Romana Weekend Band 32

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WIE EIN LICHT IN DUNKLER WINTERNACHT von ANNA KELLER

Der verschneite Schwarzwald und der Christbaumverkauf auf dem Familienanwesen mahnen Theodor von Waldersleben an seine größte Schuld. Doch die bezaubernde Mia überwindet mit zarten Küssen die Mauer, die er um sein kaltes Herz errichtet hat. Aber eine gemeinsame Zukunft ist unmöglich …

EIN HELD ZU WEIHNACHTEN von MERLINE LOVELACE

Attraktiv, sexy, gefährlich! Mit dem Sicherheitsexperten Joe wollte Callie ein leidenschaftliches Abenteuer erleben – doch plötzlich will er mit ihr eine Familie gründen. Aber Callie ist noch nicht bereit, sich zu binden …

SCHNEEFLOCKEN UND SANFTE KÜSSE von MARION LENNOX

Lord Angus hat ein Problem: Über Weihnachten kommen überraschend seine Geschwister nach Schottland. Daher sucht er dringend jemanden, der seinem maroden Schloss festlichen Glanz verleiht – und findet die hübsche Holly. Wie ein heller Stern tritt sie in sein bisher so düsteres Leben …


  • Erscheinungstag 22.11.2025
  • Bandnummer 32
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533294
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anna Keller, Merline Lovelace, Marion Lennox

ROMANA WEEKEND BAND 32

Anna Keller

1. KAPITEL

Mia umwickelte den Strauß aus zarten rosafarbenen Rosen und dunkelgrünem Efeu mit einem feinen Silberdraht und reichte ihn der jungen Frau. „Gefällt er Ihnen so?“

„Danke, er ist herrlich! Meine Mutter wird sich freuen. Es gibt in ganz Berlin keinen besseren Blumenladen als Ihren!“, antwortete die junge Frau, die ungefähr in ihrem Alter sein musste.

Mia lächelte die Kundin an. „Vielen Dank, ich gebe mir Mühe“, antwortete sie und nahm das Geld für die Blumen entgegen.

Tatsächlich gab Mia sich nicht nur Mühe, sie hatte ein geradezu magisches Talent dafür, wunderschöne Sträuße und Gestecke zu zaubern, wie ihre Kunden sie immer wieder wissen ließen. Allein ihre kunstvoll arrangierten Adventskränze waren äußerst beliebt, und sie schaffte es kaum, die Liste der Bestellungen abzuarbeiten, die jetzt, so kurz vor Weihnachten, täglich eingingen.

Gerade wollte Mia sich daran machen, einige Zweige und Blumen, die in kleinen und großen Zinkeimern überall im Laden arrangiert waren, für einen neuen Auftrag zusammenzusuchen, als wieder die Türglocke läutete. Dieses Mal war es kein neuer Kunde, sondern ihre Chefin Claudia, die zwei Becher Milchkaffee in den Händen hielt.

„Hier ein kleines Bestechungsgeschenk, damit du mir noch ein paar Adventskränze für die andere Filiale mitgibst“, sagte Claudia lächelnd. Sie arbeitete in dem zweiten Geschäft ein paar Straßen weiter.

Mia nahm das heiße Getränk dankbar entgegen. Der kleine Laden war hübsch, aber leider auch sehr zugig. Kein Wunder, bei einem Altbau mitten in einem der beliebtesten Viertel in Berlin. Hier liefen täglich Tausende an den großen Fensterfronten vorbei. Die meisten kannten zwar den kleinen Laden und viele der Stammkunden kamen auch gerne auf einen kleinen Schwatz hinein, aber über eine flüchtige Bekanntschaft ging kein Kontakt hinaus. Ganz anders als in Waldbach, in dem kleinen Dorf im Norden des Schwarzwaldes eine gute Stunde von der französischen Grenze entfernt, aus dem sie stammte. Jeder, der über die jahrhundertealte Holzbrücke in den Ortskern schritt, gelangte in eine andere Welt. In dem wildromantischen Örtchen mitten im Murgtal nahmen die Menschen immer noch am Schicksal der anderen Anteil, auch wenn manches Familiengeheimnis nur hinter vorgehaltener Hand weitergetragen wurde. Und Mia wusste, dass sie in ihrem Heimatdorf nicht nur wegen ihres auffälligen Äußeren neugierige Blicke auf sich zog. Keine Frage, auch in Berlin drehten sich die Leute nach ihrer üppigen roten Lockenmähne und den langen Beinen um. Aber hier genoss sie Bewunderung und kein Mitleid, so wie in Waldbach. Hier konnte sie an den meisten Tagen verdrängen, dass sie selbst kaum etwas über ihre Herkunft und ihre Familie wusste.

„Einen Kaffee kann ich jetzt gut gebrauchen. Dafür bekommst du gerne die Adventskränze, die ich gerade fertig gemacht habe“, antwortete Mia und zeigte auf die fünf Kränze mit weißen Kerzen auf dem alten Holztisch im hinteren Teil des Ladens. Ein Hauch Kunstschnee schmückte das Tannengrün, als hätte eine Winterfee kurz darüber gepustet. Mias Kunstwerke sahen märchenhaft aus, aber nie kitschig.

„Wunderbar“, antwortete Claudia und trank selbst einen Schluck. Claudia war Mitte fünfzig und durch die tägliche Arbeit mit den Blumen waren ihre Hände rau geworden. Die Falten um ihre Augen herum zeugten davon, dass es nicht immer einfach war, ein eigenes Geschäft zu führen. Umso dankbarer war sie, dass sie mit Mia eine wirklich tüchtige Hilfe hatte.

„Und Mia, bist du sicher, dass du über die Feiertage arbeiten möchtest? Du kannst Weihnachten gerne freinehmen. Ich bekomme das schon alleine hin“, sagte Claudia. Nur eine leise Unsicherheit in ihrer Stimme verriet, dass sie erleichtert wäre, wenn Mia sie in dem Weihnachtstrubel unterstützen würde.

Mia seufzte. Sie war froh, wenn sie Weihnachten keine Zeit zum Grübeln hatte. Sonst müsste sie daran denken, dass sie sich ausgerechnet am Fest der Liebe so sehr mit Eleonore gestritten hatte, dass es ihr schwer fiel, ihre alte Heimat wieder zu besuchen. Für Touristen mochte Waldbach ja schön sein, aber Mia fühlte sich dort nur daran erinnert, dass sie nach dem Zerwürfnis mit Eleonore den einzigen Menschen auf der Welt verloren hatte, der ihr Halt gab.

Früher hatte sie immer geglaubt, das Getuschel der Leute wäre schon Grund genug, endlich in die anonyme Großstadt zu fliehen. Egal, wo sie als Kind hingegangen war, die Frauen fingen hinter ihrem Rücken an zu tuscheln, manche Kinder zeigten sogar mit dem Finger auf sie. Und Heiligabend in der Kirche starrten sie alle immer so an, als wäre sie das Christkind und der Nikolaus in einer Person. Das alles war egal gewesen, solange Eleonore ihr Fels in der Brandung gewesen war.

Mit siebzehn Jahren hatte Mia sich die roten Locken abschneiden lassen und eine Baskenmütze aufgesetzt, aber dennoch hatte sie jeder erkannt. In dem kleinen Dorf wusste jeder, wer sie war, aber niemand wusste, wo sie herkam. Zumindest hatte sie das geglaubt.

Als sie noch ein Kind war, wäre sie jedem, der ihr ähnlich sah, am liebsten hinterhergerannt, um zu fragen, ob er oder sie vielleicht ein verlorener Elternteil war. Einmal hatte sie es sogar getan. Eleonore hatte daraufhin die Hände in die Hüfte gestemmt und gesagt: „Ich bin deine Mutter und damit basta! Du warst mein ganz persönliches Weihnachtsgeschenk, als ich am Heiligabend die Kirche aufschließen wollte und du in einem Körbchen auf der Treppe lagst! Und glaube mir, hätte sich deine leibliche Mutter um dich kümmern können, hätte sie es getan! Es wird einen guten Grund geben, warum sie dich in andere Hände gegeben hat!“

Die resolute Eleonore war die Küsterin der jahrhundertealten Kirche am Ort. Das Gebäude verriet durch seine barocke Gestaltung, dass es einen sehr reichen Spender gegeben haben musste. Einer der Vorfahren der Familie von Waldersleben, der den aufwendig geschnitzten Altar gestiftet hatte, wurde nicht umsonst der Holzbaron genannt. Wie viele tüchtige Menschen im Schwarzwald hatten die von Walderslebens sich ein Vermögen dadurch aufgebaut, Holz zu schlagen und auf dem Rhein nach Köln oder Holland zu verschiffen, von wo aus es in die halbe Welt transportiert wurde. Eleonore hatte Mia einmal verraten, dass der einstige Reichtum längst Vergangenheit war, doch ihr persönlich bedeutete Luxus ohnehin nichts. Sie wohnte noch immer in dem heimeligen Fachwerkhäuschen direkt am Waldrand mit Blick auf das Gut derer von Waldersleben. Wie gerne hatte Mia als junges Mädchen an dem Fluss und im Wald gespielt. Und wie oft hatte sie den Schatzhauser, den Zwerg aus Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“, dort zwischen den Tannen gesucht, damit er ihr drei Wünsche erfüllte. Schließlich war doch auch sie nicht nur ein Weihnachts-, sondern sogar ein Sonntagskind!

„Du hast doch alles, was du brauchst“, hatte ihre Ziehmutter Eleonore immer gesagt, wenn Mia sie nach Hinweisen auf das Männlein ausfragte. Dabei wollte Mia doch kein Gold, sondern nur wissen, wer ihre Eltern waren. Und dazu hätte sie gar nicht das Männlein im Walde finden müssen …

Mia schob diesen Grübeleien einen Riegel vor und wandte sich wieder an ihre Chefin: „Ich denke, meine Mutter wird Verständnis haben, wenn ich dieses Jahr erst an Silvester komme. Sieben Stunden Fahrt sind ja mitten im Weihnachtsverkehrschaos auch viel verlangt.“ In Wahrheit wäre Mia einfach froh, wenn sie eine Ausrede hätte, Weihnachten und auch Silvester nicht nach Hause fahren zu müssen. Seit ihrem Streit hatten Leonore und sie immer nur kurz und knapp telefoniert, und das auch nur selten.

Traurig betrachtete Mia die Kirschbaumzweige in dem Zinkeimer vor ihr, die nur deswegen mitten im Winter blühten, weil sie jemand ins Warme gestellt hatte. Und zwar schon lange vor dem Barbaratag, an dem Menschen auf der ganzen Welt Kirschbaumzweige in Vasen ins Haus holten, um sich schon Weihnachten an Frühlingsblüten zu erfreuen. Das hatte sie als Kind auch immer gemacht, und da sie keinen eigenen Kirschbaum im Garten hatten, war sie immer zur Obstwiese ihrer Nachbarn gestapft. Die hatten ein herrschaftliches Forsthaus, gegen das ihr Häuschen wie eine mickrige Hütte wirkte. Einmal hatte sie der Sohn der Familie sogar erwischt, wie sie ein paar Zweige abbrach, doch statt sie zu verpetzen, hatte er mit ihr geplaudert und war dann mit dem großen Hund weiter durch den Schnee spaziert.

„Wie verbringst du Weihnachten denn?“, riss Claudia sie erneut aus den Gedanken.

„Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich mit einer Freundin, die auch Single ist“, antwortete Mia leise.

„Merkst du eigentlich gar nicht, dass jeder Mann dir hinterherschaut? Du machst unseren wunderschönen Blumen schon Konkurrenz!“, lachte Claudia und blickte Mia beinahe mütterlich an. Claudia hatte selbst zwei fast erwachsene Töchter, um die sie sich trotz all der Arbeit rührend kümmerte.

„Der Richtige hat mir bist jetzt jedenfalls noch nicht hinterhergeschaut“, versuchte Mia gut gelaunt zu antworten, obwohl ihr die Einsamkeit in ihrer kleinen Altbauwohnung vor allem an Feiertagen immer zu schaffen machte. Aber das war immer noch besser, als enttäuscht zu werden. Jetzt war sie zwar zu alt, um einfach in einem Körbchen vor die Tür gestellt zu werden, aber tief im Inneren hatte sie eine riesengroße Angst, wieder verlassen zu werden.

Manchmal wäre ein Herz aus Stein, wie es der Kohlenmunk-Peter aus dem Märchen „Das kalte Herz“ bis zu seiner Erlösung gehabt hatte, ganz praktisch. Ein Herz aus Stein würde nicht so wehtun, wenn sie an all die wunderschönen Weihnachten mit Eleonore dachte, bis sie sich im letzten Jahr so gestritten hatten. Wie sehr würde sie es vermissen, mit Eleonore die Krippe aufzubauen und das Jesuskind erst nach der Christmette zwischen Maria und Josef zu platzieren. Wie sehr würde es ihr fehlen, in Eleonores leuchtende Augen zu sehen, wenn sie gemeinsam „Stille Nacht, heilige Nacht“ sangen. Wie schmerzlich würde es sein, nicht mit Eleonore gemeinsam den würzigen Glühwein nach der saftigen Ente zu genießen und dabei aus dem Fenster zu schauen und die Schneeflocken zu beobachten, die im Licht der Gartenlaterne tanzten. Doch all dem stand ihr Stolz im Weg. Sie brachte es einfach nicht über sich, den ersten Schritt zu tun und Eleonore zu verzeihen.

In diesem Moment kamen drei japanische Touristinnen herein und fragten in perfektem Englisch nach einem Strauß für ihre Gastgeber. Mia war froh über die Ablenkung. So musste sie nicht weiter darüber nachdenken, wie sie das Eis in ihrem Herzen zum Schmelzen bringen sollte.

Theodor marschierte mit seinem Hund Brutus, einem jungen Weimaraner, durch den Tannenwald und schaute sich an, welche Stämme bald gefällt werden konnten. Seinen Land Rover hatte er am Rand der Straße geparkt, die durch den Wald führte, damit er genau wie seine Vorfahren die langen, dicken Stämme transportieren konnte. Früher waren es Pferde gewesen, die die Last zogen, heute war es der Langholz-Lkw, für den Theodor schon früh den Führerschein gemacht hatte. Links und rechts von ihm standen die Tannen so dicht beieinander wie Wände in einem düsteren Zimmer. Und sie reckten sich so kerzengerade nach oben, als wollten sie mit ihren Spitzen den Himmel berühren. Theodor markierte die reifen Stämme mit einem orangefarbenen Spray. Sie hatten wirklich gute Kunden, aber in letzter Zeit wurde es immer schwieriger, das Gutshaus und vor allem den Lebensstandard seiner Eltern zu halten.

Bevor er die Leitung des Forstbetriebs übernommen hatte, hatten sie so tief in den Schulden gesteckt, dass er kaum etwas zur Seite hatte legen können. Außerdem hatte der Umbau des Flügels seiner Eltern, der nach dem Unfall seines Vaters nötig wurde, viel Geld verschlungen. Alles, was jetzt nicht mehr dringend notwendig war, musste Theodor auf die lange Bank schieben. Dabei musste das Dach neu gedeckt werden. Auch die Fassade bröckelte schon an manchen Stellen. Und die Heizung war so veraltet, dass es ein Vermögen kostete, die großen Räume im Winter zu heizen. Kein Wunder, dass sie meist nur den Kamin im Wohnzimmer anzündeten und ansonsten in allen Zimmern die Heizung herunterdrehten.

Früher hatte die Familie von Waldersleben dreimal so viele Hausangestellte beschäftigt wie jetzt. Darauf hatte seine Mutter bestanden. Schließlich wollte sie standesgemäß leben. Niedere Arbeiten in Haus und Garten waren etwas für andere. Aber diese Überzeugung war nicht der Grund, warum Theodor weder der Haushälterin Clara noch den Waldarbeitern kündigte. Er brachte es einfach nicht über das Herz, diese Leute vor die Tür zu setzen. Clara wohnte sogar in einem der Zimmer, das ohnehin leer stand.

Und sein Vater? Nun, der konnte nur noch die Buchhaltung und den Schriftverkehr erledigen. Oft saß er stundenlang in der hauseigenen Bibliothek an dem schweren Eichenschreibtisch. Dann schien er zu vergessen, dass er im Rollstuhl saß …

Theodor blieb stehen und lauschte einem Kauz, der in den Baumwipfeln über ihm sein „Kewok, Kewok“ trällerte. Brutus stellte den Schwanz auf und reckte den Kopf. Theodor liebte den Wald. Er tröstete ihn oft darüber hinweg, dass er sich eigentlich ein ganz anderes Leben gewünscht hatte. Eines, in dem er rund um die Welt reiste und die Menschen als Konzertpianist mit seinem Klavierspiel beglückte. Doch so, wie die Dinge sich entwickelt hatten, war er es seinen Eltern schuldig, sich um den Forstbetrieb zu kümmern.

Artgerecht aufgewachsene Wildschweine zu jagen, um das Fleisch zu verkaufen, und sich um den Holzvertrieb zu kümmern, machte ihm sogar Freude. Aber die Tradition rund um die Weihnachtszeit, in der Menschen aus der ganzen Region zum Gut Waldersleben kamen, war ihm verhasst. All der Budenzauber, mitsamt Punschständen, Feuerschalen und Weihnachtsbaumverkauf, kam ihm so verlogen vor. Leider konnten sie auf die Einnahmen nicht verzichten. Der „Weihnachtszauber im Wald“ war eine Tradition, und doch zählte Theodor jedes Jahr ab Ende Oktober die Tage, wann dieser erzwungene Winterweihnachtswahnsinn endlich wieder vorbei sein würde.

Grimmig dachte er an die Familienväter, die voller Stolz einen Weihnachtsbaum für die Familie schlugen. Manche lächelten ihre Frauen sogar an, als wären sie frisch verliebt und als hörten sie das Gequengel der gemeinsamen verwöhnten Blagen gar nicht, die sich spätestens nach einer halben Stunde beschwerten, dass es hier im Wald kein WLAN gab.

Theodor selbst verspürte absolut keinen Heiratswunsch. Er sah doch bei seinen Eltern, dass es viel mehr darum ging, einen Wirtschaftsbetrieb aufrechtzuerhalten, als sich mit Leidenschaft zu lieben. Hätten seine Eltern wenigstens ein paar mehr Kinder gezeugt als ihn, dann würde jetzt vielleicht ein Bruder ihm etwas von der Last von den Schultern nehmen. Aber so war er ganz alleine dafür verantwortlich, dass der Familienbesitz erhalten blieb.

Und es war klar, dass er eine Frau aus adeligen Kreisen heiraten musste. Wohlgemerkt aus einer wohlhabenden Familie. Das Herz sollte sich in der Familie von Waldersleben von der Vernunft leiten lassen. „Glaube mir, mein Sohn, Verliebtheit verschwindet. Also sollte man nach wichtigeren Kriterien auswählen“, sagte sein Vater immer wieder.

Theodor zog seine goldene Taschenuhr, ein Erbstück seines Großvaters, aus der Hemdtasche seines Holzfällerhemdes, das er unter der offenen Lodenjacke trug. Es wurde Zeit, sich auf den Rückweg zu machen! In einer halben Stunde sollte er zum Tee bei seiner Mutter sein. Theodor lächelte in sich hinein. Irgendwann würde sie aufgeben, ihn zu verkuppeln. Er glaubte zwar nicht an die große Liebe, aber dennoch würde er nicht irgendeines dieser superreichen Mädchen aus besserem Hause heiraten, nur um den Familienbesitz zu sichern. Sollten seine Eltern doch lieber das Tafelsilber als ihren Sohn verkaufen! Vielleicht würde er auch eines Tages eine Frau treffen, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen könnte, aber jetzt wollte er sich den Rest Freiheit, den er noch besaß, nicht nehmen lassen.

„Komm, Brutus, ab nach Hause. Schauen wir mal, welche Prinzessin mir heute präsentiert wird!“, sagte er zu dem Jagdhund, der sich sofort in Richtung Gutshaus in Bewegung setzte.

Das alte Forsthaus war in einer klassischen Hufeisen-Form angelegt. In der Mitte zog der Haupteingang mit einer reich verzierten Tür die Blicke auf sich. Rechts und links ging jeweils ein breiter Flügel ab. Auch wenn die Fassade, die einst korallrot geleuchtet hatte, mittlerweile verblasst war, stach das früher so prächtige Gebäude inmitten des verschneiten Waldes immer noch heraus.

Als sie dem Anwesen näher kamen, riss Brutus sich plötzlich los und jagte ein graues Fellknäuel quer über den Hof. Recht hat er, dachte Theodor, der den frechen Kater auch nicht leiden konnte. Das Einzige, was er an dem miesepetrigen Tier mochte, war sein Name: Grinch. Ein Weihnachtshasser, genau wie er selbst.

Agathe von Mosbach sei nicht nur gebildet und recht hübsch, sondern ihre Eltern auch so wohlhabend, dass Agathe auf einer der besten Privatuniversitäten Amerikas studieren konnte, hatten seine Eltern ihm vorgeschwärmt. Als wenn diese Agathe mit ihrem Harvard-Abschluss Lust auf einen Waldschrat hätte, dachte Theodor und war froh, dass er seinen Bart schon seit Wochen nicht mehr gestutzt hatte. Und Zeit, sich jetzt noch in Schale zu werfen, hatte er auch nicht mehr. Er marschierte einfach durch den Wald und über die Wiese auf den Gutshof zu und zog nur aus Rücksicht auf die Haushälterin die erdverklumpten Stiefel vor dem Eingang aus. Auch Brutus klopfte er einmal ab und lief dann direkt in den Salon, in dem der Kamin prasselte und der ausladende Biedermeiertisch mit dem feinsten Porzellan gedeckt war.

Dort erwarteten ihn bereits seine Mutter Gertrude, sein Vater Konstantin sowie eine Frau ungefähr im Alter seiner Eltern mit kleinen Löckchen und einer sauertöpfischen Miene. Aber da saß auch eine wirklich hübsche junge Frau in einem schicken Kostüm und mit einem charmanten Lächeln. Ob es ein Fehler gewesen war, dass Theodor die Waldklamotten nicht gegen einen feinen Zwirn getauscht hatte? Andererseits, wenn diese Frau wirklich infrage kam, musste sie ihn so nehmen, wie er war. Clara, das Hausmädchen, kam gerade mit einem Silbertablett voller erlesener Törtchen herein, die sie garantiert beim Konditor im Dorf gekauft hatte, um kein Risiko einzugehen. Clara war selbst schon fast sechzig Jahre alt und dennoch sprachen alle von ihr als Hausmädchen.

Theodor schaute in die Runde und wollte sich gerade vorstellen, als er in das zu Eis erstarrte Gesicht seiner Mutter schaute. Die junge Frau – Agathe? – lächelte, und ihre Mutter räusperte sich empört.

„Also wenn das mein Haus wäre, würde ich es mir nicht bieten lassen, dass das Personal ohne anzuklopfen in den Salon stürmt. Selbst wenn es sich dabei um jemanden aus der Försterschaft handelt. Der Wald brennt doch nicht etwa, junger Herr, oder? Ihr Hund legt ja im Gegensatz zu Ihnen eine vorbildliche Haltung an den Tag“, sagte sie verächtlich.

Tatsächlich saß Brutus mit geradezu aristokratischer Eleganz auf den Hinterbeinen, eine Pfote wie zum Gruß gehoben.

„Entschuldigen Sie, meine Dame. Sicher liegt das daran, dass Brutus einen erstklassigen Stammbaum hat und auf seine Erziehung höchsten Wert gelegt wurde“, sagte Theodor und deutete eine Verbeugung an. Agathe lächelte ihn an.

„Und sollte Ihnen mein überstürzter Auftritt nicht gefallen haben, dann bitte ich um Entschuldigung. Der Wald brennt zwar nicht, aber als Sohn der Familie liegt mir sein Wohl am Herzen. Wenn der Wald ruft, muss alles andere warten. Sie gestatten? Theodor von Waldersleben“, sagte Theodor mit einem Lächeln, das weniger herzlich als ironisch war. Es verfehlte seine Wirkung nicht.

Agathes Mutter schien bei der Nennung seines Namens blitzschnell ihre Meinung zu ändern. „Oh, ein leidenschaftlicher Förster und Jäger, wie mein Mann, Gott hab ihn selig. Und Humor hat er auch noch!“ Sie reichte ihm die Hand. „Angenehm, Margarete von Mosbach, und das ist meine Tochter Agathe.“ Sie zeigte auf die hübsche Blondine, deren Miene immer interessierter wurde, je länger Theodor sich im Raum befand.

Theodor nahm Agathes perfekt manikürte Hand und spürte, wie zart ihre Haut war. Das war keine Frau, die harte Arbeit gewohnt war und ihm dabei helfen würde, sich um Wald und Garten zu kümmern.

Die gemeinsame Teezeremonie verlief erstaunlich harmonisch, sodass selbst Theodors Eltern mit der Zeit auftauten. Gertrude, die Theodor vorher eindringlich gebeten hatte, sich den Bart abzurasieren, lachte sogar, als Agathe erzählte, dass sie die neue Mode, einen Bart zu tragen, bei Männern liebte. Sie erklärte, dass sie genug hätte von diesen aalglatten Typen im Anzug, die sie während ihres Studiums zur Genüge um sich gehabt hatte.

Anscheinend hatte Theodors Auftritt die potenzielle Ehefrau nicht verschreckt, ganz im Gegenteil, sie schien sehr angetan von dem jungen Mann, der seine Attraktivität auch nicht hinter seinem ruppigen Auftritt verbergen konnte.

Nur Theodor fühlte sich hin- und hergerissen. Sollte er Agathe wirklich eine Chance geben? Würde eine Frau wie sie in dem Forsthaus glücklich werden? Wäre es nicht unfair, sie im Schwarzwald festzuhalten, wo sie doch jeden Job in London oder New York haben könnte?

Er selbst könnte es niemals über sich bringen, das Forsthaus zu verlassen.

Der Wald hier war das Einzige, was er von Herzen liebte.

„Tja mein Sohn, wie es aussieht, konnte die junge Gräfin kaum die Augen von dir lassen“, sagte Theodors Vater zufrieden. Der hohe Besuch war inzwischen wieder abgereist.

„Und ihre Mutter scheint eine sehr tolerante Schwiegermutter zu sein. Sogar dein unhöfliches Benehmen hat sie kommentarlos ertragen“, ergänzte seine Mutter.

Die Glut im Kamin war erloschen, und es wurde wieder empfindlich kühl in dem Salon.

„Ich fand es ehrlich gesagt unverschämt, wie sie mit dem vermeintlichen Angestellten umgegangen ist. Als wäre sie wegen ihres Adelstitels etwas Besonderes!“, entgegnete Theodor.

„Das stimmt doch auch. In unseren Kreisen wird ein ganz anderer Wert auf Erziehung und Bildung gelegt. Und wir fühlen uns unseren Familien verpflichtet. Es geht auch darum, das zu schätzen und zu wahren, was wir uns über Jahrhunderte aufgebaut haben!“, ergänzte Gertrude und rückte ihr Chanelkostüm zurecht, das bei genauerem Hinsehen schon recht abgetragen war.

Auf einmal richtete sein Vater sich in seinem Rollstuhl auf, als wollte er seinen Worten mehr Nachdruck verleihen. „Auf dem Winterball auf Schloss Radern werdet ihr euch wiedersehen, und ich möchte, dass du ihr eine Chance gibst!“

„Vater, was will so eine Frau hier? Sie hat doch nicht studiert, um mitten im Schwarzwald meine Buchhaltung für die Forstwirtschaft zu machen? Sie könnte mit ihrem Abschluss jeden Job auf der ganzen Welt haben!“, entgegnete Theodor.

„Papperlapapp. Ich halte nichts von den selbstsüchtigen Karrierewünschen junger Frauen. Wenn erst mal das erste Baby unterwegs ist, wird sie sich diese Flausen schon wieder aus dem Kopf schlagen!“, mischte sich Gertrude ein und schnippte eine imaginäre Fluse von ihrem Ärmel.

„Jeder sollte seinen Begabungen und Träumen folgen dürfen. Auch junge Frauen“, entgegnete Theodor und sehnte sich danach, wieder im Wald zu verschwinden. Dort kam er immer zur Ruhe. Er streichelte Brutus, der sich an ihn lehnte und sein Herrchen mit großen Augen ansah.

Die Augen seiner Mutter dagegen verengten sich zu Schlitzen, als sie den nächsten Satz abschoss wie einen Pfeil: „Du weißt, dass du mit deinem egoistischen Wunsch, deine absurden Träume zu verwirklichen, beinahe unser Leben zerstört hättest?“

Sein Vater senkte den Blick. Theodor wusste nur allzu gut, was seine Mutter meinte. Aber war er wirklich schuld? Oder war es einfach nur ein Unfall gewesen? Eine Laune des Schicksals? Wie oft hatte Theodor schon daran gedacht, dass er aus diesem Leben ausbrechen musste. Er liebte seine Eltern trotz allem, und gerade mit seinem Vater, der früher selbst täglich durch die Wälder gestreift war, verstand er sich meistens gut, aber er fühlte sich so oft in diesem prächtigen Forsthaus eingesperrt. Dennoch konnte er seinen geliebten Wald nicht verlassen. Und wenn er es sich doch überlegte, brauchte er nur einen Blick auf die gelähmten Beine seines Vaters werfen, um zu wissen, dass er sich seiner Verantwortung stellen musste.

Nun hob sein Vater den Blick und sah ihn flehentlich an: „Theodor, du weißt, dass wir auf deine Hilfe angewiesen sind, wenn wir unsere Heimat retten wollen. Niemand anders als du kann uns helfen!“

Seine Mutter verzog spöttisch den Mund, als wäre das Ganze gar nicht wert, diskutiert zu werden. Hatte er überhaupt eine Wahl, fragte sich Theodor. War es nicht besser, auf eine Eheschließung mit Agathe hinzuarbeiten, als jeden Monat einem anderen Mädchen mit gutem Stammbaum vorgestellt zu werden? Schließlich war er mit der Arbeit im Wald mittlerweile sehr glücklich und konnte sich vorstellen, sein ganzes Leben so zu verbringen. Mittlerweile. Denn früher einmal … Vehement schüttelte er den Kopf, um die unliebsamen Gedanken zu verscheuchen.

Mias Füße schmerzten nach dem langen Tag im Blumenladen, und so genoss sie es umso mehr, in dem Schaumbad mit Vanilleduft zu versinken und ab und zu an der heißen Schokolade zu nippen, die am Badewannenrand stand. Sie musste sich einfach von dem Stress im Geschäft und den Grübeleien über das bevorstehende Weihnachtsfest ablenken.

Dennoch hatte Mia ihrer besten Freundin abgesagt, als diese sie hatte überreden wollen, nach der Arbeit noch zu einer Party zu gehen, um neue Leute kennenzulernen. Kein Typ war so süß wie heiße Schokolade, dachte sie sich und leckte sich genüsslich über die Lippen.

Andererseits gab es jede Menge schöner Dinge, für die ein Kakao nicht so gut zu gebrauchen war wie ein Mann. Aber sie hatte keine Lust mehr auf all diese Typen, die schon am ersten Abend mit ihr ins Bett wollten – um sich dann in Ruhe zu überlegen, ob aus ihnen ein Paar werden würde. Nein, Mia wollte sich erst sicher sein, dass sie einen Mann liebte, bevor sie ihn zu nah an ihren Körper, aber vor allem an ihr Herz ließ.

Ihre langen Beine konnte sie in der Badewanne kaum ausstrecken. Das warme Wasser umhüllte sie wie ein Baby im Bauch seiner Mutter. Ob ihre Mutter sie wenigstens ein klein wenig geliebt hatte, solange sie sie unter ihrem Herzen trug? Mia strich über ihren flachen Bauch und fragte sich, ob sie je ein Kind bekommen würde. Würde sie je in eine solche Notlage geraten, dass sie ihr Baby weggeben musste?

Ihr Handy klingelte. Es lag auf dem Stapel Handtücher neben der Badewanne und rutschte herunter, als Mia danach greifen wollte.

Egal, es konnte nicht so wichtig sein. In der Badewanne sollte man ohnehin nicht telefonieren. Wahrscheinlich wollte ihre Freundin sie überreden, doch noch auf die Party zu kommen. Also tauchte Mia einfach unter Wasser, bis das Klingeln verstummte.

Doch keine halbe Minute später klingelte es erneut. Mia konnte das Display nicht entziffern.

Sie seufzte, erhob sich aus der Wanne und stieg über den Rand. Bevor sie nach dem Handy griff, wickelte sie sich in den flauschigen Bademantel, als müsste sie sich vor der rauen Wirklichkeit schützen. Wer konnte um diese Uhrzeit noch etwas von ihr wollen? Eleonore ging immer früh ins Bett. Wenn sie es war, konnte es nur bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert war.

Tatsächlich leuchtete eine Festnetznummer mit der Vorwahl von Waldbach auf dem Display auf. Und es war nicht Eleonores Nummer. Mit klopfendem Herzen nahm Mia den Anruf entgegen.

„Hallo, hier Mia Maibach“, meldete sie sich zögerlich.

„Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Maibach, hier ist Dr. Hendrik vom Kreiskrankenhaus Rastatt. Ihre Mutter ist schwer gestürzt, und soweit ich weiß, sind Sie die einzige Angehörige“, sagte der Arzt mit einer Stimme, die nichts darüber verriet, wie es Eleonore wirklich ging.

„Ja, das bin ich. Wie schlimm ist es?“ Panik stieg in Mia auf.

„Wir haben den Verdacht auf einen Leberriss, und möglicherweise muss sie operiert werden. Wenn alles gut geht, wird sie bald entlassen, aber sie wird sich die nächsten Wochen nicht selbst versorgen können. Wir können sie nur entlassen, wenn wir sicher sind, dass jemand in den ersten Wochen nach dem Sturz bei ihr ist.“

Es fröstelte Mia nicht nur deshalb, weil es außerhalb der warmen Wanne so kühl war. Ungeschickt versuchte sie, den Bademantel mit einer Hand enger um sich zu ziehen.

„Könnten Sie Ihre Mutter am Entlassungstag abholen und die nächsten Wochen betreuen?“, drang jetzt die Stimme des Arztes zu ihr durch.

Sie musste arbeiten! Sie hatte Claudia doch fest versprochen, die Adventszeit und vielleicht sogar die Feiertage über im Blumenladen zu sein. Und sosehr sich ein Teil von ihr danach sehnte, Weihnachten wieder in ihrer Heimat zu verbringen, sosehr hatte sie doch Angst davor, dass es nie mehr dasselbe sein würde. Letztes Jahr hatte sie sich von Eleonore so verraten gefühlt. Aber wer war sie, dass sie jetzt ihre Ziehmutter im Stich lassen konnte? Die Frau, die ihr immer eine liebevolle Mutter gewesen war, auch wenn sie sie mit einer großen Lüge aufgezogen hatte?

2. KAPITEL

Endlich daheim! Wie hatte sie den Winter nur ohne diese märchenhafte Landschaft überleben können? Mia sah sich atemlos um. Hier wurde der Schnee nicht von Tausenden hektischen Füßen zu grauem Matsch getrampelt wie in den Straßen Berlins. Hier deckte er das Land und die Baumwipfel ab wie eine warme Decke. Unter den dichten Baumkronen schimmerte noch Erde und Moos durch, aber die Wiese, auf der das Haus ihrer Kindheit stand, war so weiß wie Zuckerguss. Beinahe war das Häuschen unter dem Schnee nicht mehr zu erkennen, nur die dunklen Balken des Fachwerks stachen hervor aus all dem Weiß. Der Garten und das Dach waren ebenfalls tief eingeschneit.

Nach dem gestrigen Anruf hatte Mia sofort ihre Sachen gepackt, hatte mit ihrer Chefin gesprochen und war dann in den nächsten Zug Richtung Süden gestiegen. Und nun war sie hier. Zurück in ihrer alten Heimat, und alles war unter einer dicken Schneeschicht vergraben.

Sie liebte den Schnee. Er war so weiß und rein wie das Herz eines Engels. Sie konnte nicht anders, sie musste tun, was sie auch als Kind immer getan hatte. Sie stellte ihren Koffer ab, den der Taxifahrer ihr aus dem Kofferraum gereicht hatte, und warf sich übermütig in den Schnee, breitete Arme und Beine aus, bewegte sie wie Flügel auf und ab, sodass der Abdruck aussah, als hätte ein Engel hier Pause gemacht.

Lachend stand sie auf und klopfte sich den Schnee ab. Das Leben war einfach zu kostbar, um es nur mit Arbeit oder – noch schlimmer – im Groll zuzubringen. Irgendwie würde sie es schon schaffen, Eleonore zu verzeihen. Dazu müsste Eleonore ihr nur die ganze Wahrheit sagen.

Wie der Gedanke an den Streit den friedvollen Moment unterbrach, so unterbrach eine schwarz gekleidete Frau mit Fuchspelzmütze das unendliche Weiß. Mia hörte sie erst im letzten Moment, weil der Schnee alle Geräusche schluckte.

Das war bestimmt jemand von dem Gut Waldersleben, das herrschaftlich am Waldrand thronte. Tatsächlich erkannte Mia die Herrin des Guts, als sie auf die Frau zulief. Sie war nur wenig jünger als Eleonore war.

Mia konnte nicht anders, als zu lächeln und streckte der Dame ihre Hand entgegen. „Guten Morgen, Frau von Waldersleben!“, sagte sie herzlich.

Doch diese zog eine Augenbraue hoch und musterte die junge Frau kritisch. Mia fühlte sich in ihrem petrolblauen Wintermantel und den braunen Wildlederstiefeln über der schmalen Jeans durchaus chic genug für die Dame aus adeligem Hause. Nicht so wie früher, als sie oft in den abgelegten Klamotten der Dorfkinder herumgelaufen war, weil Eleonore ungern in die Stadt zum Einkaufen fuhr und es noch kein Onlineshopping, sondern höchstens Versandkataloge gab. Allerdings klebte an dem Jeansstoff Schnee. Und der Koffer ein paar Meter weiter wirkte ziemlich verloren in der weißen Winterlandschaft.

„Normalerweise reicht die Ältere der Jüngeren zuerst die Hand, aber auf Etikette hat ja auch Ihre Ziehmutter nie geachtet“, sagte Gertrude von Waldersleben mit einem Lachen, als sollte es ein Witz sein.

Wenn, war es ein furchtbar schlechter, dachte sich Mia. Am liebsten hätte sie ebenso spitz gekontert.

Stattdessen entgegnete sie nur freundlich, aber bestimmt, dass sie von Eleonore alles gelernt hatte, was sie im Leben brauchte.

„Sie stehen also jetzt auf eigenen Füßen?“, meinte Frau von Waldersleben. Immerhin heuchelte sie genug Interesse, um anschließend zu fragen: „Was machen sie denn genau?“

Als ob sie sich darüber wundern würde, dass das Waisenkind Mia nicht in der Gosse gelandet war!

„Ich bin Floristin!“, antwortete Mia stolz und hoffte, dass Claudia den Laden mit der Aushilfe stemmen würde, die glücklicherweise eingesprungen war.

„Aha“, sagte die Gräfin nur.

„Bei der Gelegenheit möchte ich Ihnen für die Kirschzweige aus Ihrem Garten danken. Mit denen hat meine Leidenschaft für Blumen in der Vase nämlich begonnen.“ Die kleine Stichelei konnte Mia sich nicht verkneifen. Sosehr sie die Begegnung mit Menschen aus ihrer Vergangenheit scheute, wenn sie erst einmal in ein Gespräch verwickelt war, dann hatte sie Selbstbewusstsein genug, auch mal sehr direkt zu sein.

„Welche Kirschzweige?“, fragte die Dame nun ehrlich verwundert.

„Als Kind habe ich immer welche von den Bäumen auf der Obstwiese gemopst. Es tut mir leid, ich dachte, ihr Sohn hätte Ihnen davon erzählt“, sagte Mia nun versöhnlicher.

Frau von Waldersleben zuckte bei Theodors Erwähnung kurz zusammen. Sie wirkte, als fürchtete sie, dass er und Mia unter einer Decke stecken könnten.

„Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen“, winkte sie nun fast freundlich ab, „aber Sie können gerne welche kaufen. Jedes Adventswochenende veranstalten wir einen kleinen Basar. Da können Sie die Zweige ganz legal erwerben“, schob sie noch nach und musterte Mia kalt.

Mia schüttelte innerlich den Kopf. Diese Frau schaffte es auch heute noch, ihr für einen kleinen Moment das Gefühl zu geben, nicht richtig dazuzugehören. Anders zu sein. Was bildete sie sich überhaupt ein? Ob Mia ihr mal die Meinung sagen sollte? Aber so richtig?

Sie entschied sich dagegen. In einem kleinen Ort wie Waldbach kannte fast jeder jeden. Und wenn Mia sich mit Frau von Waldersleben anlegen würde, musste Eleonore womöglich noch darunter leiden, wenn sie, Mia, längst wieder in Berlin war.

„Ja, das mache ich vielleicht“, antwortete Mia deshalb versöhnlich, „und grüßen Sie bitte Ihren Mann und Ihren Sohn von mir.“

„Gern. Wie es aussieht, wird Theodor sich bald verloben“, verkündete die ältere Dame mit einem Stolz in der Stimme, als habe diese Errungenschaft viel Mühe und Überredungskunst gekostet.

Kein Wunder: Selbst wenn Theodor noch so gut aussah wie damals, bei dieser Schwiegermutter würde doch jede Frau Reißaus nehmen!

Mias Herz pochte wild, als sie an die Tür des kleinen Fachwerkhäuschens klopfte, in dem sie aufgewachsen war. An der schmalen Holztür hing ein weihnachtlicher Kranz aus Mistelzweigen mit roten, kirschgroßen Weihnachtsbaumkugeln.

Langsam, als bereite es Mühe, öffnete sich die Tür. Eleonores Anblick brach Mia das Herz. Die einst so starke Frau ging gebeugt und stützte sich auf einem Rollator ab, der kaum durch die Tür passen konnte. In den gütigen Augen spiegelte sich neben der Wiedersehensfreude auch Furcht wieder. War es die Angst, der Streit könnte erneut aufflammen? Spürte sie, dass sich in Mia trotz aller Liebe noch Groll hegte darüber, belogen worden zu sein?

„Schön, dass du da bist, mein Kind“. Eleonores Stimme überschlug sich, als sie Mia so fest an sich drückte, wie es in ihrem Zustand eben ging.

Ihre Mutter führte Mia in das behagliche Wohnzimmer. Sie kuschelten sich vor den Kamin und naschten Springerle, die traditionellen Lebkuchen aus Todtmoos im Schwarzwald. Davon hatte Eleonore immer ein paar im Küchenschrank, weil sie wusste, wie gern Mia das Gebäck mit Kardamom, Muskatnuss und Zimt mochte. Genauso gern wie sie sich als Kind die Geschichten vom Lebkuchenweiblein angehört hatte, das vor Weihnachten mit einem Rucksack voller feiner Lebküchlein durch Dorf stapft, um den Menschen anzukündigen, dass das Fest der Geburt Christi bevorstand.

„Weißt du noch, wie du mich früher immer gefragt hast, ob ich die Lebkuchen von dem alten Weiblein habe?“, knüpfte Eleonore an den Kindheitserinnerungen an.

„Wie könnte ich das vergessen!“ Mia nahm einen Schluck von dem Glühwein, den es so auf keinem einzigen Berliner Weihnachtsmarkt geben würde.

Allein der Wein, ein kräftiger Rotwein aus Baden, schmeckte köstlich. Aber verfeinert mit Sternanis, Zimtstangen und – das war das Allerbeste – ungespritzten Orangenschalen, war er einfach himmlisch. Eleonore knickte die fein abgeschälten Orangenschalen immer, bevor sie sie in den heißen Wein gab. So konnten sich die ätherischen Öle aus der Schale lösen und verbreiteten im ganzen Raum einen köstlichen Duft.

Beide umschifften sie das Thema, das sie letztes Jahr entzweit hatte. Eleonore war in einer kleinen Meinungsverschiedenheit der Satz herausgerutscht: „Pass auf, sonst wirst du noch wie deine leiblichen Eltern“. Erschrocken hatte sie die Hand vor den Mund geschlagen, aber Mia war sofort klar gewesen, dass Eleonore sehr wohl wissen musste, wer Mias leibliche Eltern waren. Allein das erschütterte Mias Vertrauen, aber die Tatsache, dass Eleonore sich weigerte, mehr zu sagen, hatte sie so wütend gemacht, dass sie ihre Ziehmutter ein ganzes Jahr lang nicht mehr besucht hatte. Und Eleonore hatte sich trotz allen Flehens am Telefon geweigert, das Geheimnis um ihre Herkunft preiszugeben. „Es ist besser, wenn du einen Schlussstrich unter der Vergangenheit ziehst“, war alles, was sie dazu sagen wollte.

Doch daran wollte Mia jetzt nicht mehr denken. Jetzt zählte nur die Gegenwart. Und Eleonores Sturz hatte gezeigt, wie kostbar jeder Moment war.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie hochnäsig die Frau war!“, sagte Mia, nachdem sie Eleonore von ihrer Begegnung mit Gertrude von Waldersleben erzählt hatte. Draußen war es bereits dunkel, und ein eisiger Wind wirbelte Schneeflocken durch die Luft.

Mia hatte noch ein paar Tannenzweige aus dem Wald geholt und sie mit Weihnachtskugeln dekoriert, die sie ausnahmsweise schon vom Dachboden holen durfte.

„Und ob“, kicherte Eleonore und sah dabei trotz ihrer grauen Haare und der vielen feinen Fältchen einen Moment wieder aus wie ein junges Mädchen. „Sie war schon immer so. Und sie kann mich nicht leiden.“

„Warum das?“, fragte Mia.

„Ach, ich habe einmal auf einem Dorffest mit ihrem Mann getanzt. Da war ich sechzehn, und sie kannte Konstantin von Waldersleben noch gar nicht. Ich war sogar ein bisschen verschossen in ihn, aber mir war klar, dass außer einem Tanz nie etwas passieren würde. Meine Eltern waren einfache Leute. Meine Mutter war sogar eine Zeit lang Haushälterin in dem Forsthaus“, erzählte die alte Dame und schloss die Hände fest um die heiße Tasse. Mia bemerkte den Schatten, der über Eleonores Gesicht huschte wie eine finstere Erinnerung.

Es war das erste Mal, dass Eleonore überhaupt etwas von einem Mann erzählte, selbst wenn sie nur getanzt hatten. Mia hatte sich nie getraut zu fragen, warum Eleonore nie eine Beziehung geführt hatte. Sie gab sich einen Ruck.

„Hattest du eigentlich immer vor, allein zu leben?“, fragte sie geradeheraus.

„Ach, Mia, als ich jung war, habe ich auch von der Liebe geträumt. Und von einer Familie. Der Himmel hat dich ganz ohne die Hilfe eines Mannes zu mir geschickt. Mir hat nichts gefehlt“, sagte sie und schaute versonnen in ihre Tasse. „Manche sind einfach nicht für die Liebe geschaffen“, ergänzte sie noch. Dann stellte sie die gefürchtete Frage nach Mias Liebesleben.

„Hast du das auch gehört? Da draußen war doch was? Es klingt wie ein Heulen“, sagte Mia und schaute zum Fenster.

„Jetzt lenke nicht ab, wer sollte denn hier heulen? Geister gibt es wohl kaum!“, lachte Eleonore.

„Und wenn sich jemand verirrt hat?“ Mia trat ans Fenster. Jetzt hörte sie das wehklagende Geräusch ganz deutlich.

„Ich schaue mal nach“, sagte sie und schlüpfte in Mantel und Stiefel.

„Pass auf dich auf! Manchmal sind auch finstere Gesellen unterwegs. Ich habe jedes Mal Angst, wenn du allein im Wald spazierst“, sagte Eleonore. Weil sie bis zu ihrer Genesung auf einen Rollator angewiesen war, konnte sie Mia auch kaum über die holprigen Wege begleiten.

Mia wunderte sich jedes Mal, wie dunkel es hier wurde, sobald die Sonne untergegangen war. In Berlin war es selbst mitten in der Nacht nie wirklich dunkel. Leuchtreklame, Autos, Straßenlaternen, Flugzeuge … irgendetwas blinkte immer. Aber hier war alles um sie herum schwarz. Nur die Lichter hinter den Fenstern ihres Häuschens und ein paar vereinzelte Lampen am Gut gegenüber erleuchteten die Nacht.

Dafür war das wehklagende Geräusch umso besser zu hören. Mia war froh, dass sie bei dem eisigen Wind und dem beißendem Schneeregen nicht bis in den Wald laufen musste. Das Jaulen kam direkt von ihrem Gartentor. Als Mia mit dem Handy in Richtung des Torbogens leuchtete, blitzten sie zwei schräge Augen an. Eine Katze!

„Ach du süßes, kleines Tierchen. Hab keine Angst, ich helfe dir! Bestimmt vermisst dich jemand schon ganz schrecklich“, sprach Mia beruhigend auf das Tier ein, das jedoch abwehrend fauchte und einen Buckel machte. Mia hatte Katzen als Kind geliebt und wünschte sich so sehr wieder eine dieser frechen Fellnasen, doch in der Stadt und bei ihren Arbeitszeiten war das nicht so einfach.

„Keine Sorge, ich tu dir nichts“, flüsterte sie und schaltete das Licht an ihrem Handy aus, um die Katze nicht zu erschrecken.

Beherzt hob sie die Katze hoch und drückte sie sanft an sich. Von dem Gefauche ließ sie sich nicht täuschen, das Tier hatte einfach Angst. Schon ein paar Sekunden später entspannte sich die Katze und ließ sich widerstandslos mit ins Warme nehmen, ja schmiegte sich sogar in ihren Arm und sah Mia mit großen Augen an. Die Katze hätte mit ihrem mürrischen Gesichtsausdruck zwar mit der berühmten Grumpy Cat verwandt sein können, aber ihre plötzliche Anschmiegsamkeit rührte Mia.

Eleonore stand schon mit ihrer Gehhilfe in der Tür und ließ Mia mit der Katze auf dem Arm herein.

„Das arme Tier ist ganz verängstigt. Vielleicht hat sie sich verlaufen? Wir könnten zum Tierarzt fahren, um zu sehen, ob sie gechipt ist“, sagte Mia und setzte die Katze auf den Boden.

„Der nächste Tierarzt ist eine gute halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Und bei dem Wetter lasse ich dich nirgendwo hinfahren! Es reicht, wenn ich krank bin, da musst du nicht noch einen Unfall riskieren“

Die Katze beschnüffelte die Schuhe, die im Flur aufgereiht standen, und strich dann auf einmal um Eleonores Beine. Eleonore beugte sich hinunter, so gut es eben ging, und streichelte das graue Köpfchen. Die Katze sah sie an, worauf ein erkennendes Lächeln über das Gesicht der alten Frau huschte.

„Na, dich kenne ich doch! Du bist doch der Grinch!“, sagte sie und genoss es, wie der Kater sein Köpfchen gegen ihre Hand drückte und schnurrte.

„Grinch? Eine Katze, die Weihnachten hasst?“, fragte Mia nach.

„Ein Kater. Genauso griesgrämig wie seine Herren. Das ist der Kater der von Walderslebens“, sagte Eleonore und klammerte sich wieder an den Griffen des Rollators fest. Der Kater Grinch beschnupperte nun Mia und rieb sich an ihren Beinen.

„Umso besser, dann bringe ich ihn gleich nach Hause!“, sie zog die Stiefel, die sie wegen des Schneematsches direkt abgestreift hatte, wieder an, setzte sich auch noch die Mütze auf den Kopf, die an der Garderobe hing, und schnappte sich den Kater.

„Ach was, der kann gerne hier übernachten und morgen früh selbst rübergehen“, winkte Eleonore ab.

Obwohl Mia gerne noch die Gesellschaft ihres flauschigen Gastes genossen hätte, war sie fest entschlossen, den Kater schnell zu seinen Besitzern zu bringen.

„Auf keinen Fall. Wenn das meine Katze wäre, die bei dem Wetter nicht nach Hause gekommen wäre, würde ich umkommen vor Sorge!“, entgegnete Mia.

„Auf dem Land ticken wir anders. Was soll schon passieren? Vom Auto überfahren wird sie hier wohl kaum. Und mit so einem dicken Fell erfriert man nicht so leicht.“ Eleonore schüttelte den Kopf. Offensichtlich wollte sie jeden unnötigen Kontakt mit ihren einzigen Nachbarn vermeiden. „Die von Walderslebens werden bestimmt nicht begeistert sein, wenn du um diese Uhrzeit dort klingelst“, sagte sie wenig überzeugend.

„Also ich würde dem Menschen um den Hals fallen, der mir meine Katze wiederbringt“, entgegnete Mia.

„Na, dann hoffe ich, dass dir nicht ausgerechnet Gertrude die Tür öffnet“, antwortete Eleonore mit einem spitzbübischen Grinsen.

Lag es nur an ihrem Wintermantel oder war es hier wirklich warm? Mia wurde plötzlich rot. „Das hoffe ich auch“, gestand sie und drückte die Katze an sich.

„Mia, du suchst doch nicht etwa eine Gelegenheit, um Theodor von Waldersleben zu begegnen? Glaub nicht, ich hätte nicht gemerkt, wie deine Augen damals immer gestrahlt haben, wenn du mir von ihm erzählt hast!“, sagte Eleonore in einem Tonfall, der offen ließ, ob sie belustigt oder besorgt war.

„Eleonore, da war ich doch noch ein Kind!“, entgegnete Mia, und ihre Wangen wurden noch heißer. Sie mochte es sich kaum eingestehen, dass sie ein wenig neugierig darauf war, was aus dem hübschen Jungen von damals geworden war. Bevor Eleonore sie aufhalten konnte, öffnete Mia die Tür und trat in die Nacht.

Mia fühlte sich fast wie damals, als sie verbotenerweise die Kirschbaumzweige abgebrochen hatte, als sie auf das wunderschöne Forsthaus zuging. Die Fenster im Erdgeschoss waren noch erleuchtet, wie sie durch die Spalten der Fensterläden erkennen konnte.

Als sie die kleine Zufahrtsstraße überquert hatte, ging sie auf dem kopfsteingepflasterten Weg auf die zweiflügelige Eingangstür zu. Im schwachen Schein der Lampe, die an dem Haus angebracht war, konnte sie die aufwendigen Schnitzereien erkennen. Die Tür aus schwerem Eichenholz war mit Jagdszenen verziert. Eine Bache mit ihren Frischlingen im Tannenwald, ein Reh mit Kitz, ein Förster mit Hund … und über allem thronte das Familienwappen der von Walderslebens. Man hätte Stunden gebraucht, um jedes Detail zu entdecken.

Der Kater wurde unruhig, sodass Mia ihn mit der einen Hand festhielt, während sie mit der anderen die altmodische Glocke an der Tür betätigte. Hundegebell ertönte.

Sie hörte Schritte, und dann öffnete jemand die Tür. Im Halbdunkel sah sie einen Mann in Holzfällerhemd, mit wirren dunklen Haaren und einem Bart, der nicht so aussah wie die akkurat gestutzten Bärte der Hipster in Berlin. Er schaute so grimmig, als hätte sie ihn aus dem Tiefschlaf gerissen.

„Wer stört denn um diese Zeit noch?“, brummte er und sah ihr in die Augen. Das war Theodor! Diese unergründlichen, schönen braunen Augen versetzten Mia innerhalb von einer Sekunde zurück in die Zeit, als sie das junge Mädchen war, das den unerreichbaren Nachbarsjungen anhimmelte. Daran konnte auch seine unfreundliche Begrüßung nichts ändern. Leider wurde sie plötzlich auch genauso nervös wie ein junges Mädchen.

„Äh, entschuldigen Sie bitte, aber ich habe Ihre Katze gefunden“, stotterte sie fast und war froh, dass sie ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen hatte. Trotz der Kälte wurden ihre Wangen wieder heiß.

„Ja und?“, fragte er weniger unfreundlich als verwundert.

„Na ja, ich dachte, bei dem Wetter erfriert der arme Kerl“, sagte Mia nun schon mit festerer Stimme.

Sie betrachtete Theodors hübsches Gesicht, das hinter dem dunklen Bart versteckt lag. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie er nach dem schrecklichen Unfall an Weihnachten tagelang im Koma gelegen hatte und sie mit Eleonore an der Weihnachtskrippe eine Kerze angezündet hatte, damit der arme Junge wieder lebendig wurde. Das wurde er, aber anscheinend hatte der Aufprall einen bleibenden Schaden hinterlassen. Vielleicht war er nicht unfreundlich, sondern einfach nicht mehr ganz richtig im Kopf?

Mia setzte den Kater ab, der sofort an Theodor vorbei ins Haus flitzte.

„Blödsinn! Das ist doch eine Katze! Die hat nicht nur sieben Leben und ein dickeres Fell als wir alle. Die weiß sich bei jedem Wetter zu helfen. Diese verweichlichten Haustiere heutzutage! Alle fett und verwöhnt. Damit tut man den Tieren doch keinen Gefallen“, brummte Theodor vor sich hin.

Er ist also wirklich einfach nur ein Griesgram, dachte Mia und ärgerte sich, dass sie den Kater nicht einfach bei sich behalten hatte.

Was für ein arroganter unfreundlicher Typ! Da machte sie sich bei dem Schnee auf den Weg, und er bedankte sich nicht einmal! Und erkannt hatte er sie auch nicht, obwohl sie sich nun wirklich nicht stark verändert hatte. Ein netter Mann hätte sie jetzt gefragt, ob sie sich bei einem Tee aufwärmen wollte. Aber dieser Kerl blaffte sie nur an!

Sie hätte auf Eleonore hören und sich von dem Forsthaus fernhalten sollen!

„Selbst wenn Sie Ihren Kater nicht vermisst haben, könnten Sie wenigstens Danke sagen! Verwöhnte Katzen sind mir übrigens immer noch lieber als unhöfliche Männer“, konterte Mia und drehte sich um. Wütend stapfte sie durch den Schnee, ohne sich von diesem Rüpel zu verabschieden.

„Danke!“, hörte sie ihn rufen. Sie drehte sich noch einmal um. Im schmalen Türspalt, hell erleuchtet von Licht und Wärme aus dem Haus, sah er gar nicht mehr so grimmig aus.

„Bitte“, antwortete sie zögernd.

„Wie heißen Sie überhaupt?“, fragte er und fuhr sich durch die Haare.

Das tat weh! Erinnerte er sich wirklich nicht an sie? „Das kann Ihnen doch egal sein“, sagte Mia verletzt.

„Und was machen Sie mitten in dieser Einöde?“, rief er noch hinterher.

„Urlaub, was sonst? Ist doch wunderschön hier“, sagte sie schnippisch und drehte sich wieder um.

„Dann noch viel Spaß hier!“, sagte er mit einem ebenso ironischen Unterton wie sie.

Mia wusste nicht, was ihr mehr durch Mark und Bein ging: seine Stimme oder das Knallen der Tür.

Theodor hatte sie verwirrt. Etwas an ihm zog sie magisch an. Etwas, das sie nicht benennen konnte. Ob seine raue Schale einen wunderbaren Kern verbarg? Vielleicht hätte sie ihm auch einfach sagen sollen, wer sie war? Sie drehte sich noch einmal zu dem Forsthaus um, und es war wie ein magisches Zeichen, als sich die Tür wieder öffnete und ein Lichtstrahl herausfiel.

Sie lächelte. Bestimmt wollte er sich entschuldigen und ihr sagen, dass er sich natürlich noch an sie erinnerte! Sie stand völlig im Dunkeln, er konnte sie also nicht erkennen. Ob sie schnell zurücklaufen sollte?

Gerade, als sie wieder auf ihn zugehen wollte, flog der Kater miauend aus der Tür.

„Ab nach draußen mit dir, du Nervensäge!“, rief Theodor und knallte die Tür jetzt endgültig hinter sich zu.

So ein Idiot, dachte Mia nur. Wieder kam ihr Peter Munk in den Sinn, der statt dem Schatzhauser im tiefen Schwarzwald nur den Holländermichel gefunden hatte, der im Grunde nichts anderes als ein Teufel war. Aber ein mächtiger Teufel, der dem jungen Burschen im Tausch gegen Reichtum ein Herz aus Stein eingepflanzt hatte. Wer so herzlos zu einem unschuldigen Tier war wie Theodor, konnte nur ein schlechter Mensch sein!

Wie um diesen Gedanken noch zu unterstützen, schoss Grinch auf sie zu und rieb sich an ihren Beinen.

„Komm nur mit zu uns ins Warme. Tut mir leid, aber dein Herrchen ist wirklich ein Idiot!“, sagte sie zu dem Kater, der den Rest des Weges neben ihr hertrottete wie ein Hund.

Und ich bin noch dämlicher, sagte sie zu sich selbst. Was war denn nur mit ihr los, dass diese Begegnung sie so durcheinander brachte? Sie wollte Theodor aus tiefstem Herzen verachten, aber eine innere Stimme sagte ihr, dass sie lieber versuchen sollte, sein Herz aus Stein zu erweichen.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen saß Theodor in der Bibliothek an dem mit Schnitzereien verzierten Eichenschreibtisch. Es war so kalt, dass er froh war, dass Brutus auf seinen Füßen lag und eine Kanne Tee auf einem Tablett dampfte, das ihm die treue Seele Clara gebracht hatte. Eigentlich konnten sie sich keine Hauswirtschafterin in Vollzeit mehr leisten, aber Clara zu feuern, die kurz vor der Rente stand und auch in dem Anwesen wohnte, hätte Theodor nicht übers Herz gebracht.

Die Regale um ihn herum waren bestückt mit wertvollen Büchern aus den letzten beiden Jahrhunderten. Sein Großvater war ein eifriger Sammler wissenschaftlicher Bücher gewesen. Auch die könnte er veräußern, doch würde er einen Liebhaber finden, bei dem die Bücher in guten Händen waren? Und was war mit dem Inhalt der Schmuckschatulle, die wahrscheinlich noch von seiner Großmutter oder Urgroßmutter stammte? Er nahm einen Ring mit einem Saphir aus der Kiste, den er als Kind schon einmal in der Hand gehabt und seitdem völlig vergessen hatte. Der Stein glitzerte geheimnisvoll, als ein Strahl der Morgensonne auf ihn fiel.

Das riesige Ölgemälde, das an der Wand neben dem Fenster hing, hätte er dagegen gerne sofort verkauft. Es zeigte die Familie von Waldersleben vor hundertfünfzig Jahren. Lauter fein ausstaffierte Jungen und Mädchen mit ihren Eltern waren bei einem Picknick gemalt worden. Die Familie war reich und vor allem groß gewesen. Nie hatte es an Geld oder an Nachkommen gemangelt, doch jetzt war Theodor der einzige Erbe der Familie.

Für seine Eltern könnte er mit der Heirat in eine wohlhabende adelige Familie, wie Agathes Familie es war, das Ruder noch einmal herumreißen, bevor der jahrhundertealte Besitz und der Name für immer in Vergessenheit gerieten.

Es fühlte sich an wie eine zentnerschwere Last, die ihn zuweilen zu erdrücken drohte, bis er all seine Lebensfreude verlor. Nur im Wald atmete seine Seele wieder auf.

Aber er musste zugeben, dass ihm diese Agathe auch ein wenig gefiel. Ob es für die Liebe reichen würde? Aber was war schon Liebe? Die einzige Frau, mit der er sich eine gemeinsame Zukunft hatte vorstellen können, hatte ihn verlassen, weil sie nie wirklich in den Kreis seiner Familie aufgenommen worden war.

Noch immer dachte er nur ungern an jenen traditionellen Winterball auf Schloss Radern zurück, an dem Sandra nicht hatte teilnehmen dürfen, weil ihre Familie kein Wappen und keinen gepflegten Stammbaum führte. Es hatte ihm das Herz gebrochen, als Sandra kurz darauf die Konsequenzen zog und ihn verließ.

Die Unterlagen auf dem Schreibtisch bereiteten ihm anderen, aber nicht weniger schweren Kummer. Wenn sich der Ertrag aus dem Wald nicht verdoppelte, würde die Bank ihnen keinen weiteren Kredit gewähren. Und den brauchten sie, um das Gebäude überhaupt halten zu können. Ein paar schlechte Jahre hatten die Familie endgültig in den Sog der Schulden geraten lassen, und nun musste Theodor sich dringend etwas einfallen lassen.

Vielleicht sollte er einfach alles verkaufen. Seine Eltern ausbezahlen, damit sie sich eine Wohnung im Dorf kaufen konnten. Und er selbst? Jobs für Forstwirte gab es in Deutschland wenige. Und er liebte seinen Wald hier vor der Tür, auch wenn er als Heranwachsender immer davon geträumt hatte, als Pianist durch die Welt zu reisen. Dafür hätte er seine Finger schonen ...

Autor

Merline Lovelace
Als Tochter eines Luftwaffenoffiziers wuchs Merline auf verschiedenen Militärbasen in aller Welt auf. Unter anderem lebte sie in Neufundland, in Frankreich und in der Hälfte der fünfzig US-Bundesstaaten. So wurde schon als Kind die Lust zu reisen in ihr geweckt und hält bis heute noch an.
Während ihrer eigenen Militärkarriere diente...
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Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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Anna Keller
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