Romana Jubiläum Band 11

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(K)EIN MANN FÜR DIE LIEBE? von KELLY HUNTER

Sie sollte Cole Rees hassen, so wie seine Familie mit ihr umspringt! Doch als Jolie mit dem attraktiven Unternehmer bei einem Schneesturm in der Gondel eines Skilifts stecken bleibt, kommt sie ihm unfreiwillig näher – und muss sich eingestehen, dass er sie fasziniert wie kein Mann zuvor …

KALTE NÄCHTE – HEISSE LIEBE von LILIAN DARCY

Ein Schneesturm zwingt Alison, mit einem Fremden in einer Ferienhütte zu übernachten. Der attraktive Connor lässt in ihr so manchen sinnlichen Wunsch erwachen, doch als er sie küssen will, weist sie ihn ab. Ein tragisches Erlebnis hat Alison tief verstört – kann sie nie wieder an die Liebe glauben?

SCHLITTENFAHRT INS WINTERGLÜCK von LILLI WIEMERS

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  • Erscheinungstag 14.12.2024
  • Bandnummer 11
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524421
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kelly Hunter

PROLOG

„Hannah, warte auf mich!“ Jolie Tanner kam durch den Garten gerannt, ließ das weiße Holztor hinter sich zuschlagen und versuchte atemlos, ihre Freundin einzuholen. Normalerweise rief Hannah immer, wenn sie an der Gartenpforte der Tanners ankam, manchmal wartete Jolie auch schon auf sie – eine Regelung, die sich seit dem ersten Schultag bewährt hatte. Nur wenn eines der Mädchen krank war, ging das andere allein zur Schule. „Han!“

Aber Hannah wandte sich nicht um. Sie verlangsamte nicht einmal ihren Schritt, sondern ging einfach weiter.

Cole begleitete sie heute, und das war äußerst ungewöhnlich. Cole war Hannahs großer Bruder. „Groß“, sowohl deshalb, weil er schon siebzehn war, ein sportlicher, hochgewachsener Junge, der sein letztes Jahr an der High School absolvierte. „Groß“ aber auch im Sinne von großartig, denn Cole war gut aussehend, beliebt und erfolgreich in allem, was er machte.

Mit seinem lässig zurückgestrichenen schwarzen Haar, dem olivfarbenen Teint und unsagbar grünen Augen, eingerahmt von dunklen, dichten Wimpern, ließ Cole die Herzen aller Mädchen höherschlagen.

Hannah verehrte ihren Bruder. Auch Jolie sah voller Bewunderung zu ihm auf, allerdings war ihr seit einiger Zeit bewusst, dass sich die unbefangene Schwärmerei, die sie bisher für ihn empfunden hatte, veränderte. Plötzlich war sie sprachlos in seiner Gegenwart und vermied es, ihn anzusehen, wenn sie sich gegenüberstanden. Hannah neckte sie schon deswegen.

Tat sie deshalb so, als hörte sie Jolies Rufen nicht?

Natürlich war es Jolie bewusst, dass sie viel zu jung für Cole war und er unerreichbar für sie blieb. Niemals würde er sie mit diesem ganz besonderen Blick ansehen, den er älteren Mädchen schenkte. Und es war auch nur eine Phase, die sie gerade durchmachte. Damit zumindest hatte ihre Mutter sie getröstet, als Jolie ihr gebeichtet hatte, dass sie sich im Moment etwas ungeschickt in Coles Gegenwart verhielt. Rachel Tanner hatte ihr unnachahmlich knisterndes Lachen hören lassen und gesagt, vermutlich werde Jolie früher oder später darüber hinwegkommen.

Ihre Schwärmerei für Cole Rees war nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste. Es war nur eine Phase.

„Hannah, jetzt bleib endlich stehen.“ Entschlossen schob Jolie den Riemen ihrer Schultasche über die Schulter und lief los, um die Freundin einzuholen.

„Geh einfach weiter“, befahl Cole.

„Aber wie soll ich ihr das erklären?“, wandte Hannah mit kläglicher Miene ein. „Cole, sie ist meine beste Freundin. Was soll ich ihr sagen?“

„Nichts.“

„Glaubst du, sie weiß es?“

„Keine Ahnung.“ Cole Rees hatte das Gefühl, überhaupt nichts mehr zu wissen. Bis gestern hatte er geglaubt, die Ehe seiner Eltern sei unerschütterlich. Vielleicht ein bisschen langweilig, aber solide. Sein Vater war für ihn der Allergrößte gewesen, ein Held, ein Idol. Und dann hatte die Wirklichkeit ihn eingeholt. Seit mehr als einem Jahr schon hatte sein Vater eine Affäre. Gestern Abend hatte er es zugegeben, und sein Geständnis hatte eingeschlagen wie ein Blitz. Er wollte die Scheidung. Eigentlich hatten Cole und Hannah von dem Gespräch der Eltern nichts mitbekommen sollen, doch sie waren sehr laut geworden, sodass man bis ins oberste Stockwerk jedes Wort verstehen konnte. Die gegenseitigen Anschuldigungen, die plötzliche Erkenntnis, und dann das Schluchzen der Mutter.

Unerträglich lange hatte sie geweint.

Wieder rief Jolie, doch Cole ging unbeirrt weiter. Er ertrug es nicht, sie zu sehen. Obwohl Jolie noch ein Kind war, konnte man bereits erkennen, dass sie eines Tages eine echte Schönheit sein würde. Ihr Haar hatte die Leuchtkraft von Feuer, und mit ihren großen grauen Augen schien sie jedem direkt ins Herz zu blicken. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war frappierend.

Schließlich hatte Jolie die Geschwister eingeholt. Sie ging neben ihnen auf dem schmalen Weg, ihre Augen strahlten hell, der glänzende Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt. „Hannah, hast du die Aufgaben für den Test geübt?“

Hannah schwieg. Sie bedachte ihren Bruder mit einem bittenden, verzweifelten Blick und Cole wünschte, er könne irgendwo anders sein, ganz gleich, wo.

Seit sie ein kleines Mädchen war, ging Jolie in seinem Elternhaus ein und aus. Sie gehörte nicht direkt zur Familie, aber sie war ein Teil seines Lebens, den er für selbstverständlich gehalten hatte. Hannahs Freundin. Ein bisschen sonderbar. Witzig. Immer mit einem dicken Notizbuch bewaffnet, in das sie unablässig hineinkritzelte und dessen Inhalt niemand jemals zu Gesicht bekam. Vor Jahren einmal hatte Cole Hannah gefragt, was sie eigentlich dort eintrage.

„Sie zeichnet“, hatte Hannah erklärt.

„Und was?“

„Alles Mögliche“, war Hannahs lapidare Antwort gewesen. „Tiere, Menschen, besondere Farben, einfach alles.“

Cole hatte dieser Gedanke fasziniert.

„Han.“ Jolie ließ nicht locker und riss Cole aus seinen Erinnerungen. Er bedachte sie mit einem finsteren Blick.

„Hast du dich auf den Test vorbereitet?“, fragte sie erneut.

Kaum sichtbar schüttelte Hannah nur den Kopf, dann senkte sie den Blick und ging weiter. Gestern Abend hatte ihr nicht der Sinn danach gestanden, sich auf die Schule vorzubereiten.

Als Cole nun die Freundin seiner Schwester ansah, entdeckte er Unsicherheit und Schmerz in ihren Augen. Grimmig wandte er den Blick ab und setzte wortlos und mit schnellen Schritten den Weg fort. Dabei versuchte er zu ignorieren, dass Jolie Tanner neben ihm ging.

So kamen die drei schließlich in der Schule an.

Und es schien ihnen, als hätten sie eine fast endlose Reise hinter sich.

Irgendetwas lief schief. Vollkommen schief. Hannah hatte kein Wort mit ihr gesprochen, Cole hatte sie nicht einmal wahrgenommen. Ohne einen Gruß war er im Schulgebäude verschwunden, noch ehe es geläutet hatte. Jolie hatte gehofft, Hannah werde ihr erklären, was geschehen war, wenn Cole gegangen war.

Doch auch jetzt sah Hannah sie nicht einmal an.

„Was ist los?“, beharrte Jolie verzweifelt. „Sag doch etwas.“

„Ich kann nicht mehr deine Freundin sein“, erwiderte Hannah mit bebender Stimme.

Als Jolie sie ansah, bemerkte sie, dass Hannah weinte.

„Was sagst du da?“ Voller Erschrecken schien Jolies Herz einen Moment auszusetzen. „Hannah, wovon sprichst du?“

Doch die Freundin verschwand ohne ein weiteres Wort und flüsterte in der Stunde mit ihrer Banknachbarin Sarah. In der Pause wurde Jolie auch von Sarah geschnitten, und beim Mittagessen sprach schließlich keine der Klassenkameradinnen mehr mit ihr.

Verwirrt und verletzt wanderte Jolie über den Schulhof auf der Suche nach Cole. Endlich entdeckte sie ihn, als er aus der Bücherei kam. Als er sie sah, wollte er an ihr vorbeigehen.

„Cole“, sprach sie ihn an. „Was ist los mit Hannah? Sie spricht nicht mehr mit mir, sie weint, sie scheint völlig verzweifelt zu sein. Was ist passiert?“ Jolie griff nach seinem Arm, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Als Cole sich voller Wut aus ihrem Griff wand, war auch sie den Tränen nah. „Bitte … Ich … Ich will doch nur wissen, was geschehen ist.“

„Frag deine Mutter“, sagte er mit eiskalter Stimme. „Und fass mich nicht an.“

Schamrot zog Jolie ihre Hand zurück. „Entschuldige.“ Seine grünen Augen schienen vor Hass zu brennen. „Cole, bitte. Hannah geht mir aus dem Weg, und ich habe keine Ahnung, warum. Erst Hannah, dann Sarah, jetzt auch noch die anderen Mädchen – niemand spricht mehr mit mir.“

„Was geht mich das an?“, entgegnete er kühl. „Warum sollte ich auch nur einen Gedanken an dich und deine Probleme verschwenden? Lass Hannah in Ruhe, und mich auch, verdammt.“

„Aber warum?“, fragte sie leise. „Bitte Cole, was habe ich denn getan?“

1. KAPITEL

Die Kiste war sperrig und ließ sich unglaublich schwer transportieren. Aber es gab keine andere Möglichkeit, und so schleppte und schob Jolie Tanner den wuchtigen Karton, bis sie ihn endlich auf dem Skibob verladen hatte und festzurren konnte. Waren Pappkartons überhaupt stabil genug für einen solchen Transport? Egal, sie hatte keine Wahl.

Es war Zeit zu gehen. Ein letztes Mal kehrte Jolie zu dem kleinen Häuschen zurück, suchte mit den dicken Profilsohlen ihrer dicken Schneeschuhe Halt auf den vereisten Stufen und blickte sich noch einmal prüfend um. Alles war aufgeräumt, sauber und seltsam unpersönlich. Sie hatte ihre Mission erfüllt. Jolie zog die Tür zu und schloss ab.

Während sie auf den Fahrersitz des Skibobs kletterte, sah sie weiter unten die wartende Gondel und überlegte, wie sie die Kiste wieder von dem Motorschlitten hinunterwuchten und in der kleinen Kabine verstauen sollte. Seufzend fuhr sie über die breite Piste und parkte den Bob schließlich an der Seite der Bergstation.

Die motorisierten Schneemobile gehörten Hare, dem Chef der Bergwacht, ebenso der gefütterte Overall, den er Jolie für die Fahrt geliehen hatte. Auch das Funkgerät in der Jackentasche war von Hare. Noch vor ein paar Minuten war es rauschend angesprungen und Hare hatte sich bei ihr gemeldet, um sie zu warnen. Es sei eine Wetterverschlechterung angekündigt, sie solle sich unbedingt beeilen, ins Tal zu kommen, hatte er gesagt.

„Die letzte Gondel geht in fünf Minuten. Und du solltest zusehen, dass du sie noch erreichst“, hatte er seinen Funkspruch beendet.

Alles an seinen Platz, dieser Satz ging ihr durch den Kopf, als sie vom Bob stieg und ihn sicherte. „Alles an seinen Platz“ – das war eine der wichtigsten Regeln, die Hare jedem Mitarbeiter, der für die Bergwacht arbeitete, immer wieder einschärfte. Jedes Werkzeug, jeder Rettungsgurt, wurde nach Gebrauch sofort wieder einsortiert. Wer gegen dieses eherne Gesetz verstieß, konnte sich sofort wieder von der Bergwacht in Silverlake Mountain verabschieden und sich einen neuen Job suchen in den Bars, Restaurants und Hotels von Queenstown.

„Alles erledigt?“, erkundigte sich Hare, als sie in den Kontrollraum trat und die Tür hinter sich schloss.

„Ja, alles klar.“ Jolie hängte die Schlüssel des Skibobs an den Haken und stellte das Funkgerät in die Ladestation. Dann nahm sie den Schlüssel der Berghütte aus der Jackentasche und hielt ihn dem großen, bärenstarken Mann hin. „Mama hat mich gebeten, dir auch diesen Schlüssel zu geben.“

Hare kratzte an einem nicht vorhandenen Mückenstich, statt den Schlüssel zu nehmen. Also legte Jolie ihn einfach auf den Tresen, um ihn loszuwerden. Sie konnte es Hare nicht verübeln, dass auch er ihn nicht haben wollte.

„So haben wir noch nie zusammengesessen“, stellte er fest.

„Das stimmt, aber da bist du keine Ausnahme“, gab sie zu. Das war die Wahrheit, und nur Hare gegenüber konnte sie so offen sprechen. Jeder andere erlebte sie schweigend, beinahe feindlich, und abweisend – ein Schutzmechanismus, den sie seit ihrer Jugendzeit pflegte. „Vielleicht wird jetzt alles anders.“

Der Tod gab allen Dingen eine plötzliche Endgültigkeit.

„Wie hält sich deine Mutter?“, erkundigte sich Hare. „Ist sie zur Beerdigung gegangen?“

„Nein“, erwiderte Jolie zögernd. „Natürlich nicht. Sie hatte geplant, stattdessen um den Wanaka-See zu laufen. Vermutlich will sie sich auf diese Weise von ihm verabschieden.“

„Arbeitet sie heute Abend in der Bar?“, wollte Hare wissen.

Jolie nickte. „Sie hat mich gebeten, dir auszurichten, dass sie dich zu einem stillen Umtrunk einlädt. Eine Art Trauerfeier.“

„Sie hat ihn sehr geliebt“, meinte Hare gerührt. „Das wird ihr immer bleiben, auch wenn sie sonst nichts von ihm behalten kann.“

„Ich weiß. Es ist nur …“ Die ganze Zeit hatte Jolie versucht, gegen die Bitterkeit anzukämpfen. Aber schließlich hatte sie den gesamten Nachmittag damit verbracht, alle Spuren ihrer Mutter aus dem luxuriösen Leben von James Rees zu löschen und dabei festgestellt, wie viel ihre Mutter für diesen Mann aufgegeben hatte – und was sie andererseits dafür bekommen hatte. „Ich weiß.“

Hare konnte nichts dafür. Damals, als junger Auszubildender der Bergwacht, hatte James Rees ihn beauftragt, auf Jolie aufzupassen, während ihre Mutter mit ihrem verheirateten Liebhaber mit der Gondel auf den Berggipfel fuhr. Seither hatte Jolie wie eine Klette an ihm gehangen bis zu dem Zeitpunkt, als sie beschloss, alt genug zu sein, um auf sich selbst aufzupassen.

Hare hatte ihr das Skilaufen beigebracht, ihr die Berge gezeigt und sie immer behütet. Doch vor der harten Realität konnte selbst Hare sie nicht schützen.

Jolies Leben hatte sich von Grund auf geändert, nachdem James Rees’ Affäre mit Rachel Tanner ans Licht gekommen war. Ihre Freunde hatten sie fallen lassen, und es war ihr nie wirklich gelungen, neue Freundschaften zu knüpfen. Als dann die Jungen begonnen hatten, sich für sie zu interessieren – und das hatten sie wahrlich – musste Jolie erkennen, dass aus früheren Freundinnen plötzlich eifersüchtige Feindinnen werden konnten, die genau wussten, wie sie mit wenigen Worten jemanden tief verletzen konnten.

„Bleibst du länger in Queenstown?“, wollte Hare wissen. „Deine Mutter kann dich jetzt sicherlich gut gebrauchen.“

Jolie zuckte die Schultern. „Ein paar Wochen werde ich bleiben. Aber dann muss ich zurück nach Christchurch.“

„Ich habe gehört, du arbeitest dort als Zeichnerin.“

„Stimmt.“ Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und sich bei einer Produktionsfirma beworben, die an Spezialeffekten für Filme arbeitete. Ihr Talent war überzeugend gewesen, und so konnte sie bleiben. Die Bezahlung war gut – wenigstens etwas, worüber sie sich keine Sorgen machen musste.

„Könntest du nicht von hier aus arbeiten?“

„Warum sollte ich?“

„Ich weiß nicht.“ Hare zögerte. Verlegen kratzte er sich am Kopf und runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es jetzt einfacher für dich, hier zu sein. Nach dem Tod von James, meine ich.“

„Oh nein. Hannah ist noch hier, Cole ebenfalls. Und James’ Witwe.“ Die eigenbrötlerische Christina Rees. „Schließlich gehört ihnen die halbe Stadt. Und sie werden niemals ein Interesse daran haben, etwas für eine Tanner einfacher zu machen.“

„Es war für keinen von euch leicht“, gab Hare zu bedenken. „Wäre jetzt nicht ein guter Anlass, die alte Feindschaft zu beenden?“

„Vernünftig betrachtet, hast du natürlich recht“, erwiderte Jolie. „Aber die Fehde zwischen den Tanners und den Rees’ hat nichts mit Vernunft zu tun.“

„Das muss doch nicht so bleiben.“

„Oh doch, das wird es.“ Offen und freundlich sah sie Hare an. Der große, oft rau wirkende Mann war immer nett zu ihr gewesen und kannte die wahre Jolie besser als die meisten anderen. „Hare, ich werde nicht nach Queenstown zurückkehren. Mein ganzes Leben bestand nur daraus, mich vor anderen Menschen zu verstecken. Nie konnte ich so sein, wie ich wollte. Für alle war ich nur die Tochter der Geliebten von James Rees. In Christchurch dagegen“, Jolie suchte nach den richtigen Worten, „habe ich endlich den Mut gefunden, ich selbst zu sein. Und ich muss zugeben, dass es mir gefällt.“

„Hast du schon Freunde gefunden?“

„Noch nicht wirklich.“ Wieder zuckte sie die Schultern. „Aber zumindest habe ich dort keine Feinde. Das ist doch auch schon etwas, oder?“

„Klar“, murmelte Hare.

Nun hatte sie ihn in Verlegenheit gebracht und sich selbst bloßgestellt. Ein guter Zeitpunkt, um zu verschwinden. „Ich würde jetzt gern die letzte Gondel nehmen.“

„Noch einen Moment, ich warte noch auf jemanden, der mitfahren will.“

„Auf wen?“ Die Piste war wegen des angesagten Unwetters bereits geschlossen. Jolie hatte geglaubt, alle Mitarbeiter und Skiläufer seien schon seit Stunden im Tal. Alle bis auf Hare, der in einer kleinen Hütte am Rande des Skigebiets lebte.

„Cole.“

„Cole Wer?“, fragte sie alarmiert.

Doch Hare antwortete nicht, er wagte nicht einmal, sie anzusehen.

Jolies Magen krampfte sich zusammen. „Cole Rees ist hier auf dem Berg?“

„Er ist vor ein paar Stunden gekommen und wollte auf den Gipfel.“

„Was will er da?“

Hare zuckte die Schultern.

„Aber … wie kann das sein?“ Um die Sachen ihrer Mutter zu packen, hatte sie extra einen Zeitpunkt gewählt, zu dem kein Rees in der Nähe war. So hatte sie zumindest geglaubt. „Warum ist er nicht auf der Beerdigung?“

„Ich habe ihn nicht gefragt. Der Mann sah nicht aus, als habe er Lust, lange mit mir zu reden.“

Und gleich würde er mit ihr gemeinsam in der kleinen Gondel sitzen, um ins Tal zu fahren. Nur Cole Rees und Jolie Tanner, und zwischen sich eine Kiste mit all den Erinnerungen an die vergangenen zwölf Jahre, die ihre Mutter mit James Rees verbracht hatte. „Großartig“, versetzte sie. „Ganz toll. Gibt es eine Möglichkeit, eine zweite Gondel zu aktivieren, damit Cole Rees ungestört bergab fahren kann?“

Hare schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass ich diese eine trotz der Blizzardwarnung zurückhalten konnte.“ Er blickte aus dem Fenster und nickte. „Zeit zu gehen, Mädchen. Cole ist da.“

Jolie folgte seinem Blick und sah ihn. Cole. Mit langen, kräftigen Schritten bahnte er sich den Weg durch den Schnee zur Seilbahn, das pechschwarze Haar vom Wind zerzaust, das markante Gesicht dem Sturm ausgesetzt. Er wirkte so rücksichtslos, unberechenbar und gleichzeitig so männlich, dass Jolie beinahe erstarrte. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sehr er alle Tanners hasste. „Wunderbar“, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit. „Dann kann es ja losgehen.“

Sie griff nach einer alten, zerfransten Schaffellmütze mit Ohrenklappen, die irgendjemand in der Bergstation vergessen hatte, und stülpte sie über den Kopf. Dann band sie ein dickes, schwarzes Halstuch um und setzte eine Skibrille auf – ebenfalls eine Fundsache, die nie abgeholt worden war.

Ausdruckslos sah Hare ihr zu. „Wenn du willst, kannst du den Overall anbehalten“, bot er an.

„Danke. Ich bringe ihn dir morgen zurück.“ Unter dem dicken, unförmigen Anzug konnte niemand erkennen, ob eine Frau oder ein Mann darin steckte.

„Dein Haar“, bemerkte Hare.

„Oh.“ Noch einmal nahm sie Mütze und Skibrille ab, steckte ihre lange, dunkelrote Mähne auf und verbarg sie unter der Fellkappe. Zu guter Letzt schlug sie die Ohrenklappen hinunter. „Besser?“, erkundigte sie sich.

„Du siehst aus wie ein Cousin von E.T.“, grummelte Hare. „Ich schätze, genau das war dein Plan?“

„Erfasst“, gab sie zurück und setzte die dicke Brille wieder auf. Dann beugte sie sich vor, um sich von ihrem alten Freund und Mentor zu verabschieden.

Doch der trat schnell einen Schritt zurück. „Komm bloß nicht auf die Idee, mich zu umarmen.“

„Bis später.“ Ganz kurz nur tätschelte Jolie seinen Arm. „Sehe ich dich heute Abend in der Bar?“

„Wenn das Wetter wieder besser wird, ja“, gab Hare zurück und schaute auf den Monitor, der noch immer eine Unwetterfront anzeigte, die direkt in das Gebiet zog. „Sieht aber nicht so aus. Sag deiner Mutter, ich komme, sobald ich kann.“

„Das mache ich.“

„Und richte ihr aus, wie sehr es mir leidtut, dass sie diesen Verlust erleiden musste.“

„Auch das“, versicherte Jolie mit belegter Stimme. Sie war gerührt über Hares Einfühlungsvermögen, das sich in diesen wenigen Worten ausdrückte. Denn Rachel Tanner, eine Barbesitzerin mit zweifelhaftem Ruf – Gerüchten nach war die Bar ein Geschenk von James Rees an seine Geliebte – konnte ganz sicher nicht mit viel Mitgefühl rechnen, weil sie um ihren verheirateten Liebhaber trauerte.

Hare warf einen letzten Blick aus dem Fenster und schaute sorgenvoll in den verhangenen Himmel. „Kia waimarie, meine Kleine. Viel Glück. Lass den Kopf nicht hängen.“

Seufzend sah Hare Jolie nach, wie sie zur Seilbahn hinüberstapfte. Natürlich hatte sie recht, es war vermutlich der schlechteste Zeitpunkt, Cole Rees ausgerechnet heute zu begegnen. Aber sie konnte es nicht ändern. Irgendwann auf der Fahrt ins Tal würde Cole sein Gegenüber näher betrachten, und ganz sicher erkannte er dann, um wen es sich handelte. Spätestens ein Blick in ihre großen grauen Augen würde ihm verraten, wer bei ihm saß.

Niemand, sinnierte Hare, hatte Augen wie die Frauen der Tanners. Diese Herausforderung, die in der Tiefe ihres Blicks lauerte. Ein verlockender Mix aus Selbstbewusstsein und unendlicher Verletzlichkeit.

In diesen Augen konnte ein Mann sich verlieren.

Cole Rees senkte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt, als er die Gondel vor sich auftauchen sah. Das Wetter passte zu seiner Stimmung: trübe und unberechenbar. In seinem Innern erlebte er ein Wechselbad der Gefühle – mal überwogen Trauer und Bedauern, dann wieder Wut und Trotz. Er hatte es auf der Beerdigung seines Vaters nicht ausgehalten. Bei all den Lobesreden, die auf den Verstorbenen gehalten worden waren, hatte sich ihm der Magen umgedreht. Die echte, tiefe Trauer seiner Mutter hatte ihn rasend gemacht. Und als dann auch noch seine Schwester ihn inständig gebeten hatte, die Dinge nicht noch schlimmer zu machen, war ihm klar geworden, dass er keinen Moment länger bleiben konnte, ohne seinen toten Vater zur Hölle zu wünschen.

Als er die Trauerfeier vorzeitig verlassen hatte, war seine Mutter, der gesellschaftliches Ansehen über alles ging, förmlich in sich zusammengesackt. Hannah, seine Schwester, war stärker. Er wusste, sie würde ihn früher oder später dafür bluten lassen, dass er die Familie mit seinem unpassenden Aufbruch bloßgestellt hatte.

Zumindest die Klatschmäuler waren befriedigt, wenn auch nur für kurze Zeit.

Am liebsten hätte er jetzt in den Armen einer Frau versucht, das alles hinter sich zu lassen. Doch selbst der Wunsch nach schnellem Sex erinnerte ihn an seinen Vater. Cole war seinen wechselnden Geliebten gegenüber längst nicht mehr so rücksichtslos und unsensibel wie früher, aber noch immer stand für ihn fest, dass keine Frau es wert war, echte Gefühle an sie zu verschwenden. Er liebte es, eine Frau zu erobern und zu verführen, aber mehr als das hatte keine von ihnen verdient. Schließlich hatte er erlebt, wohin es führen konnte, eine Affäre zu ernst zu nehmen. Sein Vater hatte diesen Fehler gemacht und damit seine Familie zerstört.

Seine Mutter hatte eine Totenwache für ihren Mann organisiert, aber auch daran wollte Cole nicht teilnehmen. Stattdessen hatte es ihn hinauf in die Berge gezogen. Er wollte auf seine eigene Weise Abschied von seinem Vater nehmen.

Sein Blick fiel auf die neue Seilbahn, für die er sich stark gemacht hatte. Sie ersetzte die veralteten Sessellifte und brachte doppelt so viele Skifahrer auf die Pisten wie früher. Der ganze Ort profitierte davon.

Cole sah hinauf zu den Fenstern der Bergstation und winkte, als er Hare entdeckte. Ihm war aufgefallen, dass der Chef der Bergbahnen nicht bei der Beerdigung gewesen war, aber er wusste, dass der starke, stolze Maori sein ganz eigenes Leben führte und sich nicht darum scherte, was von ihm erwartet wurde. Doch James Rees gegenüber war er immer loyal gewesen. Ein treuer Freund, ein zuverlässiger Mitarbeiter.

In diesem Moment trat ein dick vermummter Junge aus der Tür und wandte sich in die Richtung der wartenden Seilbahn. Er ging in Coles Spur, blieb aber weit hinter ihm und schloss gewissenhaft die Tore hinter ihnen. Als Cole unter dem schützenden Vordach der Seilbahnstation angekommen war, schüttelte er den Schnee von seinem Mantel und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann stieg er in die Gondel, in der ein riesiger Pappkarton schon die Hälfte des Platzes einnahm. Fröstelnd steckte Cole die Hände in die Taschen seines Wollmantels. Ganz eindeutig war er viel zu dünn angezogen für eine Bergtour. Unter dem Mantel trug er noch den schwarzen Anzug von der Beerdigung. Nur die Lederschuhe hatte er gegen Bergstiefel getauscht.

Jetzt hatte auch der Junge die Gondel erreicht, schwang sich hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er war klein und schmal für einen von Hares Gehilfen. Normalerweise stellte Hare nur Männer ein, die nicht nur Verstand besaßen, sondern auch kräftig und durchtrainiert waren. Die Arbeit in den Bergen forderte ihren Tribut.

Dieser hier aber schien fast noch ein Kind zu sein, so zierlich war er. Jetzt kauerte er sich neben den Karton, zog die Beine an und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Er war Snowboarder, kein Skiläufer, vermutete Cole. Alles an seiner lässigen Haltung sprach dafür. Und wahrscheinlich ein sehr guter, denn er schien keinen Wert auf angesagte Sportkleidung zu legen. Einer von denen, die niemandem mehr etwas beweisen mussten, außer sich selbst.

Cole beneidete ihn.

Seine nächsten Tage, Wochen und Monate würden darin bestehen, die Banker und Aktionäre des Familienimperiums zu überzeugen, dass er als neuer Chef ebenso gut war wie sein Vater. Als hätte er nicht schon seit Jahren bewiesen, dass er hoch qualifiziert war. Von der Pike auf hatte er sich hochgearbeitet. Nicht der kleinste Teil seines Erfolges war ihm geschenkt worden, nur weil er der Sohn des Inhabers war.

Vor zwei Jahren hatte James Rees erfahren, dass er unheilbar krank war. Von einem Tag auf den anderen hatte er seinem Sohn die Geschäfte übertragen und ihm gezeigt, was wichtig war und welche Fehler es zu vermeiden galt. In dieser Zeit hatte Cole begonnen, seinen Vater zu bewundern. Ihm ging es nicht um das schnelle Geld, sondern um die Verantwortung für sein Unternehmen und für die Mitarbeiter.

In allem, was er tat, war er besonnen, jeder Schritt war wohlüberlegt. Nur ein einziges Mal, als es darum ging, seine standesgemäße Ehefrau gegen eine hergelaufene Geliebte einzutauschen, hatte sein Verstand ausgesetzt. Er hatte tatsächlich geglaubt, die beiden Frauen könnten friedlich nebeneinander in der kleinen Stadt leben.

In diesem Punkt war James Rees ein Narr gewesen.

Cole wusste, was sein Vater in Rachel Tanner gesehen hatte – schon als Junge war er nicht blind gewesen für weibliche Reize, und jetzt, als Mann, schon gar nicht. Sie strahlte eine verheißungsvolle Sinnlichkeit aus, gegen die kein Mann gefeit war. Rachel Tanner wirkte, als kenne sie die geheimsten Wünsche eines Mannes und könne jeden davon erfüllen. Ganz im Gegensatz zu seiner spröden, wohlerzogenen Mutter, die bei jeder Andeutung von Leidenschaft tadelnd die Stirn runzelte.

Doch auch James Rees hatte Bedürfnisse. Und wahrscheinlich hätte niemand erfahren, wie er sie stillte, wenn er es bei diskreten Affären belassen hätte. Doch er hatte sich nicht damit zufriedengegeben. Er wollte mehr. Und damit hatte er allen Menschen in seiner Umgebung unendlichen Schmerz zugefügt.

Langsam setzte sich die Skigondel in Bewegung. Zunächst noch geschützt von den Wänden der Station, wurde sie wenig später von den ersten Windböen erfasst. Feine Schneeflocken wurden knisternd an die Scheiben gepeitscht. Unwillkürlich sahen beide Passagiere hinauf zu dem dicken Stahlseil, als wollten sie sich überzeugen, dass es den Naturgewalten standhielt.

„Wenn man dem Wetterbericht glauben kann, ist das Unwetter noch ein Stück von uns entfernt“, sagte der Junge schließlich mit leiser Stimme, die durch das Tuch vor seinem Gesicht kaum mehr war als ein Murmeln.

Cole nickte. Vom Gipfel aus hatte er den Sturm näher rücken sehen. Vermutlich hatte der Junge die Front auf dem Bildschirm in Hares Büro beobachtet. So, wie er sich ausdrückte, schien er doch älter zu sein, als Cole geschätzt hatte. Doch es war unmöglich, das genauer zu sagen, denn durch die Mütze und das Halstuch war fast sein ganzes Gesicht bedeckt. Nur den Mund konnte Cole kurz sehen.

Und was für ein Mund.

Schnell blickte Cole zur Seite.

Was war los mit ihm?

Wieder schüttelte der Wind die Gondel hin und her, und erneut blickten beide hinauf zu der Haltevorrichtung.

Dann wandte der Junge den Blick zu dem Funkgerät, das für Notfälle in jeder Gondel hing.

Noch einmal musterte Cole sein Gegenüber und versuchte, sich ein Bild zu machen. Doch alles, was er sah, war eine Fellmütze, ein dickes schwarzes Tuch und eine Skibrille. Beunruhigt senkte er den Blick.

Kurz legte sich der Wind, die Bahn fuhr gleichmäßig weiter durch undurchdringliches Schneegestöber.

Coles Blick wanderte zu dem großen Karton. Graubraune Pappe, der Aufdruck eines Umzugsunternehmens an der Seite, feucht an der Unterseite, sodass eine Kante bereits ein wenig eingerissen war.

Unruhig wechselte der Junge die Sitzposition. Cole widerstand der Versuchung, ihn erneut anzusehen, und hielt den Blick fest auf die Kiste gerichtet. Nur ein nasser, zerbeulter Karton. Nichts weiter.

Die Seilbahn durchfuhr den ersten von sieben Stützpfeilern. Noch zehn Minuten, wusste Cole. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Anscheinend hatte der Junge nun begonnen, ihn zu mustern. Warum ließ dieser Gedanke sein Herz schneller schlagen?

Cole kam nicht mehr dazu, sich eine Antwort zu geben.

Die Gondel schwang kurz auf und nieder, ruckte.

Dann blieb sie stehen.

Für einen Moment glaubte Cole, sein Herz setze aus, dann schlug es in einem schnellen, unruhigen Rhythmus weiter. Vielleicht hatte Hare nur die Geschwindigkeit wegen des Windes reduziert, damit sie erst nach der nächsten Bö den kommenden Stützpfeiler erreichten.

Doch die Gondel bewegte sich nicht vorwärts, sondern schwankte nur hin und her.

Mit einer Hand hielt Cole sich fest, mit der anderen nahm er das Funkgerät aus der Halterung. Als Jugendlicher hatte er oft in der Skisaison für die Bergbahnen gearbeitet, er kannte sich aus. „Hare, hörst du mich?“

Doch Hare antwortete nicht. Und auch die Besatzung der Talstation, die den Funkspruch ebenfalls hätte empfangen müssen, meldete sich nicht. Kein gutes Zeichen. Der Junge ihm gegenüber sagte kein Wort, sondern sah ihn nur aus großen Augen an, die hinter der Skibrille lediglich verschwommen zu erkennen waren, und biss auf seine Unterlippe.

„Hare“, versuchte Cole es noch einmal. „Kannst du mich hören?“

Als wieder keine Reaktion kam, hängte er das Funkgerät zurück und zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Doch als er auf das Display schaute, erkannte er, dass er hier, mitten in den Bergen, keinen Empfang hatte.

Verdammt.

Daraufhin griff der Junge nach seinem eigenen Handy und drückte mit seinen behandschuhten Fingern ein paar Knöpfe. Erfolglos. „Ich habe auch kein Signal“, sagte er gepresst.

„Ich werde es gleich noch mal bei Hare versuchen“, schlug Cole vor.

Sie warteten zehn Minuten. Zehn lange, stille, unbehagliche Minuten, in denen Cole den Jungen immer wieder musterte. Was nur faszinierte ihn so an dem zierlichen Jugendlichen?

„Mittlerweile hätte längst jemand versuchen müssen, uns zu erreichen“, meinte der Fremde schließlich.

Er sprach nicht aus, was sie beide befürchteten: Wenn Hare sich nicht meldete, konnte das nur bedeuten, dass er selbst Probleme hatte. Das Unwetter hatte die Bergstation längst erreicht, und wie es im Tal aussah, wussten sie nicht.

„Das Funkgerät funktioniert auf jeden Fall“, überlegte Cole laut. „Ich probiere es einfach noch einmal auf einem anderen Kanal.“

Doch auch auf den anderen Frequenzen kam nur ein Rauschen.

Weitere fünf Minuten vergingen. Wieder wurde die Seilbahn von einer Windbö geschüttelt, stärker noch als beim letzten Mal. Ängstlich schaute der Junge erneut hinauf zur Halterung. Dabei rutschte sein Halstuch hinunter und gab den Blick frei auf einen ebenmäßigen Teint und glatte Haut, die ganz sicher noch nie einen Rasierer gesehen hatte.

Ein solch glattes Gesicht bei einem Mitarbeiter der Bergwacht?

„Wie alt bist du eigentlich?“ Cole hatte die Worte ausgesprochen, ehe er darüber nachdenken konnte. „Vierzehn?“ Der Junge konnte kaum in der Pubertät sein. „Fünfzehn?“

„Älter“, erwiderte sein Gegenüber.

„Wie viel älter?“

„Erheblich älter.“

Was, zum Teufel, war das für eine Antwort?

„Neunzehn“, sagte er dann schnell, als hätte er erkannt, dass er Cole verärgert hatte.

„Tatsächlich?“, gab Cole ungläubig zurück und erntete ein lässiges Schulterzucken. Ihm wurde allmählich klar, dass die Jacke und die überdimensionale Fellmütze dem Jungen weitaus mehr Masse verliehen, als er tatsächlich besaß. Neunzehn? Niemals! Erneut ließ er seinen Blick über den anderen Passagier wandern, auf der Suche nach … was? Einem Hinweis? Einem Grund für seine Faszination?

Weitere Minuten vergingen in unerträglicher Spannung. Die Stille in der Kabine wurde unterbrochen vom Tosen des Sturms und dem stetigen Knirschen der Stahlseile. Wortlos horchten sie beide auf die Geräusche.

Irgendwann sah Cole auf seine Uhr, dann ließ er wieder den Blick über den Jungen gleiten. Er war noch immer dick vermummt, kein Wunder bei den eisigen Temperaturen, die in der Gondel mittlerweile herrschten. Aber dass er auch seine Skibrille noch immer trug, war irritierend. Immerhin sah es nicht so aus, als würden sie die Bahn so schnell verlassen.

„Wohnst du hier in der Stadt?“, begann Cole.

Der Junge nickte.

„Allein?“ Das ging ihn nichts an, wurde ihm klar. „Gibt es jemanden, der dich vermisst und die Bergwacht benachrichtigen kann, wenn du gleich nicht heimkommst?“, fügte er deshalb hinzu.

„Darauf können wir uns nicht verlassen. Meine …“ Der Junge zögerte. „Meine Vermieterin ist heute Nachmittag nicht zu Hause, und sie macht sich auch keine Sorgen, wenn ich nicht auftauche.“

Seufzend ballte Cole seine Hände in den Jackentaschen zu Fäusten.

„Und bei Ihnen?“, entgegnete der Junge. „Gibt es jemanden, dem es auffallen wird, dass Sie nicht zurückkehren?“

„Ja.“

„Also werden Sie vermisst?“

„Das bezweifle ich“, gab Cole bitter zurück. Vermutlich waren seine Mutter und seine Schwester eher erleichtert, wenn er nicht auftauchte.

Wieder verfielen sie in brütendes Schweigen. Mit einem stetigen Prasseln wurden eisige Schneeflocken an die Scheiben gedrückt.

„Zumindest sind wir hier geschützt“, sagte Cole endlich. Ein toller Schutz, fügte er in Gedanken spöttisch hinzu, fünfzig Meter über dem Boden, nur gehalten von einem Seil, mitten in einem Blizzard. „Was ist eigentlich in der Kiste?“, wechselte er das Thema.

„Wie bitte?“, fragte der Junge irritiert.

„Die Kiste“, wiederholte Cole. „Was ist darin? Irgendetwas, das wir gebrauchen könnten?“

„Was denn, zum Beispiel?“, gab der Junge mürrisch zurück.

Cole hatte das Gefühl, als verschanze er sich noch mehr hinter den dicken Brillengläsern.

„Lebensmittel und Decken“, erklärte Cole. „Gern auch eine Flasche Scotch.“

„Leider nicht. Nur ein paar persönliche Dinge.“

„Bist du raus aus dem Job?“

Der Junge nickte.

„Gefeuert?“

Ein wortloses Kopfschütteln.

„Hast du ein besseres Angebot?“

„Genau.“

„Hier in der Gegend?“ Auf einmal wurde Cole bewusst, dass ihn das durchaus etwas anging. Die Bergbahnen, die bisher seinem Vater gehört hatten, unterstanden jetzt seiner Kontrolle. Also musste er auch wissen, wenn gute Mitarbeiter das Unternehmen verließen.

„In Christchurch“, antwortete der Junge wortkarg.

Dort gab es kein Skigebiet. „Was wirst du dort machen?“, hakte Cole nach.

„Was anderes.“

Wieder stockte das Gespräch. Der Junge legte die Beine auf den Umzugskarton und zog das Handy aus der Tasche. Daran, wie er die Lippen aufeinanderpresste, erkannte Cole, dass er nach wie vor keinen Empfang hatte.

„Könnte nicht vielleicht doch etwas in der Kiste sein, was uns nützt?“, gab er nicht auf.

„Glauben Sie mir einfach“, erwiderte der Junge.

„Hör zu, selbst wenn irgendetwas in diesem Karton ist, das dir vielleicht nicht gehört – nehmen wir an, es ist zufällig dort hineingeraten –, interessiert mich das im Moment gar nicht. Du kannst ihn also ohne Risiko öffnen und mich hineinschauen lassen.“

„Ach, Sie vermuten also, ich habe etwas gestohlen? Nein, da kann ich Sie beruhigen. Es ist nur wertloser Plunder.“ Der Junge steckte das Mobiltelefon wieder in die Tasche.

„Wenn das denn stimmt“, wandte Cole mit seidenweicher Stimme ein, „warum meinst du dann, ihn vor mir verbergen zu müssen?“ Als der Junge überhaupt keine Anstalten machte zu antworten, wagte er sich weiter vor. „Du weißt, wer ich bin, nicht wahr?“

Der Junge – Teenager, junger Mann, mutmaßlicher Dieb, was auch immer – nickte kurz.

„Sollte ich dich auch kennen?“

„Nein.“

„Aber du kommst mir ziemlich bekannt vor.“

„Das kann nicht sein.“

„Du bist in Queenstown aufgewachsen, oder?“ Aus einem unerfindlichen Grund ärgerte es Cole, dass der Junge es nicht einmal für nötig hielt, ihn anzusehen. Das war nun wirklich nicht zu viel verlangt, fand er.

„Sie kennen mich nicht“, beharrte sein Gegenüber mürrisch. „Und Sie müssen mich auch nicht kennen.“

„So, wie es aussieht, werden wir die nächsten Stunden hier gemeinsam verbringen. Ich finde es nur höflich, in dieser Situation den Namen des anderen zu kennen.“ Dieses Argument war nur vorgeschoben. Tatsächlich wollte er endlich ergründen, was dieser Junge vor ihm verbarg. „Also, ich bin Cole Rees. Und du?“

„Josh“, antwortete sein Gegenüber widerstrebend.

„Es ist durchaus üblich, auch seinen Nachnamen zu sagen.“

„Nicht dort, wo ich herkomme.“

„Na gut.“ Zumindest hatte er seinen Vornamen erfahren. Jetzt war es an der Zeit, Josh in Sicherheit zu wiegen. Es ließ ihm keine Ruhe, dass er noch immer nicht die Augen des Jungen gesehen hatte. „Hast du eigentlich vor, jemals diese Skibrille abzusetzen, Josh?“

„Eigentlich nicht.“ Sein Mund verzog sich zu einem provozierenden Lächeln.

Cole atmete hörbar aus. Er beobachtete, wie Josh sich bequemer hinsetzte und fragte sich, warum die Bewegungen des Jungen ihn so sehr aus der Fassung brachten.

„Rees, wenn Sie wollen, dass ich mich ausziehe, müssen Sie das sagen“, versetzte Josh in einem lässigen Tonfall. „Aber wäre es nicht höflicher, wenn Sie mir zuerst einen Drink spendieren?“

2. KAPITEL

Warum nur hatte sie nicht den Mund halten können. Mit ihrer Bemerkung hatte sie einen Mann herausgefordert, der seit seiner Jugend als Frauenheld galt. Der Satz stand nun zwischen ihnen – in einer schwindelnden Höhe von fünfzig Meter und ohne die Möglichkeit, schnell zu verschwinden.

Wollte man den Gerüchten Glauben schenken, wusste Cole Rees genau, wie er eine Frau umgarnen musste. Und wenn er wollte, konnte er jede Nacht eine andere haben, erzählte man sich. Coles Interesse allerdings länger als eine Nacht zu wecken, schien unmöglich zu sein.

Noch nie dagegen war ihr zu Ohren gekommen, dass Cole Rees eine Vorliebe für Männer hatte. Doch die Art, wie er sie nach ihren Worten ansah, den Blick über ihre Lippen schweifen ließ, ehe er schnell zur Seite sah, machte sie unsicher.

Was wäre schlimmer, fragte sie sich mit klopfendem Herzen.

Coles Zorn?

Oder seine Zustimmung zu ihrem unverblümten Angebot?

Noch während sie darüber nachdachte, schaute Cole sie erneut an, und der Ausdruck seiner eiskalten grünen Augen schien ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Verwirrt senkte Jolie den Blick, nahm ihre Füße von der Kiste und stellte sie ordentlich auf den Boden. Dann wappnete sie sich gegen seine Antwort.

„Tut mir leid, Junge“, sagte er schließlich barsch und so undeutlich, als habe er eine Ladung Nägel im Mund, „du bist nicht mein Typ.“

Eine lähmende, erstickende Stille senkte sich über sie.

„Wollen Sie das Funkgerät noch mal ausprobieren?“, schlug sie schließlich vor, um das Schweigen zu brechen.

Cole sandte einen Funkspruch, doch wieder meldete sich niemand.

Die darauffolgende Stille schien sich ewig hinzuziehen. Cole hatte die Hände tief in den Jackentaschen vergraben und sah auf seine Schuhe, sodass Jolie ihn unbemerkt betrachten konnte. Sein Gesicht war scharf geschnitten und ausgesprochen markant, der Schwung seiner Lippen versprach Sinnlichkeit und Humor.

Im Moment allerdings wirkte er nicht besonders gut gelaunt. Aber wenigstens hatte er aufgehört, Jolie wegen des Kartons auszufragen. Nun aber überlegte sie selbst, was von den Dingen, die sie eingepackt hatte, in den nächsten Stunden nützlich sein könnte. Die Fausthandschuhe aus der Kiste waren ihm sicher einige Nummern zu klein, aber die dünnen wasserfesten Handschuhe könnten passen. Sie hatte den Kräutertee ihrer Mutter mitgenommen und die Mandelkekse. Außerdem hatte sie in der Hütte noch einige Tüten gesalzene Erdnüsse gefunden und eingesteckt.

Und Kosmetikartikel wie Rachels Shampoo und entsprechende Haarkur, Feuchtigkeitscreme, die nach Jasmin und Sandelholz duftete, Haarbürsten. Nichts, was ein junger Mann normalerweise in einem Umzugskarton hatte.

Außerdem noch die Tagesdecke.

„Sie schimmert in unendlich vielen Tönen von Schwarz und Blau“, hatte ihre Mutter ihr voller Wärme vorgeschwärmt. „Sie sieht aus wie ein Gemälde von van Gogh, und sie ist unglaublich weich. Wenn man sich darauflegt, meint man, im Nachthimmel zu schweben.“

Jolie hatte nicht gefragt, wo diese Decke herkam, und Rachel hatte es nicht erzählt.

Ganz ohne Zweifel war es ein Geschenk ihres Geliebten gewesen.

Und vermutlich war es eines der wenigen Präsente gewesen, die Rachel von ihm angenommen hatte, denn sie hatte sich niemals von ihm aushalten lassen, auch wenn die Leute im Ort das immer wieder behaupteten.

Darüber hinaus war sie von ihnen hinter vorgehaltener Hand als Hure beschimpft worden.

Die nächsten zwanzig Minuten fühlten sich an wie Stunden. Das Wetter wurde noch schlechter, das Schneetreiben hatte sich verdichtet, der Sturm tobte jetzt mit äußerster Kraft. Höchste Zeit, endlich ins Tal zu kommen, doch die Chancen standen schlecht. Wenn Jolie ehrlich war, rechnete sie nicht mit einer Rettung vor morgen früh. Und selbst dann würde es für die Bergwacht schwierig sein, sich durch diese Massen von Neuschnee zu kämpfen, die selbst für ein Skigebiet ungewöhnlich waren.

Zum Glück war die Gondel einigermaßen geschützt, die umstehenden Bäume nahmen dem Wind seine letzte Schärfe. Die Kabine schwang zwar hin und her, doch das Risiko, dass sie abstürzte, schien Jolie recht gering. Die größte Gefahr stellte die eisige Kälte dar.

Um nicht erkannt zu werden, hatte Jolie unzählige Lagen warmer Kleidung übereinandergezogen, und dafür war sie jetzt dankbar. Cole aber trug noch seinen Anzug, den er für die Beerdigung angezogen hatte, und nur einen Wollmantel darüber.

Ohne ihn anzusehen, riss sie das Paketband von dem Pappkarton. Die Handschuhe mussten recht weit oben liegen, überlegte sie, die Tagesdecke hatte sie nach unten gepackt. Vielleicht würden sie auch die Decke irgendwann brauchen, aber noch nicht. Sie fischte die Handschuhe aus der Kiste und hielt sie Cole hin. „Probieren Sie sie an.“

Mit einem unergründlichen Blick sah er erst die Fäustlinge an, dann Jolie. „Gibt es auch welche in meiner Größe?“

„Nur dünne Fingerhandschuhe.“ Nach kurzer Suche hatte Jolie auch sie gefunden. „Vielleicht lassen sie sich dehnen.“

Obwohl sie zu klein waren, stülpte er die Fausthandschuhe halb über seine Finger. Ihm musste wirklich kalt sein, dachte Jolie. Dann probierte er die anderen, sie passten einigermaßen. Zufrieden nickte sie.

Cole verzog seinen Mund zu einem grimmigen Lächeln. „Was hast du sonst noch?“

„Kekse.“ Sie zog die Packung aus der Kiste. „Und Schokolade.“

Als er die edle Sorte sah, runzelte er die Stirn.

„Ein Abschiedsgeschenk“, beeilte sie sich zu erklären.

„Vielleicht findest du ja doch noch eine Flasche Scotch.“

Seine Stimme klang stählern und eiskalt.

„Ganz sicher nicht.“ In der Hütte waren mehrere Flaschen gewesen, doch sie machte sich nichts aus diesem harten Getränk und hatte sie stehen lassen. Was sie allerdings fand, war eine Flasche Champagner, eine von der Sorte, die gut und gern zweihundert Dollar kostete. Als sie aufsah, begegnete sie Coles misstrauischem Blick. Ihr fiel keine plausible Erklärung ein, warum der junge Mann, den sie darstellte, eine Flasche teuren Champagner in seinem Umzugskarton haben sollte. Schnell schob sie die Flasche wieder zurück in die Kiste und zog stattdessen die Kekse heraus. Wortlos öffnete sie die Packung, nahm sich einige und reichte den Rest Cole hinüber. Ebenfalls schweigend nahm er sie und aß ein paar, während Jolie versuchte, nicht darauf zu achten, wie sich seine Lippen bewegten und seine Gesichtszüge sich entspannten. Sein Haar war windzerzaust und sah aus, als komme er gerade aus dem Bett …

Es war keine gute Idee, darüber nachzudenken, wie Cole Rees eine schöne Frau im Bett verwöhnen mochte. Viel besser war es, woanders hinzusehen. Jetzt. Sofort.

„Möchtest du mehr?“ Noch immer war sein Ton ungehalten.

Aus den Gedanken gerissen, sah Jolie ihn erschrocken an. Er hielt ihr die Kekse hin. „Nein, danke.“

„Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?“

„Zum Lunch. Und Sie?“ Ihr war aufgefallen, dass er die Kekse ziemlich schnell aufgegessen hatte.

„Gestern.“

Wunderbar, ein zorniger, hungriger Cole Rees. „Nehmen Sie noch“, bot sie an.

Er zog noch zwei aus der Packung, schob dann die Hülle wieder darüber und steckte die restlichen Kekse zurück in den Umzugskarton. Dabei entdeckte er die Kosmetikartikel, den Kräutertee und viele andere Kleinigkeiten, die so gar nicht zu einem Mann passten. Doch er sagte kein Wort.

Der Wind heulte um die Seilbahn, schüttelte die Gondel hin und her und ließ das Kabel knirschen.

„Ist Ihnen kalt?“, erkundigte sich Jolie.

„Ein bisschen.“ Mit dem Mantelärmel wischte er die beschlagene Scheibe trocken und sah hinaus. „Und dir?“

„Nein.“ Breitbeinig wie ein Junge saß sie da und zog ihr Handy aus der Tasche, um nachzusehen, wie spät es war. Zwanzig nach fünf. Draußen war es einigermaßen hell. Noch.

Plötzlich zerriss ein Krachen die Stille, das ihnen bis ins Mark fuhr.

„Was war das?“, fragte sie aufgeregt und sprang auf. „Können Sie was sehen?“

„Noch nicht“, gab er zurück und wischte die rückwärtige Scheibe trocken, um bergauf zu schauen.

„Vielleicht ist ein Baum umge…“

Wieder hörten sie das Grollen, es schien direkt aus dem Berg zu kommen. Die Gondel schaukelte, die Kiste kippte um, lose Teeblätter ergossen sich auf dem Boden, die Champagnerflasche rollte heraus.

Jolie nahm die Flasche und steckte sie zurück in den Karton, als Cole auf einmal nach ihrem Arm griff und sie zu sich zog. Entsetzt zeigte er nach oben. Und jetzt sah Jolie es auch. Eine große Eisplatte löste sich immer weiter aus dem Abhang. Gleich würde sie als Lawine ins Tal rasen.

„Zum Glück zieht sie an uns vorbei“, sagte er atemlos.

Jolie folgte seinem Blick und sah, dass er recht hatte. Dennoch ergriff sie Furcht. Sie spürte, dass Cole direkt hinter ihr stand, obwohl er sie nicht berührte. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geschmiegt.

„Sieh es dir an“, meinte er mit rauer Stimme.

„Nein, danke.“

„So etwas wirst du nie wieder sehen – zumindest nicht aus dieser Perspektive.“

„Hoffentlich nicht“, konterte sie, doch tatsächlich schaute sie wieder hin und sah, wie die Natur sich Bahn brach. Atemlos beobachtete sie, wie unter ihnen die Erde bebte, Schnee und Steinmassen in Bewegung gerieten und alles mitrissen, was ihnen im Weg stand. Der Untergrund war aufgewühlt, er schien zu kochen, zu brodeln. Erschüttert sah sie Cole an.

Er lachte.

Und sie schwor sich, dass sie mit diesem Mann nie wieder etwas zu tun haben wollte, sobald sie endlich aus der Gondel befreit waren.

Doch das konnte Tage dauern.

Ohne Cole eines Blickes zu würdigen, zog Jolie den Champagner aus dem Karton, löste gekonnt den Korken – schließlich hatte sie jahrelang in der Bar ausgeholfen – ließ die Kohlensäure aufsprudeln und setzte sich die Flasche an den Mund.

„Das ist auch eine Art, Champagner zu trinken“, bemerkte Cole trocken, ehe er sich neben sie setzte und ihr einfach die Flasche aus der Hand nahm.

„Und sie funktioniert hervorragend“, gab Jolie zurück. Sie beobachtete, wie sein Adamsapfel sich hob und senkte, während er trank. Obwohl sie gerade einen großen Schluck genommen hatte, war ihr Mund auf einmal wie ausgetrocknet.

Besorgt sah Cole sie an. „Dir scheint heiß zu sein. Es ist nicht gut, dann auch noch Alkohol zu trinken“, meinte er freundlicher, als sie erwartet hätte.

„Mir ist nicht heiß, ich habe einen Riesenschrecken bekommen. Und dagegen hilft Alkohol sehr gut“, widersprach sie.

„Das ist wahr“, gab er zu und reichte ihr die Flasche. „Du argumentierst wie ein Mädchen. Und du trinkst auch wie
eines.“

Jolie hielt in der Bewegung inne, schwankend, ob sie die Flasche nehmen und seine Vermutung bestätigen sollte – oder die Flasche nicht nehmen und so ebenfalls seine Vermutung bestätigen würde. Letztendlich griff sie nach dem Champagner und trank. Zur Hölle mit der Verkleidung. Im Angesicht des Todes zählten andere Dinge.

„Weißt du, ich behaupte nicht, wir seien in einer idealen Lage, aber ich denke, im Moment sind wir sicher“, beruhigte er sie, lehnte sich vor und nahm die Flasche erneut. „Wir haben ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen.“ Dann trat der unverschämte Ausdruck wieder in seine Augen. „Außerdem einen ausgezeichneten Champagner.“ Er wurde wieder ernst. „Und Telefone, die sofort funktionieren werden, sobald das Unwetter sich verzogen hat. Wir sind noch nicht weit von der Bergstation entfernt, sie werden uns schnell finden.“

Vielleicht hatte er recht. Wenn sie ruhig blieben, sich wärmten und nicht die Nerven verloren, konnten sie es schaffen.

„Hey“, sagte er sanft und sah sie an.

Ihre Brillengläser waren beschlagen. Oder waren es Tränen?

„Mädchen – du bist ein Mädchen, so viel ist klar – du musst keine Angst haben. Es wird alles gut gehen.“

Jolie wusste zu schätzen, dass er sie trösten wollte.

Doch als sie den Blick hob, um ihn anzusehen, erstarrte sie.

Der Berg hatte wieder begonnen, sich zu bewegen. Und der Wind drückte die Gondel genau in die Richtung der Lawine.

„Runter!“, befahl Cole.

Die Gondel erbebte, der Boden schien ihnen entgegenzukommen, sie verloren die Orientierung. Jolie spürte Coles Arme um ihren Körper. Schützend hielt er sie fest. Schwer atmend vergrub sie ihren Kopf an seiner Brust. Er roch gut. Trotz der Panik nahm sie seinen Duft wahr.

„Keine Angst“, murmelte er.

Es war ein schwacher Trost, dass sie recht gehabt hatte damit, das Schlimmste zu befürchten.

Auf einmal wurde es dunkel um sie, die Schneemassen schienen die Gondel verschüttet zu haben.

Als Jolie wieder zu sich kam, spürte sie sofort den Schmerz. Nach und nach kam die Erinnerung zurück, was geschehen war. Die Gondel, die plötzlich mitgerissen worden war. Die Lawine. Cole Rees, neben ihr auf dem Boden. Sie streckte die Hand aus. Er war eiskalt, aber er atmete. Jolie sah sich um. Die Fenster der Gondel waren zerschmettert, sie waren fast vollständig begraben unter dem Schnee. Lockerem Schnee. Nicht fest und unüberwindlich wie in einer Lawine, in der sie rettungslos verloren gewesen wären.

Vorsichtig bewegte Jolie Arme und Beine, dankbar, dass Cole und ihr nicht mehr passiert war.

Prüfend sah sie ihn an. Sein Gesicht war totenblass, abgesehen von dem Blut, das aus einer Schnittwunde an seiner Stirn floss und den Schnee rot färbte. Sie zog einen Handschuh aus und legte ihre Hand an seine Wange. Die Haut fühlte sich eiskalt an.

Ohne nachzudenken, riss sie sich die Schaffellmütze ab und setzte sie ihm auf den Kopf. Dann hielt sie ihre Handflächen an seine Wangen, um ihn zu wärmen.

„Cole, wach auf.“ Angestrengt öffnete er die Augen. Sein Blick war glasig. „Cole, sieh mich an.“

Er versuchte es, doch er konnte ihren Blick nicht halten.

„Konzentriere dich, bitte.“

„Ich habe dir doch gesagt, es geht alles gut“, murmelte er, dann verlor er wieder das Bewusstsein.

„Nein. Cole. Wach auf. Wir müssen hier raus.“

„Gut“, flüsterte er. „Geh.“ Mit schmerzverzerrter Miene griff er an seinen Kopf. „Ich bleibe hier.“

„Hier wirst du sterben. Cole, hör zu. Du musst aufstehen. In der Gondel sind wir nicht mehr sicher. Wir müssen gehen.“

„Wohin?“

Eine gute Frage – auf die sie keine Antwort hatte. „Ich denke … gut, ich denke, wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder bleiben wir hier in den Überresten der Gondel, oder …“ Sie zögerte kurz. „Wenn du klettern kannst, könnten wir versuchen, irgendwie zur Bergstation zurückzukommen. Schau mal.“

Er folgte ihrem Blick und sah, was sie meinte. Das Kabel konnte ihnen in diesem undurchdringlichen Weiß als Wegweiser dienen.

„Hier sollten wir nicht bleiben, finde ich“, fügte sie ängstlich hinzu. „Jedenfalls nicht, wenn du dich einigermaßen bewegen kannst. Was meinst du?“

Keinem von ihnen war aufgefallen, dass Jolie zum Du übergewechselt war. In dieser Notsituation hätte es nur lächerlich geklungen, Cole weiterhin höflich zu siezen.

„Lass es uns versuchen“, sagte Cole nach einer langen Pause, und erleichtert half sie ihm sofort, sich aufzusetzen. Vorsichtig stand er auf, und so begannen sie, Schritt für Schritt, ihren Aufstieg.

Langsam stapfte Jolie hinter Cole durch den hohen, weichen Schnee. Jedes Mal, wenn er ausrutschte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder aufrichtete, hielt sie den Atem an. Denn ihr war klar, dass sie ihn nicht würde tragen können, wenn er schlappmachte. Er musste es schaffen, um jeden Preis.

„Weißt du, was ich hasse“, begann sie, als er wieder im Schnee gestürzt war und sie befürchtete, er werde aufgeben, „Menschen, die alles auf dem Silbertablett serviert bekommen und bei der kleinsten Schwierigkeit aufgeben.“

„Ach ja?“

„Ja.“ Sie reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, und spürte, dass er nur widerstrebend zugriff. „Und weißt du, was ich noch hasse?“, fuhr sie fort. „Männer, die glauben, sie könnten alles haben. Die glauben, sie hätten das Glück gepachtet, und jedes Problem persönlich nehmen.“

„Kann es sein, dass du eine Menge Hass in dir trägst?“

„Und du? Was nervt dich am meisten?“, fragte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

„Ich hasse hinterhältige, intrigante Frauen“, versetzte er.

„Ich auch“, bestätigte sie mit Inbrunst.

„Gibt es eigentlich einen Grund dafür, dass du gekleidet bist wie ein Junge? Willst du aussehen wie einer?“

„Nö“, gab sie zögernd zurück.

„Warum dann? Hast du zehn Brüder, deren Kleidung du auftragen musst?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Also, weshalb dann die Verkleidung?“

„Gewohnheit“, erklärte sie kurzum.

Lange gingen sie schweigend weiter, konzentriert darauf, die nächsten fünfzig Meter zu schaffen. Noch immer schneite es, und der Sturm zerrte an ihren Jacken. Jolie war es warm genug, doch sie bezweifelte, dass auch Cole dick genug gekleidet war. Plötzlich stürzte er wieder. Der Schnee unter seinem Kopf färbte sich in Sekundenschnelle rot.

„Cole!“ Sie sank neben ihm auf die Knie. Sein Gesicht war weiß wie der Schnee, die Lippen blau gefroren. Er hielt die Augen geschlossen und atmete flach. „Cole, wach auf. Wir sind schon fast am Ziel. Rede mit mir.“

„Einmal habe ich sie zusammen gesehen“, murmelte er mit flatternden Lidern. „Sie waren einkaufen.“

„Wer?“ Sie nahm seinen Arm und versuchte, ihm aufzuhelfen. „Wen hast du gesehen?“

„Rachel und Jolie Tanner. Und meinen Vater.“

„Vielleicht ist er nur zufällig neben ihnen hergegangen.“ Es war ihr gelungen, ihn auf die Beine zu hieven. Sein Kopf lag an ihrer Schulter, das Blut rann über ihre Wange.

„Kennst du sie?“

„Ja, ich habe sie ein paar Mal gesehen“, antwortete Jolie ausweichend.

„Dann weißt du es.“

„Was?“ Als Jolie sah, dass er einigermaßen sicher stand, ging sie voraus und versuchte, einen Weg im Schnee freizukämpfen, um ihm das Gehen zu erleichtern. „Dass sie billige Schlampen sind, wie man im Ort behauptet?“

„Dass sie wunderschön sind.“

Das hatte sie nicht erwartet. Verwirrt drehte sie sich nach ihm um, doch er richtete den Blick auf das unendliche Weiß zu seinen Füßen.

„Aber sie sind auch unerträglich arrogant.“

„Vielleicht wirken sie nur so, es kann einfach ein Schutzmechanismus sein.“

„Es macht einen auf jeden Fall verrückt.“

Jolie würdigte seine Bemerkung mit keinem Wort.

„Zwölf Jahre lang hat Rachel Tanner meinen Vater ausgenutzt. Obwohl sie wusste, dass er Familie hatte. Verpflichtungen. Aber das interessierte sie nicht.“

„Hätte es nicht vielmehr ihn interessieren müssen?“, hielt sie dagegen.

„Er war ein vorbildlicher Vater“, widersprach Cole.

„Klar“, sagte sie spöttisch. „Nur nicht ganz so vorbildlich, dass er seiner Frau treu geblieben wäre.“...

Autor

Lilian Darcy
<p>Die Australierin Lilian Darcy hat einen abwechslungsreichen Weg hinter sich. Sie studierte Russisch, Französisch und Sprachwissenschaften und ging nach ihrem Abschluss als Kindermädchen in die französischen Alpen. Es folgten diverse Engagements am Theater, sowohl auf der Bühne als auch als Drehbuchautorin. Später hat Lilian Darcy als Lehrerin für Französisch und...
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Lilli Wiemers
<p>Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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