Sinnlicher Winterzauber in Vermont

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Wird ein Wintermärchen wahr? Bei einer Schlittenfahrt im verschneiten Vermont spürt Rebecca plötzlich: Sie hat sich neu verliebt! Vor ihrer hässlichen Scheidung ist die aparte Ballerina aus New York in die ländliche Idylle geflohen, wo sie Haus an Haus mit Joshua Pearson wohnt. Sein warmes Lächeln und seine zärtlichen Küsse schenken ihr einen lang entbehrten Seelenfrieden. Wie gern würde sie daran glauben, dass Joshua und sie eine gemeinsame Zukunft haben! Aber sie weiß, dass sein Herz für immer einer anderen gehört – seiner verstorbenen Frau …


  • Erscheinungstag 28.11.2023
  • Bandnummer 242023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518963
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Nächste Woche ist zwar erst Thanksgiving, doch für diesen Weihnachtsklassiker kann es nie früh genug sein …“, erklärte die Moderatorin überschwänglich. „Also, drehen Sie die Lautstärke auf und gönnen Sie sich etwas festliche Stimmung.“

Joshua Pearson klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad, und während die vertraute Melodie das Wageninnere erfüllte, summte er die Strophe zunächst mit, ehe er textsicher zum Refrain überging. Was fehlte, waren der Tenor und der Sopran vom Rücksitz. Und es war lange her, dass sich eine warme Altstimme vom Beifahrersitz dazugesellt hatte …

Er hörte auf zu singen. Es war nicht dasselbe, allein nach Vermont in ihr Ferienhaus zu fahren. Doch zumindest würde er dieses Weihnachten nicht einsam verbringen oder sich in Arbeit flüchten müssen, während andere das Fest im Familienkreis genossen.

Nach drei langen Jahren würde die Familie Pearson Weihnachten wieder gemeinsam feiern. Fast alle Pearsons. Unwillkürlich wanderte sein Blick zum leeren Beifahrersitz. Joshua schluckte mühsam.

Vor zehn Jahre war Gabriella gestorben. Doch manchmal übermannte ihn die Trauer so sehr, dass es sich wie gestern anfühlte. Weihnachten war einer dieser Momente. Wie sehr hatte seine Frau die Feiertage geliebt! Dass die Kinder dieses Jahr nach Hause kommen würden, hätte sie überglücklich gemacht.

Die Kinder! Marco war zweiunddreißig und Chiara siebenundzwanzig. Aber für ihn würden sie immer Kinder bleiben. Joshua lächelte. Er klang schon wie sein eigener Vater.

Langsam wurde es dunkel, und der Nieselregen, der die Windschutzscheibe benetzte, nahm stetig zu. Es war lange her, dass er diese Strecke von New York zu der alten Blockhütte in Vermont zurückgelegt hatte, und er war sie noch nie allein gefahren. Doch wenn die Familie über die Weihnachtstage dort zusammenkommen sollte, musste er sicherstellen, dass alles in Ordnung war. Oder besser gesagt: perfekt.

Als Joshua vom Highway abbog, veränderte sich die Umgebung. Die weiten Ackerflächen wurden in der Ferne von Bergen begrenzt. Wie sehr er dies alles liebte: den kleinen pittoresken Ort, den romantischen Fluss, die malerische Umgebung, die im Frühling und Sommer zum Wandern und im Winter zum Skilaufen einlud.

Dieses Wochenende hierherzufahren, war eine gute Idee gewesen. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal eine Pause gegönnt hatte. Eine Reise, die ihn nicht aus beruflichen Gründen zu einem der Häuser seiner Hotelkette führte, die er im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut hatte. Jetzt musste er sich nur noch fest vornehmen, möglichst viel Zeit in freier Natur zuzubringen, anstatt die ganze Zeit aufzuräumen und alles für die Feiertage vorzubereiten.

Als er um eine scharfe Kurve bog, sah er vor sich am Straßenrand ein Auto stehen – und daneben eine weibliche Person, die die Hände in die Hüften stemmte. Da niemand außer ihm in der Nähe zu sein schien, bremste Joshua und hielt hinter dem eleganten silbernen Flitzer an. Die Frau schaute sich um. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Hoffnung und Misstrauen.

Warm vermummt in einer voluminösen hellen Daunenjacke, das blonde Haar zum Pferdeschwanz zurückgenommen, schätzte Joshua sie auf Anfang, Mitte vierzig. Er ließ seine Seitenscheibe herunter und reckte den Hals. „Brauchen Sie Hilfe?“

„Nein, danke“, kam es spröde zurück. „Ich habe jemanden angerufen, der jeden Moment hier sein sollte.“

„Platter Reifen?“

„Nein, eine Lampe leuchtete auf und … wie auch immer. Es ist bereits jemand unterwegs, lassen Sie sich also nicht aufhalten.“

Erst jetzt realisierte Joshua, dass sie offenbar Angst hatte und sich fürchtete. Vor ihm! Kein Wunder, es dämmerte bereits, die Gegend war menschenleer und der nächste Ort kilometerweit entfernt.

„Hören Sie …“, sagte er ruhig, „ich will Sie nicht belästigen. Aber wäre es okay, wenn ich so lange warte, bis die von Ihnen georderte Hilfe auftaucht? Ich werde in meinem Wagen bleiben. Wären Sie meine Frau oder Tochter, würde es mich beruhigen, wenn ich wüsste, dass Sie einer solchen Situation nicht allein ausgesetzt wären.“

Offensichtlich immer noch unentschlossen, nagte die Frau an ihrer Unterlippe.

„Ich bin Joshua Pearson“, stellte er sich verspätet vor. „CEO der Grand York Hotel Group. Unser Flaggschiff-Hotel liegt in Greenwich Village. Vielleicht kennen Sie es ja.“

Sie kuschelte sich noch tiefer in ihre Daunenjacke. „Ich kenne es.“

„Momentan bin ich auf dem Weg in unser Ferienhaus, um es für Weihnachten vorzubereiten.“ Wenn er sich nicht täuschte, nahm er den Schimmer eines Lächelns wahr.

„Es ist noch nicht mal Thanksgiving“, wandte sie ein.

„Schon klar, aber ich war lange nicht mehr hier. Vor drei Jahren haben wir zuletzt die Weihnachtsfeiertage dort verbracht. Deshalb wollte ich sichergehen, dass alles sauber und in Ordnung ist … Essen und Kaminholz bestellen und was noch so anfällt.“

„Verstehe.“ Sie zitterte und schlang die Arme noch fester um sich.

„Sie sollten wieder in Ihren Wagen steigen.“

„Der Motor springt nicht an, daher ist es drinnen genauso kalt wie hier draußen. Und hier kann ich mich wenigstens bewegen.“

„Ich habe hinten im Wagen eine Decke, die ich Ihnen gern geben würde.“

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. „Eine Decke?“

„Ja, und eine Thermoskanne mit heißem Kaffee. Meine Frau hat immer darauf bestanden, auf alles vorbereitet zu sein, wenn wir rauf in die Berge gefahren sind. Und alte Gewohnheiten legen wir nicht so leicht ab, wie jeder weiß. Fast hätte ich noch Snacks für die Kinder eingepackt.“

„Wie alt sind sie denn?“

„Heute?“ Er lachte. „Siebenundzwanzig und zweiunddreißig. Aber wären sie hier, hätte ich natürlich auch jetzt noch Apfelstückchen und Saft dabei.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Siebenundzwanzig und zweiunddreißig?“

„Ich weiß, dafür sehe ich einfach nicht alt genug aus“, scherzte er milde. „Ich war selbst fast noch ein Kind, als ich geheiratet habe.“

„Ach so …“

„Was ist mit der Decke?“, kam Joshua aufs Wesentliche zurück. „Ich könnte sie auf die Motorhaube legen und wieder in meinen Wagen steigen.“

„Sie halten mich sicher für verrückt.“

„Absolut nicht. Ich halte Sie für vernünftig und umsichtig.“ Joshua stieg aus und öffnete die hintere Wagentür, um an die Notfalltasche zu kommen. Gabriella war die Impulsivere von ihnen gewesen, hatte aber trotzdem darauf bestanden, im Winter niemals ohne Decken und Verpflegung in die Berge zu fahren. Und während Joshua sich Decke und Thermosflasche schnappte, sandte er einen stummen Dank gen Himmel.

„Bedienen Sie sich“, ermunterte er die Fremde und platzierte Decke und Thermosflasche wie versprochen auf der Motorhaube, bevor er sich wieder hinters Steuer setzte.

Sobald er die Fahrertür zugezogen hatte, trat die Frau vor. „Ich danke Ihnen und werde mir das hier fürs nächste Mal merken. Aber tatsächlich bin ich es nicht gewohnt, allein zu fahren oder überhaupt außerhalb der Stadt zu sein.“ Unschlüssig schaute sie zu ihrem Wagen hinüber und wieder zu ihrem Retter. „Tja, dann …“

„Alles gut, setzen Sie sich in Ihren Wagen und wärmen Sie sich erst mal auf.“

„Nochmals besten Dank. Und sagen Sie Ihrer Frau, dass sie ein kluger Kopf ist.“

Dazu nickte er nur stumm. Als sie sich auf den Weg zu ihrem Wagen machte, schloss er seine Seitenscheibe und gönnte sich einen Blick auf lange schlanke Beine in engen Jeans.

Dann lehnte er sich zurück, zückte sein Handy, checkte E-Mails und verlor sich in seiner Arbeitsroutine, bis ihn ein Motorengeräusch aufhorchen ließ und daran erinnerte, wo er war. Es war fast dunkel, doch auf dem sich nähernden Lieferwagen konnte er den Namen der örtlichen Gaststätte entziffern, und hinter dem Steuer erkannte er den Besitzer.

Joshua steckte sein Handy weg und zögerte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er den Motor anließ und kurz winkte, ehe er seinen Weg fortsetzte.

Rebecca blinzelte und versuchte, dem schräg einfallenden Sonnenlicht auszuweichen, das durch die Vorhänge fiel. Der Klingelton ihres Handys ließ sie zusammenzucken, während sie noch versuchte, die fremde Umgebung zu identifizieren.

Ach ja, die Autopanne!

Obwohl nur fünf Meilen von ihrem Zielort entfernt, hatte sie im örtlichen Gasthaus übernachtet, da die Werkstatt ihr Auto erst heute reparieren konnte. Nicht, dass sie die ungewohnte Umgebung wirklich wahrgenommen hatte, müde und erschöpft, wie sie war. Sie hatte sich nur eine wärmende Suppe auf ihr Zimmer bestellt und war gleich danach ins Bett gefallen. Und sie musste gut geschlafen haben, denn sie war weder zwischendurch aufgewacht wie sonst üblich, noch fühlte sie sich frustriert oder überfordert durch den abrupten Weckruf.

Sie tastete nach ihrem Handy. „Hallo …“

„Rebecca? Habe ich dich geweckt?“ Die Überraschung in Anitas Stimme war nicht zu überhören.

„Wie spät ist es denn?“

„Nach zehn. Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt so lange schlafen kannst.“

Auch Rebecca konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so lange geschlafen hatte. „Muss die gute Landluft sein …“, murmelte sie und rappelte sich auf.

Ihr Morgen begann normalerweise um sechs Uhr. Start: eine Stunde Yoga, gefolgt von einem Smoothie, dann um acht an den Schreibtisch, um eine Stunde zu arbeiten, bevor sie zum Unterricht ging.

Sie nahm immer noch täglich am Ballettunterricht teil, der seit jeher ein fester Bestandteil ihres Lebens war. Allerdings kehrte sie anschließend direkt in ihr Büro zurück, um mit Spendern, Designern oder Dirigenten zu sprechen, Proben beizuwohnen oder an Planungsgesprächen teilzunehmen. Doch am meisten freute sie sich auf die anderthalb Stunden, in denen sie und die Tänzer eine Einheit bildeten. Da ging es allein um die Koordination von Körper und Seele. Ihr Muskelgedächtnis übernahm die Regie, und sie musste sich nur auf die Platzierung ihrer Füße und Arme konzentrieren.

„Hast du dich von deinem Abenteuer erholt?“

Rebecca warf die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die Vorhänge auseinander. „Ich weiß nicht, Anita … vielleicht war es ja ein Zeichen.“ Der Anblick, der sich ihr bot, war idyllisch und fremd zugleich. Das großzügige Grundstück des Gasthauses grenzte an einen Fluss, an dessen gegenüberliegendem Ufer sich das Laub der Bäume in allen Schattierungen von Braunrot bis Gold präsentierte. Dahinter erstreckte sich in der Ferne eine imposante Bergkette, auf deren Wipfeln bereits Schnee lag.

Da sie an Straßen, Verkehr und Lärm gewöhnt war, empfand Rebecca die Stille um sich herum eher irritierend. „Irgendwie gehöre ich nicht hierher“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Vielleicht sollte ich einfach wieder zurückfahren. Allerdings will ich auf keinen Fall, dass Ivan denkt, er hätte gewonnen.“

Es dauerte einen Moment, bevor Anita antwortete. „Es geht nicht um Ivan oder um deine Scheidung, Rebecca, sondern allein darum, dass du dir seit vier Jahren keine Pause erlaubt hast. Was würdest du zu einer deiner Tänzerinnen sagen, wenn sie das täte?“

Darauf antwortete sie nicht, in erster Linie, weil sie ihrer Freundin recht geben musste. Es lag nicht allein an der zermürbenden Scheidungsschlacht oder daran, dass das Ende ihrer Ehe auf sämtlichen Titelseiten der Yellow Press breitgetreten worden war. Sie selbst war das Problem, weil sie sich verbissen in ihre Arbeit vergraben hatte, um der bitteren Realität ihrer gescheiterten Ehe zu entkommen.

Schlimm genug, dass sie zu ein paar Wochen Erholung verdonnert worden war, wenn auch in bester Absicht. Als jemand, der sehr stolz auf seine Stärke und Unverwüstlichkeit war und Perfektion als selbstverständlich betrachtete, konnte Rebecca das nur als Demütigung empfinden.

Ebenso demütigend war es, sich auf offener Landstraße von einem Wildfremden retten lassen zu müssen! Sie hatte noch nie zuvor die sprichwörtliche Jungfrau in Not gespielt, nicht einmal auf der Ballettbühne. Mit achtundvierzig damit anzufangen …

„Hör zu, Rebecca. Überlass es mir, mich um das Chaos hier zu kümmern. Dafür bezahlst du mich schließlich.“ Die Schärfe in Anitas Stimme war dem milden, einschmeichelnden Ton gewichen, der sie als Publizistin so erfolgreich gemacht hatte. „Du verbringst jetzt erst mal ein bisschen Zeit mit Lesen, Wandern und Schlafen. Und ehe du dichs versiehst, ist es Ende Dezember, und Trudie und ich feiern mit dir zusammen Weihnachten.“

Ein tiefer Seufzer schlüpfte über Rebeccas Lippen. „Vielleicht hast du recht … trotzdem fühlt es sich immer noch an wie Feigheit vor dem Feind.“

„Probier es eine Woche lang aus. Wenn dir die Hütte dann immer noch zu abgelegen oder rustikal erscheinen sollte, kannst du ja alternativ für ein paar Wochen nach Europa oder in die Karibik fliegen.“

„Abgelegen finde ich gar nicht so schlecht“, sinnierte Rebecca laut.

Hier kannte und erkannte sie niemand. Außerdem war es nett und unglaublich fürsorglich von Anita und Trudie, ihr den geliebten Rückzugsort anzubieten, der unter Garantie eher luxuriös als schlicht war. Anita war eine bekannte Publizistin und Agentin mit vielen Promi-Klienten und Trudie eine erfolgreiche Chirurgin. Beide Frauen genossen die schönen Dinge des Lebens.

„Langsam freue ich mich sogar auf eure Hütte.

„So abgelegen ist sie auch gar nicht“, erwiderte Anita. „Du bist nur fünf Meilen von Newington entfernt, und obwohl die Häuser alle versteckt liegen, gibt es noch ein paar weitere rund um den See. Die Cohens sind deine Nachbarn zur Rechten, und den Pearsons gehört das Blockhaus zu deiner Linken. Aber es ist lange her, dass Joshua dort war.“

Rebecca zuckte zusammen. „Joshua Pearson?“, hakte sie dann nach. „CEO der Grand York Hotel Group?“

„Du kennst ihn?“

„Nein, er war der barmherzige Samariter, der gestern mit mir auf den Abschleppwagen gewartet hat. Ich habe sogar noch seine Thermosflasche und seine Decke.“

Es war bereits ziemlich dunkel gewesen, und sie hatte ihn nicht wirklich gesehen. Doch der Eindruck von breiten Schultern und die Erinnerung an eine warme, freundliche Stimme waren ihr im Gedächtnis geblieben.

„Oh, das ist eine Überraschung. Nach der langen Zeit …“, murmelte Anita.

„Vielleicht ist er ja auch ein Arbeitstier, ähnlich beschäftigt wie ich und hat einfach keine Zeit, ständig in die Berge zu fahren“, warf Rebecca ein.

„Früher waren die Pearsons so oft wie möglich in ihrem Ferienhaus und traditionell auch über Weihnachten. Doch nach dem Tod von Joshuas Frau Gabriella haben er und die Kinder die Hütte nur noch selten benutzt. Es freut mich zu hören, dass sie die alte Tradition offenbar wiederaufleben lassen. Aber jetzt zu dir … hast du bereits Pläne, was du mit dem Rest des Tages anfangen willst?“, bemühte sich Anita um einen lockeren Ton.

Rebecca unterdrückte einen Seufzer. „Aufstehen, mich anziehen, den Wagen aus der Werkstatt holen, Lebensmittel bunkern und mich einrichten“, zählte sie auf.

„Perfekt. Ignoriere deinen E-Mail-Account und wage es nicht, deinen Namen zu googeln. Was du in erster Linie brauchst, ist ein Digital Detox.“

Rebecca rollte mit den Augen, was ihre Gastmutter zum Glück nicht sehen konnte. „Ich werde es versuchen. Danke, Anita.“

„Alles für meine beste Freundin und liebste Klientin. Pass auf dich auf.“

Dito … und liebe Grüße an Trudie.“ Rebecca legte ihr Handy zur Seite und lehnte sich zurück in die Kissen.

Wer hätte das gedacht? Ihr Retter vom Vorabend wohnte also gleich nebenan? Das war gut, so konnte sie ihm seine Sachen umgehend mit einem Dankeschön-Präsent zurückgeben. Rebecca hasste es, jemandem verpflichtet zu sein. Mit Anita war sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr befreundet. Damals hatten sie beide die renommierte New York City Ballet Academy besucht. Sie waren auch Rivalinnen gewesen, bis Anita mit achtzehn akzeptieren musste, dass ihre verletzungsanfälligen Knie eine Ballettkarriere unmöglich machten.

Stattdessen engagierte sie sich voller Elan in der von ihr gegründeten Agentur und vertrat Rebecca, deren Karriere stetig bergauf ging. Es war ein kluger Schachzug und für beide Frauen nur von Vorteil, denn Anita war in ihrem Business genauso zielstrebig und kreativ wie auf der Bühne. Dank ihr war es mit Rebeccas Karriere und ihrem Leben steil nach oben gegangen … bis auf die Schlagzeilen der letzten Wochen.

Sie seufzte. In diesem Moment empfand sie die Abgeschiedenheit hier in den Bergen und die damit verbundene Anonymität als reinen Segen. Aber jetzt: Ihre beste Freundin sorgte sich um sie, also keine Ausflüchte mehr. Es war höchste Zeit, aufzustehen, ihr Zuhause für die nächsten Wochen zu finden und sich dort einzurichten.

Es dauerte nicht lange, bis Rebecca die notwendigen Einkäufe erledigt hatte und sich auf den Weg zu Anitas Hütte machte.

Von wegen Hütte!

Was für eine dreiste Untertreibung, angesichts des beeindruckenden Domizils aus Glas, Stein und Holz, das als Krönung auch noch einen atemberaubenden Blick über den See bot, bis zu den dahinter liegenden Bergen.

Trotz wiederholter Einladungen war Rebecca zum ersten Mal hier, und während sie ihre vorübergehende Bleibe erkundete, spürte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel. Keine Frage, dass sie sich hier pudelwohl fühlen würde! Die untere Etage war ein einziger großer Raum, in Wohn-, Ess- und Kochbereich unterteilt und so gestaltet, dass die glänzende Designerküche, der große offene Kamin und die raumhohen Fenster perfekt zur Geltung kamen.

Eine Fußbodenheizung verlieh dem rustikalen Steinfußboden einen zusätzlichen, nicht zu unterschätzenden Reiz. Die stylischen Ledersofas zierten weiche Kissen, die Wände waren wie die Außenfassade eine moderne Symphonie aus Holz und Stein. Rebeccas Gästezimmer verfügte über ein eigenes Bad, einen Balkon und einen Lesebereich.

Was für ein Luxus!

Nachdem sie ausgepackt hatte, schnappte sie sich die geliehene Decke, die Thermoskanne und eine Schachtel Zimtschnecken, die sie in der örtlichen Bäckerei gekauft hatte, und schlug den Uferweg ein, der alle Grundstücke miteinander verband.

Joshua Pearsons Blockhaus lag keine dreißig Meter vom Wasser entfernt und bot denselben spektakulären Blick auf den See, aber das war auch schon alles an Gemeinsamkeit. Das zweistöckige schlichte Holzhaus mit einer Terrasse auf der Rückseite wirkte wesentlich rustikaler und bescheidener. Im Näherkommen registrierte Rebecca die blätternde Fassade und ziemlich ramponierte Fensterrahmen. Auf dem Dach schienen sogar einige Ziegel zu fehlen.

An die Dachrinne gelehnt stand eine lange Leiter, die Joshua gerade hinabstieg. Um seine Hüfte hing ein Werkzeuggürtel.

Abrupt blieb Rebecca stehen. Sie schluckte trocken und fühlte sich regelrecht eingeschüchtert angesichts der muskulösen Beine, des knackigen Hinterns und der breiten Schultern, die ihr bereits gestern aufgefallen waren. Als er sich umdrehte, sah sie sich einem überraschten Blick aus warmen braunen Augen ausgesetzt. Dunkles Haar, das an den Schläfen mit Grau durchsetzt war, fiel diesem Bild von Mann malerisch in die hohe Stirn.

„Hallo“, brachte sie hervor. „Hoffentlich störe ich nicht. Ich wollte mich noch einmal für Ihre Hilfe bedanken und Ihnen die Sachen von gestern Abend zurückgeben.“

„Hallo.“ Er stieg von der Leiter und kam auf sie zu. „Schön, Sie gesund und munter wiederzusehen. Und gratuliere … gute Detektivarbeit, mich hier aufzuspüren.“

„Das war nicht allzu schwer. Sie haben mir ja Ihren Namen genannt, und wie sich herausstellte, sind wir Nachbarn. Ich bin Rebecca Nelson und wohne in Anitas Hütte.“

„Freut mich, Rebecca.“ Er krauste die Stirn. „Haben wir uns vor gestern schon einmal getroffen? Sie kommen mir so bekannt vor.“

„Ich habe bereits mehrfach in Ihrem Hotel logiert.“

Er wirkte nicht überzeugt.

„Vielleicht haben Sie mich auch tanzen gesehen“, fügte Rebecca widerstrebend hinzu. „Ich bin künstlerische Leiterin vom New York City Ballet und frühere Primaballerina.“

Joshua schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Das ist es! Anita hat ein Foto von Ihnen an der Wand hängen, und ich selbst habe Sie auch schon auf der Bühne bewundern dürfen. Sogar mehrfach, da meine Frau das Ballett geliebt hat.“ Er lachte leise und schüttelte dann wehmütig den Kopf. „Ich gestehe, dass ich beim ersten Mal etwas Angst hatte, doch es hat mir wirklich gefallen. Aber es war ihr Ding, und ich habe Gabriella nur begleitet, wenn sie mich dazu eingeladen hat. Sie war ein großer Fan von Ihnen.“

Rebecca schluckte. Ich habe Gabriella nur begleitet, wenn sie mich dazu eingeladen hat.

Eine schlichte Aussage, die von Respekt und Sensibilität zeugte. Hätte doch Ivan etwas mehr davon gehabt …

„Jedenfalls wollte ich mich bei Ihnen bedanken und Ihnen Ihr Eigentum zurückgeben“, kam sie auf den Grund ihres Überfalls zurück. „Als kleinen Dank habe ich in der örtlichen Bäckerei ein paar Zimtbrötchen gekauft. Anita sagte, es seien die besten, die sie je gegessen hat.“

„Das wäre nicht nötig gewesen, ich habe gern den Retter in der Not gespielt. Doch Anita hat recht. Die Brötchen sind spektakulär, und der Zeitpunkt ist nahezu perfekt gewählt. Ich habe einen Kaffee aufgesetzt. Zeit für eine Tasse?“

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit hatte Rebecca nichts als Zeit. Sie musste sich nur noch daran gewöhnen. „Das wäre schön.“

„Na, dann kommen Sie rein. Wenigstens ist das Haus sauber“, meinte Joshua mit einer kleinen Grimasse. „Ich habe eine Firma mit der regelmäßigen Innenreinigung und den notwendigsten Gartenarbeiten beauftragt. Aber wie Sie sehen, ist alles andere in einem erbärmlichen Zustand – was allein meine Schuld ist, da ich dieses Schmuckstück so lange vernachlässigt habe.“

Er wies mit dem Kinn in Richtung der offenen Terrassentür, und nach kurzem Zögern trat Rebecca ein. Wie drüben bei Anita bestand das Erdgeschoss aus einem Raum, doch das war auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Die schlichte Küche nahm eine Ecke ein, flankiert von einem großen Esstisch, einer Bank und Stühlen. In der Mitte des Raums standen drei abgewetzte Ledersofas, so ausgerichtet, dass jeder, der dort Platz nahm, den zugegebenermaßen spektakulären Blick auf den See genießen konnte. Die Wand im Hintergrund war vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bestückt. Der Holzfußboden hatte Dellen und Kratzer, doch die farbenfrohen Teppiche, Überwürfe und Kissen verliehen dem Raum Wärme und Farbe, genau wie die Bilder und Fotos an den Wänden und über dem Kaminsims.

Der Raum wirkte anheimelnd, geliebt und genutzt, ungeachtet sämtlicher Schrammen und Macken. Oder vielleicht genau deswegen.

Autor

Jessica Gilmore
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Home for Christmas