Romana Extra Band 92

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DAS MEER, DIE STERNE UND DU von CHLOE EDMONDSON
Ganz verzaubert ist Hotelmanagerin Melissa während ihrer Geschäftsreise vom Meer, den Sternen über der wilden Azoreninsel - und von ihrem neuen Kollegen Alex Ferreira. Sie verbringt eine leidenschaftliche Nacht mit ihm. Doch am nächsten Morgen erfährt sie, wer Alex wirklich ist …

PRINZESSINNEN KÜSST MAN NICHT von KANDY SHEPHERD
Tycoon Finn O’Neill ist hingerissen, als er auf einer Hochzeit in Sydney die reizende Natalie trifft. Sie erobert sein Herz im Sturm - und verschwindet urplötzlich. Dabei hat er doch gespürt, wie sie seine Küsse genossen hat! Warum flieht sie dann vor ihm?

TAG UND NACHT IN DEINEN ARMEN von KIM LAWRENCE
Streik auf dem Flughafen in Madrid! Und nun? Megan ist ratlos - da läuft sie Emilio Rios über den Weg. Der beste Freund ihres Bruders nimmt sie mit in sein Apartment. Vierundzwanzig süße Stunden verbringt sie in seinen Armen. Soll sie danach für immer bleiben?

UNSERE INSEL DES GLÜCKS von DEBORAH FLETCHER MELLO
Bei einem Familientreffen lernt Phaedra Milliardär Mason Boudreaux kennen. Als er sie auf seine Privatinsel in Thailand einlädt, zögert sie nicht lange. Bald fühlt sie sich unwiderstehlich zu dem sexy Tycoon hingezogen. Doch sie darf sich nicht verlieben, denn Mason gilt als Playboy …


  • Erscheinungstag 17.03.2020
  • Bandnummer 92
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747947
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Chloe Edmondson, Kandy Shepherd, Kim Lawrence, Deborah Fletcher Mello

ROMANA EXTRA BAND 92

CHLOE EDMONDSON

Das Meer, die Sterne und du

Auch wenn er die leidenschaftliche gemeinsame Nacht noch so genossen hat: Alex darf sich nicht in die bezaubernde Hotelmanagerin Melissa verlieben, denn er kann ihr nicht vertrauen …

KANDY SHEPHERD

Prinzessinnen küsst man nicht

Als Natalie in Sydney Tycoon Finn O’Neill trifft, ist es für beide Liebe auf den ersten Blick. Aber er ahnt nicht, dass sie eine Prinzessin ist – und niemals einen Bürgerlichen lieben darf …

KIM LAWRENCE

Tag und Nacht in deinen Armen

„Komm mit in mein Apartment.“ Weil auf dem Madrider Flughafen Streik herrscht, nimmt Megan das Angebot von Emilio Rios an. Und landet in seinen Armen! Vierundzwanzig Stunden Glück – und dann?

DEBORAH FLETCHER MELLO

Unsere Insel des Glücks

Milliardär Mason Boudreaux ist hingerissen von der schönen Phaedra und lädt sie auf seine Privatinsel in Thailand ein. Erfreut sagt sie zu. Gegen seinen Charme scheint sie jedoch immun zu sein …

1. KAPITEL

Wer ist Alex Carrington? Die Frage prangte als Schlagzeile auf fast allen Zeitungen, die an der Rezeption des luxuriösen London Carrington Spa Hotels auslagen.

Alex unterdrückte den Impuls, sie alle einzusammeln und in den Müll zu verfrachten. Da hatte sein Vater ihm wirklich eine schöne Erbschaft hinterlassen!

Seit Wochen war er Zielscheibe der wildesten Spekulationen seitens der Presse. Und das, obwohl er sein Leben lang fast gar keinen Kontakt zu James Carrington gehabt hatte. Der hatte es vorgezogen, durch die Weltgeschichte zu tingeln und sich mit unzähligen schönen Frauen ablichten zu lassen. An seinen Sohn Alex und dessen Mutter Luisa im fernen Portugal hatte er keinen Gedanken verschwendet.

Nun war James Carrington tot, und Alex sollte in seine Fußstapfen treten. Aber er dachte gar nicht daran, das Vermächtnis seines Vaters fortzusetzen. Als der Anwalt ihm bei der Testamentseröffnung einen Brief ausgehändigt hatte, in dem stand, James Carrington wisse sein Erbe bei seinem Sohn „in besten Händen“, hatte Alex bitter aufgelacht.

Alex besaß sein eigenes, florierendes Imperium aus gut aufeinander abgestimmten Unternehmen, das er von Lissabon aus leitete. Damit hatte er auch ohne die Hilfe seines Vaters schon mit sechsunddreißig Jahren ein ansehnliches Vermögen erwirtschaftet. Er wusste, dass man ihm einen untrüglichen Geschäftssinn nachsagte, denn er kaufte Firmen auf, die kurz vor dem Bankrott standen, fand ihre Schwachstellen und sanierte sie so weit, dass sie mehr Gewinn abwarfen als jemals zuvor.

Ein Unternehmen, das Alexandre Ferreira Carrington umstrukturiert hatte, befand sich anschließend in einem wirtschaftlich guten Zustand. Um dies zu erreichen, war er bereit, mitunter zu unkonventionellen Mitteln zu greifen, weshalb seine Geschäftsfreunde ihn für ein wenig sonderbar hielten. Aber das war Alex herzlich egal, denn das Ergebnis stimmte immer.

Das Überprüfen von Geschäftsunterlagen war seine Spezialität, und so hatte er sofort erkannt, dass mit den Büchern des London Carrington Spa Hotels etwas nicht stimmte. Obwohl in bester Lage an der berühmten Park Lane und nahezu ständig ausgebucht, schrieb es wesentlich schlechtere Zahlen als vergleichbare Häuser der Hotelgruppe in anderen europäischen Großstädten. Woran das lag, konnte er noch nicht sagen, doch genau deshalb war er jetzt hier.

„Willkommen im Carrington Spa. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, begrüßte ihn eine freundliche Blondine Anfang zwanzig, die hinter der Rezeption stand.

Sie trug eine tadellos sitzende Hoteluniform und wirkte sehr souverän. Ein weiterer Pluspunkt auf seiner inneren Checkliste.

Überhaupt war der erste Eindruck überraschend positiv. Der Eingangsbereich hatte einen hellen, gepflegten Marmorfußboden. Die sandfarbenen Wände harmonierten mit den lässig arrangierten Sitzgelegenheiten aus hellem Leder. Alles wirkte elegant und hochwertig.

Auch die Hotelbar und der daran anschließende Restaurantbereich hatten ihn bei einem unauffälligen ersten Blick zufriedengestellt. Dort herrschten warme Rottöne vor, die einen angenehmen Kontrast zum eher kühlen Eingangsbereich erzeugten. Details aus Chrom am Mobiliar ließen auch diesen Bereich edel wirken. Das Personal machte durchgängig einen zuvorkommenden und kompetenten Eindruck, soweit er es auf die Schnelle beurteilen konnte.

Zumindest augenscheinlich schien die Hotelmanagerin hervorragende Arbeit zu leisten. Wenn nur die Zahlen in der Bilanz diese Arbeit widerspiegeln würden …

„Mein Name ist Alexandre Ferreira. Ich habe einen Termin mit der Hotelmanagerin. Würden Sie mich bitte zu ihr bringen? Ich komme im Auftrag der Firmenleitung.“

Diese Strategie hatte er sich im Vorfeld zurechtgelegt, denn Alex wollte noch nicht, dass die Mitarbeiter in London ihn als den neuen Inhaber erkannten. Wenn er herausbekommen wollte, was mit dem Hotel nicht stimmte, musste er der Managerin Melissa Jenkins auf den Zahn fühlen, ohne dass sie ahnte, mit wem sie es zu tun hatte.

Also hatte er sich entschlossen, den Namen seiner Mutter zu verwenden, Ferreira. Persönlich kannte ihn niemand, denn seine Mutter und er lebten sehr zurückgezogen, und er konnte sich darauf verlassen, dass keine Fotos oder sonstigen Informationen über ihn im Internet kursierten. Bekannt war nur der Name Alex Carrington, mit dem er das Erbe seines alles andere als medienscheuen Vaters angetreten hatte.

„Selbstverständlich. Bitte folgen Sie mir“, sagte die junge Rezeptionistin.

Sie brachte ihn in die erste Etage, wo eine dezente Türbeschriftung auf den Verwaltungsbereich hinwies. Von dem ruhigen, eleganten Hotelkorridor aus gelangten sie in einen schmucklosen Gang. Aus zahlreichen offenen Türen drangen die Geräusche reger Geschäftigkeit. Es war wie der Eintritt in ein anderes Universum.

Hier regierte also Melissa Jenkins. Ihren Namen kannte er aus den Akten. Deshalb zögerte er nicht, als er ihn auf dem silbernen Schild neben einer schweren Holztür sah. Er klopfte und griff nach dem Türknauf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Die Rezeptionistin hinter ihm räusperte sich leise.

„Vielen Dank, Miss …“

„Taylor“, murmelte sie.

„Sie können gehen.“

Er bedachte sie mit einem knappen Nicken und trat ein.

Das Büro war erstaunlich klein, wenn man bedachte, dass hier alle Fäden des berühmten Londoner Luxushotels zusammenliefen. An den Wänden standen Regale mit schweren Aktenordnern und unzähligen Büchern über Marketing, Wirtschaft und Unternehmenskultur. Vor dem Fenster, durch das man auf die Park Lane hinaussah, kümmerte eine fast vertrocknete Topfpflanze vor sich hin.

Es war unglaublich heiß und stickig hier drinnen. Doch auch die trockene Sommerhitze, die seit Tagen über London brütete, konnte diese Raumtemperatur nicht erklären. Am liebsten hätte er sofort angeordnet, dass man das Fenster öffnete und für eine angemessene Durchlüftung sorgte. Doch er hielt sich zurück, weil niemand ahnen durfte, dass er hier das Sagen hatte.

Was ihn jedoch am meisten überraschte, war die Frau, die hinter dem Schreibtisch saß, der den größten Teil des Büros einnahm und über und über mit Papieren und Dokumenten bedeckt war.

Sie war viel jünger, als er erwartet hatte, höchstens dreißig Jahre alt. Nicht im Entferntesten die gestandene Mittfünfzigerin, die er sich an der Spitze eines Luxushotels vorgestellt hätte.

Zugegeben, er hätte sich besser über sie informieren können, dann wäre er vorgewarnt gewesen. Doch es gehörte zu seinen Prinzipien, möglichst unvoreingenommen an eine Unternehmensprüfung heranzugehen, und so hatte er sich die Mühe gespart.

Vor allem aber war Melissa Jenkins nicht nur jünger als erwartet, sondern auch atemberaubend schön. Glänzendes rotes Haar fiel in sanften Wellen über ihre schmalen Schultern. Obwohl ihr nüchternes, marineblaues Etuikleid sich alle Mühe gab, sie möglichst neutral aussehen zu lassen, war er sofort wie gefesselt von den strahlend grünen Augen in ihrem ebenmäßigen hellen Gesicht.

Sie hätte als Model arbeiten können, wenn sie nicht zufällig die Managerin eines sündhaft teuren Hotels gewesen wäre. Sie bewegte sich geschmeidig wie eine Tänzerin, als sie aufstand und ihm auf eleganten hochhackigen Schuhen entgegenkam.

„Sie müssen Mr. Ferreira sein“, sagte sie mit einem knappen Lächeln, das gerade ausreichte, um als höflich durchzugehen, aber keine Missverständnisse zuließ. Betont brüsk streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

Es war ganz offensichtlich, dass sie nicht im Geringsten beabsichtigte, sich mit dem portugiesischen Abgesandten der Firmenleitung anzufreunden.

Nun, das konnte Alex nur recht sein. Denn als er ihre Hand nahm und zur Begrüßung in ihre schönen grünen Augen sah, durchzuckte ihn wie ein Blitz die Erkenntnis, dass er dieser Frau niemals hätte widerstehen können, wenn sie sich unter anderen Umständen begegnet wären.

Als er ihre zarten Finger in seiner großen Hand hielt, spürte er einen gefährlichen Moment lang die Spannung, die sofort zwischen ihnen in der Luft lag. Er stellte sich vor, wie er sie in einer Bar in der Nähe seiner Stadtvilla in Lissabon angesprochen hätte. Wie hätte sie sich dort verhalten?

Sie war sicher zwanzig Zentimeter kleiner als er und hatte eine schmale Taille, die er mit beiden Händen hätte umfassen können. Automatisch erwachte in ihm das Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen und zu beschützen.

Doch dann wurde ihm wieder bewusst, dass das hier keine Bar in Lissabon, sondern ein Londoner Hotel war. Und Melissa Jenkins war die Frau, die er verdächtigte, diesem Hotel empfindlich zu schaden, indem sie bei der Abrechnung Geld unterschlug.

Das Letzte, was diese Frau brauchte, war sein persönlicher Schutz.

Himmel, sieht der gut aus, war das Erste, was Melissa durch den Kopf ging. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Mit Mühe ignorierte sie Alexandre Ferreiras hochgewachsene, aufrechte Gestalt und seinen schlanken, durchtrainierten Körper. Sie sah über seine breite Brust hinweg, die sich unter seinem eng geschnittenen Hemd abzeichnete, und bemühte sich, auch das beinahe olivfarbene Gesicht mit den tiefdunklen Augen nicht allzu sehr auf sich wirken zu lassen.

Als ihr Blick auf seine kurzen dunklen Haare fiel, von denen einige widerspenstig vom Kopf abstanden, musste sie den Impuls unterdrücken, mit den Händen in die kleinen Locken zu fassen.

Und er duftete so gut – frisch gewaschen, obwohl er vermutlich gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen war, und mit einer leicht herben Note, die seine Männlichkeit unterstrich und in ihrer Magengegend ein Prickeln aufkommen ließ.

Wäre er nicht aus Lissabon hergeschickt worden, um ihr auf die Finger zu schauen, hätte sie ihn glatt für perfekt halten können.

Aber so …

Sie war unglaublich wütend gewesen, als die neue Firmenleitung sie per E-Mail informiert hatte, dass Alex Carrington einen Manager aus den eigenen Reihen beauftragt hatte, mit ihr gemeinsam das Hotel zu leiten. Was versprach er sich davon?

Seit sie vor drei Jahren das London Carrington Spa Hotel übernommen hatte, waren die Buchungen von Quartal zu Quartal in die Höhe geschossen. Gut, sie hatte selbst bemerkt, dass die Umsatzzahlen diese Entwicklung nicht in dem Maße widerspiegelten, wie sie erwartet hatte. Aber an dem Thema war sie schließlich dran, indem sie gemeinsam mit dem Buchhalter Dennis Breswick die Betriebsausgaben durcharbeitete, um Möglichkeiten für Einsparungen zu finden.

Das Haus war in hervorragendem Zustand, und selbst die letzte der Mitarbeiterbefragungen, die sie regelmäßig einmal im Jahr durchführte, war mehr als zufriedenstellend ausgefallen. Alle waren einhellig der Meinung, dass Melissa Jenkins die richtige Frau für den Managerposten war.

Selbst James Carrington hatte ihr das mehrfach persönlich gesagt. Warum also musste sein Sohn sofort an ihr zweifeln, sobald er nach dem Tod des Vaters dessen Stelle eingenommen hatte?

Wahrscheinlich nur, weil er genauso ein Chauvinist war wie viele andere in der Branche. Was das Hotelgewerbe betraf – und wahrscheinlich eine Menge anderer Berufszweige –, gab es immer noch viel zu viele Männer, die glaubten, eine Frau hätte keine Führungsqualitäten.

Als Zimmermädchen, Kellnerinnen oder auch als Rezeptionistinnen waren Frauen gut genug. Vor allem, wenn sie sich ein bisschen zurechtmachten und „was fürs Auge boten“, wie James Carrington es einmal ausgedrückt hatte.

Aber wenn es um leitende Positionen ging – sprich, um ihren Posten als Hotelmanagerin –, da musste natürlich ein männliches Pendant her, das dafür sorgte, dass Melissa nicht zu viel Unfug trieb.

Lächerlich!

Doch natürlich konnte Alexandre Ferreira nichts dafür, dass dieser Snob Alex Carrington ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, um sie zu kontrollieren. Ferreira machte nur seine Arbeit, und Melissa durfte es ihm nicht übelnehmen.

Laut der E-Mail sollten sie sich die Leitung des Londoner Hotels bis auf Weiteres teilen. Aber das war betriebswirtschaftlicher Unsinn, und Carrington, den sie natürlich längst gegoogelt hatte, war für seinen Geschäftssinn bekannt. Melissa konnte also sicher sein, dass Carrington sich früher oder später für einen von ihnen entscheiden würde, und dann wollte sie diejenige sein, die auf ihrem Posten blieb.

Sie musste eben zeigen, dass sie in ihrem Job besser war als der Neue. Sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie gut sie ihre Sache machte. Sie musste nur dafür sorgen, dass Carrington von ihren Fähigkeiten erfuhr.

Also zwang sie sich zu einem höflichen Lächeln, als Alexandre Ferreira ihre Hand nahm.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Jenkins“, sagte er mit einer Stimme, die so tief und rauchig war, dass sie ihr durch und durch ging. Warum musste der Mann auch so verflucht sexy sein?

Reiß dich zusammen, Melissa!

Sie konnte es sich nicht leisten, sich vom südländischen Charme des attraktiven Portugiesen ablenken zu lassen. Bevor er das Büro betreten hatte, war sie die aktuellen Umsatzzahlen durchgegangen, und die waren alles andere als beruhigend gewesen. Obwohl Dennis gerne betonte, dass ein kleiner Gewinneinbruch völlig normal sei.

Gerade in der jetzigen Situation konnte Melissa sich kein schlechtes Ergebnis erlauben. Wenn sie sich mit der Attraktivität ihres Konkurrenten beschäftigte, statt sich ums Geschäft zu kümmern, hatte sie die Schlacht so gut wie verloren.

Nein, sie musste seine Anziehungskraft ignorieren und sich immer wieder sagen, dass es an ihr war, allen zu beweisen, was sie draufhatte.

„Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen“, entgegnete sie kühl. „Wie lange beabsichtigen Sie zu bleiben? Ich nehme an, es ist nur ein vorübergehendes Engagement, oder?“

Man kann es ja mal probieren.

Er legte den Kopf schief, ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen. „Wollen Sie mich schon wieder loswerden? Das ging ja schnell.“

„Ganz und gar nicht. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Sicher können wir einiges voneinander lernen. Ich denke, dass wir hier in England die Dinge etwas anders angehen als in Portugal.“

Seine Augen funkelten, und das machte ihn nicht weniger attraktiv. „Sie meinen, Sie wollen mir zeigen, wie der Hase läuft, weil Sie es hier besser können?“

Gott, kann der spitzfindig sein!

„Ganz und gar nicht. Aber …“ Jetzt geriet sie tatsächlich ins Stocken.

Einen Moment lang suchte sie nach den richtigen Worten, während er sie weiterhin mit seinem intensiven Blick musterte, der ihr langsam, aber sicher die Röte in die Wangen treiben würde, wenn sie nicht zum Angriff überging.

„Lassen wir die Haarspalterei. Sie wissen genau, dass ich nicht übermäßig erfreut darüber bin, dass mir ein zweiter Manager vor die Nase gesetzt wird. Das geht nicht gegen Sie persönlich. Aber Ihnen wäre es auch nicht recht, wenn Sie ein Hotel leiten würden und man es Ihnen plötzlich nicht mehr zutraut.“

Kurz wirkte er überrumpelt von ihrer unmissverständlichen Situationsbeschreibung. Dann erschien wieder dieses arrogante Lächeln auf seinem Gesicht, das sie schier rasend machte.

„Ich sehe schon, unsere Zusammenarbeit wird ausgesprochen reizvoll werden.“

Statt auf Melissas Aussage einzugehen oder etwas gegen die Spannung zu unternehmen, die in der Luft lag, sah er sich in aller Ruhe in ihrem kleinen Büro um.

In seinen Augen musste der Raum ziemlich schäbig wirken. Dabei war sie eigentlich sehr zufrieden mit ihrem Büro. Es gab zwar noch ein größeres am Ende des Flurs, wo nicht diese stickige Atmosphäre herrschte, die von der Wäscherei ein Stockwerk tiefer herrührte. Melissa hatte sich jedoch für diesen Raum entschieden, weil er sich genau in der Mitte des Angestelltenbereichs befand.

Sie bevorzugte eine offene Unternehmenskultur, und wenn sie mitten unter ihren Mitarbeitern saß und ihre Bürotür offen ließ, war sie für ihre Kollegen stets ansprechbar. Die Tür war nur geschlossen, wenn sie die Abrechnung machte oder dringend und in Ruhe nachdenken musste – wie über das Problem mit den schlechten Zahlen. Dann wussten ihre Mitarbeiter, dass sie nicht gestört werden wollte.

Und sie liebte diesen Raum. Mit ihm verband sie viele gute Erinnerungen. Gerade in den Wintermonaten konnte es hier unglaublich gemütlich werden, wenn zum Beispiel alle Mitarbeiter des Hotels zu einem kleinen improvisierten Umtrunk zusammenkamen. Daran war natürlich jetzt in der sommerlichen Hitze nicht zu denken. Draußen herrschten für Londoner Verhältnisse geradezu wüstenähnliche Zustände, und bei diesen Temperaturen in einem so beengten Raum beisammen zu sein, wäre schlicht nicht auszuhalten gewesen.

Trotzdem ärgerte sie der kritische Blick des neuen Kollegen.

„Wenn Sie möchten, rufe ich jemanden, der Ihnen den Rest des Hotels zeigt.“

Wieder bedachte er sie mit diesem intensiven, neugierigen Blick aus seinen schönen tiefbraunen Augen. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich gern, dass Sie mir alles zeigen.“

Wie bitte? Bin ich etwa seine Angestellte?

Melissa fühlte sich zutiefst beleidigt, und daran änderte auch sein weicher Akzent nichts, der ihr in jeder anderen Situation vermutlich den Verstand geraubt hätte.

„Ich fürchte, dazu habe ich keine Zeit.“

„Nun, wenn Sie die Zeit dafür aufbringen würden, könnten wir gemeinsam überlegen, an welchen Stellen sich noch das eine oder andere verbessern ließe“, wandte er aalglatt ein. „Aber da Sie offensichtlich nicht abkömmlich sind, kann ich auch allein zur Tat schreiten.“

Daher weht also der Wind!

Wenn sie seine unhöfliche Bitte ausschlug und ihn mit jemand anderem durchs Hotel schickte, würde sie damit leben müssen, dass er all das, was sie mit viel Liebe und Mühe aufgebaut hatte, einfach ruinierte, indem er seine Verbesserungen vornahm – oder das, was er dafür hielt.

Das London Carrington Spa Hotel war ein sensibler Organismus – ein fein abgestimmtes Getriebe, in dem jedes Rädchen seinen Platz hatte. Wenn Alexandre Ferreira, der das nicht wissen konnte, daran herummurkste, würde alles in sich zusammenfallen, und Melissas gesamte Arbeit von drei Jahren wäre zunichte gemacht.

„Ich begleite Sie natürlich gerne“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und quälte sich ein kleines Lächeln ab.

Sie ahnte bereits, dass die Zusammenarbeit mit diesem Mann ausgesprochen schwierig werden würde. Er strahlte genau die Art von arroganter Alphatier-Haltung aus, die sie an Männern so sehr hasste.

Aber sie würde ihm schon zeigen, wer die besseren Führungsqualitäten hatte!

2. KAPITEL

Wenig später beobachtete Melissa, wie Alexandre Ferreira das große Chefbüro am Ende des Angestelltenkorridors bewunderte, das der alte James Carrington stets für sich in Anspruch genommen hatte.

Das dunkelblaue Sakko hatte er längst ausgezogen und in Melissas Büro zurückgelassen. So trug er nun ein tadellos gebügeltes weißes Hemd, das er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, und eine dunkle Anzughose, deren eng anliegender Sitz seine straffen Oberschenkel betonte.

Sie hatte ihn durchs ganze Haus geführt und ihm alles genauestens gezeigt. Genauestens zeigen müssen, denn er machte keine halben Sachen, wenn es darum ging, jedes noch so kleine Detail zu hinterfragen.

Er fragte, warum sie dem Küchenchef erlaube, die Menüfolge selbst zusammenzustellen, ohne ihr Okay einzuholen. Oder weshalb sogar die Aushilfen in der Wäscherei Melissa duzen dürften. Sie sei schließlich die Chefin und die Aushilfen – nun ja – nur Hilfskräfte. Wie sie bloß darauf gekommen sei, den Restaurantbereich rot streichen zu lassen, obwohl aktuelle innenarchitektonische Trends doch vor allem Grau- und Erdtöne bevorzugten. Und so weiter und so fort.

Dabei hatte er mitunter eher neugierig als kritisch gewirkt. Aber es hatte Melissa trotzdem verrückt gemacht, dass er alles hinterfragte und schon bei der ersten Hausbegehung verdeutlichte, dass er sich ausnahmslos überall einmischen würde.

Offensichtlich war er ein Kontrollfreak, und solange die Firmenleitung in Lissabon es für nötig hielt, ihn an Ort und Stelle zu belassen, würde sie all die Entscheidungsfreiräume mit ihm teilen müssen, die James Carrington ihr überlassen hatte. Sie würde sich abstimmen müssen mit einem Mann, der zu allem und jedem eine Meinung hatte und sich schon jetzt wie der alleinige Boss des London Carrington Spa Hotels aufführte.

War ja klar, dass ihm gerade dieses Büro gefallen musste, dachte Melissa missmutig.

Schließlich war es das größte im Haus, genau jenes, das auch James Carrington ganz selbstverständlich für sich beansprucht hatte, wenn er manchmal für kurze Zeit in seinem Londoner Hotel gewesen war.

Melissa dachte nicht gern an diese Zusammentreffen zurück. Zwar hatte sie bei ihm einen großen Entscheidungsspielraum und allerlei Freiheiten gehabt. Aber wenn der „Big Boss“, wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, vor Ort gewesen war, hatte es jedes Mal unnötige Turbulenzen gegeben.

Zum einen war es ziemlich anstrengend gewesen, dass ihm auf Schritt und Tritt die Presse folgte. Während seiner Aufenthalte war Melissa plötzlich von der Hotelmanagerin zur Pressesprecherin mutiert, ohne überhaupt die Qualifikation dafür zu haben oder es auch nur zu wollen.

Und dann war es leider so gewesen, dass sie sich in James Carringtons Nähe stets gefragt hatte, was den Mann eigentlich befähigte, eine Hotelgruppe zu leiten. Abgesehen natürlich von der Tatsache, dass er ein Sprössling der Carrington-Familie war und die Hotels geerbt hatte, was auf seinen Sohn jetzt genauso zutraf.

Das war ein ketzerischer Gedanke, und sie hätte ihn niemals offen ausgesprochen. Aber Carrington senior war ihr oft gedankenlos und ein wenig unberechenbar vorgekommen. Im einen Moment hatte er Melissas Arbeit gelobt und im nächsten anzügliche Witze über ihre schlanken Beine gemacht. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass sein Sohn kein bisschen besser war.

Sie war immer froh gewesen, wenn Carrington weitergereist war und sein Büro verwaist zurückgelassen hatte. In seiner Abwesenheit hätte sie es für sich in Beschlag nehmen können. Aber dieser Gedanke hatte ihr widerstrebt. Sollte das „Big Office“ ruhig dem „Big Boss“ gehören. Sie hatte ihr Räumchen in der Mitte des Geschehens. Und das war auch gut so.

Obwohl sie zugeben musste, dass dieses Chefbüro durchaus bemerkenswert war. Die Einrichtung war hell und beinahe klinisch sauber. Während sich auf ihrem Schreibtisch die Unterlagen türmten, war dieser hier leer und unbenutzt. An den Wänden hingen keine Kalender oder Ablaufpläne, und auch die Sitzgruppe aus hellem Leder wartete in einer Ecke des Büros vergeblich auf Gäste oder Besprechungen.

Eine unscheinbare Tür hinter der Sitzecke führte in einen kleinen Privatbereich mit Bett und eigenem Badezimmer – eine ideale Rückzugs- und Übernachtungsmöglichkeit für den Hotelbesitzer, die James Carrington allerdings nie genutzt hatte. Für ihn hatte man immer die teuerste Suite reservieren müssen, damit es ihm bei seinem Aufenthalt an nichts fehlte. Das kleine Privatzimmer war ihm zu wenig gewesen.

Natürlich verfügte dieses Büro im Gegensatz zu ihrer kleinen Kammer über eine Klimaanlage. Begierig sog Melissa die kühle Raumluft ein, in der noch eine leichte Geruchsnuance nach frischem Holz lag, die nur neue oder wenig genutzte Möbel verströmten.

Allzu tief durfte sie allerdings nicht einatmen, denn dann stieg ihr außerdem Alexandre Ferreiras Duft in die Nase, und der kitzelte verführerisch an ihren Nervenenden.

Mittlerweile hatte er sich alles genau angesehen, hatte mit der Hand über die glatte, weiße Oberfläche des Schreibtischs gestrichen und wirkte dabei ausgesprochen zufrieden.

Nun wandte er sich wieder Melissa zu, und sie musste ein Seufzen unterdrücken, als er ihr einen seiner unergründlichen Blicke zuwarf. Schon wieder spürte sie beim Anblick seiner durchdringenden dunkelbraunen Augen dieses Flattern in der Magengegend.

„Ich denke, ich werde dieses Büro beziehen, da es ja offensichtlich leer steht“, verkündete er mit einem viel zu selbstbewussten Unterton in der Stimme.

„Schon klar. Nehmen Sie sich ruhig das größte Büro“, entgegnete sie spitz, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte.

Er musterte sie mit zur Seite geneigtem Kopf. „Wenn Sie es wollten, warum haben Sie es nicht längst bezogen?“

„Ich brauche diese Bestätigung nicht.“

Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war und ihr derart bissige Bemerkungen über die Lippen rutschten. Irgendetwas an ihm schien sie ständig zu reizen.

Nun erschien auf seinem Gesicht ein amüsiertes Lächeln. „Bestätigung? Sie glauben, ich will das große Büro, damit ich mich wichtiger fühle?“

„Nun ja …“ In ihrem Nacken kribbelte es nervös, während er sie betrachtete. Aber davon würde sie sich nicht beeindrucken lassen. „Ich finde nur, dass man keine Statussymbole braucht, um ein Hotel zu leiten. Es kann manchmal wesentlich effektiver sein, mit den Mitarbeitern auf Augenhöhe zu bleiben.“

„So? Finden Sie? Meiner Erfahrung nach schadet ein wenig Abgrenzung keineswegs, wenn man zeigen möchte, wer das Sagen hat.“

Das Funkeln in seinen Augen ließ sie offensiv das Kinn vorschieben. „Wir werden sehen, wessen Führungsstil sich für dieses Hotel besser eignet.“

„Ist das eine Herausforderung, Miss Jenkins?“ Um seine Mundwinkel zuckte es.

„Das ist es allerdings, Mr. Ferreira. Ich glaube kaum, dass wir hier beide gleichzeitig gebraucht werden, und ich beabsichtige nicht, Ihnen meinen Posten zu überlassen.“

Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, aber sein Blick provozierte sie, und ihre überreizten Nerven brachten sie dazu, unvernünftige Dinge zu tun.

Trotzdem schien er weit weniger beeindruckt als erhofft, denn er lachte laut auf.

„Herausforderung angenommen.“ Er streckte seinen Arm aus, um die Wette per Handschlag zu besiegeln. „Wie wollen wir die Bedingungen festlegen? Sollen wir einen unbeteiligten Kampfrichter hinzuziehen?“

Doch sie schreckte davor zurück, seine Hand zu ergreifen, nachdem er ihre Sinne auch ohne jede Berührung schon unnötig durcheinander brachte.

„Lassen Sie den Unsinn. Ich habe zu tun.“

Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte aus dem Büro eilen, um in ihrem stillen Kämmerlein endlich wieder über die Arbeit nachzudenken statt über gutaussehende, provokante Portugiesen. Schlechte Umsatzzahlen änderten sich nicht von allein.

Doch er schnaubte hinter ihr. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber ich sage Ihnen gleich: Der Punkt für das schönere Büro geht an mich.“

Darauf knallte sie die Tür hinter sich zu, um das Lachen zu ersticken, das er hinter ihr ausstieß.

Dass er sich auf ihre Kosten amüsierte, war eine Kriegserklärung, und Melissa würde nicht klein beigeben.

Das Arbeitsverhältnis zwischen ihm und Melissa Jenkins war ziemlich angespannt, überlegte Alex zwei Tage später, als er spätabends an seinem Schreibtisch saß und einige Unterlagen durchging. Sie rieben sich an jedem noch so kleinen Kritikpunkt, den er äußerte.

Die Frau schien so sehr darauf bedacht, sich ihm gegenüber zu behaupten, dass sie bei jeder seiner Bemerkungen bissig zurückschnappte, als hätte er ihre sämtlichen Qualitäten infrage gestellt. Und ihm war außerdem aufgefallen, dass sie es tunlichst vermied, sein Büro zu betreten, wenn es nicht ausdrücklich etwas zu besprechen gab.

Dabei fand er die Hotelmanagerin bei näherer Betrachtung gar nicht mal so schlecht in ihrem Job. Er verstand nur nicht, warum sie darauf bestand, zu ihren Mitarbeitern ein derart enges Verhältnis zu pflegen, sodass ihre Tür den ganzen Tag offen stand und jeder sie mit Vornamen ansprach.

So etwas hätte es in seinem Unternehmen nicht gegeben. Alex blieb zu seinen Mitarbeitern auf Distanz, weil er sich nur mit genügend Abstand wohl genug fühlte, um freie, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Sich emotional allzu sehr auf Mitarbeiter einzulassen, bedeutete immer auch das Risiko, nicht mehr rational handeln zu können, wenn es um Budgetkürzungen oder ähnlich unpopuläre Maßnahmen ging.

Allerdings musste er zugeben, dass Melissa Jenkins mit ihrem Führungsstil durchaus Erfolg hatte. Das vertrauensvolle Verhältnis zwischen ihr und den Angestellten trieb anscheinend alle zu guten Ergebnissen an, und es schien ihrer Autorität seltsamerweise nicht zu schaden.

Tatsächlich schien Alex der einzige Mensch in diesem Hotel zu sein, zu dem sie kein freundschaftliches Verhältnis zu pflegen wünschte. Dass sie bei einem Außenstehenden, der sie möglicherweise bei Fehlern ertappen könnte, derart auf der Hut war, bestätigte ihn in seinen Vermutungen. Offensichtlich hatte sie etwas zu verbergen.

Fast hätte er ihr das „Du“ angeboten, nur um sie aus der Reserve zu locken. Aber so weit ging er dann doch nicht.

Denn sich mit ihr anzufreunden, barg gewisse Gefahren für seine Mission. Diese Frau war viel zu attraktiv und gefährdete auch so schon seine Konzentrationsfähigkeit und professionelle Urteilskraft. Sich ihr emotional anzunähern, könnte ihn vom eigentlichen Grund seines Aufenthalts in London abhalten.

Dennoch musste es ihm irgendwie gelingen, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Je eher er herausfand, wer für die Verluste des Hotels verantwortlich war, desto früher konnte er den Schuldigen überführen, den Betrieb sanieren, die ansonsten reibungslos funktionierende Hotelkette seines Vaters in einzelne Glieder zerlegen und Stück für Stück verkaufen.

Er brauchte die Carrington Spa Hotels nicht und wollte sie so schnell wie möglich loswerden. Erst dann würde er James Carrington endgültig aus seinem Leben verbannen können.

Alex rieb sich mit der flachen Hand über die müden Augen. Längst war es draußen dunkel geworden, und die Papiere auf seinem Tisch lagen im goldenen Lichtkegel seiner Schreibtischlampe.

Bisher war er nicht fündig geworden. In keiner Akte, in keinem Buchhaltungsprotokoll fand er einen Anhaltspunkt für betrügerische Machenschaften. Nur immer wieder dieselben miesen Zahlen, aber keine Begründung dafür, wo sie herkamen. Keine Kontoverschiebungen, keine dubiosen Überweisungen in Melissas Auftrag, die seinen Verdacht bestätigt hätten.

Sie schien ausgesprochen professionell und umsichtig vorgegangen zu sein.

Aber Alex war nicht von gestern. Er hatte bisher noch jeden Fehler im System eines kränkelnden Unternehmens gefunden, und er würde so lange weitergraben, bis er auch diesen hier ausgemacht hatte.

Nur leider nicht mehr heute Abend, wie er sich gähnend eingestand. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es bereits kurz vor Mitternacht war, und seine Konzentration ließ allmählich nach.

Also erhob er sich vom Chefsessel und trat an die Fensterfront des Büros. Bis auf die kleine Lampe auf seinem Schreibtisch hatte er kein Licht gemacht, und der Blick auf den nächtlich beleuchteten Hyde Park war wunderschön. Dort waren noch immer Spaziergänger unterwegs, und hier und da hockten verliebte Pärchen auf den Rasenflächen. Es war eine laue Sommernacht nach einem weiteren brütend heißen Tag, und die Stimmung vor seinem Fenster erinnerte ihn an Lissabon, wenn Einheimische und Touristen den portugiesischen Sommer genossen.

Wie es wohl wäre, mit der schönen Melissa Jenkins durch den Park zu flanieren?

Der Gedanke erschreckte ihn, denn allzu deutlich sah er den schlanken, biegsamen Körper vor sich, der in einem nüchternen Business-Kostüm steckte und danach verlangte, von Alex berührt zu werden. Ihre Haare trug sie in seiner Vorstellung offen, und er bewunderte, wie die schimmernden Wellen über ihre zarten Schultern fielen. Ihr Bild war überdeutlich in seinem Kopf – so deutlich, dass er sich umdrehte, um nachzusehen, ob sie tatsächlich hinter ihm stand.

„Was machen Sie denn noch hier?“

Er erkannte an ihrem kritischen Gesichtsausdruck, dass sie gesehen hatte, wie er zusammengezuckt war.

Einen kurzen Moment lang war er sprachlos. Dann war sie also doch kein Traumbild gewesen, sondern eine Reflexion in der Fensterscheibe. Ganz offensichtlich war er überarbeitet und gehörte ins Bett.

Aber natürlich schaffte er es, sich zusammenzureißen. „Ich bewundere die Aussicht. Wunderschön.“

Dabei ließ er unwillkürlich seinen Blick über ihren Körper wandern, dessen verlockende Rundungen sich unter dem figurbetonten Kleid und der kurzen Jacke abzeichneten.

Sie hob demonstrativ ihr Handgelenk und schaute auf die Uhr. „Es ist fast Mitternacht. Warum sind Sie noch hier?“

Er verkniff sich die Bemerkung, dass sie ihn das nicht hätte fragen können, wenn sie nicht genauso ein Workaholic wäre wie er. Irgendwie gefiel ihm die Vorstellung, dass sie etwas gemeinsam hatten.

„Nun, ich mache jetzt gleich Feierabend. Was hat Sie aufgehalten? Normalerweise gehen Sie früher nach Hause, glaube ich.“

Kurz meinte er so etwas wie Unruhe in ihr aufsteigen zu sehen. Dann hatte sie sich wieder im Griff.

„Ich musste noch einige Zahlen durchgehen“, antwortete sie, mied jedoch seinen Blick.

Das war der Moment! Jetzt hätte er nachhaken können, welche Zahlen sie meinte. Doch statt etwas zu sagen, folgte er unwillkürlich ihrem Blick, der an etwas hängen geblieben war. Ihre schönen grünen Augen weiteten sich.

Sie starrte auf die offene Tür hinter der Sitzgruppe, die zu den privaten Räumlichkeiten des Chefs führte. Ein Lichtstrahl fiel heraus, und von der Stelle aus, wo sie sich gegenüberstanden, konnte man das benutzte Bett und seine Reisetasche erkennen.

Automatisch dachte er daran, wie es wohl wäre, sie in dieses Zimmer zu locken, ihr verführerische Worte ins Ohr zu flüstern und dabei gleichzeitig den Reißverschluss ihres Kleides zu öffnen …

Hör auf, Alex!

Um sich zu beruhigen und seine aufkeimende Erregung zu unterdrücken, schloss er für einen Moment die Augen.

Sie musste seine Gedanken erraten haben, denn als er sie wieder ansah, bemerkte er ihre Unruhe. Nervös strich sie eine unsichtbare Falte am Kleid glatt, zog die kurze Jacke enger um die Brust, und ihr Blick huschte zwischen ihm und der offenen Tür hin und her.

„Schlafen Sie etwa hier?“

Der zornige Tonfall hinter dieser Frage überraschte ihn.

„Wo sonst?“

„Ich dachte, Sie wollten am Empfang um ein Hotelzimmer bitten. Hatten Sie nicht gesagt, Sie wollten das mit Miss Taylor klären?“

„Nun, alle Hotelzimmer sind erfreulicherweise ausgebucht. Da dachte ich mir, ich beziehe diese kleine Suite, bis ich etwas anderes gefunden habe.“

Und warum auch nicht? Dafür ist sie schließlich gemacht.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Dieses Zimmer gehört dem Inhaber der Hotelkette“, bemerkte sie scharf. „Das können Sie doch nicht einfach für sich in Beschlag nehmen! Und am Ende bekomme wahrscheinlich ich den Ärger, weil ich Sie nicht an dieser Dreistigkeit gehindert habe!“ Ihre Augen schossen wütende Blitze auf ihn ab. „Falls der neue Big Boss junior sich überhaupt einmal blicken lässt.“ Den letzten Satz hatte sie so leise gemurmelt, dass sie vermutlich dachte, er hätte ihn nicht mitbekommen.

Er musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Big Boss junior. Dass sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten konnte und ihm sogar schon einen Spitznamen zugedacht hatte, gefiel ihm irgendwie. Allerdings würde er ihr zu gegebener Zeit klarmachen müssen, dass er ganz und gar nicht James Carringtons Juniornachfolger war.

„Ich bin sicher, Mr. Carrington hat nichts dagegen, wenn ich es benutze. In London ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware, und ich konnte so schnell nichts Angemessenes finden.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn tatsächlich hatte Alex überhaupt nicht nach einer Wohnung gesucht. Warum sollte er? Dieses tadellose kleine Zimmerchen neben seinem Büro stand zur Verfügung und ersparte ihm obendrein den Weg zur Arbeit. Er hatte nicht vor, sich unnötig lange in London aufzuhalten, und brauchte keine luxuriöse Wohnung für seinen Komfort, auch wenn er sich ohne Weiteres jedes noch so teure Apartment hätte leisten können. Ein Bett und ein kleines Badezimmer reichten ihm vollkommen aus.

Diese Frau war ihm ein Rätsel. Sie sah aus, als wolle sie ihm den Kopf abreißen, nur weil er vermeintlich Alex Carringtons Räumlichkeiten blockierte. Und das, obwohl sie ganz offensichtlich nicht besonders viel von ihrem neuen Boss hielt.

„Trotzdem können Sie nicht dauerhaft hier wohnen bleiben. Ich glaube kaum, dass das den Mitarbeitern einen guten Eindruck vermittelt. Allerdings bin ich überrascht, dass noch niemand bemerkt hat, dass Sie hier eingezogen sind.“

„Allzu oft kommen ja selbst Sie nicht in meinem Büro vorbei. Offensichtlich meiden Sie mich.“

Er konnte ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken, als er sah, wie ihre Mimik von wütend auf irritiert umschlug.

„Ich meide Sie nicht. Ich habe nur zu tun.“

Er nickte. „Und es liegt nicht daran, dass Sie mir übelnehmen, dass ich angeblich Ihren Job gefährde?“

„Unsinn.“ Doch sie wich seinem Blick aus.

„Nun ja, wenn das so ist, dann werden Sie mir doch sicher mit einer Unterkunft behilflich sein, oder? Als gute Kollegin, meine ich.“

„Sie meinen, Sie wollen bei mir einziehen?“

Beinahe hätte er nach Luft geschnappt, so plötzlich kam diese Unterstellung. Auch Melissa wirkte nicht minder überrascht über ihre eigenen, impulsiven Worte.

„Danke. Aber das ist nicht nötig … Ich hatte eher gedacht, Sie könnten mir vielleicht einen Makler empfehlen. Oder so etwas in der Art.“

Einen Moment lang starrte sie ihn schweigend an. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn.

„Nein, eigentlich haben Sie ja recht. Sie können nichts für das seltsame Verhältnis zwischen uns, und ich habe mich bisher nicht wie eine gute Kollegin verhalten. Ich hätte mich um eine Unterbringung für Sie kümmern müssen, da ich mich vor Ort viel besser auskenne und außerdem so etwas wie Ihre Gastgeberin bin. Da es im Hotel keine freien Zimmer gibt, kann ich Ihnen nur mein Gästezimmer anbieten. Wenn Sie möchten, können Sie es nutzen, bis Sie etwas Eigenes finden. Natürlich helfe ich Ihnen bei der Suche.“

Der Gedanke war verlockend. Jeden Abend mit dieser wunderschönen Frau nach Hause zu gehen …

„Das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich kann Ihr Angebot wirklich nicht annehmen.“

Sie räusperte sich. „Das werden Sie müssen. Wenn Alex Carrington erfährt, dass Sie in seiner Suite wohnen, sind wir beide unseren Job schneller los, als Sie ‚Wohnraummangel‘ sagen können. Zumindest wenn er nur ein kleines bisschen nach seinem Vater kommt.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das beinahe warmherzig ausfiel, und wenn es in seinem Büro nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er beinahe geglaubt, dass sie dabei leicht errötete.

Es sah bezaubernd aus, und er beeilte sich, ihr Lächeln mit einem eigenen zu beantworten. „Wenn Sie wirklich sicher sind …“

Natürlich nahm er ihren großzügigen Vorschlag nur an, um ihr außerhalb der Arbeit genauso auf den Zahn fühlen zu können wie im Büro. Sie war sicher schlau genug, um belastendes Material nicht am Ort des Geschehens zu verstecken, sondern lieber mit nach Hause zu nehmen. Und wenn er ein Zimmer in ihrer Wohnung hatte, würde sich früher oder später die Gelegenheit ergeben, dass er in ihrer Abwesenheit ein wenig herumschnüffelte.

„Ich bestehe darauf.“ Noch immer hielt sie ihr Lächeln aufrecht, obwohl er ein leichtes Zittern in ihren Mundwinkeln erkannte, als strenge es sie zunehmend an.

Am liebsten hätte er dieses Zittern weggeküsst.

Gut, ja, vielleicht wollte er ihr Gästezimmer auch deshalb beziehen, weil er sich zu dieser Frau hingezogen fühlte wie zu keiner anderen bisher. Aber Alex war wirklich nicht der Typ Mann, der sich von Gefühlen leiten ließ.

Er grinste schief. „Lassen Sie mich noch kurz meine Sachen packen. Ich bezahle das Taxi.“

„Taxi?“ Sie lachte hellauf. „Du liebe Güte! Wir sind in London. Wir nehmen natürlich die Tube!“

„Die U-Bahn?“

Alex konnte sich nicht erinnern, in Lissabon jemals mit der Metro gefahren zu sein. Als wohlhabender Mann hatte er es nicht nötig, sich von Hunderten anderer Menschen einquetschen zu lassen.

Sie zwinkerte belustigt. „Ich weiß nicht, wie gut Carrington Sie bezahlt, Mr. Ferreira. Doch ich werde mein Geld ganz sicher nicht für ein teures Black Cab aus dem Fenster werfen, wenn ich die älteste Untergrundbahn der Welt direkt vor der Haustür habe.“

Mit einem unruhigen Gefühl im Bauch ging Alex in die Suite, um seinen Koffer zu packen. Er würde höllisch aufpassen müssen, dass er nicht verriet, wer er war, wenn er bei ihr wohnte.

Melissa war klug, und sie war viel zu gut aussehend. Diese Frau konnte ihm ganz schön gefährlich werden. Ob es wirklich eine gute Entscheidung war, sie so dicht an sich heranzulassen?

3. KAPITEL

Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihn mitzunehmen?

Melissa musste ernsthaft an ihrem Verstand zweifeln. Reichte es nicht, dass Alexandre Ferreira ihr schon bei der Arbeit auf Schritt und Tritt folgte, all ihre Akten durchging und überhaupt alles minutiös kontrollierte und mit ihr besprechen wollte, was sie tat? Brauchte sie das wirklich auch noch in ihrem Privatleben?

Sie war nicht davon überzeugt, dass er seine Neugierde nach Feierabend einfach so abstellen konnte. Ihn bei sich einziehen zu lassen, bedeutete höchstwahrscheinlich, dass sich das Kompetenzgerangel auch im Privatleben fortsetzen würde. Eine schrecklich unliebsame Vorstellung.

Und dennoch öffnete sie ihm die Tür zu ihrem kleinen Apartment in Shoreditch. Sie liebte diesen Stadtteil, weil er für Londoner Verhältnisse noch einigermaßen erschwinglich war und gleichzeitig über ein buntes kulturelles Leben verfügte. Hier konnte man sich in Galerien die Werke von Künstlern ansehen, die noch weitgehend unbekannt waren, und in Restaurants die verschiedensten Landesküchen ausprobieren. Gerade jetzt, im Hochsommer, fühlte es sich manchmal an, als sei man nicht in England, sondern habe eine spontane Fernreise zu einem entlegenen südländischen Ziel unternommen.

Melissas Wohnung lag im fünften Stock eines alten Gebäudes, dessen Stuckfassade sicher schon elegantere Tage in blendendem Weiß gesehen hatte. Der Besitzer hatte es allerdings vor einigen Jahren knallrot angestrichen. Dieser Rotton hatte ihr so gut gefallen, dass sie an ihn gedacht hatte, als sie das Restaurant im Carrington Spa Hotel hatte renovieren lassen.

Nachdem sie die Fahrt in dem antiken Fahrstuhl überstanden hatten, der kaum genug Platz für Alexandre Ferreiras große Reisetasche bot, gingen sie den in Moosgrün gehaltenen Korridor entlang bis zur allerletzten Tür auf der linken Seite.

„Da sind wir“, verkündete Melissa mit mehr Freundlichkeit in der Stimme, als sie empfand.

Sie stieß die dunkle Holztür auf und ließ ihren neuen Mitbewohner eintreten.

„Ich weiß, es ist ziemlich beengt. Aber bis Sie eine andere Bleibe gefunden haben, wird es schon gehen.“

Da erst kam Melissa der Gedanke, dass sie ja nur ein einziges Sofa hatte! Wenn sie sich also in den nächsten Tagen oder Wochen gemütlich vor dem Fernseher ausbreiten wollte, würde sie ihre Couch immer auch mit dem Mann teilen müssen, der ihr bei der Arbeit das Leben schwermachte.

Und alles nur, weil sie befürchten musste, ihren Job zu verlieren, wenn herauskam, dass sie Ferreira in Alex Carringtons Privaträumen wohnen ließ. Und natürlich, weil ihr klargeworden war, wie wenig kollegial sie sich ihm gegenüber bisher verhalten hatte. Niemand sollte ihr nachsagen können, sie sei kein Teamplayer. Für Kollegen – selbst die gleichgestellten – zu sorgen, war eine der Kernaufgaben einer Hotelmanagerin, und sie wollte dieser Aufgabe nachkommen.

Aber sie würde dafür sorgen müssen, dass er schnellstmöglich eine andere Bleibe fand. Das wurde ihr jetzt klar. In ihrer winzigen Dreizimmerwohnung wirkte seine männliche Ausstrahlung schier überwältigend, und obwohl sie sonst so vernünftig war, konnte sie gerade nicht sicher sein, ob sie ihm auf Dauer würde widerstehen können.

Himmel!

Sie musste sich ja schon jetzt bewusst davon abhalten, ihren Blick auf seinen knackigen Hintern zu richten, als er vor ihr durch den Flur zum Wohnzimmer ging. Ob er in ihrem Gästezimmer wohl sein tägliches Workout machen würde?

Beim Gedanken an einen freien Oberkörper mit festen Bauchmuskeln, der von klitzekleinen glitzernden Schweißperlen überzogen war, wurde ihr Mund trocken. Sie musste sich wirklich besser im Griff haben, wenn sie das hier durchstehen wollte.

Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine Affäre mit genau dem Mann, der ihr den Job streitig machen wollte.

„Das ist wirklich eine schöne Wohnung“, kommentierte er freundlich. „Tolle Möbel. Und ich mag diesen offenen Übergang zwischen Wohnzimmer und Küche.“

Es stimmte, ihre Möbel waren wirklich besonders, denn sie hatte jedes einzelne Stück auf dem Portobello Road Market erstanden, wo es samstags Secondhandmode und Antiquitäten gab. Alle waren ziemlich originell und passten, obwohl sie bunt durcheinander gewürfelt waren, in ihrer Besonderheit perfekt zueinander.

Aber das war ihr persönliches Hobby, und es ging Alexandre Ferreira nun wirklich nichts an.

„Sie müssen nicht nett sein, um hier wohnen zu dürfen“, entgegnete sie spitz.

Er lachte. „Sie suchen wirklich immer Streit, oder?“

Das amüsierte Funkeln in seinen Augen passte ihr gar nicht.

„Nur mit Ihnen.“

Sie ging in das kleine Gästezimmer neben der Küche, und er folgte ihr kopfschüttelnd.

Den Raum nutzte sie normalerweise als Zwischenlager. Hier landeten die Kleidungsstücke, die es in die Waschmaschine, danach aber noch nicht wieder in ihren Kleiderschrank geschafft hatten. Daher lag auf dem breiten Bett, das die Hälfte des Zimmers einnahm, ein kunterbuntes Sortiment aus Strumpfhosen, Kleidern, Blusen, Röcken, Leggings und – jetzt etwas peinlich – Dessous.

Fast hätte sie ihrem Gast die Tür vor der Nase zugeschlagen, als sie die Unordnung erblickte.

„Geben Sie mir einen Moment“, murmelte sie und spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

Das war das Ärgerliche, wenn man naturrotes Haar hatte. Die Haut war so hell, dass jeder immer sofort sehen konnte, was in einem vorging, weil sich der Teint bei Peinlichkeiten nur allzu gern an die Haarfarbe anpasste.

Eilig schnappte sie sich eine herumliegende Tasche und stopfte zuerst die cremeweiße und roséfarbene Spitzenunterwäsche hinein.

Als sie sich halb zu Alexandre Ferreira umdrehte, hatte er ihr taktvoll den Rücken zugekehrt.

„Ich … ich hab nicht mit Besuch gerechnet“, stammelte sie, während sie in Windeseile auch die übrigen Kleidungsstücke einsammelte und einige Fächer des Schranks so umsortierte, dass eine Hälfte für ihn frei war.

Seit wann hatte sie eigentlich so viele Klamotten?

Zum Schluss kickte sie noch einige herumliegende High Heels unters Bett.

Dann schulterte sie die prall gefüllte Tasche und räusperte sich. „Sie können sich jetzt umdrehen.“

Als er ihr das Gesicht zuwandte, hatte er wieder dieses selbstgefällige Grinsen auf den Lippen.

„Alles bereit?“

„Ja.“ Wenn sie nur nicht erröten würde! „Ich konnte ja nicht wissen, dass ich von der Arbeit einen Obdachlosen mit nach Hause bringen würde!“

Er lachte. „Natürlich nicht.“

„Sonst ist es hier eigentlich immer perfekt aufgeräumt.“

„Selbstverständlich.“

„Ich hatte eben … Waschtag.“

„Na klar.“

Er machte sich über sie lustig!

Allerdings war sein schiefes Grinsen erstaunlich charmant, wie sie zu ihrem Leidwesen feststellen musste.

Unwillig schüttelte sie diesen Gedanken ab. An Alexandre Ferreira war ganz und gar nichts charmant!

Er warf seine Reisetasche aufs Bett. „Es ist Ihre Wohnung. Ich bin froh, wenn ich überhaupt ein Plätzchen bekomme.“ Er legte eine Hand seitlich an den Mund, als würde er ihr ein Geheimnis verraten. „Anstatt unter einer Brücke zu schlafen, wissen Sie?“

Gegen ihren Willen musste sie lächeln.

Doch sie hatte ihre Mimik binnen Sekunden wieder im Griff. „Ich hole Ihnen frische Bettwäsche.“

Dann sah sie zu ihm hoch, und sein belustigter Blick ließ sie innehalten. „Aber glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihnen das Bett beziehe! Wir sind keine Freunde oder so, und das hier ist keine Der-Gast-ist-König-Situation. Ich lasse Sie bloß hier wohnen, weil ich ein netter Mensch bin. Ihren Kram regeln Sie selbst.“

Damit drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Dann fiel ihr allerdings etwas ein, und sie streckte noch einmal den Kopf durch die Tür.

Er hatte bereits sein Hemd aufgeknöpft.

Nervös blickte sie zu Boden. „Das Bad ist hier drüben, eine Tür weiter. Nicht zu verwechseln mit meiner Schlafzimmertür, die …“ Sie schluckte. „Die für Sie absolut tabu ist, verstanden?“

Sie hörte das Rascheln von Stoff. Himmel! Hatte er das Hemd jetzt ganz ausgezogen?

Mit klopfendem Herzen verschwand sie in ihr Schlafzimmer.

Das konnte ja heiter werden, wenn sie zukünftig zum liebeshungrigen Teenager mutierte, sobald sie ihn auf dem Weg ins Bad oder nach seinem morgendlichen Training antraf – oder was auch immer es für Möglichkeiten gab, sich in halb bekleidetem Zustand über den Weg zu laufen, wenn man sich eine Wohnung teilte, die eigentlich nur auf die Bedürfnisse einer Person zugeschnitten war.

Am nächsten Tag machte Alex deutlich früher Feierabend als in der Nacht zuvor. Melissa Jenkins hatte ihm zu seiner Überraschung angeboten, ein einfaches Dinner zu kochen, wenn er für den passenden Wein sorgte.

„Schließlich sind wir Mitbewohner und keine Freunde. Da teilt man sich die Kosten“, hatte sie betont, und Alex hatte einmal mehr schmunzeln müssen.

Gegen seinen Willen fand er ihre direkte Art zunehmend anziehend. Sie war unglaublich klug und schlagfertig. Ständig musste man bei ihr auf der Hut sein, und auch mit ihr zu streiten, war um Längen interessanter als mit anderen Frauen.

So war es vermutlich nicht weiter verwunderlich, dass er in der ersten Nacht in ihrem Apartment wenig geschlafen hatte. Allein die Vorstellung, dass sie auf der anderen Seite des kleinen Flurs in dem einzigen Zimmer schlief, das sie ihn nicht hatte sehen lassen, war so aufregend gewesen, dass er kein Auge zugetan hatte.

Und nun war er schon wieder seit Stunden auf den Beinen, hatte beinahe alle Unterlagen des Hotels durchgearbeitet und lange, ausführliche Besprechungen mit verschiedenen Mitarbeitern gehabt, die ihm bei der Aufklärung der Ungereimtheiten in den Abrechnungen helfen sollten.

Unter anderem auch mit Dennis Breswick, dem Leiter der Buchhaltung, der allerdings ebenfalls keine Erklärung für die schlechten Zahlen hatte. Melissa Jenkins musste ihre Aktivitäten ausgesprochen gut verschleiert haben, wenn selbst ihre Buchhaltung noch keine Lunte gerochen hatte.

Also musste er darauf hoffen, dass er bei ihr fündig wurde. Je schneller, desto besser, denn Alex bemerkte sehr wohl, dass die Anziehungskraft, die die schöne Rothaarige auf ihn ausübte, seine nüchterne Urteilskraft zunehmend gefährdete.

Heute Abend werde ich mich jedenfalls nicht von ihr einwickeln lassen, schwor er sich, während er auf dem Heimweg durch die trockene Hitze der Ostlondoner Straßen in einem kleinen Weinladen mit überraschend internationaler Auswahl einen portugiesischen Vinho Verde aussuchte.

Doch schon als sie ihm die Wohnungstür öffnete, geriet sein Vorsatz ins Wanken.

Sie hatte das strenge Business-Kostüm gegen einen lässigen Freizeitlook getauscht. Der dünne Stoff ihres sommerlichen Tops umspielte ihre Kurven und war fast durchscheinend, sodass sich ihr verführerischer Spitzen-BH darunter deutlicher abzeichnete, als ihr vermutlich bewusst war. Die kurze Jeans schmiegte sich an ihren Po wie eine zweite Haut. Alex musste aufpassen, sie seine plötzlich aufwallende Erregung nicht spüren zu lassen.

Für einen viel zu langen Augenblick klebte seine Zunge am trockenen Gaumen fest.

Dann fasste er sich wieder. Er zog die Weinflasche aus seiner Tasche und schnupperte demonstrativ.

„Hier riecht es fantastisch. Was gibt es denn?“

Sie hob abwehrend die Hand. „Nur einen frischen Salat mit gebratenen Champignons und Walnüssen. Dazu Antipasti von einem kleinen italienischen Delikatessengeschäft um die Ecke. Ich finde, die sind bei der Hitze draußen genau das Richtige.“

Plötzlich ungeduldig, aus dem Anzug und dem durchgeschwitzten Hemd herauszukommen, drückte er ihr die Weinflasche in die Hand.

„Kann ich mich noch schnell umziehen?“

Sie nickte knapp. „Ich lege solange den Wein auf Eis.“

Doch ihm entging nicht, wie ihr Blick über seinen Körper wanderte, der darauf sofort reagierte.

Fogo! Er musste wirklich auf der Hut sein, solange er mit ihr unter einem Dach lebte. Vor allem, wenn sich ihre Wangen so zauberhaft röteten wie jetzt.

Hastig drängte er sich an ihr vorbei, um im Gästezimmer zu verschwinden, bevor sie bemerken konnte, wie sich der Stoff seiner Hose über seiner Männlichkeit zu spannen begann.

Er schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Er würde beim Abendessen aufpassen müssen, wohin er schaute. Aber das bekam er schon hin. Außerdem würde seine luftige Chino aus lockerem Leinenstoff für die nötige Abkühlung sorgen. Dazu wählte er ein schlichtes weißes T-Shirt, das nach dem heißen Sommertag eine echte Wohltat war.

In Melissas kleiner Wohnung war es zwar etwas kühler als unten auf der Straße, doch durch die offenen Fenster strömte nun auch sehr warme Luft herein.

Der Esstisch, der in ihrem kleinen Wohnzimmer stand, war ein antikes Stück mit gedrechselten Beinen. Er war liebevoll gedeckt mit golden verzierten Tellern, Silberbesteck, das von alten eleganten Zeiten sprach, Weingläsern, die fast wie Pokale wirkten, und frischen Blumen in einer bauchigen Vase aus buntem Muranoglas.

Während er sich auf einen der sechs vollkommen unterschiedlichen Stühle setzte, die außer ihrem Alter nur das dunkle Nussbaumholz gemeinsam hatten, blickte er sich in der außergewöhnlichen Einrichtung des Wohnzimmers um.

„Mir scheint, Sie sind ein echter Fan von Antiquitäten.“

Sie reichte ihm einen Korkenzieher und häufte jedem eine Portion vom knackig frischen Salat auf den Teller, während er den Weißwein öffnete.

„Ich umgebe mich gerne mit Sachen, die eine Geschichte erzählen. Nüchterne, fabrikneue Möbel sind nicht so mein Ding.“

„Sie sollten mein Zuhause in Lissabon sehen. Lauter wunderschöne alte Sachen“, antwortete er impulsiv, bevor ihm bewusst wurde, dass er Melissa auf gar keinen Fall in die Stadtvilla würde mitnehmen können. Schade eigentlich.

Das Haus war wie ein Schlösschen in einem hübschen kleinen Park gelegen, den sein Gärtner liebevoll pflegte. Es hatte einem alten portugiesischen Adelsgeschlecht gehört, bevor der letzte Spross dieser Familie aufgrund von hohen Spielschulden die Villa an den Höchstbietenden verkaufen musste. Dieser Käufer war Alex gewesen.

Er hatte ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, und wenn Melissa es sähe, wäre er sofort enttarnt. Ein Hotelmanager konnte sich ein derartiges Anwesen nicht leisten.

„Erzählen Sie mir von Lissabon. Ich habe gehört, die Stadt soll wunderschön sein“, bat sie, während sie Teller, Gläser und Schüsseln auf dem Tisch so ausrichtete, dass sie symmetrisch standen.

„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.

Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. „Ich habe einen kleinen Internet-Blog. Wenn ich etwas koche, fotografiere ich es gern und lasse meine Freunde daran teilhaben.“

Erschrocken schob er seinen Stuhl zurück, als sie ihr Handy zückte und schräg über den Tisch fotografierte.

Er würde doch wohl nicht auf der Aufnahme zu sehen sein?

„Für meine Follower“, ergänzte sie, als wäre es das Normalste auf der Welt, sein Abendessen mit der Welt zu teilen. Ihre Daumen huschten über das Display. Zweifellos war sie gerade dabei, einen Beitrag in irgendeinem sozialen Netzwerk zu verfassen.

Alex schüttelte missbilligend den Kopf. Ihm war der Appetit vergangen.

„So hätte ich Sie nicht eingeschätzt.“

Überrascht hielt sie inne. „Wie meinen Sie das?“

Im Grunde war es harmlos, aber dieses ständige Teilen von persönlichen Aktivitäten machte ihn wahnsinnig. Warum um alles in der Welt mussten sich Leute präsentieren, als wären sie eine billige Ware und als sei nur der existent, über den ständig und immerzu berichtet wurde?

„Neulich im Büro haben Sie mir vorgeworfen, ich wollte mich mit Statussymbolen vor unseren Mitarbeitern profilieren. Aber offenbar sind Sie diejenige, die sich unbedingt hervortun muss. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es nötig haben, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen.“

Er spürte, wie ihm vor lauter Unwillen ganz heiß wurde.

Ihre Wangen leuchteten rot auf, aber dieses Mal ließ ihn der Anblick vollkommen kalt. Er verabscheute oberflächliches Verhalten.

„Ich glaube kaum, dass es Ihnen zusteht, mich zu verurteilen, nur weil ich ein Foto meines Dinners online stelle.“

„Was geht es Ihre Follower an, was Sie mit mir gemeinsam essen?“, blaffte er lauter als beabsichtigt.

„Du liebe Güte! Ich verletze doch niemanden, wenn ich meinen Salat fotografiere!“ Sie funkelte ihn kampfeslustig an. „Und keine Sorge: Sie sind nicht mit auf dem Foto.“

„Das hätte ich mir auch verbeten!“

„Das ist mir klar!“

Er sah, wie sie einen tiefen Atemzug nahm und sich mit der Hand über die Stirn fuhr.

„Warum stört es Sie? Ich teile nur mein Essen, mehr nicht.“

Er zog die Augenbrauen zusammen. Sie kapierte es einfach nicht. „Ich kann es nicht leiden, wenn Menschen aus ihrem Leben eine einzige Bilderstrecke machen. Wenn nichts mehr privat bleibt und jeder sich ständig zu Wort meldet. Wie Grundschüler, die vor ihrer Lehrerin ‚Ich! Ich! Ich!‘ schreien, wenn sie Aufmerksamkeit wollen.“

Sie prustete zornig. „Okay, das war jetzt unhöflich!“

„Ist es etwa nicht so?“

„Mr. Ferreira! Wir sprechen hier von einem Foto, auf dem ein Salat zu sehen ist! Aber wenn es Sie so sehr stört, lösche ich den Beitrag.“

Demonstrativ tippte sie auf ihrem Handy herum und hielt es ihm dann entgegen. Das Bild, auf dem wirklich nur der Salat zu sehen gewesen war, war jetzt verblasst und durchgestrichen.

„Zufrieden?“

Er nickte. „Danke.“

„Gott, Sie sind ja privat genauso rechthaberisch wie bei der Arbeit!“

Er hatte gerade nach seinem Besteck greifen wollen, um endlich von dem knackigen Salat zu probieren, dessen Champignon-Beilage köstlich duftete. Nun hielt er in der Bewegung inne.

„Was haben Sie gesagt?“

Sie funkelte ihn an. „Sie wissen genau, was ich meine. Seit Tagen greifen Sie all meine Entscheidungen an und drängen sich überall vor, nur weil Sie ein Mann sind und ich eine Frau.“

Für den Bruchteil einer Sekunde lenkten ihre Worte ihn ab.

Oh ja! Sie sind wirklich eine Frau, und ich bin tatsächlich ein Mann.

Dann konzentrierte er sich wieder darauf, was sie eigentlich hatte sagen wollen.

„Ich glaube kaum …“, hob er an, doch sie ließ ihn nicht aussprechen.

„Mir reicht’s wirklich, dass Männer immer denken, wir Frauen hätten Hilfe nötig, wenn wir Entscheidungen treffen! Wacht endlich auf! Frauen funktionieren ohne Männer ganz hervorragend! Ich für meinen Teil finde mein männerloses Leben ganz wunderbar.“

Sie spießte ihre Pilze so wütend auf, als hätte sie es auf einen gefährlichen Angreifer abgesehen.

„Sind Sie jetzt fertig?“, fragte er. „Ich habe keineswegs behauptet, dass Sie nicht ohne Mann klarkommen.“

„Ach nein?“ Sie biss einem Pilz den Kopf ab. „Und weshalb sind Sie dann hier in London, Ferreira? Was meinen Sie?“

Sie schwenkte die Gabel in seine Richtung, sodass er sich vorsichtshalber auf seinem Stuhl zurücklehnte, um nicht getroffen zu werden.

„Sie sind hier, weil Alex Carrington, der sich ansonsten einen Dreck um unser wunderschönes Hotel schert, offensichtlich der Meinung ist, dass Frauen nur als hübsche Dekoration auf Werbeprospekten dienlich sind. Sein Vater war genauso. Wenn er im Hotel war und Besuch von der Presse hatte – wissen Sie, was er dann tat? Er schnappte sich ganz selbstverständlich das hübscheste Mädchen, das gerade greifbar war. Zimmermädchen, Rezeptionistin oder Hotelgast, das war ihm egal. Hauptsache, er hatte auf dem Foto ein weibliches Wesen im Arm. Machte sich besser. Und das war wahrscheinlich auch ein Grund, warum er mich das Hotel hat führen lassen. James Carrington stand auf Rothaarige.“

Alles Blut schien aus Alex’ Gesicht zu weichen, während er Melissas unglaublich präziser Beschreibung seines Vaters lauschte.

„Aber ich bin gut in meinem Job! Ich bin kein hübsches Püppchen mit einem leeren, roten Köpfchen. Ich kann meine Angestellten führen, und – ja – ich habe einen ausgezeichneten Uniabschluss in Wirtschaft. Irgendwann werde ich auch Alex Carrington zeigen, was ich draufhabe. Egal, wie sehr er der Sohn seines Vaters ist!“

„Sie wissen doch gar nicht, ob er seinem Vater ähnelt“, wandte Alex ein.

„Weiß ich nicht?“

„Es gibt doch noch nicht einmal Fotos von ihm.“

Sie stieß gespielt belustigt die Luft aus. „Das mag sein. Ich weiß nicht, wie er aussieht. Aber ich habe so einiges läuten hören. Er soll herrschsüchtig sein und unnahbar. Ansichten und Meinungen anderer interessieren ihn nicht und sein Misstrauen macht es seinen Mitarbeitern unmöglich, mit ihm auf Dauer zusammenzuarbeiten. Natürlich müssen alle eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen. Aber glauben Sie mir, Ferreira, die Leute reden. Und wenn nur an der Hälfte der Gerüchte über Alex Carrington etwas dran ist, dann ist der Kerl einfach unerträglich!“

Nun legte sie ihr Besteck auf den noch vollen Teller und stand auf.

„Mir ist der Appetit vergangen“, verkündete sie. „Wollen Sie noch weiteressen, oder kann ich abräumen?“

Alex starrte auf seinen Salat. Ihr vernichtendes Urteil traf ihn härter, als er gedacht hätte. Dass sie ihn für ein Abbild seines Vaters hielt, war schlimm genug. Aber darüber hinaus schien er auch noch genügend andere verachtenswerte Eigenschaften zu haben, die seinen Mitarbeitern das Leben schwer machten.

Es hätte ihn eigentlich kalt lassen sollen. Ja, vielleicht war es sogar ganz gut, wenn er ein wenig gefürchtet wurde.

Warum machte es ihm trotzdem so viel aus, dass sie so ein schlechtes Bild von ihm hatte?

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen verließ Melissa früher als gewöhnlich ihre Wohnung. Zuvor hatte sie Alexandre Ferreira noch eine kurze Nachricht und ihren Ersatzschlüssel auf dem Esstisch hinterlassen, damit auch er jederzeit kommen und gehen konnte.

Das missglückte Abendessen mit ihm hatte ihr zu denken gegeben. Sie war der festen Überzeugung, dass das Bild, das sie von Alex Carrington gezeichnet hatte, höchstwahrscheinlich korrekter war, als ihr lieb sein konnte. Und nachdem sie es ausgesprochen hatte, war ihr ein beunruhigender Gedanke gekommen.

Wenn sich Alex Carrington wirklich so wenig aus seinen Mitarbeitern machte und sowieso nur auf den Profit schaute, wer sagte ihr dann, dass er das Londoner Hotel seines Vaters behalten würde?

Sie wusste, dass es nicht die Umsätze brachte, die er wollte. So viel war wohl eindeutig. Und trotz aller Einsparmaßnahmen, die sie getroffen hatte, und der hervorragenden Buchungszahlen wurden die Finanzen seltsamerweise seit Monaten nicht besser, sondern eher schlechter. Es war ihr schleierhaft, wie es dazu kommen konnte, und sie war geradezu verzweifelt darum bemüht, das zu ändern.

Was, wenn Alex Carrington seinen Abgesandten Ferreira nicht geschickt hatte, um sich mit ihr die Hotelleitung zu teilen und dafür zu sorgen, dass sie als Frau keinen Unfug trieb, sondern um zu sondieren, was beim Verkauf des Hotels für ihn herausspringen würde?

Was wurde dann aus der Belegschaft? Und was wurde aus ihr?

Wenn sie sichergehen wollte, dass nicht alle auf der Straße landen würden, musste sie dringend dafür sorgen, dass das Hotel für Alex Carrington interessant blieb.

Also saß sie in aller Frühe an ihrem Schreibtisch, zwischen all den Büchern über Wirtschaft und Führungsmethoden, die ihr auch nicht bei der Lösung ihres Problems helfen konnten. Um diese Uhrzeit war die Wäscherei noch nicht besetzt, sodass sie das Fenster weit geöffnet hatte, um die frische Morgenluft hereinzulassen und das heiße, stickige Büro so gut wie möglich zu kühlen.

Ein zarter Lufthauch strich über ihren Nacken, während sie sich mit beiden Händen ins Haar fuhr und die ernüchternde Kostenaufstellung auf ihrem Bildschirm anstarrte.

Woher um alles in der Welt kamen diese miesen Zahlen? Was konnte sie dagegen tun, wie das Hotel retten und allen Mitarbeitern den Job sichern?

Seufzend dachte Melissa an Lilli Taylor vom Empfang, die gerade geheiratet hatte und eine Familie gründen wollte. Und an den alten Koch, der ihr gestern noch erklärt hatte, wie gern er im Carrington Spa arbeitete, und der in seinem Alter wahrscheinlich keine andere Anstellung mehr finden würde. Was würde aus Dennis Breswick werden, der unermüdlich rund um die Uhr rechnete, damit sich die Finanzlage besserte?

Nur waren positive Ergebnisse bisher leider ausgeblieben.

Wenn ihnen nicht bald eine Lösung einfiel, würde Alex Carrington wahrscheinlich wirklich verkaufen. Einmal aufgekommen, ließ dieser Gedanke sie einfach nicht los, denn er erschien ihr erschreckend plausibel.

Nur jetzt nicht den Kopf hängen lassen!, ermahnte sie sich selbst. Das nützt hier keinem etwas.

Also atmete sie einmal tief durch und öffnete eine weitere Tabellenkalkulation auf ihrem Desktop – immer auf der Suche nach dem einen Fehler im System, den sie übersehen hatte.

Es war still im Haus. Die Hotelgäste schliefen noch, und außer dem üblichen Bereitschaftsdienst an der Rezeption und den ersten Frühstücksvorbereitungen in der Küche waren noch keine emsigen Mitarbeiter damit beschäftigt, allen einen unvergesslichen Aufenthalt zu bereiten.

Gerade jetzt sollte sie besonders gut nachdenken können. Die einzigen störenden Geräusche waren das morgendliche Vogelgezwitscher im Hyde Park und der erst langsam erwachende Verkehr auf der Park Lane.

Doch um diese Zeit gab es andererseits auch nichts, was sie ablenkte, und sie war ihren Sorgen schutzlos ausgeliefert.

Plötzlich riss ein Klopfen an der Tür sie aus ihren trüben Gedanken, und Alexandre Ferreira erschien im offenen Türrahmen.

„Guten Morgen“, grüßte er mit einem Lächeln, das freundlicher ausfiel, als sie nach dem gestrigen Streit vermutet hätte.

Er sah frisch aus, trug eines seiner tadellosen Hemden und eine dunkle Anzughose. Einige widerspenstige kurze Locken widersetzten sich seiner ansonsten ordentlich nach hinten gekämmten Frisur. An diesen Anblick hatte sie sich bereits gewöhnt, nicht jedoch an ihren immer wiederkehrenden Impuls, mit den Fingern durch sein dichtes dunkles Haar zu fahren.

Wenn sie ehrlich war, saß sie nicht nur so früh am Schreibtisch, weil sie nachdenken musste, sondern auch, weil sie vor einem Frühstück mit ihm geflüchtet war.

„Guten Morgen“, murmelte sie und blickte eilig wieder auf ihren Bildschirm, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht in der Stimmung für eine lockere Unterhaltung war.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass er trotzdem einen Schritt näher trat und die Hände hinter dem Rücken versteckt hielt.

Innerlich stöhnte sie auf. Sie würde ihn nicht so leicht wieder loswerden. War ja klar!

Also schloss sie die Excel-Tabelle und sah ihn an.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie und hörte selbst, wie genervt sie klang.

Seine Mundwinkel zuckten. „Ich komme in Frieden.“

Behutsam kam ein Arm hinter seinem Rücken hervor. In der Hand hielt er einen Terrakottatopf, der mit einer roten Schleife dekoriert war. Die Pflanze darin hatte fleischige Blätter und eine erschreckende Ähnlichkeit mit einem Kaktus.

„Was ist das denn?“, entfuhr es ihr überrascht.

„Ein Friedensangebot.“ Er stellte den Topf auf einer Abrechnung ab, die gerade von einem Luftzug erfasst wurde und beinahe vom Schreibtisch geweht worden wäre. „Es tut mir leid, dass wir uns gestern gestritten haben. Ich möchte mich mit meiner Gastgeberin versöhnen.“

Sie runzelte die Stirn. „Sie sind sich aber schon darüber im Klaren, dass Kakteen so ziemlich das liebloseste Geschenk sind, das man sich vorstellen kann?“

Das schien ihn zu verwirren. „Ach ja?“

„Allerdings. Einen Kaktus schenkt man nur Leuten, denen man sozusagen durch die Blume mitteilen möchte, dass man sie nicht leiden kann.“

Wieder zuckte es um seine Mundwinkel. „Nun, dann bin ich ja froh, dass das hier kein Kaktus, sondern eine Sukkulente ist, die wenig Wasser …“

„Eine Sukkulente. Soso.“ Er war nicht auf ihren Einwand eingegangen. Das sagte doch wohl alles. Und es versetzte ihr ärgerlicherweise auch noch einen Stich.

„Ja, und ich habe mich für diese Pflanze entschieden, weil sie selbst unter extremen Bedingungen immer noch hübsch aussehen kann. Diese hier blüht sogar. Sehen Sie die Knospen?“

Er wies auf einige unförmige Knubbel, die sich zwischen den dicken Blättern abzeichneten. Dabei beugte er sich ein wenig über den Schreibtisch, sodass ihr sein unvergleichlicher sauberer, leicht herber Duft in die Nase stieg. Sofort kribbelte es unter ihrer Haut.

„Und Sie glauben wirklich, dass man in meinem Büro mit extremen Witterungsbedingungen zu rechnen hat?“, fragte sie, um sich von seiner betörenden Nähe abzulenken.

Da zeichnete sich auf seinem Gesicht dieses schiefe Grinsen ab, das ihn viel zu charmant aussehen ließ.

„Allerdings“, versetzte er und deutete auf die Fensterbank. „Beweisstück A.“

Melissa wandte sich um, und ihr Blick fiel auf die vertrocknete Zierpflanze, die dort stand. Unwillkürlich brach sie in Gelächter aus.

„Das ist ja ein tolles Friedensangebot! Sich über meine mangelhaften Fähigkeiten als Gärtnerin lustig zu machen!“

„Nicht wahr?“

Sein Lachen zauberte kleine Linien um seine dunklen Augen, die ihn noch attraktiver machten.

Sie nahm die vertrocknete Pflanze von der Fensterbank und tauschte sie gegen den Terrakottatopf mit der Sukkulente.

„Und eine Gießkanne habe ich Ihnen vorsichtshalber auch mitgebracht.“

Er zwinkerte, während er die andere Hand hinter seinem Rücken hervorzog und eine zierliche Porzellankanne auf ihren Schreibtisch stellte, die, wie sie feststellte, gar nicht so schlecht in ihre Wohnzimmereinrichtung gepasst hätte.

„Danke“, sagte sie, wobei sie ein belustigtes Glucksen nicht unterdrücken konnte. „Und wo haben Sie das alles um diese Uhrzeit herbekommen?“

„Oh, ich habe festgestellt, dass man in London zu jeder Uhrzeit alles haben kann, wenn man nur gut genug danach sucht.“

Für einen kurzen Moment fragte sie sich, wie lange er hatte suchen müssen und ob er extra für sie so früh aufgestanden war, um sich die Mühe zu machen. Doch dieser Gedanke ließ ihn in einem viel zu guten Licht erscheinen, und deshalb schob sie ihn beiseite.

Dann beugte er sich abermals über ihren Schreibtisch, und Melissa schluckte bei der Intensität des Blicks, mit dem er sie anschaute.

„Ich meine es ernst. Es tut mir wirklich leid, was ich gestern gesagt habe. Und weil man es sich nicht mit seiner Gastgeberin verscherzen sollte – auch nicht mit seiner Mitbewohnerin und schon gar nicht mit seiner Kollegin – möchte ich Sie heute Abend gern in einen original englischen Pub einladen.“

Kurz stockte Melissa der Atem. Er wollte mit ihr ausgehen? War das ein Date?

Ach was, Melissa, er hat dich gerade als Kollegin und Mitbewohnerin bezeichnet, nicht als Geliebte!

Während sie noch überlegte, ob sie wirklich den Abend mit ihm verbringen wollte, fügte er hinzu: „Ich habe mich nämlich in meinem Städteführer schlau gemacht und einen ganz besonderen Pub in Shoreditch gefunden, wo wir original englisches Ale trinken können.“

„Tatsächlich?“ Sie musste schmunzeln. In seinem weichen portugiesischen Akzent klang das Wort „Ale“ wie eine köstliche Delikatesse, obwohl Melissa dem beliebten Bier, das jedoch schnell schal wurde, nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Sie zog einen guten Wein oder noch lieber einen Cocktail vor.

„Ich übernehme natürlich die Getränkerechnung“, fügte er hinzu mit einem beinahe flehentlichen Ausdruck in den dunklen Augen – auch wenn sie natürlich wusste, dass er nur mit ihr spielte.

„Kommt gar nicht infrage. Mitbewohner teilen die Kosten“, hielt sie dagegen.

Darauf schenkte er ihr ein umwerfendes Lächeln. „Dann nehmen Sie mein Friedensangebot also an?“

Ihr Herz klopfte laut, und ein seltsames Prickeln schien sich in ihrem Nacken auszubreiten, das sie vermutlich daran erinnern sollte, was für eine dumme Idee das war.

Dennoch erwiderte sie sein Lächeln und nickte.

„Ich glaube, ich war selbst nicht besonders nett zu Ihnen. Und wir können vermutlich deutlich besser zusammenarbeiten, wenn wir aufhören, ständig miteinander zu kämpfen.“

Spielerisch krümmte sie die Finger einer Hand und deutete eine Kratzbewegung an, wobei sie bemerkte, wie seine Pupillen sich verräterisch weiteten. War das ein Hinweis darauf, dass auch er dieses verlangende Knistern zwischen ihnen spürte?

Aber das war ein ausgesprochen verwegener Gedanke, und Melissa hatte sich vorgenommen, nur noch vernünftig zu denken, wenn es um Alexandre Ferreira ging. Alles andere wäre bei diesem seltsamen Kollegen-Mitbewohner-Verhältnis viel zu gefährlich gewesen.

Sie würde mit ihm ausgehen, für eine neutrale, kollegiale Beziehung sorgen und anschließend ungerührt ihrer Arbeit nachgehen, um das Hotel zu retten. Schließlich musste sie sich nur immer wieder sagen, dass er bei ihr ausziehen würde, sobald er eine Wohnung gefunden hatte.

Wenn sie es schlau genug anstellte, konnte sie Alexandre Ferreira vielleicht sogar dazu bringen, ein paar Geheimnisse über Alex Carrington auszuplaudern, die sie dazu verwenden konnte, sich beim neuen Firmenboss beliebt zu machen.

Das oder etwas anderes. Irgendeine Möglichkeit würde sie schon finden, aus dieser Verabredung ihren eigenen Nutzen zu ziehen. Und sei es auch nur, dass sie Alexandre Ferreiras Spesenkonto empfindlich schadete, indem sie im Pub mehr Ale und typisch englische Snacks bestellte, als er ausgeben wollte. Das würde ihr insgeheim auch Spaß machen.

Und außerdem hatte sie schon lange kein Date mehr gehabt. Mit einem attraktiven Mann auszugehen, wäre eine nette Abwechslung, wenn sie nur darauf achtete, dass sie ihm nicht zu nahe kam.

Am frühen Abend saßen Alex und Melissa auf unbequemen Barhockern am Tresen einer erstaunlich schäbigen Kneipe mit dem klangvollen Namen Ale House. Als er den dunklen Schankraum mit dem abgewetzten Mobiliar betreten hatte, hatte Alex sich direkt gefragt, ob das hier wirklich das war, was er sich unter einem typisch englischen Pub vorstellen musste. Aber Melissa hatte sich so zielstrebig und selbstverständlich an die breite Holztheke gesetzt, die sich von einem Ende des Raumes bis zum anderen zog, dass er ihr schulterzuckend gefolgt war.

Nachdem der Barkeeper ihnen je ein helles Ale ganz ohne Schaumkrone serviert hatte, fragte Alex sich, was eigentlich gerade mit ihm los war. Schon wieder ertappte er sich dabei, wie er minutenlang Melissa Jenkins’ Worten nicht mehr folgen konnte und bloß damit beschäftigt war, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr Anblick ihn faszinierte.

Deus, war sie schön! Volle Lippen und leicht verhangene, tiefgrüne Augen, die im Licht der dämmrigen Barbeleuchtung verführerisch funkelten. Das glänzend rote Haar hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem ihr einzelne Strähnen verspielt ins Gesicht fielen und sich in den langen, glitzernden Chandelier-Ohrringen verfingen.

Das Atemberaubendste aber war das figurbetonte Kleid aus hellem Stoff mit einem zarten Paisleymuster. Es schmiegte sich an ihre schmale Taille und die straffen Brüste, und Alex musste sich immer wieder daran erinnern, dass es nicht infrage kam, das dünne silberne Kettchen anzustarren, dessen winziger Silberanhänger in ihrem Dekolleté verschwand.

Noch nie zuvor war es ihm derart schwergefallen, bei einer Frau die Selbstbeherrschung zu wahren. Natürlich hatte er auch früher schon Affären mit Frauen gehabt, aber keine hatte ihn so sehr angerührt, dass er dafür seine Arbeit vernachlässigt hätte. Keine hatte seine Gedanken derart beschäftigt wie Melissa Jenkins.

Und nun passierte das ihm, der dafür bekannt war, dass er außer Arbeit wenig anderes im Kopf hatte! Jahrelang hatte er sich voll und ganz darauf konzentriert, seine Unternehmen voranzutreiben. Erfolgreich zu sein und ein immer größeres Vermögen anzuhäufen, das dasjenige seines Vaters mit der Zeit überflügelt hatte, war ihm als Inbegriff beruflicher Befriedigung und eines erfüllten Lebens vorgekommen.

Manchmal mutmaßte seine Mutter halb scherzend, dass es ihm bei seinem alles überwältigenden Ehrgeiz nur darum ginge, die Aufmerksamkeit seines Vaters zu erregen. Und das, obwohl James Carrington nie den Kontakt zu dem Sohn gesucht hatte, der bei seiner Mutter in einem entlegenen Teil Portugals aufgewachsen war. Aber wenn dem so gewesen wäre – was Alex stark bezweifelte, weil er den Mann dafür verachtete, dass er Frau und Kind verlassen hatte – dann wäre er mit seinen Bemühungen kläglich gescheitert. Denn als er noch lebte, hatte Carrington senior niemals auch nur eine Reaktion auf irgendeinen Erfolg seines Sohnes gezeigt.

Aber nun waren solche Überlegungen ohnehin müßig, und während er in die schönen grünen Augen von Melissa Jenkins schaute, kamen ihm langsam Zweifel an seinen bisherigen Zielen. Reichtum und Macht zu haben, während man sich gleichzeitig mit seinem Geld vor der Welt versteckte, erschien ihm plötzlich nicht mehr besonders reizvoll.

Bei Weitem nicht so reizvoll wie das bezaubernde Lachen, das aus dem Mund seiner Begleitung perlte, deren helle Wangen von einem zarten Rosa überzogen waren.

Das abgestandene Bier war eine Enttäuschung und die ohrenbetäubende Musik machte es ihm unmöglich, die witzige Bemerkung zu verstehen, die sie gerade gemacht hatte und über die sie sich schier ausschütten wollte.

„Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?“, schrie er und fragte sich dabei gleichzeitig, ob eigentlich in allen englischen Kneipen diese unerträgliche Countrymusic gespielt wurde.

„Ich sagte, dass Sie sich ja wirklich einen ganz typisch englischen Pub ausgesucht haben!“, brüllte sie zurück und strich sich gemächlich über den Bauch.

Mit der anderen Hand deutete sie in die Runde. An den Wänden hingen Fotografien von Baseball-Spielern und Football-Trikots. Das DJ-Pult in einer Ecke des Raumes war mit Wimpeln bekannter Universitäten wie Yale und Harvard geschmückt, und plötzlich bemerkte er auch die kleinen Fähnchen, die in Messingständern auf den abgenutzten Holztischen standen. Das war nicht der britische Union Jack, das war die Fahne der USA!

Verlegen schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Das ist gar kein englischer Pub, oder?“

Sie grinste frech. „Na ja, wir sind in London. Hier gibt es eine Menge Pubs, aber Sie haben sich ausgerechnet für einen amerikanischen entschieden.“

Fogo! Das tut mir wirklich leid. Ich dachte, der Name Ale House …“

„Nicht doch! Ich amüsiere mich ganz prächtig. Ich meine, ich glaube nicht, dass ich jemals so gute amerikanische Countrymusic gehört habe. Der Sänger gibt wirklich alles.“

Der DJ war dazu übergegangen, das Mikrofon an seine grölenden Gäste weiterzureichen, und in diesem Moment war ein älterer Mann an der Reihe, der bereits deutlich angetrunken war und der einfachen Melodielinie nur rudimentär folgen konnte.

„Aber, hey, Ale schenken sie hier aus.“

„Schmeckt grauenhaft, oder?“

„Allerdings!“

Sie lachte, warf dem Barmann einen Geldschein zu, bevor Alex sie davon abhalten konnte, und nahm einfach seine Hand, um ihn aus dem Lokal zu ziehen.

Überrascht ließ er das zu.

Als sie draußen in der langsam abnehmenden Tageshitze standen, die erfüllt war vom pulsierenden Leben der lebendigen Großstadt, hätte er Melissa am liebsten an sich gezogen und ihre verschmitzt grinsenden Lippen mit einem Kuss verschlossen.

Doch sie ließ seine Hand los, und den Kontakt zu verlieren, war erstaunlich schmerzhaft. Wie ein kleiner Stich in sein Herz, das sich eigentlich mit der Frage beschäftigen sollte, was diese Frau seinem Hotel antat. Stattdessen quälte es sich mit der Vorstellung, dass der Abend schon zu Ende sein sollte.

Das wollte er nicht. Es war noch viel zu früh.

Natürlich nur, weil er so die Gelegenheit verpasste, sie besser kennenzulernen, um zu wissen, mit welcher Gegnerin er es zu tun hatte. Er musste seinen Charme einsetzen, um …

… sie in dein Bett zu locken, flüsterte eine ungezogene Stimme in seinem Hinterkopf und öffnete damit Tür und Tor für eine Vielzahl von heißen Szenen, die sich automatisch vor seinem inneren Auge abspielten.

Aber solche Gedanken sollte er tunlichst vermeiden, wenn er einen klaren Kopf bewahren und der Sache auf den Grund gehen wollte.

Warum nur ist es so schwierig, in der Nähe dieser Frau vernünftig zu bleiben?

„Und was machen wir jetzt?“, fragte er und hörte selbst die leise Bitte heraus, die darin mitschwang.

Hab eine gute Idee, damit dieser Abend noch nicht zu Ende ist, schien seine Frage eigentlich zu bedeuten.

„Nach Hause gehen“, konterte Melissa und lachte wieder, wahrscheinlich weil sie seine Reaktion bemerkt hatte. „Ich mache nur Spaß.“

Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Von seinem Haar, das er vor dem Spiegel in ihrer Wohnung vergeblich zu bändigen versucht hatte, über seinen hellen grauen Anzug mit dem schneeweißen Hemd bis zu den glänzend geputzten Schuhen. Er fühlte sich irgendwie ausgeliefert, aber seltsamerweise löste dieses Gefühl in ihm statt der üblichen Angriffslust ein angenehmes Kribbeln aus.

Wenn er schon so reagierte, weil sie ihn mit ihren Blicken auszog, wie musste es dann erst sein, wenn ihre Hände ihm das Hemd von den Schultern streiften?

„Ich habe da eine Idee. Und ich glaube, es wird Ihnen gefallen“, versprach sie und wandte sich zum Eingang der nahegelegenen U-Bahn-Station. „Kommen Sie?“

5. KAPITEL

Nach einigen Haltestellen mit der Central Line, die während der Rushhour schrecklich überfüllt war, schoben sie sich mit den Menschenmassen endlich wieder nach draußen. Erleichtert sog Alex die frische Luft ein, als sie oben auf der Straße standen. Öffentlicher Nahverkehr war einfach nicht sein Ding.

Weit waren sie eigentlich nicht gefahren, doch hier auf der Tottenham Court Road herrschte eine gänzlich andere Atmosphäre als in Shoreditch, wo sie eingestiegen waren. Die Umgebung wirkte heller und luftiger, und Passanten flanierten über die Straße, die bis in die Abendstunden für den Autoverkehr gesperrt war.

Ihm fiel auf, dass die meisten überraschend gut und auffallend gekleidet waren. Elegante, fast altmodische Kleider in kräftigen Farben bei den Damen, dazu Schiebermützen, Hosenträger und helle Anzüge bei den Herren sowie in einigen Fällen erstaunlich exzentrische Hüte.

Verwirrt blickte Alex sich um, während er Melissas zielstrebigen Schritten auf ihren schwindelerregenden High Heels folgte.

„Was ist das hier?“, fragte er, als sie um eine Ecke bogen und ein Park in Sicht kam, aus dem er ausgelassene Jubelrufe hörte.

„Das, mein Lieber, ist so ziemlich das Englischste, was Sie im Londoner Sommer erleben können. Und man kann nur daran teilhaben, wenn man – wie wir – angemessen gekleidet ist. Wir haben Glück. Ich hatte befürchtet, es könnte bereits vorbei sein, aber ich glaube, wir kommen gerade rechtzeitig zum Teerennen.“

„Teerennen?“

Sobald sie das Banner mit der Aufschrift „Willkommen zur Chap Olympiade“ passiert hatten, meinte er, sich in einen Kostümfilm verirrt zu haben.

Überall auf dem saftig grünen Rasen des Parks namens Bedford Square Gardens hatten sich elegant gekleidete Damen mit kleinen Sonnenschirmchen zum Picknick niedergelassen. Herren in altmodischen Tweedjacketts oder hellen Anzügen pafften unter ausgefallenen Schnurrbärten fein gedrechselte Pfeifen, während sie auf zierlichen alten Gartenstühlen entspannt ihre Beine kreuzten.

Mitten unter all diesen Gästen, die ganz offensichtlich viel Spaß dabei gehabt hatten, sich dem Anlass entsprechend herzurichten, war eine Rennstrecke aus grünem Kunstrasen ausgelegt, auf der weiße Streifen die Bahnen markierten.

Als sie an den Rand dieser Strecke traten, erkannte Alex zu seiner immer größer werdenden Verblüffung den Sinn und Zweck des gerade stattfindenden Rennens. Dandyhaft gekleidete Männer und Frauen bemühten sich auf altmodischen Fahrrädern darum, wie bei einem Staffellauf eine gefüllte Teetasse Runde für Runde über die Strecke zu transportieren und verloren dabei zur Freude des johlenden Publikums nicht einmal die Contenance. Am Ende entschied über den Sieg, welche Mannschaft den wenigsten Tee verschüttet hatte. Es sah spaßig aus, aber überhaupt nicht wie ein sportlicher Wettkampf.

Voller Fragen wandte Alex sich zu Melissa Jenkins um, die ihn bereits von der Seite musterte.

„Ganz schön exzentrisch, nicht wahr?“ Ihre Augen funkelten lustig. „Später wird es noch ein paar Weltrekord-Versuche geben – zum Beispiel mit dem Binden der meisten Krawattenknoten innerhalb einer Minute und den meisten schmauchenden Pfeifen auf einer öffentlichen Veranstaltung.“

„Im Ernst?“

Sie lachte. „Ja, wirklich. Das hier heißt zwar Olympiade, aber die Veranstalter bestehen darauf, dass die Disziplinen gentlemanlike und vor allem nicht schweißtreibend absolviert werden. Schließlich soll das stylishe Outfit nicht gefährdet werden.“

„Das ist wirklich verrückt!“

Sie legte einen Finger an ihre Unterlippe und neigte den Kopf zur Seite, als müsste sie darüber nachdenken. Dann strahlte sie vergnügt. „Da könnten Sie recht haben. Aber genau diese Verdrehtheit bei Veranstaltungen wie dieser und der dahinterliegende englische Humor sind das Besondere, was ich an meiner Heimatstadt so mag.“

Das brachte sie mit so viel Überzeugung vor, dass er es nachempfinden konnte, obwohl ihn selbst gar nichts mit London verband.

Sein Vater war ein gebürtiger Londoner gewesen. Alex trug zwar dessen englischen Nachnamen, aber da er in Portugal aufgewachsen war, sprach er Englisch mit einem portugiesischen Akzent. Ihm war klar, dass er es damit eigentlich gut getroffen hatte, denn mehr als einmal hatte Luisa Ferreira ihm davon erzählt, wie belastend es gewesen war, die Frau an James Carringtons Seite zu sein – auch wenn sie es nur für kurze Zeit gewesen war.

Dennoch hatte er sich seine ganze Jugend über gefragt, was mit ihm eigentlich nicht stimmte, weil sein Vater nichts mit ihm zu tun haben wollte. Während die Väter seiner portugiesischen Freunde ihre petizes beim Fußball angefeuert oder ihnen das Schwimmen beigebracht hatten, war Alex immer der Junge gewesen, dessen Vater in weiter Ferne durch die Weltgeschichte reiste. Er wusste, dass seine Mutter sich alle Mühe gegeben hatte, ihm den fehlenden Elternteil zu ersetzen, aber er hatte immer dieses Loch gespürt, das der nichtexistente Vater in seinem Leben hinterlassen hatte.

„Ich hole uns einen Cocktail. Die sind hier fabelhaft“, verkündete Melissa und war schon in der Menge der bunten Kleider und Tweedjacketts verschwunden, bevor Alex einwenden konnte, dass er an der Reihe war, die Getränke zu bezahlen.

Autor

Deborah Fletcher Mello
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