stand. „Besonders bequem sieht die nicht aus“, sagte sie zweifelnd.

Lilly zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ach, am Anfang habe ich hier jede Nacht geschlafen.“

„Da warst du auch nicht schwanger.“ Fabienne hörte, dass ihre Stimme zitterte. Angst stieg in ihr hoch, und sie war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Bevor ihre Freundin ihre Unruhe bemerken konnte, legte sie ihr eine Decke über die Beine und ging zurück ins Café, wo sie sich auf dem Tresen abstützte und verzweifelt gegen Tränen anblinzelte.

Sie hatte sich schon einmal so hilflos gefühlt, damals, als ihr Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sofort war sie zu ihm geeilt, hatte ihm helfen wollen. Bis dann doch alles anders gekommen war.

Der Schmerz drohte sie innerlich zu zerreißen, und sie presste sich eine Hand vor dem Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Was geschehen war, war geschehen. Sie konnte nichts daran ändern.

Mio Dio. Muss die Kellnerin die Mandeln für die Milch etwa erst pflücken?“, schimpfte Julia. „Wenn das so weitergeht, schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig, mich für heute Abend schick zu machen.“

„Ich freue mich jedenfalls, dass du so spontan mitgekommen bist.“ Tizio bemühte sich um ein Lächeln. „Und hast du mir nicht heute Mittag erst gesagt, wir sollten mehr Zeit zusammen verbringen?“

„Es ist ja nett, dass du mich noch mal abgeholt hast. Aber wir hätten zu Angelo gehen sollen. Der Service in diesen kleinen Läden ist absolut unprofessionell. Es ist immerhin gleich fünf Uhr.“

Julia trommelte mit ihren Fingernägeln ungeduldig auf der Tischplatte und Tizio seufzte. Alle zwei Wochen hatte sie einen Termin im Nagelstudio, um sich neue Exemplare formen zu lassen. Diesmal waren die Nägel so lang, dass sie ihn an Krallen erinnerten. Mit denen könnte sie ihm niemals auf dem Weingut zur Hand gehen, doch zum Glück würde es nicht ihre Aufgabe sein, Trauben zu verlesen und Weinreben zu pflanzen und zu pflegen. Dafür waren seine Mitarbeiter da. Und er, wenn er sich die Zeit nahm, was öfter vorkam als geplant.

Er liebte die Natur, weshalb er sich manchmal wünschte, mehr Gemeinsamkeiten mit seiner zukünftigen Frau zu haben. Wenn er ab und zu frühmorgens über die Weinberge schritt, die Blätter im Blick, die noch feucht waren vom Tau, stellte er sich vor, seine Liebste an seiner Seite zu haben.

Seltsamerweise konnte er dabei niemals Julia sehen. Das Gesicht der Frau war unscharf, die Haare deutlich heller. Aber was sagten seine Wunschträume schon über die Zukunft aus? Hatte er nicht zu träumen gewagt und dabei verloren? Er musste realistisch bleiben. Und dazu gehörte nun einmal, die passende Ehefrau an seiner Seite zu haben, die in der Lage war, das Weingut nach außen zu repräsentieren.

Julia war so eine Frau. Ihre Familie entstammte einer langen Linie von Winzern. Sie hatte den Anbau von Wein quasi im Blut, war zuverlässig und beständig. Was wollte er mehr?

Ihr Vater hatte bereits in früheren Jahren die Absichten geäußert, die beiden Güter zusammenbringen zu wollen. Beide Anwesen zu verschmelzen und dabei eine ganz neue Marke zu kreieren, in der die Tradition weiterhin Bestand hatte, das Unternehmen aber dank der hinzugewonnenen Größe einen Schritt in die Zukunft tun würde. Wozu es notwendig war, den Ehevertrag unter Dach und Fach zu bringen. Und wenn es nach der Meinung seines Kumpels ging, hatte Tizio es mit der hübschen Julia keineswegs schlecht getroffen.

Warum aber war er dann hier? Um einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit zu ziehen und sich zu beweisen, dass er über Fabienne hinweg war? Oder um ihr vor Augen zu führen, was sie verpasst hatte, als sie ihn vor vier Jahren einfach so verließ?

Julia trommelte derweil weiterhin auf die Tischplatte ein. Langsam, aber sicher machte ihn das andauernde Klackern nervös. Er stand auf und schob seinen Stuhl dabei so hastig zurück, dass er ein Kratzen auf dem Boden veru...

Autor

Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
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Lela May Wight
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