Schlittenfahrt ins große Glück

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Ein Beinahe-Unfall, eine Karussellfahrt, ein Kuss: Der Milliardär J. C. glaubte, der Sturm in seinem Inneren hätte sich gelegt - doch kaum ist seine Jugendliebe Grace zurück, wirbelt sie alles wieder durcheinander!


  • Erscheinungstag 29.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504041
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Seit gut drei Stunden schon lag der Umschlag auf dem Tisch in Grace McKinnons Hotelzimmer in Santo Domingo. Sie nahm ihn erneut in die Hand und las die Adresse des Absenders.

Beckett’s Run, Massachusetts.

Es war für Grandma sicherlich nicht ganz einfach gewesen, sie hier aufzuspüren, doch so etwas hatte sie noch nie abgeschreckt. Wenn sie sich etwas vornahm, kannte sie kein Aufgeben. Eine Eigenschaft, die Grace von ihr geerbt hatte – von ihrer Mutter als Fluch bezeichnet, nach Grandmas Meinung aber ein Segen. Doch gerade war für Grace etwas anderes wichtiger als der Brief ihrer Großmutter, und so legte sie den Umschlag wieder hin.

„Der Artikel über die Dominikanische Republik müsste vorhin bei Ihnen eingegangen sein“, sagte sie am Handy. „Über welches Land soll ich als Nächstes schreiben?“

Die Verbindung wurde immer schlechter, und sie trat ganz nahe ans Fenster. Zehn Stockwerke tiefer sah sie die verstopften Straßen Santo Domingos in der strahlenden Morgensonne. Ungeduldiges Hupen drang zu ihr hinauf.

Auf der Suche nach dem besten Empfang wandte sie sich wieder vom Fenster ab und stieß dabei gegen den Tisch. Der Brief drohte herunterzufallen. Grace griff danach und ließ ihn durch die Finger gleiten, während sie ihrem Chefredakteur zuhörte.

„Sie fahren erst einmal nirgendwohin. Ich habe Ihren Text überflogen, und er ist in Ordnung. Was man eben so erwartet: die Hotspots für Touristen, Essen, Trinken. Alles okay. Aber der Text über Neuseeland taugt gar nichts. Ständig schweifen Sie ab. Und was soll das mit den Zelten für Obdachlose? Welcher Tourist will das lesen? So etwas können Sie für Im Blickpunkt schreiben, aber ich bezahle Sie nicht für solchen Quatsch.“

„Ich weiß.“

„Ach ja? Und warum schicken Sie mir dann nach wie vor solche Weltverbesserungsartikel?“

„Ich dachte, man könnte einmal aus einer anderen Perspektive berichten. Etwas Neues wagen.“

„Verflucht, nein! Meine Anzeigenkunden wollen nichts Neues. Und die Leser auch nicht. Liefern Sie mir einfach, wofür ich Sie bezahle.“

„Gut, mache ich.“ Auch wenn ihr die Hochglanzartikel über tolle Reiseziele langsam auf die Nerven gingen. Sie wollte mehr. Nur leider fehlte ihren Texten das gewisse Etwas. Sie hatte ein paar Artikel an Im Blickpunkt geschickt, eine Zeitschrift, deren Chefredakteur Steve Eisler im College ihr Lehrer gewesen war. Sie hatten sich gut verstanden, und all die Jahre hatte er sie aufgefordert, für ihn zu schreiben. Anspruchsvolle Texte. Texte, die etwas verändern wollten. Also hatte sie ihm ihre Artikel geschickt und sich mit ihm getroffen. Nur war das Treffen leider anders verlaufen als erhofft. Seine Worte hatten sich ihr eingebrannt.

„Du kannst mehr, Grace. Zeig es den Lesern, öffne dein Herz! Nur dann berührst du dein Publikum, lässt es lachen und weinen. Deine Texte sind gut, aber sie klingen irgendwie so distanziert.“

Also hatte sie weiter Reisetexte geschrieben. All diese leeren Artikel über die besten Hotels und Strände, die sie seit einer Ewigkeit schrieb – und nur ganz insgeheim weiter davon geträumt, über wirklich wichtige Themen zu schreiben.

„Versuchen Sie nicht, mit Ihren Texten die Welt zu verändern“, sagte Paul Rawlins, der Reiseredakteur, am anderen Ende der Leitung. „Schreiben Sie über Menschen, die ihr Leben genießen. Die an ihren Margaritas nippen und sich an den tollen Wellness-Angeboten erfreuen.“

Sie hörte, wie Paul seufzte.

„Sie enttäuschen mich, Grace. Und leider nicht zum ersten Mal. Ich beginne langsam, das Vertrauen in Sie zu verlieren.“

„Ein Ausrutscher, Paul, mehr nicht.“

„Leider nicht zum ersten Mal. Selbst die Fidschi-Inseln wirkten bei Ihnen irgendwie langweilig. Was ist mit Ihnen los? Sie waren mal meine beste Autorin.“

„Mit mir ist alles in Ordnung.“

Wenn es nur stimmen würde! Doch ein kleines russisches Mädchen hatte etwas in ihr verändert. Sie hatte es auf den Straßen Moskaus entdeckt, mitten im Winter mit nichts als einem dünnen Kleid am dürren Körper. Grace fotografierte das Mädchen und unterhielt sich mittels eines Dolmetschers mit ihm. Mit ihrem Artikel wollte sie die Leute aufrütteln. Sie hatte gehofft, dass sich jemand für all die obdachlosen Kinder einsetzen würde.

Aber auch dieser Artikel hatte Steve von Im Blickpunkt nicht überzeugt. Weil es Grace nicht gelungen war, die Leser zu bewegen. Steve hatte recht: Ihr eigenes Herz war wie von einer Mauer umgeben, die sie nie durchbrechen konnte. Zum Glück blieben ihr noch die Reiseartikel.

„Machen Sie doch einfach mal Urlaub, Grace“, sagte Paul Rawlins. „Nur ein paar Wochen. Fahren Sie irgendwohin und erholen Sie sich.“

„Urlaub? Jetzt, wo es so gut läuft?“

„Das tut es nicht.“

Seine Worte ließen Grace’ Erwartungen wie einen Luftballon zerplatzen. Es stimmte ja: Seit ihrem Misserfolg bei Im Blickpunkt bereiteten ihr auch die Reiseberichte Probleme. Vielleicht hätte Grace’ Schwester Hope mit ihren Fotos den Fidschi-Artikel retten können. Aber obwohl Grace sie inständig gebeten hatte, war Hope nicht gekommen. Das Nein ihrer Schwester hatte Grace schwer getroffen.

Und nun verlangte Paul auch noch von ihr, dass sie Urlaub nahm. Ausgerechnet über die Feiertage! Ohne Arbeit würden die sich endlos hinziehen.

„Paul, lassen Sie mich noch den Schweiz-Artikel machen, den ich Ihnen letzte Woche vorgeschlagen habe. Über dieses Dorf, das man nur mit der Bahn erreichen kann. Ein Top-Reiseziel. Ich könnte das alles aus Sicht der Einwohner schildern. Wie sie mit der Bahn zum Arzt fahren, wie ihnen die Lebensmittel geliefert werden, all das.“

„Ach Grace, machen Sie doch einfach mal Pause. Bald ist Weihnachten, spannen Sie mal richtig aus. Und nach Weihnachten gehen Sie mit frischer Kraft ans Werk.“

Er ließ ihr also keine Wahl. Nun gut, immerhin hatte er sie nicht gefeuert. Ein bisschen Urlaub, und alles wäre wieder in Ordnung.

„Also gut.“

„Sehr schön.“ Er klang erleichtert und verabschiedete sich rasch.

Grace legte ihr Telefon auf den Tisch. So verloren hatte sie sich seit Jahren nicht gefühlt.

Von draußen drang der Verkehrslärm zu ihr. Sie sah aus dem Fenster, auf all die Menschen und Autos, die sich ihren Weg durch die Stadt bahnten. Vom Land kamen die Menschen auf der Lade­fläche von Lastwagen nach Santo Domingo, Hotelangestellte drängten sich zu dritt auf ein Motorrad, Taxifahrer hupten ungeduldig. Grace liebte die Stadt und die Insel, deren Geschichte bis auf Christoph Kolumbus zurückreichte. Sie hatte unzählige Fotos gemacht, doch nicht eines davon zeigte die wunderschönen Strände von Punta Cana oder das Treiben auf den unzähligen Touristenmärkten. Ihr Augenmerk lag auf anderen Dingen, dem Alltag der Menschen, deren Leben. Dinge, von denen Paul nichts wissen wollte, die sie aber unendlich faszinierten.

Grace wollte in ihren Texten hinter die Oberfläche schauen und offenlegen, was den normalen Touristen verborgen blieb.

Unruhig ging sie im Zimmer hin und her und sammelte ihre Sachen zusammen. Als sie alles in ihren Rucksack gestopft hatte, zurrte sie ihn zu und stellte ihn an der Tür ab. Sie sah sich noch einmal um, und ein Gefühl des Verlorenseins überkam sie.

Wohin sollte sie jetzt fahren? An irgendeinen Strand? Allein und über Weihnachten?

Ausgeschlossen.

Aber wohin dann? Ihr Blick fiel auf den Brief ihrer Großmutter, den sie noch immer nicht gelesen hatte. Ungeduldig riss sie ihn auf. Ein Flugticket fiel aus dem Umschlag und segelte zu Boden. Während sie sich danach bückte, entfaltete sie den dazugehörigen Brief.

Liebe Grace,

hoffentlich geht es Dir gut. Ich vermisse Dich und kann Dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war, als Du letztes Jahr nicht kommen konntest. Und im Jahr davor auch nicht. Dieses Jahr möchte ich Euch alle endlich wiedersehen. Ich werde schließlich nicht jünger. Also tu mir den Gefallen und komm nach Beckett’s Run. Die Weihnachtstage hier werden ganz wunderbar, denn unser Städtchen feiert außerdem seinen 200. Geburtstag, und alle geben sich große Mühe. Du glaubst gar nicht, was die Leute alles auf die Beine stellen. Keiner redet mehr von etwas anderem.

Ich habe Dir ein Flugticket beigelegt. Du hast also keine Entschuldigung mehr, meine Liebe. Komm, bitte.

Deine Dich liebende

Großmutter

Sollte sie wirklich nach Beckett’s Run fahren? Für viele wäre es bestimmt eine verlockende Aussicht, Weihnachten in dem kleinen verschneiten Nest in Massachusetts zu verbringen. Grace jedoch schauderte bei dem Gedanken.

Beckett’s Run. Vor vielen Jahren war sie Hals über Kopf von dort aufgebrochen. Sie überflog noch einmal den Brief. Zweihundertjahrfeier. Alle werden da sein. Alle? Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihre Entscheidung stand fest. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und verließ das Zimmer.

Auf nach Beckett’s Run!

Ganz Beckett’s Run war wie verzaubert von dem Weihnachtsglanz, der das Städtchen überzog. Nichts war mehr zu spüren von winterlichem Trübsal, der graue November war nur noch eine ferne Erinnerung. Alles strahlte im satten Rot und Grün der Festtage, überall erklang weihnachtliche Musik, und Lichterketten funkelten über den Gehwegen. Die Bank vor Rays Drogeriegeschäft wurde von einer leuchtend roten Girlande geschmückt, die Statue des Stadtgründers Andrew Beckett hatte man mit Tannenzweigen und Schleifen verziert, und selbst der Keramikfrosch in Lucy Wilsons Vorgarten hatte eine Weihnachtsmannmütze auf.

J. C. Carson rollte in seinem Range Rover langsam an Carol’s Diner vorbei und grüßte die Mitglieder des Karpfenklubs, Al, Joe und Karl. Die drei behaupteten steif und fest, ihr Klub diene gemeinsamen Angelausflügen. Doch J. C. war überzeugt, sie wollten nur Tag für Tag vor Carol’s Diner sitzen, das Leben der Gemeinde beobachten und den neuesten Tratsch austauschen. An der Kreuzung bog er nach rechts Richtung Park ein. Verträumt lagen die Bäume und Rasenflächen unter der Schneedecke, als könnten ihnen all die fleißigen Freiwilligen nichts anhaben, die mit den Vorbereitungen für das Beckett’s-Run-Wintervergnügen beschäftigt waren. Hier brauchte offenbar gerade niemand seine Hilfe. Das Wintervergnügen ging auf den Stadtgründer Andrew Beckett selbst zurück und war mittlerweile um eine Parade, Schlittenrennen, den Wettbewerb um den schönsten Weihnachtsbaum und vieles andere ergänzt worden. Die Zweihundertjahrfeier jedoch sollte noch schöner und prächtiger werden als alles zuvor.

Wie J. C. hörte, hatte sich schon ein Fernsehteam in Victoria’s Bed and Breakfast einquartiert, obwohl das Wintervergnügen noch nicht einmal begonnen hatte. Der Grund war bestimmt, dass Beckett’s Run wegen seiner ganz besonderen Weihnachtsatmosphäre in einer bekannten Zeitschrift erwähnt worden war. Plötzlich begannen sich auch andere Medien für das Städtchen zu interessieren.

Die wichtigsten Vorbereitungen waren abgeschlossen, und J. C.s vordringlichste Aufgabe war es nun, die tausend kleinen Arbeiten zu koordinieren. Noch vor zehn Jahren hätte wohl niemand daran gedacht, ausgerechnet J. C. die Planung für einen reibungslosen Ablauf zu übertragen, so viel Ärger, wie er allen bereitet hatte. Doch das war lange her, und seit dieser Zeit war er ein anderer Mensch geworden.

Nach dem Zeitschriftenartikel waren die Übernachtungsanfragen in die Höhe geschnellt, zur Freude der gesamten Stadt. Die Besucher würden die Dollar mitbringen, die die Menschen hier so dringend brauchten. Zu viele Läden hatten schon aufgeben und zu viele Einwohner hatten ihre Häuser verkaufen müssen. J. C. tat, was er nur konnte, um den Niedergang zu verhindern, aber irgendwann hatte er einsehen müssen, dass er alleine nicht die ganze Stadt retten konnte.

Das war der eine Grund gewesen, warum er jetzt das Wintervergnügen organisierte. Schmerzvoll hatte er beobachtet, wie es mit Beckett’s Run Jahr für Jahr ein bisschen weiter bergab ging. Wenn das Wintervergnügen der Stadt wieder den Glauben an sich selbst zurückgab, so wollte er gerne mit ganzer Kraft dabei helfen. Es reichte schon, wenn ein paar Touristendollar ihren Weg in die kleine Stadt fanden.

Doch ein ganz privater Grund hatte für J. C. letztlich den Ausschlag gegeben, den Vorsitz des Organisationskomitees zu übernehmen. Ein Grund, der ihm sehr viel wichtiger war als das ökonomische Wohlergehen der Stadt.

Ein einziger Tag hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Damals hatte er sich bei Carson Investments freigemacht, den Schlüssel für sein Bostoner Apartment seiner Haushälterin gegeben, war nach Beckett’s Run gefahren und zurück in sein altes Kinderzimmer gezogen. Es war ihm egal, dass sich in dem Zimmer seit zehn Jahren nichts verändert hatte und ihm all die Baseballspieler an den Wänden schon lange nichts mehr sagten. Es gab Wichtigeres im Leben, um das er sich die letzten Wochen gekümmert hatte. Doch bald schon würde er wieder nach Boston zurück müssen.

Davor warteten noch ein paar schwere Entscheidungen auf ihn.

Doch zunächst das Wintervergnügen. Eins nach dem anderen.

Während er so seinen Gedanken nachhing, war J. C. vom Park wieder ins Stadtzentrum zurückgefahren. Alles sah ganz wundervoll aus, das Inbild eines höchst stimmungsvollen Weihnachtsfests ohne jeden Kitsch. Na ja, fast ohne jeden Kitsch.

Ein Gefühl der Verantwortung und des Stolzes erfüllte J. C., während er sich in Beckett’s Run umschaute. Als Kind hatte er den Ort gehasst und sich nur von hier fortgewünscht. Gegen alles hatte er aufbegehrt. Einmal hätte ihn sogar fast die Polizei in Gewahrsam genommen. Doch er war erwachsen geworden, hatte angefangen zu arbeiten und die Vergangenheit hinter sich gelassen.

Auch wenn er selbst sich wohl nie dauerhaft in der Stadt niederlassen würde, verstand er, warum die Leute hier wohnten und Familien gründeten. Nichts schien sich zu ändern. Beckett’s Run strahlte ein Gefühl der Heimat und Geborgenheit aus, das auch J. C.s Familie gerade bitter nötig hatte.

Ein Quietschen riss ihn aus den Gedanken, das Geräusch von Reifen, die auf Eis durchdrehten. J. C. konnte mit seinem Geländewagen gerade noch einem kleinen kirschroten Cabrio ausweichen, das quer über die Kreuzung schlitterte und erst in einem Schneehaufen zum Stehen kam.

Er fuhr rechts ran und stieg aus. Die kalte Luft traf ihn mit aller Macht. Rasch zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und suchte in den Taschen nach seinen Handschuhen. Bei dem kleinen Wagen angekommen, pochte er gegen die Seitenscheibe.

Die Scheibe fuhr herunter. J. C. sah nicht mehr als die zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen langen blonden Haare einer Frau und den Kunstfellkragen ihrer blauen Jacke. „Geht es Ihnen gut, Ma’am?“, erkundigte er sich.

„Entschuldigen Sie bitte, Officer. Mein Führerschein muss hier irgendwo sein.“ Ungeduldig murmelte sie noch etwas vor sich hin, während sie in einem Rucksack auf dem Beifahrersitz herumkramte. „Ah, hier ist er ja.“

Sie drehte sich um und hielt ihm ein weißes Dokument entgegen. Er musste den Namen darauf nicht erst lesen, um zu wissen, wen er vor sich hatte. Trotz der ungewohnten riesigen Filmstar-Sonnenbrille auf ihrer Nase, dem leuchtenden Lippenstift und dem kirschroten Cabrio.

„Grace McKinnon.“ Seine Stimme verriet keinerlei Überraschung, auch wenn sie sicherlich der Mensch war, den er am allerwenigsten in Beckett’s Run erwartet hätte.

Sie lehnte sich in dem schwarzen Ledersitz zurück und schirmte ihre Augen mit einer Hand ab. „J. C.?“

„In Person.“

Sie lachte auf. „Du lieber Himmel. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe … Ach Gott, ich kann mich gar nicht mehr erinnern.“

Erinnerte sie sich wirklich nicht? Er jedenfalls konnte es noch allzu gut. Vielleicht hatte sie die Erinnerung einfach aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Was er übrigens auch tun sollte. Die Vergangenheit ließ man am besten ruhen.

Sie lehnte sich mit beiden Ellbogen auf den Türrahmen und sagte kopfschüttelnd: „Und ich hatte einen Polizisten erwartet. Glücklicherweise bist es nur du.“

„Nur ich?“

„Du weißt schon, wie ich es meine. Jemand, der mich kennt.“

Was sollte er darauf sagen? Es hatte tatsächlich eine Zeit gegeben, da er glaubte, Grace zu kennen. Doch das hatte sich als verdammt falsch herausgestellt.

„Warum sprichst du mich eigentlich mit Ma’am an? Als wäre ich eine alte Frau. Dabei bin ich noch nicht einmal erwachsen.“

Er ließ seinen Blick über ihre Rundungen und den tiefen Ausschnitt ihrer Bluse wandern. Von wegen nicht erwachsen.

Schnell rief er sich zur Ordnung. Warum war er noch mal hier? Ach ja, wegen unvorsichtigen Fahrens. Nicht, um unvorsichtigen Gedanken nachzuhängen.

„Du bist zu schnell gefahren, Grace.“ Er zeigte auf die Kreuzung. „Die Straßen sind glatt, und überall laufen Fußgänger. Bitte fahr doch vorsichtig. Zum Besten von uns allen.“

„J. C., du kennst mich doch. Bin ich jemals vorsichtig gewesen? Und genau das hat dir doch gefallen, oder nicht?“

Er stützte sich am Dach ihres Autos ab und beugte sich hinunter. Immer näher kam er ihren haselnussbraunen Augen, und Erinnerungen an früher schossen in ihm hoch. Erinnerungen, denen er sich nicht hingeben durfte. Was zwischen ihm und Grace gewesen war, war schon so lange her, dass es ihm fast wie in einem früheren Leben vorkam. Er war damals ein anderer Mensch gewesen, hatte andere Ziele gehabt, andere Wünsche und Träume. „Natürlich kenne ich dich. Genau darum möchte ich ja, dass du vorsichtig bist.“

„Du bist doch nicht mein Vater. Was ist mit dem J. C. von früher?“

„Er ist erwachsen geworden.“ J. C. trat vom Auto zurück. „Willkommen in Beckett’s Run, Grace. Und denk daran: Hier bewegt sich alles etwas langsamer als du.“

Damit drehte er sich um und ging zu seinem Geländewagen zurück. Grace war in der Stadt. Das verhieß jede Menge Ärger.

2. KAPITEL

Grace hielt vor dem hellblauen Haus im Neuengland-Stil. Auch wenn sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, war ihr das Haus immer noch bis in den letzten Winkel vertraut. Sie wusste, welches Brett auf der Veranda verräterisch knarrte, wenn man zu spät nach Hause kam. Wie man die Tür am Hintereingang ein wenig anheben musste, wenn sie klemmte. Wie viele Schritte es von ihrem Zimmer zu Faith’ waren – und wie viele von dort zu Hopes Zimmer.

Die beiden waren bestimmt noch nicht eingetroffen. Die verantwortungsbewusste Hope, die sich ständig Sorgen um ihre beiden jüngeren Schwestern machte, und die stets vorsichtige Faith, die mittlere der drei, der nie ein Unfall passieren würde wie Grace vorhin.

Grace war die Wilde, die Aufsässige.

Beinahe jeden Sommer und alle Schulferien hatten die drei in dem kleinen Haus mit seinen vier Schlafzimmern verbracht, während ihre Mutter wieder mit irgendeinem Mann in den Urlaub geflogen war oder sich mit irgendetwas beschäftigte, von dem sie steif und fest behauptete, das sei jetzt wirklich ihre Berufung. Man werde schon sehen, sie werde damit noch viel Geld verdienen. Währenddessen wusste sie ihre drei Töchter bei deren Großmutter in guten Händen.

Grandma hatte sich wieder einmal selbst übertroffen bei der Weihnachtsdekoration. Den Treppenabsatz zierte auf beiden Seiten ein Topf mit einem kleinen Tannenbaum, geschmückt mit weißen Lichtergirlanden, die sich von den Bäumen aus an den Verandasäulen emporrankten und die ganze Breite der Veranda einnahmen. An der Eingangstür hing ein imposanter Adventskranz mit einer herrlichen roten Schleife, und im Garten waren an allen Büschen bunte blinkende Lichter angebracht. Ein Traum oder ein Albtraum, ganz wie man wollte.

Grace stieg aus und besah sich das Auto von vorne. Zum Glück entdeckte sie keinen Schaden. Irgendwelche kostspieligen Reparaturen, dazu noch an einem Mietwagen, konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen! Es war nichts passiert, und dennoch hatte J. C. ihren kleinen Ausrutscher fast zu einem Kapitalverbrechen aufgeblasen.

Er war kräftiger geworden und ganz offensichtlich auch reifer. Sie hatten verschiedene Wege eingeschlagen, und was auch immer früher zwischen ihnen gewesen war, lag nun weit zurück in der Vergangenheit.

Es gab keinen Grund, überhaupt über ihn nachzudenken. Sie würde nicht lange bleiben, jedenfalls nicht lang genug, um ihm noch einmal zu begegnen. Und das war auch gut so. Er war nicht mehr als eine Erinnerung, ein Teil der Vergangenheit, die sie schon lange zurückgelassen hatte. Und dennoch überlegte sie, was er wohl in der Stadt machte. Wie er lebte. Ob seine Erinnerung an sie noch genauso lebendig war wie ihre an ihn.

Sie schüttelte die Gedanken ab und ging zum Haus. Noch bevor sie an der Treppe angekommen war, kam ihre Großmutter heraus, drahtig und energiegeladen, mit weißen Haaren und einem breiten Lächeln im Gesicht. Eine Schürze mit Rentieren um die Hüften gebunden, eilte sie Grace mit ausgestreckten Armen entgegen.

„Grace, da bist du ja!“

Grace fiel ihrer Großmutter in die Arme. Ein Gefühl von Heimat überkam sie. Wie immer, wenn sie Grandma sah. Grace hatte Beckett’s Run zwar gehasst, weil den Leuten nichts so wichtig war wie ihre Traditionen und alles so furchtbar eng war, aber ihre Großmutter hatte sie immer geliebt. „Hallo, Grandma“, flüsterte sie.

„Schön, dass du da bist.“ Mary McKinnon lächelte Grace an, und ihre Falten glätteten sich. In ihren freundlichen blauen Augen funkelten ein paar Tränen. „Ich habe dich furchtbar vermisst.“

„Ich dich auch.“ Grace hob die rechte Schulter, um ihren Rucksack zurechtzurücken, der heruntergerutscht war. Sie wich der unausgesprochenen Frage in den Augen ihrer Großmutter aus, der Frage, warum sie sich so lange nicht hatte sehen lassen. „Was gibt es zu essen?“

Lachend ging ihre Großmutter voraus zur Tür. „Woher wusste ich nur, dass du das fragen würdest?“

„Weil einfach alles, was du kochst, fantastisch schmeckt.“ Grace legte sich die Hand auf den Magen. „Ich habe einen Mordshunger. Lange kann ich nicht mehr warten.“

„Musst du auch nicht. Und beim Essen können wir uns dann unterhalten.“ Sie nahm Grace’ Mantel und hängte ihn an die kleine Garderobe, an der noch alte Jacken der drei Schwestern von früher hingen. Als würde irgendjemand sie noch einmal anziehen. Nichts änderte sich in Grandmas Haus, und genau das liebte Grace daran so. Sie ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und ging ins Wohnzimmer.

Wenn die Weihnachtsdekoration draußen schon beeindruckend gewesen war, so war sie nichts gegen das Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein Tannenbaum wie aus dem Bilderbuch: saftig grün, mit dichten Zweigen, unten ausladend und oben spitz zulaufend. Vor allem aber war er über und über geschmückt mit Weihnachtskugeln, Kerzen, Strohsternen und allem anderen Erdenklichen.

Auf dem Kaminsims hatte Grandma ihre Sammlung an Weihnachtsmännern aufgestellt, und da der Platz nicht reichte, verteilten sie sich auch noch über das Bücherregal und die Kommode daneben. Statt der gewohnten blauen Kissen lagen nun grüne und rote auf dem Sofa, und Grandmas liebste rosa Häkeldecke war durch eine mit Rentieren bestickte ersetzt worden, von Tante Betty einst mühevoll handgefertigt. An den Fenstern leuchteten elektrische Kerzen, und die Vorhänge waren mit breiten roten Schleifen zusammengebunden.

War Grace am Kamin erst nur die Weihnachtsmannparade aufgefallen, so blieb ihr Blick nun an etwas anderem hängen. „Du hast die Weihnachtsstrümpfe aufgehängt.“

„Soll ich deinen Rucksack nach oben bringen?“

„Grandma, warum hast du die Strümpfe aufgehängt?“

„Weil Weihnachten ist, du dummes Ding. Ich habe dein Zimmer schon vorbereitet und dir eine extradicke Daunendecke bezogen. Bei all deinen Weltreisen hast du vielleicht vergessen, wie kalt die Nächte in Neuengland werden können. Und wenn eine Decke nicht reicht, dann findest du noch eine im Schrank.“

Autor

Shirley Jump
<p>Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
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