Sinnliche Küsse auf Capri

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Ein verlorenes Hochzeitskleid und eine Frau, die er eigentlich nie wieder küssen wollte! Für Sean Farrell ist die gefährlich bezaubernde Claire Chaos pur. Nur um die Hochzeit seiner Schwester zu retten, hilft er ihr … Aber warum bringt ihre sinnliche Nähe ihn dann um den Verstand?


  • Erscheinungstag 27.06.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751529877
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das passierte gerade doch nicht wirklich.

Es kommt bestimmt gleich, es muss einfach! Claire stand alleine vor dem stillstehenden Gepäckkarussell, auf dem kein einziger Koffer mehr kreiste. Panik erfasste sie. Wo war das Brautkleid ihrer besten Freundin?

Reiß dich zusammen, Claire Stewart, ermahnte sie sich, und such jemanden, der dir weiterhelfen kann.

Sie ergriff ihren Koffer und den großen Kleidersack mit ihrem Brautjungfernkleid und marschierte zum nächsten Schalter. Vielleicht war die Schachtel ja lediglich auf einem falschen Karussell gelandet und wartete nur darauf, abgeholt zu werden.

Eine halbe Stunde später stand fest, dass das Kleid irgendwo zwischen London und Neapel verschwunden war – das Kleid, das sie in mühevoller Handarbeit mit winzigen Perlen bestickt hatte. Das Kleid, in dem ihre beste Freundin in zwei Tagen auf Capri heiraten wollte.

Das war vielleicht nur ein Albtraum! Bestimmt wachte sie gleich auf. Verstohlen kniff sie sich in den Arm. Es tat weh. Oh, nein! Offenbar war sie tatsächlich in Neapel mit ihrem Gepäck, ihrem Brautjungfernkleid … und keinem Brautkleid.

Sie suchte sich eine ruhige Ecke, holte ihr Handy hervor und wählte Ashleighs Nummer. Der Anruf wurde direkt auf die Mailbox umgeleitet. Dies war definitiv keine Nachricht für den Anrufbeantworter. Sie versuchte ihr Glück bei Ashleighs Verlobtem Luke – vergebens. Claire sah auf die Uhr. Es war früh am Morgen, die beiden saßen vermutlich beim Frühstück und hatten ihre Handys auf dem Zimmer gelassen. Wen konnte sie sonst noch anrufen? Die Nummer von Lukes Trauzeugen Tom hatte sie nicht, und Sammy, ihre andere beste Freundin, die die Hochzeit fotografieren würde, reiste erst am nächsten Tag aus New York an. Die restlichen Hochzeitsgäste würden erst am Morgen der Hochzeit ankommen.

Somit blieb nur Ashleighs Bruder übrig. Der Mann, der Ashleigh zum Altar führen würde. Der Mann, der sich bei allem penibel an die Regeln hielt – im Gegensatz zu Claire. Er war der Letzte, an den sie sich mit ihrem Problem wenden wollte. Aber er war auch noch nicht auf Capri eingetroffen. Ihr blieb also noch Zeit, alles wiedergutzumachen. Sie brauchte nur einen Plan.

Nein, was sie bitternötig hatte, war eine Tasse Kaffee! In den vergangenen Wochen hatte sie nicht nur rund um die Uhr an Ashleighs Brautkleid genäht, sondern obendrein an einer Kollektion für eine Modenschau auf einer großen Hochzeitsmesse. Sie war kaum zum Schlafen gekommen, und nach dem frühen Flug nach Neapel fühlte sie sich jetzt ganz benommen.

Einen Espresso mit drei Stück Zucker später hatte Claire endlich einen Plan entworfen. Sie würde hin und her fliegen müssen, doch das war ihr egal. Ashleigh war viel mehr als nur ihre beste Freundin. Claire empfand für sie wie für eine Schwester – und würde für sie über glühende Kohlen laufen!

Sie griff nach ihrem Handy und wählte erneut Ashleighs Nummer. Diesmal hatte sie Glück.

„Hallo, Claire! Bist du schon in Neapel?“

„Äh, ja. Aber leider gibt es ein Problem. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir schonend beibringen kann. Ist Luke bei dir? Womöglich brauchst du ihn gleich.“

„Du machst mir Angst. Was ist passiert? Geht’s dir gut?“

„Mir schon. Aber ich habe Mist gebaut. Es tut mir so leid, Ash, dein Kleid … es ist irgendwo zwischen hier und London verloren gegangen.“

„Was?“

„Die Fluggesellschaft hat in London nachgefragt – dort ist es nicht mehr. In Neapel ist es aber auch nicht angekommen. Sie versuchen es aufzuspüren, können aber nicht garantieren, dass sie es bis zur Hochzeit finden.“

„Ach du meine Güte!“ Ashleigh rang hörbar nach Atem.

„Ich weiß – aber wir kriegen das hin! Bis zur Trauung kann ich natürlich kein zweites Kleid wie deines nähen, selbst wenn ich das Material und eine Nähmaschine hätte. Uns bleiben dennoch mehrere Möglichkeiten: Wir könnten in Neapel nach einem Kleid von der Stange suchen, das ich für dich abändere. Oder ich verstaue mein Gepäck in einem Fach hier am Flughafen und fliege sofort zurück nach London. Wir tragen ungefähr dieselbe Größe: Ich schlüpfe in jedes einzelne Kleid in meinem Geschäft und führe es dir über Skype vor. Du suchst dir die Kleider aus, die dir gefallen, und ich bringe sie mit der nächsten Maschine zu dir. Dann kann ich vor Ort die letzten Änderungen vornehmen, damit das Kleid perfekt wird.“ Nur würde es nicht perfekt sein – es wäre nicht Ashleighs Traumkleid, das Claire für sie persönlich entworfen hatte. „Du wirst trotzdem die schönste Braut der Welt sein.“

„Mein Brautkleid ist verschwunden!“, stammelte Ashleigh erschüttert.

Claire konnte ihre Enttäuschung nachempfinden. Ihre Freundin hatte sich bewusst für eine Hochzeit im Ausland entschieden, um traurigen Erinnerungen zu entkommen. Das Brautkleid war eine der wenigen Traditionen, die sie beibehalten wollte. Und nun hatte Claire sie im Stich gelassen. „Es tut mir so entsetzlich leid.“

„Du kannst doch nichts dafür, wenn die Fluggesellschaft mein Kleid verliert.“

Sean sieht das bestimmt anders, dachte Claire. Ashleighs Bruder war grundsätzlich anderer Meinung als sie und mochte sie daher nicht besonders. Er hielt sie für unfähig – und damit hatte er dieses Mal sogar recht. Sie wurde heute noch nicht einmal ihren eigenen Ansprüchen gerecht, geschweige denn seinen. „Ich habe versprochen, das Kleid nach Italien zu bringen, daher bin ich dafür verantwortlich, dass es jetzt weg ist.“ Umso wichtiger war es, den Fehler wiedergutzumachen. „Was sollen wir also tun? Uns in Neapel treffen und shoppen gehen?“

„Ich muss das gerade erst noch verarbeiten. Mein Kleid“, stöhnte Ashleigh. Sie hörte sich verzweifelt an, dabei war sie sonst die Gelassenheit in Person. Claire begann sich um sie zu sorgen.

„Okay, vergiss Neapel. Wir kennen dort ohnehin kein Brautmodengeschäft. Ich fliege nach London zurück. Such dir inzwischen auf meiner Website deine Lieblingskleider aus. Ich melde mich, sobald ich da bin, und führe sie dir vor. Dann bringe ich die, die in die engere Auswahl kommen, hierher … Ich würde es aber auch verstehen, wenn du mir diese Aufgabe nicht mehr anvertrauen möchtest.“

„Claire, Schatz, es ist doch nicht dein Fehler. Luke ist jetzt da und hat mitbekommen, was los ist. Er meint, er würde mich auch in einem Kartoffelsack heiraten. Das Kleid ist nicht so wichtig. Vielleicht finden wir ja hier auf Capri eines oder in Sorrent.“

Ashleigh riss sich sehr zusammen, aber Claire entging nicht, dass ihre Stimme bebte. Das Kleid war wichtig. Es bedeutete für Ashleigh ein Stück Tradition bei ihrer Hochzeit in der Fremde.

„Nein, Ash, es dauert zu lange, hier ein gutes Geschäft zu finden – und womöglich hat es dann nichts Geeignetes auf Lager. In meinem Laden finden wir hundertprozentig etwas, das dir gefällt. Ich fliege zurück nach London.“

„Dieses Hin- und Herreisen ist doch viel zu anstrengend.“

„Du bist meine beste Freundin. Für dich würde ich bis ans Ende der Welt gehen.“

„Also gut. Dann verschiebe ich unseren Termin im Spa.“

So viel zum Wellnessnachmittag, den sie geplant hatten. Noch eine Sache, die Claire durch das Kleiddebakel verdorben hatte. „Es tut mir schrecklich leid“, wiederholte sie. „Ich muss jetzt los, einen Flug buchen.“ Hoffentlich bekam sie einen Platz in der nächsten Maschine. Falls nicht … Bahn, Flug, Fähre: Irgendwie würde sie schon nach London kommen. Sie würde Ashleigh kein zweites Mal enttäuschen. „Ich melde mich, wenn ich da bin.“

„Sag jetzt bitte nicht, dass etwas dazwischengekommen ist und du es nicht rechtzeitig zur Hochzeit schaffst!“

„Natürlich nicht.“ Sean hörte die Panik in der Stimme seiner jüngeren Schwester und fragte sich, was passiert war. Litt sie lediglich an einem Anflug von Torschlusspanik oder hegte sie ernsthafte Zweifel an ihrer Entscheidung? Er mochte seinen zukünftigen Schwager zwar ungeheuer gern, sollte Ashleigh ihre Meinung geändert haben, würde er sie dennoch ohne Zögern unterstützen. Wichtig war nur, dass sie glücklich war. „Ich wollte nachfragen, ob ich noch irgendetwas mitbringen soll.“

„Oh, nein, danke.“

Sie wirkte eindeutig nervös, und so kannte er seine ruhige Schwester gar nicht. „Ashleigh, was ist los?“

„Nichts“, kam ihre Antwort viel zu schnell für seinen Geschmack.

Behutsam hakte er nach. „Schwesterherz, du weißt, du kannst mit jedem Problem zu mir kommen. Ich kann dir helfen.“ Er wusste, Ashleigh war nur drei Jahre jünger als er und durchaus in der Lage, mit allem fertig zu werden. Dennoch kümmerte er sich seit jeher um sie – auch schon vor dem Unfalltod ihrer Eltern vor sechs Jahren, der ihrer beider Leben in Scherben zurückgelassen hatte.

„Die Fluggesellschaft hat mein Brautkleid verloren“, platzte es aus Ashleigh heraus. „Aber es ist alles unter Kontrolle. Claire fliegt gerade nach London zurück, um Ersatz zu organisieren.“

Sean ließ die Neuigkeit erst einmal sacken: Es gab ein Problem mit der Hochzeit. Und Claire Stewart war daran beteiligt. Irgendwie überraschte ihn das nicht.

„Wollte Claire das Kleid nicht persönlich mitbringen?“

„Es war nicht ihre Schuld.“

Das ist es doch nie! Sean beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, um seiner Schwester nicht die Hochzeit zu verderben. Er würde schon eine Gelegenheit finden, Claire unter vier Augen seine Meinung zu sagen. „Okay. Kann ich sonst irgendetwas für dich tun? Ist Luke bei dir?“

„Nein, danke.“ Ihre Stimme bebte verdächtig. „Und ja. Luke meint, auf das Kleid komme es nicht an. Für ihn sei ich ohnehin die Schönste, und was zähle, sei unsere Ehe, nicht das Drumherum.“

Im Geist dankte Sean seinem zukünftigen Schwager. Ashleighs letzter Freund war selbstsüchtig und gedankenlos gewesen – und zufällig auch der beste Freund von Claires damaligem Freund. Claire hinterließ Chaos, wo immer sie ging und stand.

„Luke liebt dich aus ganzem Herzen. Ich bin ganz seiner Meinung: Du wirst die schönste Braut der Welt sein – egal, was du trägst.“ Bei dem Gedanken, dass sein Vater sie zum Altar hätte führen sollen, schnürte sich ihm die Kehle zu. Dennoch oder gerade deswegen würde er alles daransetzen, dass seine kleine Schwester ihre Traumhochzeit erleben würde.

„Danke. Mir geht’s gut – wirklich. Das ist alles nur ein kleines Problem, und Claire wird es lösen.“

Dafür werde ich persönlich sorgen, nahm Sean sich vor. Er legte auf und zog seinen Kalender zurate. Sämtliche Termine ließen sich bis nach der Hochzeit verschieben, das konnte seine Assistentin erledigen. Er rief Claire an, wurde aber sofort auf ihre Mailbox weitergeleitet. Entweder sie telefonierte, ihr Telefon war ausgeschaltet – oder sie hatte seinen Namen auf dem Display gelesen und wollte ein Gespräch vermeiden.

Nun gut, sie wollte es nicht anders. Er würde einfach vor ihrem Geschäft auf sie warten und sicherstellen, dass Ashleighs Kleid nicht erneut verloren ging.

Claire wohnte in Camden, direkt über ihrem Brautmodengeschäft, das den Namen „Kleiderträume“ trug. An der Ladentür hing ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen, innen brannte jedoch Licht.

Auf Seans Klingeln öffnete niemand, also drückte er erneut auf den Klingelknopf. Dieses Mal ließ er ihn nicht mehr los, bis jemand die Tür aufriss – jemand in einem Brautkleid.

Claire betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn, fragte aber nicht nach dem Grund seines Kommens. Sie schien sich denken zu können, dass er nur deswegen hier auftauchte, weil er über den Vorfall mit dem verlorenen Kleid Bescheid wusste. „Ich skype gerade mit Ashleigh“, sagte sie leise. „Können wir unseren Streit aufschieben, bis sie ihre Auswahl getroffen und aufgelegt hat?“

Gut. Sie schien zu wissen, dass er ein Wörtchen mit ihr zu reden hatte. Aber er wollte seine Schwester nicht unnötig aufregen. „Okay.“

„Komm rein. Wenn du etwas trinken willst, bedien dich! Tee, Kaffee und Tassen findest du im Schrank über dem Kessel.“ Sie wies auf die Tür zu einer winzigen Küche.

„Danke.“ Er würde ganz sicher keinerlei Beweise von Claire Stewarts Gastfreundschaft akzeptieren.

„Ashleigh wartet auf mich.“ Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Ich führe ihr die Kleider vor und muss mich dazu mehrfach umziehen. Also komm bitte nicht ins Hinterzimmer, bis ich fertig bin.“

„Verstanden.“

Sie schloss die Ladentür hinter ihm ab und verschwand im Hinterzimmer. Während er im Geschäftsraum auf ihre Rückkehr wartete, kam Sean sich ziemlich überflüssig vor. Gleichzeitig wollte er unbedingt hören, wie sie es geschafft hatte, das Brautkleid zu verlieren. Als sie schließlich zurückkam, trug sie verblichene Jeans und ein Top. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Also gut. Spuck’s aus.“

„Zuerst: Hat Ashleigh ein Brautkleid gefunden?“

„Ihr gefallen drei. Ich bringe sie, so schnell es geht, nach Capri, damit sie sie anprobieren kann. Sobald sie sich für eines entschieden hat, nehme ich die nötigen Änderungen vor.“

„Wie konntest du ihr Kleid überhaupt verlieren?“ Sean schüttelte fassungslos den Kopf. „Wieso hast du es nicht mit in die Kabine genommen?“

„Ob du’s glaubst oder nicht, das war meine Absicht. Ich hatte mit der Fluggesellschaft vereinbart, es als Handgepäck mit an Bord zu nehmen. Die Schachtel, in der ich es verpackt habe, entspricht exakt den Richtlinien der Fluggesellschaft.“

Das hörte sich durchdacht an … wäre diese Frau nicht das Chaos in Person. „Aber?“

„Dummerweise nahmen drei weitere Bräute denselben Flug. Eine von ihnen war eine grässliche Person. Sie hat darauf bestanden, dass ihr Kleid bevorzugt behandelt wird. Es kam zu einem Riesenkrach. Der Kapitän hat sich schließlich eingeschaltet. Er hat uns verboten, sie im Handgepäckfach zu verstauen, und angeordnet, dass sämtliche Brautkleider in den Frachtraum kommen. Die Stimmung an Bord war entsprechend schlecht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die Fluggesellschaft sucht weiter nach Ashleighs Kleid, es kann immer noch rechtzeitig auftauchen. Die neuen Kleider sind lediglich der Notfallplan – ich werde Ashleigh nämlich nicht im Stich lassen.“

Sean sah ein, dass das Chaos wohl doch nicht Claires Schuld war – zumindest nicht gänzlich. „Wieso hast du keinen zweiten Sitz für das Kleid gebucht?“

„Das war nicht möglich. Man hat mir gesagt, in Fällen wie diesen würde das Kleid als zusätzliches Handgepäck betrachtet – und dafür habe ich auch bezahlt.“ Sie sah ihn scharf an. „Nur, damit wir uns recht verstehen: Ich habe wochenlang an dem Kleid gearbeitet. Und ich fühle mich schrecklich, dass meine beste Freundin bei ihrer Hochzeit ihr Traumkleid höchstwahrscheinlich nicht wird tragen können. Jammern bringt es allerdings auch nicht zurück. Jetzt entschuldige mich bitte, ich muss die drei Brautkleider verpacken und einen Flug buchen.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Oder willst du mich erst noch anschreien? Tu’s ruhig, wenn du dich danach besser fühlst.“

Wie schafft sie es nur, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, obwohl sie doch im Unrecht ist? fragte Sean sich verblüfft. Aber sie hatte ja recht. Das verlorene Kleid würde nicht dadurch auftauchen, dass er ihr die vertrackte Situation vorwarf. Außerdem hatte Claire viel auf sich genommen, um ihr Missgeschick zu richten. Sie war am selben Tag nach Italien und zurück geflogen – pro Strecke zweieinhalb Stunden. Hinzu kam noch die jeweils einstündige Zugfahrt, ganz zu schweigen von den Wartezeiten zwischendurch. Gleich würde sie die Reise ein weiteres Mal antreten – und all das seiner Schwester zuliebe. Claire gab ihr Bestes. Er sollte es ihr gleichtun. „Soll ich den Flug buchen, während du die Kleider einpackst?“

Sie starrte ihn an, als wäre ihm soeben ein zweiter Kopf gewachsen.

„Was ist?“, fragte er ungeduldig.

„Bietest du mir wirklich deine Hilfe an? Mir?

Sean runzelte die Stirn. „Wie du das sagst, klingt es, als wäre ich ein Unmensch.“

„Nein, das ist meine Rolle, zumindest in deiner penibel geordneten Welt.“

„Ich bin nicht penibel! Ich bin organisiert und effizient – das ist etwas ganz anderes.“

Ihr Blick deutete an, dass sie da anderer Meinung war.

„Hör zu, ich biete dir hier einen Waffenstillstand an. Ashleigh zuliebe.“

Sie betrachtete ihn einen Moment lang. Schließlich nickte sie. „Dann nehme ich dein Angebot gerne an. Es spart mir Zeit, wenn du dich um den Flug kümmerst. Mir ist es egal, von welchem Londoner Flughafen aus ich starte und wie teuer der Flug ist. Und informiere die betreffende Fluggesellschaft, was heute Morgen mit dem Brautkleid passiert ist. Ich brauche eine Garantie, dass die Kleider diesmal ganz sicher mit nach Italien kommen. Sonst schneide ich das Bodenpersonal mit einem rostigen Löffel in Stücke.“

Wider Willen musste er lächeln. „Löffel sind nicht besonders scharf.“

„Deswegen nehme ich ja auch einen, und einen rostigen noch dazu!“

„Dir bedeutet Ashleigh wirklich viel, oder?“, fragte er.

„Das musst du doch wissen! Sie ist meine beste Freundin, seit ich mit dreizehn Jahren an ihre Schule gekommen bin. Sie ist wie eine Schwester für mich.“

Damit wärst du auch meine Schwester, schoss es Sean durch den Kopf. Leider waren seine Gefühle für Claire alles andere als geschwisterlich. Es war einfacher, seine Gefühle als Abneigung abzutun. Wenn sie nicht gerade wahnsinnig höflich miteinander umgingen, stritten sie. Ihre Weltanschauungen waren gegensätzlich. Claire und er waren grundverschieden und absolut unvereinbar. Dass ihr Haar ihn an ein Weizenfeld bei Sonnenschein denken ließ und ihre blauen Augen ihn an eine Spätsommernacht erinnerten, verdrängte er lieber. Und vor allem an ihren letzten Kuss würde er ganz sicher nicht denken. „Gut, dann kümmere ich mich jetzt um deinen Flug.“

Während er telefonierte, nahm Sean aus den Augenwinkeln wahr, wie sie die Kleider sorgfältig in Seidenpapier einschlug, sie in Plastikhüllen schob und diese in einer Schachtel verstaute, als hätte sie es schon viele Male zuvor getan. Was natürlich zutraf. Er hatte Claire noch nie bei der Arbeit gesehen, abgesehen von dem Tag, als sie Luke, Tom und ihn in Ashleighs Wohnung für die Hochzeitsanzüge vermessen hatte. Damals hatte er sich allerdings ganz darauf konzentriert, Ashleigh zuliebe höflich zu bleiben, und hatte gar nicht richtig mitbekommen, was sie eigentlich tat.

In seinen Augen waren Modedesigner allesamt verrückt und abgehoben. Die ausgefallenen Kreationen auf den Laufstegen ließen ihn kalt. Er fragte sich, was in den Köpfen der Designer vorging. Auf der Straße konnte man ihre Outfits jedenfalls nicht tragen. Die Frau neben ihm erschien ihm dagegen sehr geschäftsmäßig. Organisiert und effizient. Dadurch ähnelte sie ihm selbst viel mehr als seiner Vorstellung eines Designers.

Unwillig schüttelte er den Kopf. Das geht vorüber, keine Sorge, sagte er sich. Claire gehörte nicht in seine Welt, und er definitiv nicht in ihre. Sie würden in den kommenden Tagen Ashleigh zuliebe höflich zueinander sein und sich anschließend wieder aus dem Weg gehen. Es war besser so – und sicherer.

2. KAPITEL

Während Claire die Kleider verpackte, war sie sich Seans Gegenwart überaus bewusst. In maßgeschneidertem Anzug, handgenähtem Hemd und blitzblank polierten Schuhen war er ganz der korrekte Geschäftsmann, genauso gut würde er aber auch auf einen Laufsteg oder in ein Modemagazin passen.

Dass er sie unterstützte, überraschte sie. Hier arbeiteten sie harmonisch als Team, obwohl sie sonst immer die Klingen kreuzten – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.

Eine solche war zum Beispiel Ashleighs achtzehnter Geburtstag. Kurz zuvor war Claires Leben aus den Fugen geraten, als ihre Mutter gestorben war. Sie hatte sich auf Ashleighs Party zwar bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, hatte dann aber im Laufe des Abends ihren Kummer mit zu viel Champagner betäubt. Als Sean ihr zu Hilfe gekommen war, hatte sie sich ihm an den Hals geworfen. Er hatte sie zurückgewiesen, wofür sie ihm heute dankbar war, damals war es ihr jedoch entsetzlich peinlich gewesen. Sie hatte ihn monatelang gemieden wie die Pest.

Drei Jahre später hatte sie Ashleigh bei der Beerdigung ihrer Eltern beigestanden. Zu einem Zeitpunkt hatte sie Sean völlig verloren dastehen sehen. Es stand zu viel zwischen ihnen, als dass sie ihn hätte umarmen können. Also war sie zu ihm getreten und hatte ihm die Hand gedrückt. Die harmlose Berührung hatte ein Prickeln in ihrem ganzen Körper ausgelöst, doch es war nicht der rechte Zeitpunkt gewesen, diesem verwirrenden Gefühl auf den Grund zu gehen.

Bald darauf hatte Ashleigh verkündet, nicht ins Familienunternehmen einzusteigen. Claire hatte sie in ihrem Entschluss bestärkt, wodurch es erneut zum Streit mit Sean gekommen war. Er hatte ihr vorgeworfen, Ashleigh von ihrer Pflicht abzuhalten, während sie der Meinung war, ihre Freundin sollte ihrem Traum folgen. Sicher wollte Sean ebenfalls, dass seine Schwester glücklich wurde und sich nicht in einem ungeliebten Job gefangen und elend fühlte? Hatte der frühe Tod seiner Eltern ihm denn nicht gezeigt, dass das Leben zu kurz war, um nicht jede Sekunde voll auszukosten? Mathelehrer war schließlich kein zweifelhafter Beruf. Ashleigh liebte es zu unterrichten, und ihre Schüler beteten sie an. Sie hatte die richtige Entscheidung für sich getroffen. Sean war schon immer überfürsorglich gewesen. Und obwohl Claire verstand, dass er sich seit dem Tod seiner Eltern für Ash verantwortlich fühlte, musste er doch begreifen, dass seine Schwester auf eigenen Beinen stehen konnte – und ihren eigenen Weg gehen würde.

Sie versuchte, sich aufs Packen zu konzentrieren, wurde aber immer wieder von Sean abgelenkt, der im Hintergrund mit der Fluggesellschaft telefonierte. Seine selbstsichere Stimme erinnerte sie daran, wie heftig sie mit vierzehn Jahren in ihn verknallt gewesen war. Neben dem Alkohol war das wohl auch einer der Gründe gewesen, warum sie sich ihm drei Jahre später auf der Geburtstagsparty an den Hals geworfen hatte.

Dann war da noch die Verlobungsparty seiner Schwester. Ashleigh zuliebe hatte Sean sie zum Tanzen aufgefordert, und Ash zuliebe hatte sie zugestimmt. Mitten im Lied hatte sich aber etwas zwischen ihnen verändert. Diesmal hatte sie nicht mal dem Champagner die Schuld geben können – sie war nämlich stocknüchtern gewesen. Und doch hatte etwas sie dazu bewogen, den Kopf in den Nacken zu legen und ihm in die Augen zu schauen. Und da hatte er sie geküsst. Der Kuss hatte sie zutiefst erschüttert. Noch nie hatte sie allein von einem Kuss das Gefühl gehabt, ihre Knie könnten jeden Moment unter ihr nachgeben. Um ihre erschreckenden Emotionen zu überspielen, war sie zurückgewichen und hatte einen albernen Scherz gemacht. Die Atmosphäre war so erfolgreich zerstört worden.

Seither verhielt sie sich Sean gegenüber höflich und distanziert. Nur gelegentlich schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob er es damals auch gespürt hatte … Nein, sicherlich nicht. Wenn es um Männer ging, hatte Claire noch nie den Durchblick gehabt, doch dass Sean in ihr nichts anderes sah als die lästige beste Freundin seiner jüngeren Schwester, wusste selbst sie. Sie war diejenige, mit der er bei jeder Gelegenheit stritt und die er immer noch nicht ernst nahm, obwohl sie seit drei Jahren ein eigenes Geschäft führte und dieses heil durch die Rezession gebracht hatte.

Du musst ihm nichts beweisen, sagte sie sich. Sie war zufrieden mit sich und ihrem Erfolg.

Endlich waren die Kleider verpackt. „Hast du Erfolg gehabt?“, fragte sie Sean, der gerade das Telefonat beendete.

„Ich habe gute und schlechte Nachrichten.“

„Sag mir zuerst die schlechten, dann habe ich das Schlimmste hinter mir und kann mich auf das Gute freuen.“

Er sah sie verblüfft an. Diese Logik schien ihm fremd. „Die schlechte Nachricht ist, dass ich keine Fluggesellschaft finde, die dir gestattet, die Kleider mit an Bord zu nehmen.“

Okay. Keine Panik. „Dann muss ich eben mit dem Zug fahren. Nur erreiche ich Capri dann nicht vor morgen.“

„Warte, die gute Nachricht kommt erst noch: Wir fliegen nach Neapel.“

Sie sah ihn verständnislos an. „Gerade hast du das Gegenteil behauptet.“

„Ich bringe dich auf keinem kommerziellen Flug unter, dafür können wir mit dem Privatjet eines Bekannten fliegen.“

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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