Skandalöse Eroberungen - Gefangen zwischen Versuchung und Sünde (2 Miniserien)

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LADY ELEANORS VERWEGENER RITTER von JANICE PRESTON
Eleanor Ashby in Gefahr – auf ihre Kutsche wird geschossen! Zum Glück ist ein verwegener Gentleman als Retter zur Stelle: der attraktive Matthew Damerel. Zwar überschattet ein Skandal seine Vergangenheit, aber nach einem geraubten Kuss brennt die adlige Schönheit lichterloh vor Verlangen nach ihrem nicht standesgemäßen Retter …

LADY HARRIETS HUNGRIGES HERZ von JANICE PRESTON
Sir Benedict war ihre größte Liebe – und ihr größtes Unglück! Ihn unerwartet auf einem Ball wiederzusehen, reißt die schmerzliche Wunde in Lady Harriets Herzen auf. Aber seine sinnliche Umarmung erwidert ihr Körper mit verräterischer Sehnsucht. Als hätte er sie damals, als sie blutjung war, nicht verführt und schmählich verlassen!

FEUERPROBE DER VERSUCHUNG von CAROLE MORTIMER
Nach einer kalten Ehe will Pandora sich nie wieder binden und ihre Freiheit voll auskosten. Allein um Rupert Stirling, dem man skandalöse Eroberungen nachsagt, macht sie besser einen großen Bogen! Denn obwohl seine verwegene Erscheinung verlockende Gefühle in ihr weckt, ist Pandora überzeugt: Wenn sie sich mit ihm einlässt, wird sie sich ihm ganz und gar offenbaren – auch die Lüge, mit der sie seit Jahren lebt …

IN DEN ARMEN DES SÜNDIGEN LORDS von CAROLE MORTIMER
Lucifer. Wie gut dieser Name zu diesem Mann passt, denkt Genevieve. Lord Benedict Lucas sieht nicht nur teuflisch gut aus, er entfesselt auch ihre sündige Seite: Unmöglich kann sie seine Avancen ausschlagen! Mit fatalen Folgen: Ihre Verwandtschaft droht sie zu bestrafen, sollte sie ihr waghalsiges Verhältnis vertiefen. Doch Genevieve steht zu ihrem Begehren – bis sie erfährt, warum Benedict tatsächlich ihre Nähe sucht …


  • Erscheinungstag 23.03.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521826
  • Seitenanzahl 640
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Lady Eleanors verwegener Retter erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2015 by Janice Preston
Originaltitel: „Return Of Scandal’s Son“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 46 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Mira Bongard

Umschlagsmotive: GettyImages_Kharchenko_irina7

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733717315

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

April 1811

H ustend und dem Ersticken nahe, rüttelte sie am Griff des Fensters, konnte es jedoch nicht öffnen. Ihre Augen tränten, und die erhitzten Holzdielen versengten ihr die Füße. In ihren Ohren dröhnte das unheilvolle Tosen des Feuers, das unten wütete. Panik erfasste sie, und sie schrie …

„Ellie, Ellie! Wach auf!“

„Was?“ Eleanor erwachte in ihrer sanft schaukelnden Kutsche. Benommen starrte sie ihre Tante Lucy, die verwitwete Marchioness of Rothley an, die sie besorgt musterte. Sie lehnte sich gegen die Rückenpolster, wobei ihr der schreckliche Traum noch lebhaft vor Augen stand.

„Du hast geschrien. Wurdest du schon wieder von diesem Albtraum geplagt?“

Eleanor holte tief Luft – frische und reine Luft. „Ja, verzeih mir, wenn ich dich erschreckt habe, Tante.“ Allmählich ging ihr Herzschlag von einem Galopp in einen Trab über. „Alles an diesem Traum erscheint so real, und ich finde darin keinen Ausweg.“

„Ich bin bloß froh, dass du dem echten Feuer entkommen bist, mein Täubchen. Ich wage gar nicht daran zu denken, was alles hätte passieren können.“

Eleanor nickte.

„Mylady?“ Tante Lucys Zofe, die auf der gegenüberliegenden Bank saß, beugte sich zu ihr vor.

„Ja, Matilda?“

„Ist es wahr, dass jemand die Bibliothek absichtlich in Brand gesteckt hat?“

„Ja“, erwiderte Eleanor einsilbig. Sie wollte das Thema nicht näher erörtern. Jemand war in tiefster Nacht in Ashby Manor, ihrem geliebten Zuhause, eingebrochen, hatte auf dem Boden der Bibliothek einen Bücherstapel errichtet und ihn in Brand gesetzt. Der ganze Ostflügel war den Flammen zum Opfer gefallen. Und all die wunderbaren Bücher!

„Das habe ich dir doch schon erzählt.“ Lizzie, ihre eigene Zofe, die ebenfalls mit in der Kutsche nach London reiste, versetzte Matilda einen Stups mit dem Ellbogen. „Wenn Lady Ashby nicht zufällig aufgewacht wäre, hätte sie …“

„Lizzie!“

Die junge Zofe blickte sie schuldbewusst an und schwieg. Eleanor musste nicht daran erinnert werden, was geschehen wäre, wenn sie in jener Nacht nicht aufgewacht wäre. Sie erschauderte, wenn sie an den schrecklichen Moment dachte, als sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers geklettert war und vergeblich mit den Zehen nach der obersten Sprosse der Leiter getastet hatte, die noch wenige Augenblicke zuvor von ihrem Stallmeister Fretwell gegen die Wand gelehnt worden war. Wenn Lizzie nicht gekommen wäre … Vor Grauen zog sich Eleanor der Magen zusammen. Lizzie hatte aus einiger Entfernung beobachtet, wie jemand Fretwell niederschlug und die Leiter umwarf.

Wer ist dieser Unbekannte? Wollte er mich wirklich umbringen?

Obgleich die männlichen Bediensteten wenig später alles abgesucht hatten, war es ihnen nicht gelungen, eine Spur des Übeltäters zu finden. Fretwell hatte ihn nicht kommen sehen, und Lizzies Beschreibung war viel zu ungenau, um weiterzuhelfen. Außerdem hatte es in der Umgebung keine weiteren Vorfälle gegeben.

„Ich hoffe, Tante Phyllis fühlt sich bei Reverend Harris wohl“, sagte Eleanor zu Tante Lucy, um das Thema zu wechseln. Phyllis, ihre Tante väterlicherseits, hatte ihr ganzes Leben lang in Ashby Manor gewohnt und sich um sie gekümmert, nachdem ihre Mutter durchgebrannt war. Eleanor erinnerte sich, dass sie damals erst elf Jahre alt gewesen war. Seit dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren war Tante Phyllis ihre Anstandsdame.

„Oh, ich habe keinen Zweifel, dass sie es in vollen Zügen genießt, Zuhörer zu haben, die ihr nicht entfliehen können“, erwiderte Tante Lucy. Eleanor wusste, dass die ältere Schwester ihrer Mutter und Tante Phyllis nichts füreinander übrighatten. „Mein Mitleid gilt dem Reverend und seiner Frau. Ich bin froh, dass Phyllis es abgelehnt hat, dich nach London zu begleiten, mein Täubchen. Ich freue mich darauf, dich zu guter Letzt doch noch unter die Haube zu bringen.“

Eleanor schüttelte lachend den Kopf. „Du weißt ganz genau, dass ich nur nach London reise, um den Bauarbeiten zu Hause zu entfliehen. Ich hege nicht den geringsten Wunsch, einen Ehemann zu finden.“ Außer ich verliebe mich in jemanden und er sich in mich, und das ist ausgesprochen unwahrscheinlich.

„Du wirst darüber anders denken, sobald du jemandem begegnest, der dein Herz höherschlagen lässt“, entgegnete Tante Lucy, und ihre dunklen Augen leuchteten.

„Du hast eine andere Auffassung von Ehe als Tante Phyllis“, sagte Eleanor. „Ihr ist nur wichtig, dass der Bewerber die entsprechende Herkunft nachweisen kann und über ein großes Vermögen verfügt.“

„Ja, aber sie muss auch nicht mit dem Mann zusammenleben. Glaub mir, es ist eine Qual, mit einem Mann verheiratet zu sein, den du nicht achten kannst oder der sogar lieblos und grausam ist.“

Die Tante verfiel in Schweigen, und Eleanor nahm an, dass sie an ihre unglückliche Ehe zurückdachte. Der verstorbene Lord Rothley war ein gewalttätiger und unberechenbarer Mensch gewesen.

„Nein, das möchte ich wirklich nicht“, stimmte ihr Eleanor zu. Sie war froh, dass Tante Lucy sie nicht zu einer Ehe drängen würde, die ihr nicht behagte.

„Wo befindet sich das Haus, das James für uns gemietet hat?“, erkundigte sich die Tante.

Eleanor nahm den Brief ihres Cousins aus dem Ridikül, glättete ihn und fuhr mit einem Finger über die Zeilen, bis sie die entsprechende Stelle fand.

„Upper Brook Street“, sagte sie. „Ich hoffe, dass es sich als geeignet erweist.“

Nachdem James von dem Feuer und ihrem Wunsch erfahren hatte, London für die Saison einen Besuch abzustatten, hatte er umgehend in ihrem Namen ein Stadthaus gemietet. Wahrscheinlich wollte er sicherstellen, dass ich nicht bei ihm wohne, dachte Eleanor naserümpfend. Gewiss hatte seine Frau Ruth ihn dazu gedrängt.

Das Verhältnis zwischen ihr und Ruth war angespannt, seit diese herausgefunden hatte, dass nicht James, sondern Eleanor den Titel und Ashby Manor erben würde. Das Baronat gehörte zu den ältesten in England und war bereits im 11. Jahrhundert an einen ihrer Vorfahren vergeben worden. Da auch weibliche Nachkommen erbberechtigt waren, war sie seit dem Tod des Vaters die rechtmäßige Baroness Ashby.

Da hat Ruth wohl voreilig geheiratet … Eleanor schmunzelte. Ihrer Meinung nach hatte Ruth es sich selbst zuzuschreiben. Schließlich konnte es ihr nicht schnell genug gehen, James’ Ehefrau zu werden. Dabei hatte sie offenbar versäumt, sich vorher zu vergewissern, ob er Aussichten auf den Titel hatte. Zum Glück habe ich Ruths Bruder Donald gerade noch rechtzeitig durchschaut, dachte Eleanor. Auch wenn sie einen Skandal verursacht hatte, als sie sich am Vorabend der Verlobung von ihm losgesagt hatte. Sofort kursierten wieder die alten Geschichten über die Schande ihrer Mutter.

Es ist das schlechte Blut deiner Mutter!, hallten Tante Phyllis’ Worte in ihren Ohren nach. Seit ihre Mutter vor vierzehn Jahren mit einem Kaufmann durchgebrannt war, hatte sie sich diesen Satz immer wieder anhören müssen. Umso entschlossener war sie, künftig niemandem den geringsten Anlass zu geben, Gerede über sie zu verbreiten. Sie versuchte, sich wieder auf Tante Lucys fröhliches Plaudern zu konzentrieren.

„Die Upper Brook Street ist wirklich eine gute Adresse“, sagte die Tante gerade. „Ich mochte es stets, zur Saison in London zu sein. Und sicherlich wirst auch du diesmal eine glücklichere Zeit haben als bei deinem Debüt. Damals warnte ich deinen Vater und diese griesgrämige Phyllis, weil ich wusste, dass du noch zu jung und schüchtern warst. Und das war auch kaum überraschend, nachdem deine Mama … Wie dem auch sei! Ich werde kein Wort mehr darüber verlieren. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf London freue, mein Schätzchen. Und deine Gesellschaft wird mir guttun. Ich habe mich in Rothley fast zu Tode gelangweilt. Schließlich bin ich noch viel zu jung, um mich in das Witwenhaus zurückzuziehen, ganz gleich, was mein ältester Sohn behauptet.“

Am späten Mittag dieses ersten Reisetages riss ein ohrenbetäubender Knall sie aus ihren Tagträumen. Die Kutsche stieß gegen etwas, geriet ins Schwanken und kippte dann sehr langsam um, bis sie krachend auf dem Boden aufschlug. Unwillkürlich hatte Eleanor die Arme um Tante Lucy geschlungen, um den Aufprall abzufedern, während sie auf die Kutschenseite fielen. Die beiden Zofen landeten unter hysterischem Kreischen in einem Gewirr aus Armen und Beinen neben ihnen.

Eleanor richtete den Oberkörper auf, wobei sie noch immer die Tante festhielt. Ihre Hüfte schmerzte.

„Oje! Wie furchtbar!“, kreischte Matilda.

„Schüsse! Straßenräuber! Wir werden alle getötet! Großer Gott, steh uns bei!“, jammerte Lizzie.

„Lizzie! Matilda!“ Eleanor hob die Stimme, um sich angesichts des Gejammers der Zofen Gehör zu verschaffen, die sich aneinanderklammerten und die Augen geschlossen hatten. „Würden Sie bitte mit diesem höllischen Lärm aufhören! Ist jemand verletzt?“

„Mein Schädel … Oh, Mylady – Blut! Ich werde verbluten!“

Eleanor drehte sich zu Lizzie um, die sich entsetzt an die Stirn fasste. Dort hatte sie eine kleine Wunde, die wie alle Kopfverletzungen stark blutete. „Unsinn, Lizzie. Bitte reißen Sie sich zusammen. Hier, nehmen Sie mein Taschentuch und drücken Sie es fest gegen die Stirn. Es ist nur eine Schramme.“

Tante Lucy hatte sich mittlerweile von ihr gelöst und sich aufgerichtet. Beruhigend redete sie auf Matilda ein.

„Ist mit dir alles in Ordnung, Tante?“

„Ich bin nur kräftig durchgeschüttelt worden, mein Schätzchen, so wie wir alle. Aber dank deiner Fürsorge habe ich keine Verletzung davongetragen. Du hast dafür gesorgt, dass ich nicht hart aufgeschlagen bin, wofür ich dir herzlich danken möchte. Und Matilda scheint auch unverletzt zu sein, sie hat nur den Schrecken noch nicht ganz verkraftet.“ Sie verzog das Gesicht, als Matilda bei der Nennung ihres Namens erneut in Schluchzen ausbrach. „Und du, Ellie?“

„Ich habe mir nur eine Prellung an der Hüfte zugezogen. Gut, dass wir uns nichts gebrochen haben.“

„Was um alles in der Welt ist eigentlich passiert?“, fragte Tante Lucy. „Ach, jetzt hören Sie endlich auf zu jammern, Matilda. Niemand hat bleibende Schäden erlitten, und wir sind alle noch am Leben.“

„Ich weiß auch nicht, was geschehen ist. Aber Lizzie scheint mir in einem Punkt recht zu haben. Es klang nach einem Schuss.“ Eleanor bemühte sich, ruhig zu klingen, um die Panik, die unter der Oberfläche lauerte, zu verbergen.

Sie blickte zu dem Fenster der rechten Tür über ihren Köpfen. Obgleich die Kutsche auf der Seite lag, bewegte sie sich noch immer ruckweise, und Eleanor hörte, wie die Männer draußen versuchten, die ängstlich wiehernden Pferde zu beruhigen. Sie stellte sich auf die linke Tür, die jetzt zum Boden geworden war. Manchmal hat es doch seine Vorteile, groß zu sein, dachte sie mit trockenem Humor, während sie mit den Händen gegen die andere Tür stieß, die sich über ihren Köpfen befand. Mit lautem Knall schlug sie auf, woraufhin die erschrockenen Pferde noch lauter wieherten. Sie zog sich am Türrahmen hoch und steckte den Kopf durch die Öffnung. Sie konnte nicht viel erkennen und rief nach den Männern. Sofort kletterte ihr Kutscher Joey auf die Seite der Kutsche.

„Joey, Gott sei Dank! Was ist passiert? Bitte helfen Sie mir hinaus.“

Sie ergriff die Hände des Kutschers, der sie nach oben zog und ihr dann hinunter auf den Boden half. Ihr stockte der Atem, als sie das Chaos vor sich erblickte.

Alle vier Pferde waren zu Boden gestürzt. Das Führungsgespann strampelte und scharrte wie wild, um wieder Halt zu finden. Dahinter auf der rechten Seite lag ein Pferd blutend unter der Achse, sein linker Gespannpartner wälzte sich halb unter ihm, verdrehte wie wild die Augen und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Fretwell bemühte sich verzweifelt, die führenden Pferde mit einem Messer vom Ledergeschirr loszuschneiden. Timothy, der Lakai, wollte die Tiere beruhigen, musste aber immer wieder den Hufen ausweichen.

Eleanor wollte den Männern zu Hilfe eilen, doch Joey hielt sie am Arm zurück.

„Wir haben gerade eine scharfe Kurve passiert, Ellie. Geh bis dahin zurück und schau, dass niemand kommt. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, ist ein Zusammenstoß mit einer anderen Kutsche.“ Vor lauter Anspannung sprach der alte Kutscher mit ihr, als ob sie noch das kleine Mädchen von früher wäre.

Eleanor blickte zurück, und erst jetzt erkannte sie, in welcher gefährlichen Lage sie sich befanden. Die Kutsche war kurz hinter einer Kurve umgekippt. Nun blockierte sie fast die ganze Straße, die zu beiden Seiten von dichtem Wald gesäumt war. Sie erschauderte, wenn sie daran dachte, was sich in diesem Wald verbergen mochte. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Die Röcke gerafft, hastete Eleanor auf die Wegbiegung zu, wobei sie das Klappern von nahenden Pferdehufen vernahm.

Ihr Herz raste vor Angst. Es klang, als wären die Pferde schon auf ihrer Höhe, obgleich sie noch nicht zu sehen waren. Sie tat das Einzige, was sie noch tun konnte, um die Katastrophe zu verhindern. Sie eilte auf die Straßenmitte und winkte wild mit den Armen, als zwei schwarze Pferde, die einen Phaeton zogen, auf sie zupreschten.

Fluchend zog der Mann auf dem Sitz an den Zügeln, sodass sich der Wagen auf der Straße drehte und ruckelnd wenige Zoll von ihr entfernt zum Stillstand kam. Ihre Beine zitterten, und sie sah stumm zu, wie ein Reitknecht vom Dienersitz sprang und zu den Pferden rannte. Der Mann auf dem Vordersitz warf ihr einen wütenden Blick zu, zurrte dann die Zügel fest und sprang auf den Boden. Eleanor zuckte zusammen, als er mit grimmiger Miene auf sie zuschritt.

2. KAPITEL

S tolpernd wich Eleanor zurück, während sich der zornige Mann mit hochgezogenen Brauen über durchdringend eisblauen Augen näherte.

„Was um alles in der Welt hat Sie dazu veranlasst?“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen. „Wollten Sie sich umbringen …“ Er sprach nicht weiter, als er die Szenerie hinter Eleanor erblickte. Er fasste sie an den Oberarmen und sah ihr ins Gesicht.

„Sind Sie verletzt?“

Eleanor schüttelte den Kopf.

„Gut. Sie müssen jetzt ganz stark bleiben. Gehen Sie zu Henry da drüben.“ Er wies auf den Reitknecht. „Sagen Sie ihm, er soll zu mir kommen und mir helfen. Währenddessen halten Sie mein Gespann fest. Sind Sie dazu in der Lage?“ Sie nickte. „Braves Mädchen.“

Entschlossen eilte er auf die umgestürzte Kutsche zu. Eleanor, die noch immer unter Schock stand, starrte ihm einen Moment hinterher. Dann schüttelte sie die Benommenheit ab und tat, was der Fremde ihr aufgetragen hatte.

Braves Mädchen? Wofür hält sich dieser Mann? Er kann nicht viel älter sein als ich!

Sie schob diese unangenehmen Gedanken beiseite. Auch wenn es demütigend war, von ihm in die Rolle der hilflosen Frau gedrängt zu werden, schien er wirklich helfen zu wollen. Wie ein Ritter in glänzender Rüstung … Diese absurde Vorstellung brachte sie beinahe zum Lächeln. Ihrer Erfahrung nach verhielten sich Männer selten ritterlich gegenüber hochgewachsenen und unabhängigen Frauen wie ihr.

Die Gegenwart des Fremden trieb die Bediensteten zu noch größerem Eifer an. Bald war das Führungsgespann befreit, sodass die vorderen Pferde aufstehen konnten. Währenddessen hielt Eleanor die prächtigen schwarzen Hengste vor dem Phaeton am Zaumzeug fest und blickte sich in der waldreichen Umgebung um. Lag dort jemand auf der Lauer?

Timothy wurde zu einem nahe gelegenen Bauernhaus geschickt, das durch die Bäume zu sehen war, um Hilfe zu holen. Das verletzte Pferd, das noch immer verzweifelt strampelte, wurde untersucht. Eine hitzige Diskussion entbrannte, bevor der Fremde dem Kutscher eine Hand auf die Schulter legte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er schob Joey sanft in ihre Richtung, während er Fretwell zunickte, der eine Pistole aus dem Fach unter dem Kutschbock zog.

Mit Tränen in den Augen sagte Joey: „Sie erschießen sie, Mädchen. Meine Bonny. Sie ist von einer Kugel getroffen worden und hat sich ein Bein gebrochen. Wir können nichts mehr tun, um sie zu retten.“

„Oh, Joey! Es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr Sie an den Pferden hängen.“ Eleanor spürte, wie auch ihr Tränen in die Augen traten. „Schauen Sie nicht hin.“ Sie ergriff seine linke Hand und zog ihn zur Seite, damit er den Blick von der grausigen Szene abwandte. Wenige Sekunden später ertönte ein Schuss, der sie beide zusammenzucken ließ. Joey seufzte.

„Das war’s dann wohl, Mädchen … Entschuldigen Sie, ich meine, Mylady.“ Er riss sich zusammen. „Es gibt noch immer drei Pferde, die mich brauchen. Ich muss zurück.“ Er wandte sich zum Gehen, hielt jedoch einen Moment inne und sah sie besorgt an. „Mylady, wer ist zu einer so niederträchtigen Tat fähig? Auf ein unschuldiges Tier zu schießen, ist schon schlimm genug, aber es hätte auch einen von uns treffen können.“

Seine Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn, als sie zusah, wie er zu den anderen Männern zurückkehrte und sie gemeinsam Bonnys Kadaver von dem Gespannpartner Joker hievten. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, als Fretwell erneut die Pistole lud und langsam die Straße entlangging, wobei er zu beiden Seiten in den Wald starrte.

Mittlerweile war Joker wieder auf den Beinen, zitterte und ließ zu, dass Joey ihn streichelte und ihm beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Henry kehrte zurück, um sich wieder um das schwarze Gespann vor dem Phaeton zu kümmern, und Eleanor begab sich zu den Männern vor der Kutsche.

Ihr entging nicht, dass der Fremde sie prüfend musterte, und auch sie versuchte unauffällig, sich ein Bild von ihm zu machen. Sein Phaeton und die Pferde waren hochwertig, doch seine Kleidung – ein Paletot, der offen über einem weiten dunkelblauen Gehrock hing, Breeches aus Wildleder und ein unordentlich gebundenes Krawattentuch – war nicht dazu geschaffen, Eindruck zu schinden. Kein Gentleman aus ihrem Bekanntenkreis hätte einen solchen Mangel an Eleganz zur Schau getragen. Seine Statur war athletisch, das Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase – vermutlich das Ergebnis eines Nasenbeinbruchs – war entgegen der Mode gebräunt, und sein kantiges Kinn ließ ihn wie einen eigensinnigen Mann erscheinen, der nicht in die Gesellschaftszimmer der feinen Kreise passte.

Zweifellos stellte er einen Respekt einflößenden Gegner dar. Gegner? Sie ärgerte sich, dass sie seit dem Brand überall eine Bedrohung witterte.

Sie hob das Kinn und erwiderte den festen Blick des Mannes. Kühl taxierte er sie mit seinen blauen Augen. Seine Züge drückten Stärke und Zielstrebigkeit aus. Einen Moment lang kniff er die Augen ein wenig zusammen, bevor er lächelte. Dieses Lächeln nahm seinem Gesicht das Furchteinflößende, und mit einem Mal verströmten seine Augen Wärme und Herzlichkeit.

„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir.“

Er verbeugte sich. „Es war mir ein Vergnügen, Madam.“ Sein Lächeln wurde zu einem Strahlen. „Ich habe schon lange davon geträumt, eine junge Prinzessin in Not zu retten, und jetzt …“, er wies mit einem Arm auf die Kutsche, „… ist mein Traum wahr geworden.“

Eleanor nahm an, dass er sie verspottete, doch in seinem Blick ließ sich keine Heimtücke erkennen.

„Wie dem auch sei“, sagte sie. „Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar, und es tut mir leid, dass ich beinahe ein weiteres Unglück verursacht hätte.“

„Sie haben das Richtige getan. Es hätte schlimme Folgen haben können, wenn Sie nicht so entschlossen gehandelt hätten – oder genauer gesagt, mutig.“ Sie bemerkte ein teuflisches Funkeln in seinen Augen, als er leise hinzufügte: „Oder tollkühn.“

Eleanor öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch er drehte sich gerade um, weil ein leiser Schrei aus dem Inneren der umgestürzten Kutsche erklang.

„Große Güte!“ Erst jetzt fiel Eleanor ein, dass Tante Lucy, Lizzie und Matilda noch immer in der Kutsche gefangen waren. „Darf ich Ihre Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen, Sir?“

„Wer ist denn noch in der Kutsche?“

„Meine Tante und unsere Zofen.“

Der Fremde kletterte sofort auf die Kutschenseite, kniete sich hin, zog die drei Frauen nacheinander hinaus und half ihnen behutsam auf den Boden.

Offenkundig ist er es gewohnt, das Kommando zu übernehmen, dachte Eleanor, als sie beobachtete, wie zielstrebig er zu Werke ging. Bleich und aufgewühlt stellte sich Tante Lucy zu ihr.

„Wie geht es …?“ Eleanor konnte die Frage nicht zu Ende sprechen.

„Ich frage mich, wer unser Retter ist“, unterbrach Tante Lucy sie flüsternd. „Er ist sehr attraktiv – sehr männlich, meine ich. Oder findest du etwa nicht, Ellie?“

„Pst, Tante Lucy. Er wird dich noch hören“, zischte Eleanor.

Der Fremde schritt gerade auf sie zu. Er trug keinen Hut, und ein paar helle Strähnen seines dunkelblonden Haars fielen ihm in die Stirn. Unwirsch strich er sie nach hinten.

„Ich fürchte, dass ich erneut in Ihrer Schuld stehe, Sir“, sagte Eleanor.

„Wie ich bereits versicherte, ist kein Dank nötig. Es war … ist mir ein Vergnügen. Darf ich mich vorstellen? Matthew Thomas, zu Ihren Diensten, meine Damen.“

Tante Lucy, deren kleine dunkle Augen neugierig funkelten, erwiderte: „Lady Rothley.“

Mr. Thomas verbeugte sich. „Ich fühle mich geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Rothley. Und …?“

„Erlauben Sie mir, sie mit meiner Nichte Eleanor, Baroness Ashby, bekannt zu machen.“

Mr. Thomas verbeugte sich erneut. „Ich bin entzückt, Lady Ashby.“

Eleanor erkannte Bewunderung in seinem Blick. Es war, als ob ihr Inneres einen Purzelbaum schlüge. Oh ja, insgeheim stimmte sie ihrer Tante zu, dass er sehr attraktiv war. Sie wandte den Blick von Mr. Thomas zu Fretwell, der mit gerunzelter Stirn zurückkehrte.

„Fretwell, ich hoffe, Ihr Kopf hat keinen neuen Schaden genommen. Die Wunde war gerade erst verheilt.“

„Abgesehen von ein paar blauen Flecken ist mir nichts passiert, Mylady. Ich bin froh, dass keiner umgekommen ist – zumindest kein Mensch“, fügte er mit düsterer Miene hinzu.

„In der Tat hätte viel Schlimmeres passieren können …“

Fretwell warf Mr. Thomas einen misstrauischen Blick zu, bevor er leise fragte: „Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen, Mylady?“ Mit dem Kopf wies er auf die andere Seite der Straße.

Verwundert entschuldigte sich Eleanor bei Mr. Thomas und folgte dem Stallmeister. „Was ist los?“

„Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, Mylady“, sagte er. „Wir sind hier nicht sicher und wissen auch nicht, wer er eigentlich ist. Er ist sehr rasch nach dem Schuss aufgetaucht, finden Sie nicht?“

„Fretwell! Sie wollen doch nicht unterstellen, dass jemand absichtlich auf das Pferd geschossen hat, oder?“ Eleanor wies Fretwells Verdacht trotz der eigenen Zweifel von sich. „Weshalb sollte jemand …?“

„Nach dem Feuer scheint mir das hier kein Zufall zu sein.“

Der Brand … Das mittlerweile fast schon vertraute Unbehagen stellte sich wieder ein, doch sie ließ sich nichts anmerken. Es war ihre Pflicht, vor den Bediensteten Haltung zu bewahren. Wenn die Männer sie als schwache Frau betrachteten, würde der Respekt schwinden, und ihre Autorität war rasch untergraben.

„Unsinn!“, erwiderte sie. „Hier ist niemand zu sehen. Bestimmt war es nur ein verirrter Schuss eines Jägers. Und wenn Sie unterstellen wollen, dass Mr. Thomas etwas damit zu tun haben könnte, muss ich mich sehr über Sie wundern! Sonst geht doch auch nicht die Fantasie mit Ihnen durch.“

Fretwell errötete, blickte sie aber starrköpfig an. „Mylady, ich weiß, was in der Nacht des Feuers passiert ist. Das war kein Unfall, es geschah mit Absicht.“

„Schon gut, ich werde vorsichtig sein, aber bitte behalten Sie Ihre Mutmaßungen für sich. Ich möchte nicht, dass Lady Rothley Angst bekommt, und es gibt keinen Anhaltspunkt, dass Mr. Thomas in die Angelegenheit verwickelt ist.“ Sie erblickte ihren Lakaien in Begleitung eines Mannes, der zwei Zugpferde am Zügel führte. „Timothy kehrt mit Unterstützung zurück. Lassen Sie uns sehen, wie wir von hier fortkommen.“

Wie sie das mit einer beschädigten Kutsche bewerkstelligen sollten, war ihr allerdings ein Rätsel. Tante Lucy, Lizzie und die immer noch ins Taschentuch schluchzende Matilda hatten sich etwas entfernt auf einen Grashügel am Straßenrand gesetzt. Eleanor, die der Vorfall stärker in Mitleidenschaft gezogen hatte, als sie zugeben wollte, hätte sich am liebsten zu ihnen gesellt und alles Weitere den Männern überlassen.

Doch es ging um ihre Kutsche, ihre Pferde und ihre Bediensteten. Folglich trug sie die Verantwortung.

Sie begab sich zu den Männern und achtete nicht auf die verwunderten Blicke von Mr. Thomas und dem Bauern. Ihre eigenen Leute wussten nur zu gut, dass es nicht ratsam war, ihre Zuständigkeit infrage zu stellen.

Rasch wurde deutlich, dass Mr. Thomas sich nach wie vor als derjenige betrachtete, der die Anweisungen erteilte. Eleanor fand es zunächst amüsant, nur als Zuschauerin eingestuft zu werden, doch dann empörte sie sich immer mehr, als sie keinerlei Beachtung fand.

Sie trat einen Schritt vor, um ihre Autorität geltend zu machen.

3. KAPITEL

M atthew Thomas inspizierte die umgestürzte Kutsche.

„Befestigen Sie die Kette hier“, befahl er Timothy, zeigte auf eine Stelle an der Eisenfeder am hinteren Teil der Kutsche und bemühte sich, nicht auf die Baroness zu achten, der es offensichtlich in den Fingern juckte, das Kommando zu übernehmen.

„Timothy, Sie müssen die Kette weiter vorn anbringen – so weit hinten ist das sinnlos!“, erklärte sie ihrem Lakaien gebieterisch.

Matthew, der sich gerade vorgebeugt hatte, um zu überprüfen, ob die Kette gut befestigt war, hob eine Braue und sah die Baroness an.

Sie erwiderte seinen Blick mit der üblichen aristokratischen Überheblichkeit.

„Wenn die Kutsche von dort aus hochgezogen wird, wird sie sich eher drehen als sich aufrichten“, verkündete sie.

Matthew wurde wütend, wahrte jedoch die Beherrschung. Er war nicht mehr der unbändige Junge von einst.

„Wenn die andere Kette ganz vorne an der Kutsche befestigt wird, gleicht das die seitliche Bewegung aus, und wir können den Wagen mühelos aufrichten“, sagte er ruhig.

Im Grunde belustigte ihn ihre Entrüstung. Sie richtete sich kerzengerade auf, und ihre Größe war beachtlich für eine Frau. Sie war nur etwa zehn Zentimeter kleiner als er mit seiner Körpergröße von einem Meter fünfundachtzig. Ihr hellblauer Reisemantel klaffte auf und enthüllte eine feminine Figur, die er anerkennend musterte, bevor er ihr wieder in die hitzigen bernsteinfarbenen Augen blickte. Sie runzelte die Stirn und zog die dunklen Brauen zusammen.

Sein Interesse an ihr war in dem Moment geweckt worden, als er von seinem Sitz gesprungen und ihr in das bleiche Gesicht gesehen hatte. Sie war von auffälliger Attraktivität, wenn sie auch nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprach. Überdies besaß sie Courage – sich vor seine herangaloppierenden Pferde auf die Straße zu stellen, zeugte von außergewöhnlichem Mut.

Selbstverständlich konnte er ihre Schönheit bewundern und sie sogar begehren, doch dabei musste er eine Distanz wahren, als handelte es sich bei ihr um eine bezaubernde Skulptur oder ein Gemälde. Er war schon lange nicht mehr Teil der trügerischen Welt, der sie entstammte. Erneut wandte er seine Aufmerksamkeit der beschädigten Kutsche zu.

„Wir benötigen Stangen, um die Kutsche hochzuhebeln, während die Pferde ziehen“, stellte Eleanor ein paar Minuten später fest.

Matthew hielt erneut mit der Arbeit inne. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich zurück und sah ihn verunsichert an. Dann presste sie die Lippen zusammen und näherte sich wieder, bis sie sich beinahe Nase an Nase gegenüberstanden. War das Schneid oder nur ein angeborenes Überlegenheitsgefühl?

Er bemühte sich um einen gelassenen Tonfall und sprach sehr leise, damit keiner der Bediensteten seine Worte hören konnte. „Falls Sie unbedingt helfen möchten, schlage ich vor, dass Sie erneut meine Pferde festhalten. Dann kann Henry uns unterstützen. Außer, Sie haben ernsthaft vor, Ihre Schulter unter die Kutsche zu klemmen, wenn die Pferde zu ziehen beginnen. Bei allem Respekt scheinen Sie mir für eine derartige Tätigkeit weder körperlich geschaffen noch passend gekleidet.“

„Hm.“ Sie senkte den Blick.

„Übrigens haben Sie mit den Stangen vollkommen recht, Mylady.“ Er wies mit einem Arm auf das hintere Ende der Kutsche, wo bereits zwei stabile Stangen auf dem Boden lagen. „Wie Sie sehen, hat der Bauer an alles gedacht.“

Als sie in die angezeigte Richtung blickte, errötete sie.

„Oh.“ Sie schwieg einen Augenblick betroffen. „Das hatte ich nicht gesehen.“

Matthew bekam Gewissensbisse. Er hatte sie nicht lächerlich machen wollen. Er hätte sich nicht über ihre Arroganz ärgern sollen. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie zu der Welt gehörte, die er so verabscheute.

Nach wie vor standen sie sich dicht gegenüber, und ihr verführerischer Duft stieg ihm in die Nase – blumig und verwoben mit dem untrüglichen Aroma einer schönen Frau. Verlangen erfasste ihn, und er drehte sich rasch weg, um sich wieder dem vorliegenden Problem zu widmen.

Unter großen Mühen richteten die Männer die schwankende Kutsche auf und begutachteten das Ausmaß des Schadens. Ein Rad musste ausgetauscht werden, der Rest ließ sich mehr oder weniger gut reparieren.

„Es gibt im nächsten Dorf ’nen Stellmacher“, sagte der Bauer, der sich als Alfred Clegg vorgestellt hatte. „Ich lass ihn benachrichtigen. Die Pferde können solange auf meiner Koppel weiden. Wohin sind die Herrschaften denn unterwegs?“

„Wir haben Zimmer im White Lion in Stockport reserviert“, antwortete Eleanor, die von Henry abgelöst worden war und sich wieder zu den Männern gestellt hatte.

Der Bauer kratzte sich am Kopf und blickte gen Himmel. „Das is’ ziemlich weit weg, Madam. Außerdem wird’s sicher noch regnen.“

„Haben Sie eine Kutsche oder ein Gefährt, das wir von Ihnen mieten könnten?“

„Leider nich’, Madam. Meine Frau ist heute mit dem Gig zum Markt gefahr’n. Ich hab’ nur noch ’nen Heuwagen.“ Er blickte sie zweifelnd an. „Für Ihr Gepäck is’ das vermutlich in Ordnung, und vielleicht haben Ihre Bediensteten auch nix dagegen, aber …“ Er verfiel in Schweigen und schüttelte den Kopf. „Meine Pferde würden’s ohnehin heute nich’ bis Stockport schaffen. Sie sind stark, aber nicht schnell.“

„Ich habe für heute Abend ein Zimmer im Green Man in Ashton reserviert“, sagte Matthew. „Das liegt weit näher als Stockport, außerdem handelt es sich um einen sauberen und komfortablen Gasthof. Ich nehme an, dass sie dort noch ausreichend Zimmer für uns alle haben. Mit dem Heuwagen könnten wir problemlos das Gepäck und die Bediensteten befördern, und ich würde die beiden Damen in meiner Kutsche mitnehmen – falls sie nichts dagegen haben, ein wenig zusammenzurücken.“

Während er sprach, blickte er in die Runde. Die Mehrheit signalisierte Zustimmung, aber die Baroness sah ihn aufmüpfig an, und auch ihr Stallmeister musterte ihn mit Argwohn.

„Das scheint mir eine ausgezeichnete Ideen, Mr. Thomas. Bist du etwa nicht der Meinung, Ellie?“, mischte sich Lady Rothley ein.

Matthew erwiderte Lady Rothleys Lächeln und hoffte, dass sie nicht ahnte, wer er war. Er hatte ihre Söhne gekannt – zwei ungestüme Lebemänner –, doch der Marchioness war er zuvor nie begegnet. Es war viele Jahre her, seit er aus der Welt ausgeschlossen worden war, der diese Damen angehörten. In der Jugend hatte er seiner Mutter auffällig geähnelt, doch sein ereignisreiches Leben hatte auch sein Äußeres verändert. Er nahm an, dass die Ähnlichkeiten nicht mehr so augenscheinlich waren. Beim Gedanken an seine Mutter zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Mit einem stummen Fluch vertrieb er seine Schwäche. Seine Familie hatte nicht an seine Unschuld geglaubt. Sie hatten sogar vergessen, dass er existierte. Verbittert schob er die finsteren Erinnerungen beiseite.

„Ich würde es bevorzugen, wie geplant nach Stockport weiterzureisen, Tante“, erwiderte Eleanor. „Fretwell, Sie sollten besser hierbleiben – falls Mr. Clegg keine Einwände hat – und morgen die verbleibenden Pferde nach Hause bringen.“

Der Bauer nickte zustimmend.

Fretwell warf Matthew einen misstrauischen Blick zu. „Ich denke, ich sollte besser bei Ihnen bleiben, Mylady. Zum Schutz …“, murmelte er.

Matthew hob erstaunt die Brauen. Was war ihm hier entgangen?

„Nein, Fretwell. Ich werde meine Pläne nicht ändern. Ich miete eine andere Kutsche, die uns nach London bringt. Joey, Sie können ebenfalls hierbleiben und die Reparaturen überwachen. Ich werde Ihnen ein neues Gespann schicken, mit dem Sie uns nach London folgen können, sobald die Kutsche wieder reisetauglich ist.“

Zweifellos ist sie eine Frau, die ihre eigenen Entschlüsse fasst und ihre eigenen Wege geht, dachte Matthew, als er ihre Anweisungen hörte.

„In Ashton miete ich eine Kutsche, die uns weiter nach Stockport bringt“, fuhr sie fort. „Mr. Thomas hat ja freundlicherweise angeboten, uns bis dorthin mitzunehmen.“

Ihre unverhohlene Abneigung, einen Abend in seiner Gesellschaft zu verbringen, erzürnte Matthew. Für wen hielt sich Lady Ashby, dass sie ihn wie einen Niemand behandelte? Für einen Moment hätte er sie am liebsten auf der Straße stehen gelassen und wäre weitergefahren. Doch dann besann er sich. Die Baroness benötigte dringend eine Lektion, die sie von ihrem hohen Ross herunterbrachte.

Herausfordernd hob er eine Braue und wandte sich an Lady Rothley. „Da alle derartig durchgerüttelt wurden, scheint es mir ratsamer, Sie blieben heute Abend in Ashton, Mylady. Ich bin mir sicher, dass es Ihnen im Green Man gefallen wird und Sie einen gemütlichen Platz neben dem Kamin und ein heißes Getränk willkommen heißen.“

„Das ist eine verlockende Aussicht, Mr. Thomas“, erwiderte Lady Rothley und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

Eleanor verzog die Lippen.

„Ausgezeichnet“, sagte Matthew. „Dann ist alles geklärt. Ich bringe Sie und Ihre Nichte mit meinem Phaeton nach Ashton, und die Bediensteten und das Gepäck folgen uns mit Cleggs Heuwagen.“ Er wandte sich an Eleanor, wobei er über ihren Unmut schmunzeln musste. „Wollen wir aufbrechen, Madam?“

4. KAPITEL

D ie Fahrt zum Green Man war für Eleanor nicht nur unbequem, sondern auch peinlich. Die Sitzbank des Phaetons bot eigentlich nur für zwei Reisende Platz. Zu dritt herrschte quälende Enge, und zu ihrem Verdruss half Matthew ihr zuerst auf die Sitzbank, bevor er Tante Lucy hinaufhob. Dann kletterte er auf der anderen Seite hinauf, sodass Eleanor in der Mitte zwischen den beiden eingequetscht war.

Matthew Thomas brachte sie mit seinem wissenden Lächeln, dem spöttischen Tonfall und seiner männlichen Ausstrahlung ganz durcheinander.

Während der Fahrt verhielt sich Tante Lucy ungewöhnlich schweigsam.

„Bist du sicher, dass du keine Verletzung davongetragen hast, Tante?“, erkundigte sich Eleanor besorgt.

„Ja, ganz sicher. Mach dir um mich keine Gedanken, mein Schätzchen. Ich bin nur ein wenig müde, das ist alles.“

Ermattet schloss die Tante die Augen. Eleanor drückte ihr aufmunternd die Hände. Auch sie fühlte sich erschöpft, doch der muskulöse Oberschenkel von Mr. Thomas und die Hitze, die von ihm ausging, stellten sicher, dass sie wach blieb. Sosehr sie sich auch bemühte, sich auf die Straße vor ihnen zu konzentrieren, immer wieder wanderte ihr Blick zu seinen Händen, die von abgewetzten Lederhandschuhen verhüllt waren. Er führte die Zügel mit großem Geschick, und sein prachtvolles Gespann befolgte jede Anweisung.

„Wie lange haben Sie die beiden schon?“, erkundigte sie sich, auf die samtschwarzen Pferde weisend, deren Fell in der Nachmittagssonne glänzte. „Sie wirken wie …“ Sie zögerte, erschrocken über das, was sie hatte sagen wollen. „Ich meine, dass die zwei ein ausgezeichnetes Gespann abgeben.“

„Sie wirken wie was?“

Warum hatte sie bloß nicht die Zunge im Zaum gehalten? Er starrte sie durchbohrend mit seinen blauen Augen an.

„Sehen sie etwa zu gut aus für mich? Wollten Sie das eigentlich sagen?“

Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Sie wagte es, ihn von der Seite anzublicken. „Ich wollte Sie nicht verletzen.“

„Dann ist es ja gut, nicht wahr?“

Sie nahm ihm die Worte nicht ab. Eine Zeit lang war außer den Hufschlägen nichts zu vernehmen. Eleanor biss sich auf die Unterlippe.

„Nichtsdestotrotz haben Sie recht“, sagte Matthew schließlich. „Die Tiere sind weit kostbarer als jene, die ich mir sonst leiste. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich besitze sie erst seit gestern.“

Eleanor unterdrückte einen überraschten Ausruf. Es war kaum zu glauben, dass ein Gespann, das noch ganz neu war, den Befehlen so willig folgte. Zweifellos wusste Matthew Thomas mit Pferden umzugehen, doch schien es ihr nicht ratsam, das Lob auszusprechen. Der Mann war bereits eingebildet genug. Erneut heftete sie den Blick auf die Straße.

„Sie möchten Ihre Überraschung unbedingt verbergen, doch ich interpretiere Ihr Schweigen als Kompliment“, sagte Matthew grinsend. „Das besänftigt meinen verletzten Stolz.“

„Ganz offenkundig sind die Pferde ungewöhnlich gut geschult worden, bevor Sie sie erworben haben“, erwiderte Eleanor scharfzüngig, weil sie sich darüber ärgerte, dass er sie durchschaut hatte.

„Touché. Da haben Sie mir einen eindrucksvollen Hieb versetzt!“, rief Matthew lachend.

Eleanor hob eine Braue, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zuckten. „Falls Sie ein Kompliment verdienen, Mr. Thomas, werde ich nicht zögern, es auszusprechen. Doch bis dahin …“

Einen Moment herrschte Schweigen, dann begann Matthew erneut zu lachen. „Ihnen kann man es nur schwer recht machen“, sagte er. „Also fassen wir die Lage zusammen …“ Aus dem Augenwinkel sah Eleanor, dass er einen Blick auf Tante Lucy warf, die seit geraumer Zeit eingedöst war. „Sie haben beinahe einen schweren Unfall verursacht, indem Sie vor meinen Phaeton gelaufen sind – ein Unfall, der nur durch meine außergewöhnliche Kontrolle über die Tiere verhindert wurde. Anschließend habe ich Ihre Pferde befreit, Ihre Tante und die Zofen gerettet und geholfen, Ihre Kutsche wieder aufzurichten. Und jetzt bringe ich Sie zu einem Gasthof, in dem Sie sich von dem Schrecken erholen können. Dennoch halten Sie mich für keines Lobes wert?“ Er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern ganz nah an ihrem Ohr. „Was genau muss ich tun, um Ihre Anerkennung zu erringen?“

Eleanor erschauerte wohlig, als sie seinen Atem auf dem empfindlichen Ohrläppchen und wie eine Zärtlichkeit am Hals spürte. Sie beschloss, nicht auf die Frage einzugehen.

„Haben Sie eine weite Reise vor, Sir? Ich glaube, Sie erwähnten nicht, wohin Sie unterwegs sind.“

„Nein, das habe ich vermutlich nicht getan.“

Er sprach nicht weiter, und Eleanor hob das Kinn und richtete den Blick wieder auf die Straße.

Schließlich seufzte er in übertriebener Weise. „Ich bleibe für zwei Nächte in Ashton. Anschließend reise ich nach Worcestershire, bevor ich nach London zurückkehre.“

Sie hätte ihm am liebsten weitere Fragen gestellt, zog es aber vor zu schweigen.

„Und Sie? Reisen Sie zur Saison nach London, Mylady?“

„Ja, in der Tat.“

„Verbringen Sie jede Saison in der Stadt?“

„Nein, keinesfalls.“ Ausweichend zu antworten, fiel auch ihr nicht schwer.

„Haben Sie heute eine weite Strecke zurückgelegt?“, erkundigte er sich.

„Wir sind aus Lancashire gekommen.“

„Aus dem Norden oder Süden der Grafschaft?“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

Er lachte laut auf. „Waffenstillstand! Ich könnte dieses vergnügliche Frage-und-Antwort-Spiel endlos fortsetzen, aber anscheinend finden Sie keinen Gefallen daran. Ich werde Sie also nicht weiter mit meinen impertinenten Fragen behelligen.“

Dass er sie offenbar für humorlos hielt, versetzte Eleanor einen Stich. Sie war dieses lockere Gerede zwischen einem Mann und einer Frau nicht gewohnt. Gewiss ließ ihre Verlegenheit sie steif und unfreundlich wirken. Auch wenn sie nicht wusste, weshalb seine Meinung für sie eine Rolle spielen sollte. Ganz gleich, wie wortgewandt er sich ausdrückte, er gehörte nicht ihrem Stand an. War er ein wohlhabender Geschäftsmann oder ein Fabrikant?

Sie spürte, dass er sie beobachtete, und wagte erneut, ihn anzusehen. Seine blauen Augen wirkten nicht mehr eisig, sondern freundlich und offenherzig. Das heitere Lächeln verwandelte sein Gesicht und verlieh ihm einen anziehenden Charme. Als sie bemerkte, welche Bewunderung in seinem Blick lag, erhitzte sich ihr Blut. Sie spürte, wie sich eine verräterische Röte von ihrem Hals über die Wangen ausbreitete, und verunsichert senkte sie den Kopf.

Sie war eine unabhängige Frau – was in diesen Zeiten eine große Seltenheit war. Sie konnte frei über ihr Leben und ihr Vermögen verfügen und schuldete niemandem eine Rechtfertigung – seit ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag nicht einmal mehr den Vormündern. Mit zielstrebiger Entschlossenheit leitete sie die Verwaltung ihrer Ländereien und kümmerte sich um das Wohlergehen aller, die für sie arbeiteten. Doch so selbstsicher sie auch nach außen hin auftrat, in Gegenwart von Matthew Thomas fühlte sie sich ungeschickt wie ein junges und unerfahrenes Mädchen. Sie wusste einfach nicht, wie sie auf seinen flirtenden Tonfall reagieren sollte. Die Erfahrung mit Donald hatte sie daran zweifeln lassen, Männer angemessen beurteilen zu können und ihre Absichten zu durchschauen.

„Sofern Sie meine Anerkennung gewinnen möchten, sollten Sie sich einzig auf die Straße konzentrieren, Sir. Heute hatten wir schließlich schon genug Aufregung zu verkraften.“ Wieder blickte sie geradeaus und war erleichtert, dass The Green Man in Sicht war.

Als sie im Hof des Gasthofs anhielten, schreckte Tante Lucy mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. „Natürlich kann das ein weiterer Anschlag auf dein Leben gewesen sein, Ellie!“

5. KAPITEL

M atthew, der gerade vom Sitz springen wollte, hielt neugierig inne.

„Tante Lucy! Das ist absurd. Es muss ein Unfall gewesen sein.“

„Da kannst du dir nicht sicher sein, Ellie. Was ist mit dem Feuer im Herrenhaus? Jemand hat den Brand gelegt und abgewartet, was passieren würde. Er hat Fretwell fast den Schädel eingeschlagen, um ihn an deiner Rettung zu hindern, falls du das vergessen haben solltest!“

„Fast den Schädel eingeschlagen … Tante! Das ist wohl etwas übertrieben.“ Eleanor senkte warnend die Stimme. „Mr. Thomas hat bestimmt kein Interesse daran, diese wilden Spekulationen zu hören. Ich gehe davon aus, dass es ein Einbrecher war, und Fretwell befand sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ein Einbrecher? In der Bibliothek? Weshalb sollte ein Einbrecher absichtlich einen Stapel Bücher in Brand stecken? Du kannst das nicht einfach als Zufälligkeit abtun.“

Eleanor warf ihrer Tante einen erbosten Blick zu. Doch die alte Dame scherte sich nicht darum und fuhr fort: „Dein Schlafzimmer liegt direkt über der Bibliothek, und heute hat jemand auf deine Kutsche geschossen. Ganz gleich, welche Absicht hinter den Taten steckt, du scheinst in beiden Fällen eine Rolle zu spielen.“

„Ich glaube, du hast zu viele Schauerromane gelesen“, erwiderte Eleanor. Sie lachte, als ob sie das Geschehene auf die leichte Schulter nähme, doch Matthew war ihre gequälte Miene nicht entgangen. „So etwas passiert heutzutage nicht. Sicher stimmen Sie mir zu, nicht wahr, Mr. Thomas?“

Matthew kletterte vom Sitz. Eleanor blickte ihn fragend an und wartete offenkundig auf seine Zustimmung, doch die Geschichte interessierte ihn. Er würde sich nicht dazu drängen lassen, seine Meinung zu äußern, bevor er nicht genau wusste, was vorgefallen war.

„Bevor ich ein Urteil fälle, würde ich gern die Einzelheiten kennen, Mylady.“

Er half Eleanor vom Sitz und unterdrückte ein Grinsen, als sie errötete und ihre Hand sofort aus der seinen zog, sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte. Zweifellos war sie eine Frau mit widersprüchlichen Eigenschaften: In einem Moment spielte sie die große adlige Herrin, im nächsten wurde sie rot wie ein Schulmädchen. Von einer verheirateten Frau hätte er das nicht erwartet. Wahrscheinlich war ihr Gatte einer jener maßlos selbstherrlichen Aristokraten, die sich nicht die Mühe gaben, ihre Ehefrau zu umwerben. Dabei hätte sie es aus seiner Sicht wahrlich verdient!

„Ich denke, wir sollten darüber lieber sprechen, wenn wir unter uns sind“, fügte er hinzu und blickte in Richtung des Gastwirts, der ihnen zur Begrüßung entgegeneilte.

Eleanor drehte sich zu dem Mann um, doch Matthew kam ihr zuvor. Zwar kleidete er sich nicht wie ein Gentleman, doch seine guten Manieren – die allmählich wie aus einem langen Schlaf erwachten – geboten ihm als männlichem Begleiter, das Notwendige mit dem Wirt zu regeln.

„Guten Tag, Fairfax. Wir benötigen zwei zusätzliche Schlafzimmer für die beiden Damen und eine Unterkunft für ihre Bediensteten, die in Kürze eintreffen werden. Ich hoffe, dass Sie noch genügend Zimmer frei haben.“

Fairfax zog ein langes Gesicht. „Es tut mir leid, Sir. Ich würde gern alle unterbringen, aber mein Haus ist bis unters Dach ausgebucht.“ Mit einem Seitenblick auf die Damen fügte er leise hinzu: „Wegen des großen Faustkampfs, der morgen stattfindet, werden Sie heute nirgendwo in Ashton noch ein freies Zimmer finden.“

Matthew verfluchte sich. Er war so damit beschäftigt gewesen, die Probleme nach dem Kutschenunfall zu lösen, dass er gar nicht mehr an den Kampf gedacht hatte. Und dabei war der unerlaubte Faustkampf der Grund gewesen, weshalb er einen Umweg nach Ashton eingeplant hatte, nachdem er in Rochdale einen erfolgreichen Geschäftsabschluss getätigt hatte.

Eleanor trat einen Schritt nach vorn und unterbrach seine Überlegungen. „So wie es aussieht, müssen wir unsere Reise wohl doch fortsetzen, Mr. Thomas“, sagte sie mit unverhohlener Genugtuung und blickte ihn herausfordernd an.

Matthew verzog amüsiert die Lippen. Jetzt war sie also wieder die provokative große Dame.

Eleanor wandte sich an den Gastwirt. „Ich benötige eine Kutsche, um mit meinen Leuten nach Stockport weiterzureisen, wo wir für heute Nacht Zimmer reserviert haben. Würden Sie sich bitte darum kümmern?“

Bevor Fairfax antworten konnte, schwankte Lady Rothley leise stöhnend hin und her und hielt sich eine Hand an die Stirn. Eleanor war sofort an ihrer Seite und legte stützend einen Arm um die Taille ihrer Tante.

„Tante Lucy! Geht es dir nicht gut?“

„Ich glaube, der Schrecken sitzt mir noch immer in den Knochen, mein Schätzchen. Ich fühle mich mit einem Mal ganz schwindelig.“

„Komm, lass uns hineingehen. Du musst dich hinsetzen und dich ausruhen. Oh, was habe ich mir bloß dabei gedacht? Wie konnte ich auch nur in Erwägung ziehen, dich den Strapazen einer Weiterreise auszusetzen? Nur weiß ich nicht, was wir jetzt machen sollen, wenn es keine freien Zimmer mehr gibt …“

Ganz Gentleman, bot Matthew an: „Darf ich Ihnen vorschlagen, dass Sie das Zimmer nehmen, das für mich reserviert ist? Bestimmt treibt Fairfax auch noch Liegen für Ihre Zofen auf.“ Für ihn würde es eine längere Anreise bedeuten, um den morgigen Kampf zu sehen, doch die Unbequemlichkeit dürfte keine Rolle spielen. „Die Kutsche der beiden Damen war in einen Unfall verwickelt“, erläuterte er, an den Gastwirt gewandt.

„Selbstverständlich, Sir. Wenn es den Damen nichts ausmacht, ein Zimmer zu teilen, finden wir gewiss noch ein Eckchen für die Zofen. Die männlichen Bediensteten können oben über den Ställen schlafen. Ich nehme an, dass es ihren Ansprüchen genügt.“

„Ich werde noch heute nach Stockport weiterreisen und in einem der Zimmer nächtigen, das Sie reserviert haben. Im White Lion , nicht wahr?“, fragte Matthew nach.

Lady Rothley schien wieder munter zu werden. Mit ihrer zarten Gestalt und den glänzenden Knopfaugen erinnerte sie Matthew an einen Vogel, der einen saftigen Wurm erspäht. „Das ist eine ausgezeichnete Idee, Mr. Thomas, nicht wahr, Ellie? Ich muss gestehen, dass ich heute einfach nicht mehr weiterreisen kann.“

Eleanor drängte ihre Tante, in den Gasthof zu gehen. „Es tut mir leid, dass ich mir nicht genug Gedanken um deinen Zustand gemacht habe, Tante. Es muss ein furchtbarer Schreck für dich gewesen sein. Aber jetzt haben wir ja doch noch eine gute Lösung gefunden“, fügte sie hinzu. „Bestimmt wird es den Bediensteten ebenfalls recht sein, hier eine Pause einzulegen.“ Sie machte auf der Türschwelle halt, drehte sich zu Matthew um und streckte die rechte Hand aus. „Mr. Thomas, wir wissen Ihre Hilfe wirklich sehr zu schätzen, möchten Sie aber nicht länger aufhalten. Gewiss haben Sie eine Menge anderer Dinge zu erledigen.“

Ihre Überheblichkeit erregte seinen Zorn. Was war mit dieser Frau bloß los? Nachdem er ihr auf der Straße aus einer echten Notlage geholfen und überdies nichts weniger als sein Schlafzimmer geopfert hatte, wäre es wohl das Mindeste, dass sie ihn auf eine Erfrischung einlud.

„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich darüber Sorgen machen“, erwiderte er, nicht auf die ausgestreckte Hand achtend, „aber wenn Sie sich recht erinnern, waren wir eben noch in ein Gespräch verwickelt. Ich werde bleiben, bis ich mich vergewissert habe, dass Sie und Ihre Tante nicht in Gefahr schweben.“

Lady Rothley war stehen geblieben, um seinen Worten zu lauschen. Sie blickte ihre Nichte stirnrunzelnd an. „Also wirklich, Eleanor, wie kannst du dich nur so unhöflich verhalten, nach allem, was Mr. Thomas für uns getan hat?“ Sie schenkte Matthew ein Lächeln. „Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe ausgesprochen dankbar und versichere Ihnen, dass wir beide erfreut wären, wenn Sie gemeinsam mit uns Tee trinken würden.“

Der Tadel der Tante beschämte Eleanor. „Verzeihen Sie mir, Mr. Thomas. Ich nahm an, dass Sie in Eile wären, weil Sie noch weiter bis nach Stockport reisen müssen. Selbstverständlich sollten Sie mit uns Tee trinken, wenn es Ihre Zeit erlaubt.“

Matthew musterte sie. Ihre Zerknirschung wirkte aufrichtig, doch es lagen auch Anspannung und Misstrauen in ihrem Blick.

„Meinetwegen müssen Sie sich keine Gedanken machen“, sagte er leichthin. „Es bleibt mir noch ausreichend Zeit, um vor Einbruch der Nacht nach Stockport zu gelangen.“

„Nun denn. Fairfax, würden Sie uns bitte Tee bringen lassen?“, forderte Eleanor den Gastwirt auf.

Fairfax verbeugte sich. „Natürlich, Mylady. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Sie wurden in einen kleinen, aber sauberen Privatsalon geführt. Matthew wartete ab, bis Eleanor und ihre Tante Platz genommen hatten, bevor er sich an der gegenüberliegenden Seite des Kamins auf ein kleines Sofa setzte. Wenig später brachten zwei Dienstmädchen ihnen Tee und servierten dazu dünn geschnittene Brotscheiben mit Butter und einen köstlichen Rührkuchen.

Beim Eintritt in den Privatsalon hatte Eleanor den Hut, den Reisemantel und die Handschuhe abgelegt, und Matthew holte tief Luft. Sie war sogar noch attraktiver, als er zunächst gedacht hatte: Der elfenbeinfarbene Teint ihrer glatten Haut, der noch hervorgehoben wurde, als die Hitze des Kaminfeuers ihre Wangen rosig erglühen ließen, war verlockend. Er sehnte sich danach, sie zu berühren und ihre vollen rosenfarbenen Lippen zu küssen. Sie hatte glänzendes dunkelbraunes Haar, und die Locken, die ihr Gesicht umrahmten, leuchteten im Schein der Flammen. Wie würde ihr prachtvolles Haar erst zur Geltung kommen, wenn sie die Haarnadeln löste, und es ihr offen über die Schultern fiel? Und dann ihre verführerischen Rundungen … Es war lange her, dass er sich derartig zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte. Wenn sie sich nicht so arrogant gebärdet hätte, wäre er vermutlich in Versuchung geraten, in ihr die Frau seiner Träume zu sehen.

Vergiss deine Schwärmerei, sie ist verheiratet! Und selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, bewegt sie sich in einer gänzlich anderen Welt als du. Du weißt nur zu gut, dass sie dir nie die geringste Beachtung geschenkt hätte, wenn die Umstände sie nicht dazu gezwungen hätten!

Matthew verdankte sein bescheidenes Vermögen seiner Arbeit als Kaufmann. In den Augen der untätigen Aristokratie war das verpönt. Nein, solche Damen wie Lady Ashby würden ihn normalerweise keines Blickes würdigen.

Er wartete, bis sich die Dienstmädchen zurückgezogen hatten, bevor er auf das Thema zu sprechen kam, das ihn nicht losließ. „Erzählen Sie mir doch bitte, was es mit dem Feuer auf sich hat, von dem Ihre Tante gesprochen hat, Mylady.“

Nach anfänglichem Zögern berichtete Eleanor von der Nacht, in der es gebrannt hatte – von dem beißenden Rauch, der sie geweckt hatte, von dem Schrecken bei dem Versuch, aus dem Fenster zu fliehen, von Fretwells rätselhafter Verletzung und der schattenhaften Gestalt seines Angreifers. Aus all dem hörte er heraus, welchen Kummer ihr der Schaden bereitete, den ihr geliebtes Zuhause genommen hatte.

Matthew fand Eleanor immer faszinierender, und gleichermaßen wuchs auch die Sorge um sie. Ihr lebhaftes Mienenspiel offenbarte die Gefühle, die für sie mit dem schrecklichen Ereignis verknüpft waren. Belustigt und schelmisch funkelten ihre Augen, als Lady Rothley die Schilderungen mit einer Auswahl der abwegigsten Geistergeschichten würzte, die unter den Bediensteten kursierten. Sie brachen alle drei in Gelächter aus, als die Tante Matildas makabere Mutmaßungen zum Besten gab, von denen selbst Eleanor zuvor kein Wort vernommen hatte. Dabei formte sich ihr verlockender Mund zu einem strahlenden Lächeln, das ihrem ohnehin attraktiven Gesicht einen geradezu unwiderstehlichen Reiz verlieh. Ihr unbefangenes und ansteckendes Lachen ließ Matthew mit einem Mal eine schreckliche Einsamkeit empfinden. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Abgesehen von seinem Geschäftspartner Benedict Poole war er von niemandem abhängig und niemand von ihm – und genau so gefiel es ihm auch. Dass er Eleanor immer mehr begehrte, geschah ebenso unwillkommen wie unerwartet. Daher versuchte er, sich allein auf den Inhalt ihrer Worte zu konzentrieren.

„In Bezug auf den Vorfall auf der Straße“, sagte sie gerade, „wissen Sie bereits, was geschehen ist. Ich nehme an, dass ein Schuss bei einer Jagd fehlgegangen ist. Unglücklicherweise traf er ein Pferd aus meinem Gespann, weshalb die Kutsche umstürzte. Auch wenn meine Tante eine lebhafte Fantasie besitzt, scheint es mir ebenso wenig ein gezielter Angriff auf mein Leben gewesen zu sein, wie es bei dem Feuer der Fall war.“

Matthew fiel auf, mit welchen Ängsten sie in Wahrheit zu kämpfen hatte, auch wenn ihn das im Grunde nichts anging. Sehr bald würde er wieder seiner eigenen Wege gehen, und angesichts seiner lüsternen Gedanken je eher, desto besser. Wahrscheinlich würde er keine der beiden Damen jemals wiedersehen.

6. KAPITEL

E leanor entspannte sich immer mehr und vergaß das Misstrauen gegen Mr. Thomas, das Fretwell in ihr geweckt hatte. Hatte sie in ihm nicht sogar einen Ritter in glänzender Rüstung gesehen und sich insgeheim beklagt, dass einer Frau wie ihr niemals ein Mann schützend zu Hilfe eilte? Überdies stellte er sich als angenehmer Gesprächspartner heraus – zumindest wenn er sie nicht verspottete oder versuchte, mit ihr zu flirten. Wenn er sie mit seinen blauen Augen auf diese bestimmte Art und Weise betrachtete, erhitzte sich ihr Blut, und sie spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Das war ihr bei Donald nie so ergangen.

Ihre Blicke trafen sich erneut, und Eleanor kam es vor, als ob sie ein Blitz durchzucken würde. Hitze stieg ihr in die Wangen, und verwirrt starrte sie in die Flammen. „Meine Güte, das Feuer ist wirklich heiß.“

Sie klappte ihren Fächer auf und war froh, etwas zu haben, womit sie ihre Hände beschäftigen konnte. Glücklicherweise schien Tante Lucy ihre Aufgewühltheit nicht zu bemerken. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, so viel wie möglich über ihren Retter in Erfahrung zu bringen. Matthew Thomas wich den Fragen geschickt aus, und Eleanor hörte mit stiller Belustigung zu, wie alle verbalen Manöver der Tante ins Leere liefen.

Eleanor lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, sich zu entspannen. Sie beobachtete, wie er mit einer Hand die Tasse anhob. Das war nicht die weiche, sorgsam manikürte Hand eines Gentleman, sondern eine maskuline und zupackende Hand. Er trank den Tee aus und sah ihr kurz ins Gesicht, als er sich vorbeugte, um die Tasse auf dem Tisch abzustellen – die Lippen noch feucht von der Flüssigkeit. Verlangen erfasste sie, als sie dem Klang seiner tiefen Stimme lauschte. Sie hätte ihm ewig zuhören können. Wie wundervoll es sein musste, sich an einen solchen Mann zu lehnen und die Last des Lebens zu teilen …

Kaum huschte ihr dieser Gedanke durch den Kopf, verwarf sie ihn. Sie brauchte keinen Mann zur Unterstützung. Sie hatte die drei Jahre, die seit dem Tod ihres Vaters vergangen waren, in dem Streben verbracht, gerade dies unter Beweis zu stellen. Außerdem würde sich bei ihm letztlich dasselbe herausstellen wie bei allen Männern, die ihr bisher Aufmerksamkeit geschenkt hatten – in Wahrheit waren sie nur an ihrem Vermögen interessiert.

Natürlich träumte sie davon, dass jemand ihr Herz im Sturm eroberte und ihr Liebe und ewige Treue schwor. Aber würde sie ihrem eigenen Urteil jemals trauen können?

Donald hatte sie mit seinem eifrigen Werben zum Narren gehalten, nachdem sie sich auf James’ und Ruths Hochzeit begegnet waren. Er war Offizier in der Armee und für den Fronturlaub nach Ashby gekommen. Eleanor hatte geglaubt, dass er sie liebte. Und obgleich seine Küsse sie seltsam unberührt gelassen hatten, war sie davon ausgegangen, dass ihre Zuneigung für ihn mit der Zeit wachsen würde.

Sie musterte Matthew Thomas, und wieder fühlte sie sich maßlos zu ihm hingezogen … Gewiss würde ein Kuss von einem Mann wie ihm sie nicht gleichgültig lassen.

Würde sie jemals erleben, wie es war, von einem Mann in den Armen gehalten zu werden, der sie aufrichtig liebte? Sie pries den Tag, an dem sie zufällig mitgehört hatte, wie Donald mit seiner Schwester Ruth über sie gesprochen hatte. Seine Geringschätzung ihr gegenüber war mehr als eindeutig gewesen. Er war nur an ihrer gesellschaftlichen Position und dem Reichtum interessiert, den sie von ihrem dahinsiechenden Vater erben würde. Zum Leidwesen ihres Vaters hatte sie Donald am nächsten Tag eine endgültige Absage erteilt, und es war nicht zu der geplanten Verlobung gekommen. Donald war daraufhin zu seinem Regiment zurückgekehrt. Die traurige Nachricht, dass er den Krieg nicht überlebt hatte, erreichte sie wenig später.

Ihr Vater war im darauffolgenden Frühling gestorben. Noch immer bedauerte Eleanor, dass er sich bis zu seinem Tod Sorgen um ihre Zukunft und die der Ländereien gemacht hatte.

Im Zimmer war es still geworden. Schuldbewusst zuckte Eleanor zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu.

„Sie wirkten, als ob Sie ganz in Gedanken wären.“ Matthew sah sie fragend an. „Mir scheint, dass nicht alle davon angenehm waren …“

Eleanor errötete. Tante Lucy war neben dem Kamin eingeschlafen, sodass sie im Grunde allein waren.

„Ich glaube nicht, dass es für Sie interessant ist, woran ich gedacht habe, Mr. Thomas.“

„Sie würden sich über meine Interessen wundern, Mylady“, sagte er leise, und seine Augen funkelten.

Bewunderung lag in seinem Blick. Unsicher, was sie entgegnen sollte, betrachtete Eleanor ihre Hände, die sie auf dem Schoß verschränkt hatte. Sowohl ihr Debüt als auch die Erfahrung mit Donald hatten sie gelehrt, vorsichtig zu sein und der Bewunderung von Männern keine große Bedeutung beizumessen. Viel öfter war sie geheuchelt als aufrichtig.

Matthew blickte sie noch immer an, als ob er eine Entgegnung erwartete. Die Verärgerung über seine Hartnäckigkeit gewann die Oberhand.

„Sie irren sich, Sir.“ Sie verlieh ihrer Stimme einen ausdruckslosen Ton. „Meine Gedanken waren ausgesprochen vergnüglich. Ich dachte an all die Abendkleider, Hüte und Schuhe, die ich in London kaufen werde, und an die vielen wundervollen Feste und Bälle, zu denen man mich einladen wird.“ Sie musterte ihn mit ironischen Blicken. Seine Mundwinkel zuckten, und Lachfalten bildeten sich an seinen Augenwinkeln.

„Mit anderen Worten gehen mich Ihre Gedanken nichts an. Ich werde Sie nicht weiter mit meiner Neugier quälen. Schließlich haben wir alle das Recht auf Geheimnisse. Lassen Sie uns zu den unverfänglichen Themen wechseln, die Sie zu bevorzugen scheinen. Sie erwähnten, dass Sie nicht jede Saison in London verbringen …“

Eleanor lachte, weil er sich nicht von ihr hatte täuschen lassen. Ganz offenkundig war er klug. Dieser Mann sollte sie nicht für eine geistlose Liebhaberin von Tand und Vergnügen halten – ganz gleich, was sie eben geäußert hatte.

„Ich reise nach sieben Jahren erstmals wieder nach London.“ Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie weiter: „Ich freue mich darauf. Es ist mir zu Hause ein wenig langweilig geworden, müssen Sie wissen. Eine Zeit lang in der Stadt zu leben, ist eine willkommene Abwechslung.“

Sie sah, dass er die Augen leicht zusammenkniff, während sie beinahe über die eigenen Worte strauchelte. Sie musste vorsichtiger sein, wenn sie sich keine Blöße geben wollte. Klug? Oh ja. Er ist scharfsinnig und auf beunruhigende Weise einfühlsam.

„Ich habe das große Glück, dass meine Tante mich begleitet“, fuhr sie fort. „Sie war seit vielen Jahren nicht mehr in der Stadt, doch früher war sie als gute Gastgeberin bekannt.“ Sie lächelte. „Ich nehme an, sie möchte herausfinden, ob man sich an sie erinnert.“

„Besuchen Sie in der Stadt noch andere Familienmitglieder?“

„Mein Cousin James und seine Frau Ruth leben in London. James hat freundlicherweise in meinem Namen ein Haus gemietet, sodass wir nicht gezwungen sind, bei ihm zu wohnen. Meine Familie ist nicht sehr groß. Außer James gibt es nur noch meine Cousins mütterlicherseits – Lucas und Hugo, die beiden Söhne von Tante Lucy. Lucas hält sich in Rothley auf, aber ich hoffe, dass Hugo in der Stadt ist.“

„Rothley“, sagte er. „Der Name kommt mir bekannt vor, auch wenn ich den Ort gerade nicht genau zuordnen kann.“

„Er liegt in Northumberland.“

„Und einen kälteren und trostloseren Ort können Sie sich gar nicht vorstellen“, mischte sich Tante Lucy in das Gespräch. „Auch wenn die Rauheit der Natur durchaus ihren Reiz besitzt. Aus welchem Teil des Landes kommen Sie denn, Mr. Thomas?“

7. KAPITEL

Gerissen, wie sie war, hatte Tante Lucy ihren Retter doch noch in die Enge getrieben. Eleanor konnte Matthew an den Augen ablesen, dass er nach einer ausweichenden Antwort suchte.

„Aus Worcestershire, Mylady.“

„Aha“, sagte Tante Lucy mit hörbarer Genugtuung. „Ich glaube, Sie erwähnten, Sie wären dorthin unterwegs, bevor Sie nach London zurückkehren. Besuchen Sie Ihre Familie?“

Eleanor schmunzelte, denn Matthew blickte sie fassungslos an. Offenbar war ihm gerade bewusst geworden, dass Tante Lucy jedes Wort gehört hatte, das sie auf der Fahrt zum Gasthof gewechselt hatten. Das überraschte sie nicht im Geringsten. Sie wusste, wie weit die Tante ging, um ein saftiges Häppchen Klatsch und Tratsch in Erfahrung zu bringen. Sich schlafend zu stellen, gehörte zu ihren beliebtesten Taktiken.

„Nein, ich möchte nur ein paar Lieblingsplätze aus meiner Jugend aufsuchen – um der alten Erinnerungen willen.“

„Worcestershire ist ein hübscher Landstrich. Von welcher Gegend sprachen Sie doch gleich genau?“

„In der Nähe des Städtchens Bromsgrove.“ Matthew hatte die Brauen inzwischen weit zusammengezogen. „Allerdings ist es viele Jahre her, dass ich dort gelebt habe.“

Eleanor griff ein, bevor ihre Tante so lange stocherte und bohrte, bis ihr Gegenüber ungehalten wurde. Dann war es immer noch besser, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. „Verzeihen Sie, Mr. Thomas, aber ich glaube, meine Tante möchte wissen, ob sie mit Ihrer Familie bekannt ist.“

Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Obgleich Eleanor auffiel, dass ihm die hartnäckige Nachfrage Unbehagen bereitete, ließ sie nicht locker und sah ihn fragend an.

„Ich bin ein Kaufmann“, erläuterte er an Tante Lucy gewandt. „Können Sie irgendeinen Grund ersinnen, weshalb eine Lady wie Sie meine Familie kennen sollte?“

Oh, das war schlau! Diesen Angriff hat er mit Bravour abgewehrt. „Offenkundig haben Sie eine gute Bildung genossen“, sagte Eleanor.

„Ja, meine Familie war … ist … nicht arm. Ich war in Harrow im Internat.“

Ein Klopfen an der Tür kündigte Fairfax an. „Ihre Bediensteten und das Gepäck sind eingetroffen, Myladies.“

Er verschwand, und bald erschienen Lizzie und Matilda an der Tür. Tante Lucy erhob sich vom Sessel.

„Mr. Thomas, bitte entschuldigen Sie mich. Ich bin sehr müde. Die Ereignisse des Tages haben mich ein wenig in Mitleidenschaft gezogen, und meine alten Knochen schmerzen. Da meine Zofe jetzt hier ist, um mir zu helfen, werde ich mich zurückziehen. Ich hoffe aber, dass wir uns wiedersehen. Statten Sie uns doch in der Upper Brook Street einen Besuch ab, wenn Sie wieder in die Stadt zurückkehren.“

Matthew verbeugte sich. „Das werde ich mit Vergnügen tun, Mylady, und sei es nur, um mich zu vergewissern, dass Sie und Ihre Nichte Ihr Ziel ohne weitere Zwischenfälle erreicht haben.“

Dann wandte sich Tante Lucy an Eleanor. „Ellie, würdest du bitte mit Fairfax sprechen und ein leichtes Abendessen bestellen, das später auf unser Zimmer gebracht wird? Da die Gaststube überfüllt sein wird, erscheint es mir unklug, wenn wir beide zum Essen hinuntergehen. Wir sollten keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.“ Zum Abschied lächelte sie in Matthews Richtung. „Mr. Thomas, erlauben Sie mir, Ihnen erneut meinen Dank für Ihre Hilfe auszusprechen. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten.“

Erschöpft klammerte sie sich an Matildas Arm und verließ mit ihr den Privatsalon. Lizzie wartete an der Tür, doch Eleanor winkte ab.

„Gehen Sie ruhig schon mit nach oben, Lizzie, während ich noch mit dem Gastwirt rede. Ich komme sofort nach.“

„Sie sollten uns umgehend auf das Zimmer folgen, sobald Sie mit ihm gesprochen haben, Mylady“, erwiderte Lizzie und warf Matthew einen argwöhnischen Blick zu. „In diesem Gasthof laufen ein paar fragwürdige Gestalten herum.“

Etwas Missmutiges vor sich hin murmelnd, verschwand ihre Zofe den Gang hinunter. Fretwells Verdächtigungen schienen ansteckend zu sein.

Eleanor schenkte Matthew ein verlegenes Lächeln und wollte sich von ihm verabschieden.

„Ich bedaure, dass es zwischen uns zu Unstimmigkeiten gekommen ist, Mylady“, sagte Matthew. „Wollen wir Frieden schließen? Ich habe die Einladung Ihrer Tante in die Upper Brook Street angenommen, aber ich wäre erleichtert, wenn Sie sich ebenfalls über meinen Besuch freuen würden.“

Ihr war bewusst, dass sie sich Matthew gegenüber schnippisch und überheblich verhalten hatte, doch sie wusste einfach nicht, wie sie auf seine ebenso spöttische wie charmante Art reagieren sollte. Unsicher lächelnd streckte sie die rechte Hand aus. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mr. Thomas. Ich wollte nicht undankbar erscheinen und bin auch nicht immer so streitsüchtig. Ich bin es einfach gewohnt, die Herrin im Hause zu sein, und es fällt mir schwer zuzulassen, dass andere für mich Entscheidungen fällen. Dennoch weiß ich Ihre Hilfe wirklich zu schätzen. Ich werde Sie mit Freude in unserem Haus in der Upper Brook Street willkommen heißen.“

Er ergriff ihre Hand, doch statt des Händedrucks, den sie beabsichtigt hatte, hob er ihre Finger an seinen Mund. Als er die Lippen auf ihre nackte Haut presste, fühlte sie ein Kribbeln am ganzen Körper. Sein durchdringender Blick ließ ihr Herz schneller schlagen.

Verwirrt wich sie einen Schritt zurück. Sie rang nach Luft, als er ihr folgte und sie entschlossen mit seinen blauen Augen anblickte.

„Sir … Mr. Thomas?“

Er blieb stehen, und Eleanor sah, wie seine Miene versteinerte, bevor er sich kurz verbeugte. „Ich fürchte, ich hätte fast meine guten Manieren vergessen, Mylady. Ich kann Sie nur um Verzeihung bitten und hoffe, dass Sie es mir nicht nachtragen.“

Was hatte sie getan? Als sie einander in die Augen geblickt hatten, hatte Eleanor gewollt, dass er … was tat? Sie berührte? Das schlechte Blut der Mutter …

„Da wir gerade erst Frieden geschlossen haben, würde ich mich unglaubwürdig machen, wenn ich die Feindseligkeiten so rasch wieder aufnehmen würde, Mr. Thomas. Es war ein langer und anstrengender Tag. Sollten wir es vielleicht einfach darauf schieben?“

„Sie sind äußerst großzügig. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen, aber wenn Sie gestatten, leite ich zuvor die Wünsche Ihrer Tante an Fairfax weiter. Dann können Sie gleich nach oben gehen, sonst kommt Ihre grimmige Zofe Sie bestimmt suchen.“ Er zog eine Grimasse, als ob er sich schrecklich vor der Bediensteten fürchtete.

Gegen ihren Willen musste Eleanor lachen. „Du meine Güte! Ich habe Sie nicht für einen solchen Feigling gehalten, Mr. Thomas. Lizzie hat nur ihre Pflicht getan, weil Tante Lucy zu müde war, um als Anstandsdame bei uns zu bleiben.“

Als sie ihn lachend ansah, verdunkelten sich seine Augen und funkelten verwegen. Dann blinzelte er, und es war vorbei.

„Ich hoffe, dass Sie eine ruhige Nacht haben, Mylady. Bei meiner Rückkehr in die Stadt werde ich Ihnen einen Besuch abstatten“, versprach er mit fester Stimme.

„Dann sage ich nicht ‚Leben Sie wohl‘, sondern ‚Auf Wiedersehen‘, Mr. Thomas, und ich danke Ihnen nochmals für Ihre unschätzbare Hilfe.“

„Es war mir ein Vergnügen. Bis bald.“

Er verbeugte sich und war verschwunden.

8. KAPITEL

M itten in der Nacht wurde Matthew plötzlich von einem durchdringenden Schrei aus dem Schlaf gerissen. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu besinnen, wo er war – in einem der beiden Zimmer, die Lady Ashby für sich und ihre Tante im White Lion in Stockport reserviert hatte. Als aus dem Nachbarzimmer eine Reihe dumpfer Geräusche zu vernehmen waren, sprang er aus dem Bett. Im Dunkeln tastete er sich zur Tür.

Auf dem Gang öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite, und der Bewohner hielt einen Kerzenhalter in die Höhe und spähte hinaus. Die flackernde Flamme erhellte die mürrischen Züge eines alten Mannes im Nachtgewand, der eine Schlafmütze trug.

„Was ist los?“, grummelte er.

Matthew verlor keine Zeit mit Antworten, sondern rannte gegen die Tür des Nachbarzimmers an, bis sie aufsprang. Dabei achtete er kaum auf den Alten, der mit bebender Stimme rief: „Das ist das Zimmer meiner Jenny!“

In diesem Zimmer war es ebenso dunkel wie in seinem eigenen, und Matthew konnte nur das Keuchen von Menschen vernehmen, die anscheinend auf dem Bett kämpften. Er eilte näher und schrie: „Bringen Sie Licht!“

Als der gebrechliche Mann die Tür erreichte, wurde die Szene mit einem Mal sichtbar: Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt drehte sich um. Seine Augen funkelten durch die Löcher einer Maske. Eine Klinge blitzte auf, und Blut verteilte sich spritzend auf dem Bettlaken. Matthew sah das bleiche und schmerzverzerrte Gesicht eines völlig verstörten Mädchens, das die Augen schloss.

Matthew packte den maskierten Mann und zerrte ihn vom Bett. Dabei fiel dessen Messer zu Boden. Als der Angreifer sich auf ihn stürzte und versuchte, ihn zu erwürgen, stolperte Matthew rückwärts. Er kämpfte, und es gelang ihm, die Hände des Maskierten von seinem Hals zu lösen. Schließlich ließ der Angreifer ihn los, stieß den Alten beiseite und rannte aus der Tür. Während Matthew noch nach Atem rang, war der Übeltäter bereits außer Sichtweite. Der alte Mann im Nachtgewand – wahrscheinlich Jennys Vater – stand wie erstarrt da, den Mund vor Entsetzen geöffnet.

Als Matthew zur Tür hastete, um die Verfolgung aufzunehmen, hielt ihn ein Stöhnen zurück, das vom Bett kam. Das Opfer benötigte Hilfe. Er fand eine Kerze auf dem Kaminsims und zündete sie an. Dann ging er zu Jennys Vater, ergriff ihn an den Schultern und schüttelte ihn.

„Sir, Sie müssen jetzt stark sein.“ Er hörte, dass sich im Haus etwas regte und Stimmen laut wurden. „Finden Sie den Gastwirt und sagen Sie ihm, dass er sofort einen Arzt rufen soll. Und schicken Sie die Wirtin her.“ Er schob den alten Mann auf den Gang. „Beeilen Sie sich!“

Matthew ging auf das Bett zu. Das Mädchen lag reglos unter der Decke. Einzig ihr Gesicht, die Schultern und Arme waren sichtbar. Arme und Hände zeigten Spuren eines Kampfes. Blut floss aus den Wunden, wenn auch nicht in Strömen. Es gab also Anlass zur Hoffnung. Matthew überprüfte mit einem Finger ihren Puls. Er war zu spüren und nicht so schwach, wie er befürchtet hatte. Er hob die Kerze an. Das Blut schien ausschließlich von den Armen und Händen des Mädchens zu stammen und von einer langen, diagonalen Wunde über dem linken Schlüsselbein. An dieser Stelle war auch das Nachtgewand eingerissen. Matthew holte ein Tuch vom Waschtisch, um die Blutung zu stoppen. Jenny rührte sich nicht.

Während er sich um die Verletzungen kümmerte, wanderten seine Gedanken zurück nach Indien – zu seinem Großonkel Percy, der sich so großherzig gegenüber einem verunsicherten und gekränkten Jugendlichen verhalten hatte, der zu Unrecht aus dem Heimatland verbannt worden war. Der arme Onkel Percy starb, nachdem er bei einem Raubüberfall niedergestochen worden war. Matthew schnürte es noch immer die Kehle zu, wenn er an seine vergeblichen Bemühungen dachte, den Großonkel zu retten. Er hoffte inständig, dass Jenny keine weiteren Verletzungen erlitten hatte als die, welche er auf den ersten Blick erkennen konnte.

Er drehte sich um, als Mrs. Goody, die Frau des Gastwirts, aufgeregt in das Zimmer eilte, Jennys Vater dicht auf den Fersen.

„Du liebe Güte!“, rief sie und rang die Hände. „Was ist denn hier passiert?“

„Die junge Frau wurde angegriffen. Sie blutet an den Händen, Armen und im Halsbereich. Weitere Stichwunden konnte ich nicht feststellen.“

„Stichwunden? Meine Jenny? Oh, Jenny, Jenny, mein Liebstes …“ Der alte Mann warf sich neben dem Bett auf die Knie und ergriff Jennys linke Hand. Die Augenlider des Mädchens zuckten.

„Mein Mann lässt den Arzt holen“, sagte Mrs. Goody. Sie warf einen kurzen Blick auf Jennys Vater, beugte sich zu Matthew vor und senkte die Stimme. „Haben Sie das Mädchen überall untersucht, Sir, oder …?“

Matthew spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Er verstand sowohl die Frage als auch Mrs. Goodys vorsichtigen Flüsterton. Der Vater machte sich schon genug Sorgen.

„Nein“, antwortete er. „Ich habe die Decke nicht angerührt und kann nur hoffen, dass sie keine weiteren Verletzungen davongetragen hat.“

„Vielen Dank, Sir. Wir werden alles Erdenkliche für die Ärmste tun. Könnten Sie bitte meinen Mann suchen und ihn mit heißem Wasser und sauberer Bettwäsche nach oben schicken? Wenn Sie die Tür hinter sich schließen, kann ich überprüfen, ob das arme Kindchen weiteren Schaden genommen hat. Oh, ich hätte nie gedacht, dass etwas so Schreckliches bei uns passieren könnte!“

Als Matthew sich auf den Weg machte, um den Gastwirt zu finden, bekam er plötzlich weiche Knie. Du lieber Gott! Die Erkenntnis raubte ihm fast den Atem! Hätte er nicht die Unterkunft mit Eleanor und ihrer Tante getauscht, hätte nicht Jenny, sondern eine von den beiden heute Nacht dort geschlafen. Ihm wurde ganz übel, doch mit diesem schrecklichen Gedanken musste er sich später befassen.

Nachdem Matthew mit Goody gesprochen hatte, hastete er mit einem Stapel frischer Bettwäsche in das Zimmer zurück und fand Jenny wach vor. Als er eintrat, starrte sie ihn erschrocken an und klammerte sich an ihren Vater. Mrs. Goody scheuchte ihn aus dem Zimmer.

„Sie ist völlig verängstigt und wird eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen. Legen Sie sich ruhig wieder hin. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand. Sie hat Gott sei Dank keine weiteren Schäden erlitten. Sie hatte großes Glück, dass Sie ihr zu Hilfe geeilt sind.“

Matthew nickte und war erleichtert, dass Jenny noch Schlimmeres erspart geblieben war. Wenigstens mit diesem Albtraum würde sie nicht zusätzlich zu kämpfen haben. Er ging auf sein Zimmer, zog sich an und suchte erneut den Gastwirt auf. Goody hatte bereits seine Stallknechte geweckt, damit sie nach dem Übeltäter suchten. Matthew bereute es, den Schurken nicht sofort verfolgt zu haben. Doch da Jennys Vater unter Schock gestanden hatte und nicht klar gewesen war, wie schwer das Mädchen verletzt war, schien es richtig, sich erst um das Opfer zu kümmern.

Die lange und gründliche Durchsuchung der Gegend rund um das White Lion , an der sich weitere Männer aus der Ortschaft beteiligten, erwies sich als vergeblich. Wer auch immer der Angreifer war, er hatte sich wahrscheinlich längst aus dem Staub gemacht. Matthew kehrte zum Gasthof zurück und nahm ein herzhaftes Frühstück ein. Anschließend winkte Goody ihn in ein Hinterzimmer. Jennys Vater erhob sich, als er eintrat.

„George Tremayne“, stellte er sich ohne weitere Förmlichkeiten vor und streckte ihm eine zittrige Hand entgegen.

Matthew ergriff die Hand und schüttelte sie. „Matthew Thomas.“

„Ich danke Ihnen für das, was Sie für meine Tochter getan haben. Ich hätte nicht ein noch aus gewusst, wenn …“ Er konnte nicht weitersprechen und räusperte sich geräuschvoll, bevor er ein großes Taschentuch hervorzog und sich die Nase putzte.

„Wie geht es Jenny?“

„So gut, wie es unter den gegebenen Umständen möglich ist – zumindest körperlich. Sie ist noch immer vollkommen verstört. Der Arzt riet ihr, sich hier einige Tage auszuruhen, aber sie will keine weitere Nacht unter diesem Dach verbringen.“

„Das ist verständlich“, erwiderte Matthew.

„Der Magistrat war mit seinen Leuten hier und hat mich befragt“, berichtete Mr. Tremayne. „Die Herren möchten auch mit Ihnen reden.“

Matthew verzog das Gesicht. „Ich glaube nicht, dass ich viel Hilfreiches zu berichten habe. Der Schurke war maskiert. Weiß man schon, wie er ins Haus gekommen ist?“

„Offenbar ist er über das Pultdach geklettert und durch das Fenster in das Zimmer eingedrungen. Der Magistrat nimmt an, dass es sich um einen Einbrecher handelte und Jenny zum falschen Zeitpunkt aufgewacht ist. Sie kann sich an kaum etwas erinnern. Wahrscheinlich ist das auch besser so.“

„Das denke ich auch. Ist der Magistrat noch im Haus?“

„Nein, aber er versprach, später wiederzukommen, und bat darum, dass Sie hier auf ihn warten.“

Matthew war darüber alles andere als begeistert. Je früher er aufbrach, desto eher konnte er Lady Ashby und ihre Begleiter auf der Straße einholen und sich vergewissern, dass ihr nichts zugestoßen war. Nach allem, was er wusste, hatte der nächtliche Angriff wahrscheinlich ihr gegolten. Wenn der maskierte Mann sie töten wollte, würde er bald erfahren, dass er die Falsche angegriffen hatte. Vermutlich würde er es erneut versuchen. Die Baroness schwebte in größter Gefahr.

Der Magistrat kehrte erst am späten Vormittag in den Gasthof zurück. Matthew musste seine Sicht der Ereignisse schildern und zahlreiche Fragen beantworten. Zunächst schien der Mann sogar dazu geneigt, ihn zu verdächtigen. Erst als Matthew mit allem Nachdruck darauf hinwies, dass Mr. Tremayne den maskierten Angreifer ebenfalls gesehen hatte, ließ der Mann ihn weiterreisen. Die Befragung, die ihm endlos vorgekommen war, hatte ihn zutiefst verärgert. Jeden Gedanken daran, nach Ashton zurückzukehren, um sich den Faustkampf anzusehen, hatte er längst begraben. Es ging ihm nur noch darum, Lady Ashby vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Als man ihn endlich ziehen ließ, kletterte er eilig auf seinen Phaeton – Henry hockte bereits wartend auf dem Rücksitz – und trieb die Pferde zu äußerster Geschwindigkeit an. Inzwischen war es fast Mittag. Obgleich er bezweifelte, dass Lady Ashby an diesem Tag früh aufgebrochen war – schließlich musste erst ein passender Ersatz für die beschädigte Reisekutsche beschafft werden –, hatte die kleine Reisegesellschaft Stockport auf dem Weg in die Hauptstadt längst passiert.

Besorgt trieb Matthew die Pferde gen Süden. Immer wieder erteilte er ihnen das Kommando, die Schrittfolge zu wechseln, damit sie nicht zu rasch ermüdeten und zugleich ein Tempo hielten, mit dem er die Baroness einholen konnte. Dennoch entging ihm das Murren von Henry hinter seinem Rücken nicht. Nachdem er bei voller Fahrt nur knapp einen Bauernkarren überholt hatte und sein Bediensteter laut aufstöhnte, warf er einen kurzen Blick nach hinten.

„Sie wissen schon, dass wir auf der falschen Straße sind, wenn wir nach Ashton wollen?“, rief Henry ihm zu.

„Ja, das ist mir bekannt.“

„Darf ich fragen, wohin wir unterwegs sind?“

„Ich weiß es nicht genau“, antworte Matthew, während er einer Postkutsche auswich, die aus der Gegenrichtung kam. „Wir folgen Lady Ashby und ihren Begleitern. Sie reisen nach London, und ich muss unbedingt herausfinden, wo sie für die Nacht haltmachen.“

„Glauben Sie, dass der Angriff in Wahrheit ihr galt?“

Matthew hatte sofort das Bild von der blutenden Jenny vor Augen. In seiner Vorstellung nahm das Mädchen Lady Ashbys Züge an. Wenn sie nicht die Unterkünfte getauscht hätten, wäre Jenny jetzt vielleicht tot.

„Ich bin mir dessen ganz sicher“, entgegnete er. „Wir sollten an jedem Postgasthof, an dem wir vorbeikommen, fragen, ob sie dort die Pferde gewechselt haben. Vielleicht bringen wir sogar in Erfahrung, in welchem Gasthof sie übernachten wollen. Wer auch immer den Kutschenunfall und den Angriff im White Lion zu verantworten hat, scheint die Reiseroute zu kennen und könnte es erneut versuchen.“

„Letzte Nacht sind die ganzen Erinnerungen wieder in Ihnen hochgestiegen, nicht wahr?“, erkundigte sich Henry. „Aber es ist nicht Ihre Schuld. Sie waren nicht dafür verantwortlich. Schließlich können Sie nicht die ganze Welt und alle, die darauf herumspazieren, beschützen.“

Matthew presste die Lippen zusammen. Seine Miene verfinsterte sich. Henry hatte in Onkel Percys Diensten gestanden und begleitete ihn, seit er in Indien angekommen war. Er war ein zuverlässiger Mann, der ihm sowohl als Diener wie auch als Reitknecht zur Seite stand. Matthew wusste, dass Henry auf Onkel Percys Tod anspielte. Noch immer haderte er mit sich, weil er ausgerechnet an jenem Abend nicht zugegen gewesen war, um den Onkel zu beschützen … Damals hatten die Schuldgefühle ihn fast überwältigt. Der Tod des Onkels hatte ihn dazu getrieben, nach Hause zurückzukehren. Plötzlich hatte er in Indien niemanden mehr, der ihm etwas bedeutete, und Benedict und er konnten ihre Geschäfte auch genauso gut von England aus führen.

Der Wunsch, andere zu beschützen, schien in seiner Natur zu liegen. Dennoch erklärte das nicht vollständig, weshalb sich alles in ihm schmerzhaft zusammenzog, wenn er daran dachte, in welcher Gefahr Lady Ashby schwebte. Er wurde immer ungehaltener, je mehr Zeit es kostete, sich in den Gasthöfen, die auf der Strecke lagen, nach den Reisenden zu erkundigen, und je müder seine Pferde wurden.

„Wo zum Teufel stecken sie?“, knurrte er ungehalten, als sie schon wieder keine brauchbare Auskunft erhielten. „Sie müssten inzwischen längst für die Nacht angehalten haben.“

„Vielleicht hatten sie einfach einen zu großen Vorsprung, Sir. Und jetzt reißen Sie mir bitte nicht den Kopf ab, aber die Tiere sind erschöpft, und Sie riskieren, dass sie sich verletzen, wenn wir weiterfahren.“

Matthew wusste, dass Henry recht hatte. Seufzend starrte er in Richtung der untergehenden Sonne und richtete sich dann gerade im Sitz auf, als ein Meilenstein anzeigte, dass sie nur noch eine Meile von Leek entfernt waren.

„Dort müssen sie sein“, murmelte er. „Ganz sicher sind sie heute nicht noch weiter gekommen. Sie müssen einfach dort sein.“

Wenig später bogen sie in den Hof des Gasthofs The George ein, der genau in der Mitte des kleinen Marktstädtchens lag. Der Erste, den sie erblickten, war Timothy. Matthew überließ es Henry, sich um die Pferde zu kümmern, und ging sofort hinein.

„William Brooke zu Ihren Diensten, Sir – ich bin der Wirt dieses ausgezeichneten Gasthofs. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Abend, Brooke. Lady Ashby übernachtet doch heute hier? Ich möchte sie sprechen.“

Der Wirt senkte den Blick. „Lady Ashby, Sir? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Darf ich erst einmal erfahren, wer nach ihr fragt?“

Matthew hätte den Kerl am liebsten am Hals gepackt und geschüttelt. Er blickte Brooke von oben herab an. „Mein guter Mann“, sagte er herablassend, „ich bin Lord Ashby. Würden Sie jetzt bitte so gut sein, mich zu meiner Gattin zu führen?“

Der Wirt verbeugte sich tief und rang vor Unterwürfigkeit die Hände. „Ich bitte demütigst um Verzeihung, Mylord. Ich war nicht auf Ihr Erscheinen vorbereitet. Ihre Gattin befindet sich im Privatsalon, wenn Sie mir bitte folgen wollen?“

Matthew ließ sich von Brooke in den hinteren Teil des Gebäudes führen. Der Wirt blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, und Matthew versperrte ihm den Weg, um zu verhindern, dass er ihn ankündigte.

„Ich danke Ihnen, Brooke. Sie werden jetzt nicht mehr benötigt. Bitte sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden.“

„Selbstverständlich, Mylord.“ Der Gastwirt zog sich unter Verbeugungen zurück.

Matthew war wütend, weil der Mann seine Behauptung so arglos geglaubt hatte. Ich hätte sonst wer sein können! Er riss die Tür auf und betrat das Zimmer.

Dort saß das Objekt all des Ärgers und der Befürchtungen dieses langen Tages entspannt und mit einem Glas Wein in Händen auf einem bequemen Sofa. Dieser Anblick erleichterte ihn unendlich, und die aufgestauten Gefühle entluden sich, indem er die Tür hinter sich zuschlug und mit drei raschen Schritten das Zimmer durchquerte.

9. KAPITEL

E leanor öffnete erschrocken die Augen, als die Tür zugeknallt wurde und sie aus den schläfrigen Gedanken gerissen wurde. Kaum war sie ganz zu sich gekommen, beugte sich Matthew Thomas über sie, nahm ihr das Glas aus den Händen und zog sie auf die Beine. Bevor sie etwas sagen konnte, umklammerte er sie mit seinen starken Armen und drückte ihren Kopf gegen seine breite Brust. In ihren Ohren vernahm sie das laute Pochen seines Herzens.

„Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert!“

Sobald er die Umklammerung lockerte, schob sie die Hände zwischen ihn und sich und stieß sich ein Stück von seiner Brust ab, um ihm ins Gesicht zu sehen.

„Mr. Thomas, was ist denn geschehen? Weshalb sind Sie hier?“

Er sah sie an, und in seinem Blick lag eine wilde Mischung aus Zorn und Besorgnis. Was war bloß passiert? Was hatte ihn derartig aufgebracht? Und wie hatte er sie gefunden? Allmählich rückte die Umgebung in ihr Bewusstsein. Sie waren ganz allein in einem Privatsalon, den sie für sich und Tante Lucy reserviert hatte. Die Tante ruhte sich auf ihrem Zimmer aus. Wie war er hineingelangt? Und wo war dieser Brooke?

Matthew wich ihren fragenden Blicken nicht aus, und in dem stillen Zimmer war gut zu vernehmen, wie unruhig er atmete. Sie stieß ihn fester von sich und trat einen Schritt zurück. Sofort ergriff er sie an den Schultern und verhinderte, dass sie weiter zurückwich. Aufkeuchend rang sie nach Luft.

„Ich habe Sie den ganzen Tag gesucht … habe alles versucht, um Sie einzuholen … Ich habe mir schreckliche Sorgen um Sie gemacht …“

„Aber … warum? Ich dachte, Sie wären …“

„Sie benötigen dringend Schutz. Ich …“

„Schutz?“ Eleanor war jetzt hellwach und verschränkte die Arme vor der Brust. Das lag vermutlich alles an Tante Lucys lächerlicher Behauptung, das Feuer und der Schuss auf eines der Kutschpferde stünden in einem Zusammenhang. Einen flüchtigen Moment lang hatte sie gedacht, er wäre ihr gefolgt, weil er Gefühle für sie hegte. Doch ebenso rasch, wie dieser Gedanke ihr durch den Kopf geschossen war, verwarf sie ihn und tadelte sich für ihre romantischen Träumereien. Zwischen ihr und Mr. Thomas lagen Welten.

„Mir scheint es, als ob ich nur Schutz vor Ihnen benötige.“

Sie bekam es mit der Angst zu tun, als er sich weiter näherte. Die Hitze, die von seinem Körper ausging, umschloss sie, während sie seinen Atem im Haar spürte. Obgleich sie zunehmend alarmiert war, wich sie nicht zurück und erwiderte seine durchbohrenden Blicke.

„Ein junges Mädchen ist angegriffen worden …“ Er hielt mit gequälter Miene inne.

„Was? Angegriffen? Aber … was hat das mit mir zu tun?“

„Ich war wie von Sinnen vor Sorge. Wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre, ich …“

„Mr. Thomas! Ihre Worte ergeben keinen Sinn. Sie sagten, jemand sei angegriffen worden?“

Matthew fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare und lief einmal unruhig im Zimmer auf und ab, bevor er wieder vor ihr stehen blieb. Er holte tief Luft und atmete langsam aus. „Sie schlief in dem Zimmer, das für Sie reserviert war – in dem Gasthof von Stockport. Glücklicherweise schrie sie laut und wehrte sich lange genug, bis Hilfe kam. Ihr Angreifer floh, aber sie behielt etliche Stichwunden zurück.“

„Oh, das arme Mädchen!“ Eleanor wurde übel, als sie nach und nach die volle Bedeutung seiner Worte erfasste. „Sie sagen, es sei in meinem Zimmer passiert? Diese arme Person ist in dem Bett angegriffen worden, in dem ich sonst geschlafen hätte?“

Sie hob eine Hand vor den Mund und spürte, dass sie ins Taumeln geriet. Matthew war augenblicklich zur Stelle und fing sie auf. Dankbar stützte sie sich bei ihm ab, während er ihr zum Sofa half. Dann setzte er sich neben sie, hielt ihre rechte Hand und strich sanft mit einem Daumen über ihre Fingerknöchel.

„Verzeihen Sie“, entschuldigte sie sich mit schwacher Stimme. „Ich bin normalerweise nicht … Ich meine, es hat mir einen solchen Schrecken versetzt.“

Sie sah zu ihm hoch, und sein Gesicht war näher, als sie erwartet hatte.

„Mir auch“, murmelte er, und seine blauen Augen verfinsterten sich. „Ich wage gar nicht, mir auszumalen …“ Er verstummte und strich ihr zärtlich über eine Wange, bevor er langsam den Kopf senkte.

Eleanor rührte sich nicht, als sie seinen warmen Atem auf der Haut spürte. Mit seinen Lippen, die sich überraschend weich anfühlten, streifte er ganz sanft ihren Mund, bevor er sie auf unwiderstehliche Weise küsste. Sie kam ihm entgegen und genoss es, seine Hände in ihren Haaren zu spüren. Hingebungsvoll erwiderte sie den Kuss. Als er mit der Zunge zwischen ihre Lippen drang, hob sie die Hände, um seine Wangen zu berühren. Doch diese Zärtlichkeit schien ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Er löste sich von ihr und sprang vom Sofa hoch.

„Es tut mir leid.“ Unwirsch biss er die Zähne zusammen.

Eleanor versuchte, sich wieder zu sammeln und zu verstehen, was gerade geschehen war.

„Ich hätte das nicht tun dürfen … Es war nicht meine Absicht … Es war ein Fehler“, sagte er. Und wie zu sich selbst murmelte er: „Ich kann keine Komplikationen gebrauchen.“

„Komplikationen?“

Das Wort riss Eleanor aus ihrer traumähnlichen Benommenheit.

Er wirkte jetzt distanziert und sah ihr nicht einmal in die Augen, während er hinzufügte: „Bitte vergessen Sie, dass es passiert ist.“

„Sie bedauern, dass Sie mich geküsst haben?“

Eleanor fühlte eine tiefe Erniedrigung. Sie hatte einem beinahe Fremden erlaubt, sie zu küssen, und den Kuss sogar erwidert, ohne den geringsten Protest zu erheben. Offenbar war sie eben doch wie ihre Mutter. Wieder hörte sie Tante Phyllis’ anklagende Worte. Das schlechte Blut der Mutter …

„Ja. Nein!“

Er wandte sich ruckartig von ihr ab und strich sich erneut mit der Hand durch das Haar, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte und sie freundlicher ansah. „Nein, ich kann es nicht bedauern, aber ich hätte mich nicht so vergessen dürfen. Ich war ganz verrückt vor Sorge, doch das ist keine Entschuldigung für mein Verhalten. Sie sind eine Lady, und ich halte mich selbst für einen Gentleman, ganz gleich, welche Position ich im Leben einnehme. Und dennoch benehme ich mich bei der erstbesten Gelegenheit wie ein übler Halunke.“

Komplikationen. Das Wort machte ihr zu schaffen. Ganz offenkundig bedauerte er den spontanen Kuss. Denn genau das musste es gewesen sein – eine unüberlegte Reaktion. Er hatte sie alleine vorgefunden und daraus seinen Vorteil gezogen – ihr einen Kuss geraubt, einfach weil er dazu die Gelegenheit hatte. Jetzt nahm er die Schuld auf sich, damit sie sich besser fühlte und sich nicht für ihr Entgegenkommen schämte. Wütend auf sich selbst, wandte sich Eleanor ab und hätte wahrscheinlich wortlos das Zimmer verlassen, wenn nicht just in diesem Moment Tante Lucy hereingekommen wäre.

Tante Lucy blickte kritisch von einem zum anderen, ließ den funkelnden Blick eine Weile auf Eleanors erhitzten Wangen ruhen und verstärkte damit bei ihrer Nichte das Gefühl von Scham.

„Mr. Thomas“, sagte sie mit frostiger Stimme. „Wie schön, Sie so rasch wiederzusehen. Ich dachte, Sie wären in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Wenn man mich über Ihre Gegenwart in Kenntnis gesetzt hätte, wäre ich sofort gekommen, um Sie zu begrüßen. Immerhin bin ich Eleanors Anstandsdame. Wie ich sehe, sollte ich ein wachsames Auge auf Sie werfen, Sir. Eine Frau kann sehr leicht ihren guten Ruf verlieren, wie Ihnen gewiss bewusst sein dürfte.“

Eleanor zuckte innerlich zusammen. Mit äußerster Mühe fasste sie sich, schritt auf die Tür zu und öffnete sie. „Mr. Thomas wollte gerade gehen, Tante Lucy. Er hat bereits alles gesagt, was er zu sagen hatte.“

Eleanor hob den Kopf und blickte ihn kühn an. Er mochte ihre Gefühle mit Füßen getreten haben, doch sie würde lieber sterben, als ihre Demütigung zu offenbaren.

„Oh nein, ich gehe noch nicht“, erwiderte Matthew und wandte sich an Tante Lucy. „Besorgniserregende Nachrichten haben mich hierhergeführt, Lady Rothley. Dabei geht es um die Sicherheit Ihrer Nichte. Sie schwebt in akuter Gefahr.“

„Welche Nachrichten haben Sie zu überbringen? Inwiefern betreffen sie meine Nichte?“ Tante Lucy ließ sich auf das Sofa sinken und gab Eleanor ein Zeichen, sich neben sie zu setzen. „Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Thomas, und erklären Sie sich.“ Sie wies auf einen nahen Sessel.

„In der letzten Nacht ist eine junge Frau im White Lion in Stockport überfallen worden“, berichtete er. „Sie wurde von einem Eindringling mit einem Messer attackiert, während sie in einem der beiden Schlafzimmer nächtigte, das ursprünglich für Sie und Ihre Nichte reserviert war. Ich belegte das andere Zimmer.“

Tante Lucy rang nach Luft und blickte ihre Nichte entsetzt an, die ihre rechte Hand ergriff.

„Das bedeutet noch lange nicht, dass der Angriff mir galt“, sagte Eleanor, zögerte jedoch, als Matthew sie fest ansah. „Sicher ist es nur ein …“

„Zufall?“, unterbrach Matthew sie ungehalten. „Ein Mal vermag ich ja an einen Zufall zu glauben, aber nicht zwei Mal hintereinander. Mir scheint eine klare Absicht dahinterzustehen. Innerhalb von zwei Wochen hat man gleich drei Mal versucht, Sie zu töten, Lady Ashby. Es wird höchste Zeit, die Bedrohung ernst zu nehmen. Haben Sie Feinde?“

„Nein, natürlich nicht! Ich habe Ashby Manor in den letzten sieben Jahren kaum verlassen.“ Die Vorstellung, dass ihr jemand übel gesonnen war, kam ihr vollkommen abwegig vor.

„Verzeihen Sie, wenn ich frage, aber was ist mit Ihrem Gatten? Könnte er Ihnen Böses wollen?“

„Mein Gatte? Aber ich bin doch gar nicht verheiratet, Mr. Thomas. Wie kommen Sie denn überhaupt zu dieser Annahme?“

„Sie sind nicht verheiratet, aber wie …? Sie sind doch Baroness. Oder sind Sie bereits verwitwet?“

Tante Lucy stellte die Dinge richtig. „Meine Nichte hat den Titel geerbt. Das ist ungewöhnlich, aber nicht einzigartig.“

Eleanor merkte, dass er diese Nachricht erst einmal verarbeiten musste. Dabei wirkte er alles andere als erfreut. Dass er sie für eine verheiratete Frau gehalten hatte, versetzte ihrem angeschlagenen Selbstbewusstsein einen weiteren Schlag. Hat er mich geküsst, weil er mich für eine verheiratete Frau hielt, die in Abwesenheit des Ehemanns eine kleine Affäre eingeht? Und wie sehr muss er mich jetzt erst verachten, nachdem er weiß, dass ich ledig bin und seinen Kuss dennoch erwidert habe?

„Was spielt es denn für eine Rolle, ob ich unverheiratet bin?“, fragte sie in ungewöhnlich scharfem Tonfall.

„Das kann von großer Bedeutung sein. Es gibt zahlreiche Motive, weshalb man andere ermorden oder ihnen schaden will. Wären Sie verheiratet, würde es vermutlich um Eifersucht oder Leidenschaft gehen. Aber so kommt eher Habgier als Grund in Betracht. Darf ich fragen, um wen es sich bei Ihrem Erben handelt?“

„Um meinen Cousin James Weare“, antwortete sie zögerlich.

„Dann muss er wohl unser Hauptverdächtiger sein.“

„James? Niemals!“

„Habsucht hat schon mehr als einen Mann dazu getrieben, zu töten, Mylady. Die Aussicht auf einen Titel und die Macht und die Privilegien, die damit verbunden sind, stellen schon ein ausreichendes Motiv dar, ganz abgesehen vom Reichtum, der zumeist damit einhergeht.“

Eleanor schwieg und wog Matthews Worte gegen das ab, was sie von ihrem Cousin und seinem Charakter wusste. Die Ängste, die sie seit dem Brand geplagt hatten, nagten an ihren Nerven, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter, wenn sie an das arme Mädchen dachte, das verletzt worden war.

Das hätte ich sein können. Aber nein! Das kann unmöglich James gewesen sein … nicht der James, den ich kenne. Es ist einfach zu schrecklich. Das ist Unsinn!

Eleanor blickte Tante Lucy und Matthew an, die beide eine besorgte Miene zogen. Sie wurde zornig. Wie konnte er einfach daherkommen, ihr derartige Angst einjagen und ihren geliebten Cousin beschuldigen, sie töten zu wollen?

Sie sprang vom Sofa hoch und schritt im Zimmer auf und ab. „Nein, das glaube ich einfach nicht! James und ich sind zusammen in Ashby aufgewachsen – wir waren wie Bruder und Schwester. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn er mich hätte umbringen wollen, hätte er es viele Male mit größter Leichtigkeit tun können. Ich bin überzeugt, dass der Kutschenunfall in keinem Zusammenhang mit dem Feuer stand.“ Sie drehte sich zu Matthew um. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese abstrusen Anschuldigungen für sich behalten würden, Sir!“

10. KAPITEL

E leanors aufgeregtes Herumschreiten veranlasste Matthew, nicht weiter auf den verdächtigen Cousin einzugehen. Er wollte ihren Unmut nicht verstärken.

Einerseits bereitete ihm die Nachricht, dass sie unverheiratet war, Unbehagen. Er war kein Mann, der mit Unschuldigen flirtete. Doch schien ihm die Bezeichnung unschuldig auch nicht ganz passend, um die selbstbewusste Baroness zu beschreiben. Andererseits verspürte er eine unerklärliche Freude, dass sie noch ungebunden war. Natürlich war das völliger Unsinn. Was um alles in der Welt hatte er, ein Kaufmann, der nicht einmal auf den Rückhalt seiner Familie hoffen konnte, einer reichen Baroness schon zu bieten? Außerdem standen seine Pläne für die Zukunft längst fest. Er würde weiter hart arbeiten, um sein Geschäft auszubauen, und es würde ihm die größte Befriedigung verschaffen, seinem Vater jeden Penny zurückzuzahlen. Er würde beweisen, dass der Sohn, den man ohne Federlesen verstoßen hatte, es auch ohne seine Familie geschafft hatte, etwas aus seinem Leben zu machen.

Doch dieser Kuss … Wie sehr ihn das Verlangen plagte, erneut Eleanors süße, zarte Lippen zu küssen! Konzentriere dich auf die vorliegende Sache, Mann! Die Angelegenheit ist wahrhaftig ernst genug!

„Sie sind in Gefahr, Mylady“, sagte er. „Das ist eine Tatsache. Ganz gleich, wer Ihnen übel gesonnen ist, Sie müssen alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen, um für Ihre Sicherheit zu sorgen, bis der Übeltäter gefasst ist.“

„Mr. Thomas hat recht.“ Lady Rothley ging zu ihrer Nichte und ergriff deren Hände. „Oh, ich wage gar nicht, darüber nachzudenken! Das hättest du sein können, die im Bett überfallen wurde. Du hättest ermordet werden können.“ Ihre Stimme bebte. „Bitte, Ellie, sei nicht stur. Siehst du denn nicht ein, dass diese Vorfälle kein Zufall sein können? Was schlagen Sie vor, Mr. Thomas? Sollen wir nach Ashby zurückkehren? Wäre das sicherer als London?“

„Das könnte die klügste Entscheidung sein.“

Eleanor warf Matthew einen vernichtenden Blick zu. „Es tut mir leid, dass du so beunruhigt bist, Tante, aber ich habe nicht vor, umzukehren. Batley hat außerdem betont, dass er das Haus während der Instandsetzungsarbeiten nicht richtig sichern kann. Dort wären wir also auch nicht besser dran.“

„Wer ist Batley?“

„Er ist mein Verwalter“, erläuterte sie gereizt. „Nein, wir werden die Reise nach London fortsetzen. Etwas anderes steht überhaupt nicht zur Debatte.“

Matthew hätte ihr gern in aller Deutlichkeit widersprochen, doch in der Stimmung, in der sie sich befand, war es sinnlos, mit ihr zu streiten. Nie in seinem Leben war er einer so eigensinnigen Frau begegnet.

„Ich sehe, du willst deinen Kopf durchsetzen, Eleanor“, sagte Lady Rothley. „Daher werde ich dich nicht davon abbringen. Aber solltest du die Gefahr nicht ernst nehmen, kehren wir sofort nach Ashby zurück – ob es dir passt oder nicht“, fuhr sie fort. „Wenn ich London verlasse, bleibt dir nichts anderes übrig, als mich zu begleiten. Ohne Anstandsdame könntest du unmöglich dort bleiben. Denk an den Skandal!“

Eleanor wurde blass und nickte. Die Betonung, die ihre Tante auf das Wort „Skandal“ gelegt hatte, musste für die Baroness mit einer besonderen Bedeutung verknüpft sein. Matthew fragte sich, ob sie in der Vergangenheit in einen Skandal verwickelt gewesen war. War sie deshalb noch unverheiratet?

Lady Rothley setzte sich wieder auf das Sofa. „Zu welchen Vorsichtsmaßnahmen raten Sie uns, Mr. Thomas?“

„Die Bediensteten, die Sie begleiten, sollten umgehend in Alarmbereitschaft versetzt werden, ebenso wie Ihr gesamtes Personal in der Stadt, sobald Sie dort eintreffen“, antwortete Matthew. „Ich werde Sie die restliche Reise über begleiten, und Ihre Nichte sollte darauf achten, niemals ohne Begleitung das Haus zu verlassen. Und damit meine ich, dass sie zum Schutz von jemand anderem begleitet werden sollte als nur von Ihnen, Lady Rothley.“ Er wandte sich an Eleanor, die noch immer hin- und hergerissen schien. „Darf ich fragen, wer über die Einzelheiten Ihrer Reise Bescheid weiß? Vielleicht hilft uns das herauszufinden, wer der Täter ist.“

Sie starrte ihn gequält an. „James …“ Sie verstummte und räusperte sich. „James hat die Zimmer auf der Strecke für uns reserviert, damit wir nachts gut unterkommen.“ Sie nahm neben ihrer Tante auf dem Sofa Platz und schien in sich zusammenzusinken. „Dennoch kann ich es nach wie vor nicht glauben. Nicht James! Oh, Tante Lucy! Wie soll ich ihm jemals wieder in die Augen sehen?“

„Schon gut, schon gut“, beruhigte Lady Rothley ihre Nichte und tätschelte ihr die Hände, während sie besorgt zu ihm hochblickte. „So, wie es aussieht, sind wir Ihnen erneut zu Dank verpflichtet, Mr. Thomas. Ihr Angebot, uns morgen zu begleiten, nehmen wir dankbar an.“ Und säuerlich fügte sie hinzu: „Allerdings habe ich Ihr unziemliches Verhalten von eben nicht vergessen.“

Er senkte schuldbewusst den Kopf.

„Wie haben Sie uns überhaupt gefunden?“, hakte Lady Rothley nach. „Und wie ist es dazu gekommen, dass Sie hier allein mit Eleanor waren? Sicherlich hat Brooke Sie nicht einfach in unseren Privatsalon geführt und Sie ohne ein Dienstmädchen mit meiner Nichte allein gelassen.“

Matthew fluchte innerlich, da sich die unverschämte Lüge, mit der er sich Zutritt verschafft hatte, nicht mehr verbergen ließ. Zweifelsohne würde der Gastwirt sich verteidigen, indem er erzählte, dass Matthew sich als Baron und Ehemann von Eleanor ausgegeben hatte.

„Es war bereits spät, als ich von Stockport aus aufbrechen konnte, weil ich zuvor mit dem Magistrat sprechen musste …“

„Weshalb wollte denn der Magistrat mit Ihnen reden?“, fragte Eleanor spitz.

„Wie ich bereits erwähnte, schlief ich im angrenzenden Zimmer, als die junge Dame angegriffen wurde. Als sie schrie, eilte ich ihr zu Hilfe. Ich rang mit dem Täter, aber er entkam mir.“

„Beschreiben Sie ihn, dann erkenne ich rasch, ob es sich um James handelt.“

„Es war noch stockdunkel, und der Mann trug eine Maske. Ich weiß nur, dass er kleiner ist als ich und von kräftiger Statur. Es gibt unzählige Männer, auf die diese Beschreibung zutrifft. Als ich Stockport endlich verlassen konnte, war ich sicher, dass Sie bereits einen erheblichen Vorsprung hatten. Wir – das heißt Henry und ich – fragten an jeder Poststation, die wir passierten, bis wir schließlich herausfanden, wo Sie für die Nacht angehalten hatten. Mr. Brooke hat zunächst gezögert, mir darüber Auskunft zu erteilen, ob Sie in seinem Gasthof logieren. Daher sah ich mich leider gezwungen, eine List anzuwenden.“

Die beiden Damen blickten ihn erwartungsvoll an. Er holte tief Luft und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

„Ich behauptete ihm gegenüber, dass ich Lord Ashby, Ihr Gatte, sei.“

Einen Moment lang herrschte fassungsloses Schweigen, dann brach Eleanor in schallendes Gelächter aus, was Matthew völlig aus der Fassung brachte. Was um alles in der Welt …? Sie sollte besser zornig sein und ihn mit einem Wutausbruch anstatt mit Gelächter bestrafen.

„Was ist daran so lustig?“ Dabei klang er so steif und aufgeblasen, dass er vor sich selbst erschrak.

Eleanor rang mit einer Hand auf der Brust und noch immer leise kichernd nach Atem. War das ein Anzeichen für Hysterie? Matthew warf einen vorsichtigen Blick in Lady Rothleys Richtung. Eleanors Tante wirkte bestürzt.

„Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, dass aus meiner hastigen und unüberlegten Vorgehensweise für Sie keine Unannehmlichkeiten erwachsen, Lady Ashby …“, versprach Matthew.

Diese Worte brachten Eleanor zur Ernüchterung. „Oh nein“, sagte sie. „Bitte lassen Sie das. Wirklich, Mr. Thomas, ich hatte Sie schon für einen Mann von Verstand gehalten, und jetzt tauchen Sie hier mithilfe einer so lächerlichen List auf, um den armen Brooke durcheinanderzubringen. Anschließend sehen Sie sich gezwungen, das wiedergutzumachen, indem Sie ein Angebot unterbreiten, das Sie eigentlich gar nicht machen wollten. Das genau habe ich gebraucht, um aus der schrecklichen Angst gerüttelt zu werden, die mich beinahe gelähmt hat. Ohne Frage wird die Furcht bald zurückkehren, aber im Augenblick erfreue ich mich daran, den Witz zu genießen.“

„Den Witz?“ Entrüstung regte sich bei ihm. „Sie meinen also, dass ein Angebot von mir ein Witz ist?“

Sie stand auf. „Nicht in der Weise, wie Sie es offenbar auffassen“, erwiderte sie beschwichtigend. „Ich finde die ganze Angelegenheit amüsant, da wir einander kaum kennen, wir sehr unterschiedliche gesellschaftliche Positionen im Leben einnehmen und uns seit unserer ersten Begegnung fast nur gestritten haben.“

Plötzlich errötete sie und wandte den Blick von ihm ab. Dachte sie ebenso wie er gerade an den Kuss? Doch abgesehen davon hatte sie mit ihrer Aufzählung recht.

„Also wirklich! Meine Nichte mag diese Angelegenheit für lachhaft halten, aber ich bin ganz anderer Auffassung, junger Mann“, sagte Lady Rothley streng und erhob sich. „Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Brooke und höchstwahrscheinlich seine ganze Belegschaft halten Sie jetzt für Lord Ashby und wissen, dass Sie mit meiner Nichte allein in diesem Privatsalon waren. Sie können diese Maskerade auch unmöglich aufrechterhalten, da unsere Bediensteten mit Sicherheit durchblicken lassen, dass es keinen Lord Ashby gibt. Und sobald Ihre Täuschung bekannt wird, ist Eleanors Ruf ruiniert. Was für ein Schlamassel!“

Sie hatte recht. Er hatte nur noch daran gedacht, dass Eleanor in höchster Gefahr schwebte, und gedankenlos gehandelt. Möglicherweise setzte er sie damit üblem Gerede aus. Er musste an Eleanors Reaktion denken, als die Tante ihr zuvor mit einem Skandal gedroht hatte. Es hatte gewirkt, als ob ihr Ruf für sie wichtiger wäre als alles andere. Sie war fraglos eine rätselhafte Frau.

„Du könntest behaupten, die ganze Zeit bei mir gewesen zu sein, Tante Lucy“, schlug Eleanor ihrer Tante vor. „Und Mr. Thomas muss sich eben für die Nacht einen anderen Gasthof suchen.“ Sie sah ihn fest an, und jede Belustigung war aus ihrem Blick verschwunden. „Schließlich können Sie nicht bleiben, ohne dass Ihre Lüge auffliegt. Brooke wird nichts sagen. Letztendlich muss er sich selbst einen Teil der Schuld geben. Er hat es ja sogar versäumt, Sie anzukündigen, was unverzeihlich ist. Immerhin hätten Sie ein Schurke sein können.“

„Genau“, erwiderte Matthew mit grimmiger Miene. „Und wenn Sie allen Ernstes glauben, dass ich Sie heute ungeschützt an diesem Ort zurücklasse, irren Sie sich gewaltig. In der Tat halte ich es für viel zu gefährlich, dass Sie die Nacht über hierbleiben. Nachdem der Angreifer in der letzten Nacht gescheitert ist, schlägt er vielleicht erneut zu. Und da er offenkundig Ihre Reiseroute kennt, wird er wissen, wo er Sie zu suchen hat.“

Eleanors Miene verriet Angst. Das ist bedauerlich, dachte er und hatte ihr Lachen von eben vor Augen. Aber sie musste auch begreifen, in welcher Lage sie steckte.

„Indem Brooke mir erlaubte, Ihren Privatsalon zu betreten, weil ich vorgab, Ihr Gatte zu sein, bestätigte er meine Befürchtung, dass Sie hier in größter Gefahr schweben. Wir sollten alle sofort aufbrechen.“ Einen Moment schwieg er nachdenklich. Er hatte für ein zusätzliches Problem gesorgt und musste es aus der Welt schaffen.

„Warten Sie einen Moment“, bat er die beiden Frauen. „Ich habe eine Idee.“

Er machte sich auf die Suche nach dem Gastwirt. „Würden Sie mir bitte kurz in den Privatsalon folgen, Brooke“, forderte er den Mann auf. „Ich möchte mit Ihnen über die Sicherheit Ihres Hauses und der Gäste reden.“

„Ja, Mylord. Ich komme sofort, Mylord.“ Brooke folgte ihm dienstbeflissen.

Als Matthew eintrat, sagte Eleanor: „Was tun Sie …?“ Sie sprach nicht weiter, weil sie sah, dass er den Kopf schüttelte. Er hoffte, dass sie seine Warnung verstand und sich auf seine Vorgaben einließ. Er winkte den Gastwirt in das Zimmer und ging zum Angriff über.

„Zunächst muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht Lord Ashby bin. Mein Name ist Matthew Thomas.“

„Sie sind nicht …? Aber, Sir, Sie ließen mich glauben … Ich erlaubte Ihnen …“

„Ruhe! Sie schenkten meiner Behauptung Glauben und führten mich in den Salon, der eigentlich zur privaten Nutzung dieser beiden Damen vorgesehen war. Ich muss Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir bereits zuvor um Lady Ashbys Sicherheit fürchteten. Daher log ich Sie an, um zu überprüfen, wie leicht ein Missetäter in Ihrem Gasthof zu Lady Ashby vordringen könnte. Nicht nur verrieten Sie mir rasch, wo sie sich aufhielt, es war für mich auch nicht schwierig, unangekündigt zu ihr zu gelangen. Bedauerlicherweise sind Sie bei meinem kleinen Sicherheitstest kläglich gescheitert, Brooke. Hätte ich in Wahrheit schlechte Absichten gegenüber Lady Ashby gehegt, hätte mich nichts davon abgehalten, meine üblen Pläne in die Tat umzusetzen. Ich bin von Ihrem Verhalten äußerst enttäuscht.“ Matthew hob tadelnd die Brauen. „Lady Rothley leistete ihrer Nichte gerade Gesellschaft, doch dessen konnten Sie nicht gewiss sein. Aufgrund Ihres Versagens hätte alles Mögliche passieren können. Ich fürchte, dass uns daher nichts anderes übrig bleibt, als für die Nacht einen anderen Gasthof aufzusuchen.“

„Nein, ich bitte Sie, Sir, Ladies, bitte bleiben Sie. Ich bitte tausendfach um Verzeihung, Mylady!“ Brooke verbeugte sich verzweifelt vor Eleanor. „Ich verspreche, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Außerdem werde ich die Türen bewachen lassen. Sie sind heute unsere einzigen Gäste, und ich schwöre, dass ich jeden Nachzügler abweisen werde. Ich werde auch einen Mann beauftragen, die ganze Nacht über draußen zu patrouillieren. Das George wird sicherer sein als der Tower, ich gebe Ihnen mein Wort.“ Angespannt rang er die Hände. „Bitte berücksichtigen Sie auch, dass meine Frau für heute Abend ein Festmahl vorbereitet hat, das jederzeit serviert werden kann. Außerdem ist es draußen dunkel, und es beginnt zu regnen. Sie werden es doch gewiss bevorzugen, im Warmen zu bleiben, anstatt hinauszugehen und eine neue Unterkunft zu suchen?“ Eifrig blickte er von einem zum anderen. „Falls Ihnen wirklich jemand übel gesonnen ist, kann er Sie viel leichter draußen angreifen als hier drinnen, insbesondere, da ich mir der Gefahr jetzt bewusst bin.“

Matthew seufzte geräuschvoll. Er war erleichtert, dass Brooke auf seine List hereingefallen war. „Nun gut, wenn Sie versprechen, dass Sie Wachen an den Türen postieren – und zwar die ganze Nacht über und nicht nur, bis wir uns hingelegt haben –, bleiben wir. Doch falls ich bei Ihnen oder Ihren Leuten irgendeine Unaufmerksamkeit beobachte, möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken!“

„Jawohl, Sir.“ Unter Verbeugungen zog sich Brooke auf den Gang zurück.

„Was meinen Sie? Sind wir ungeschoren davongekommen?“ Matthew sah Eleanor und Lady Rothley erwartungsvoll an.

11. KAPITEL

I ch glaube schon. Das haben Sie gut gemacht“, sagte Eleanor und schenkte Matthew ein Lächeln. „Der arme Mann wusste nicht mehr ein noch aus. Ich denke, die Frage, ob Tante Lucy die ganze Zeit bei mir war oder nicht, ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen.“

Lady Rothley war nicht so rasch bereit, ihm zu verzeihen. „Hoffen wir bloß, dass Lizzie und Matilda nicht Wind davon bekommen“, warnte sie stirnrunzelnd. „Ich bezweifle, dass sie sich ebenso leicht täuschen lassen.“

Das Dinner wurde am Tisch des Privatsalons serviert, der für drei Personen eingedeckt war. Brooke hatte nicht gelogen, als er ihnen ein Festmahl versprochen hatte. Es gab einen saftigen Rinderbraten, Taubenpasteten, Saucen und Gemüse, gefolgt von geschmorten Äpfeln, einem Schokoladendessert, getrockneten Früchten und Nüssen. Dazu wurden ihnen ausgezeichnete Weine kredenzt.

Da die Dienstmädchen und Brooke immer wieder zum Servieren und Nachschenken im Zimmer waren, verlief das Gespräch bei Tisch zwangsläufig gekünstelt. Als der Nachtisch schließlich abgeräumt wurde, hörte Eleanor, wie der Gastwirt Matthew etwas ins Ohr flüsterte: „Brandy, Sir?“

Als Matthew seinen Stuhl nach hinten schob, um aufzustehen und in den Schankraum zu gehen, hielt Eleanor ihn zurück: „Wenn Sie einen Brandy trinken möchten, fühlen Sie sich bitte nicht gezwungen, das Zimmer zu verlassen, Mr. Thomas.“

„Nein, wirklich nicht“, bestätigte Tante Lucy. „Ehrlich gesagt … Brooke, mein Guter, würden Sie uns bitte zwei Gläser bringen? Ein kleines Schlückchen wird mir bestimmt helfen, Schlaf zu finden. Meine Nichte und ich ziehen uns bald zurück, Mr. Thomas. Dann können Sie Ihren Brandy noch in aller Ruhe genießen.“

„Ich danke Ihnen“, erwiderte Matthew. „Ich werde mich auch bald hinlegen. Es war ein langer und ereignisreicher Tag.“

Brooke kam wenig später mit einer vollen Karaffe und Gläsern zurück. Nachdem Tante Lucy ihr kleines Schlückchen getrunken hatte, stand sie auf. „Komm, Ellie. Es ist Zeit für uns, zu Bett zu gehen. Dürfen wir es Ihnen überlassen, Brookes Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen, Mr. Thomas? Wir sehen uns dann morgen früh wieder. Gute Nacht.“

„Selbstverständlich kümmere ich mich darum“, erwiderte Matthew. „Gute Nacht, die Damen.“

Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, murmelte Tante Lucy: „Ich frage mich, wer unser Mr. Thomas in Wahrheit ist?“

Eleanor blieb mit einem Fuß auf der untersten Stufe stehen. „Was meinst du damit: wer er in Wahrheit ist?“

Tante Lucy blickte zur Tür des Privatsalons zurück. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete sie. „Etwas an ihm kommt mir beinahe vertraut vor … Oh, ich weiß es nicht genau. Immer wenn ich den Eindruck habe, mir fiele gleich ein, um was es sich handelt, entschlüpft es mir wieder. Aber egal, mit der Zeit werde ich schon dahinterkommen.“

Sie stiegen die Treppe in den ersten Stock hoch, und Eleanor wünschte der Tante vor ihrer Schlafzimmertür eine gute Nacht. Lizzie half ihr, sich auszukleiden, bevor sie sich in ihre Kammer begab. Eleanor legte sich völlig erschöpft hin. Doch kaum lag sie mit dem Kopf auf dem Kissen, verfolgten sie die Vorfälle der letzten Zeit. Lebendig standen ihr das Feuer und der Unfall vor Augen, und sie grübelte über den Angriff auf das Mädchen nach. Hatte der Überfall in Stockport tatsächlich ihr gegolten? War James dafür verantwortlich? Nein, sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Doch dass jemand die Absicht hatte, sie zu töten, war ein unerträglicher Gedanke. Unruhig wälzte sie sich im Bett hin und her, ohne Schlaf zu finden. Schließlich beschloss sie, unten einen Schluck Brandy zu trinken. Wenn es Tante Lucy beim Einschlafen half, funktionierte es vielleicht auch bei ihr.

Sie zündete die Kerze wieder an, schlüpfte in ihre Hausschuhe und wickelte sich eine Wollstola um die Schultern. Den Kerzenhalter in Händen, ging sie vorsichtig bis zum Treppenabsatz und stieg langsam die Stufen hinunter. Obgleich Brooke beteuert hatte, die Außentüren bewachen zu lassen, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür des Privatsalons. Gewiss waren im Haus längst alle zu Bett gegangen. Sie hörte nichts außer leisem, rumpelndem Schnarchen – ein beruhigendes Geräusch. Es waren also Menschen in Reichweite, sofern sie Hilfe benötigte.

Sie zögerte einen Moment und lauschte, bevor sie die Klinke nach unten drückte und die Tür öffnete.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Matthew stand vor dem Kaminfeuer. Er hatte den Gehrock ausgezogen. Nur noch mit Hemd, Weste und Breeches bekleidet, wirkte seine Gestalt noch athletischer. Er stützte sich mit der linken Hand auf dem Kaminsims ab, während er in die glühende Asche blickte. In der Rechten hielt er ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. Eleanor hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass er noch auf sein würde. Hatte er nicht gesagt, er werde bald zu Bett gehen? Glücklicherweise schien er nicht gehört zu haben, dass sie die Tür geöffnet hatte. Sie musste verschwinden – und zwar sofort! Es war töricht, zu bleiben.

Dennoch zögerte sie. Die Art und Weise, wie er dastand und in die Glut starrte, rührte sie. Er wirkte verloren, und sie hätte ihn am liebsten getröstet. Bei dem Gedanken an seinen Kuss prickelten ihre Lippen.

Nein, sie durfte das Schicksal heute nicht noch einmal herausfordern. Sie trat einen Schritt zurück, doch bevor sie die Tür schließen konnte, drehte er sich überrascht um.

Sie schluckte. Weshalb hatte sie sich nicht sofort zurückgezogen, als sie ihn erblickt hatte? Jetzt war es zu spät. Sie betrat das Zimmer und schloss die Tür.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie störe, Mr. Thomas“, flüsterte sie. „Ich konnte nicht einschlafen und kam hinunter, um einen Schluck Brandy zu trinken – in der Hoffnung, das würde mir helfen.“

Er sprach leise, doch sie hörte die Härte aus seinen Worten heraus. „Also beschlossen Sie, mitten in der Nacht im Gasthof herumzuspazieren? Nach all dem, was vorgefallen ist?“

„Ich war vorsichtig! Außerdem wusste ich, dass Sie die Türen und Fenster überprüft haben, sodass niemand eindringen kann.“

Er verzog keine Miene. „Sie vertrauen zu sehr auf meine Fähigkeiten.“ Er hob das Glas an die Lippen.

„Weshalb auch nicht?“, erwiderte Eleanor. „Ich vertraue Ihnen.“

Sie zögerte. Was hatte sie da gerade gesagt? Es klang, als ob …

Matthew hob die Brauen und musterte sie. Ein wissendes Lächeln umspielte seinen Mund.

„Ich meine, ich vertraue auf Ihre Fähigkeiten.“

„Oh nein“, sagte er. „Verderben Sie es nicht. Ich sonne mich gern in Ihrer Anerkennung.“

Eleanor spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ich muss gehen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“ Sie wandte sich zur Tür.

„Bleiben Sie.“

Eine Hand bereits auf der Klinke, hielt sie inne. Willst du immer noch die Flucht ergreifen, sobald ein Mann ein klitzekleines Interesse an dir zeigt?

„Bleiben Sie einen Augenblick“, bat er sie. „Ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen.“

Er hatte traurig ausgesehen. Vielleicht konnte sie helfen. Sie war hinuntergekommen, um einen Schluck Brandy zu trinken … Es konnte nichts schaden, wenn sie für ein paar Minuten blieb, solange niemand sie sah.

Sie blickte ihn an und wies auf die Karaffe, die Brooke auf die Anrichte gestellt hatte. „Würden Sie mir bitte etwas Brandy einschenken?“

Die Stola noch fester um die Schultern wickelnd, durchquerte sie das Zimmer, während er ihr von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit einschenkte. Weshalb bin ich nicht rechtzeitig nach oben gegangen? Weil du wissen willst, wie es sich anfühlt … Wie es ist, wenn ein Mann dich begehrt.

Matthew sah sie mit seinen blauen Augen an, als er ihr ein Glas reichte und dabei ihre Finger streifte. Eleanor riss ihm das Glas beinahe aus der Hand.

„Vielen Dank“, sagte sie und stellte sich rasch neben den Kamin.

„Nichts zu danken, Mylady.“

Seine tiefe Stimme jagte ihr einen wohligen Schauder durch den ganzen Körper. Meine Güte! Die Alarmglocken läuteten laut und deutlich, doch sie entschied, nicht darauf zu achten. Vielleicht war dies eine gute Übung, um die Verlegenheit zu überwinden, die sie während ihres Debüts so geplagt hatte. Wenn es ihr gelang, unbefangen mit dem attraktiven, aber zweifellos nicht standesgemäßen Matthew Thomas zu plaudern, würde ihr das in London zugutekommen, wo sie sich mit gut aussehenden Männern unterhalten und tanzen würde, die ihrem Stand entsprachen.

Eleanor fixierte das Glas, das sie in Händen hielt. Sie schwenkte die leuchtende Flüssigkeit und wärmte sie an, bevor sie daran nippte. Die feurige Stärke brachte sie zum Husten. Matthew stand nun wieder an der anderen Seite des Kamins und hatte die Karaffe auf dem Sims abgestellt.

Sie riss ihren Mut zusammen und sagte: „Sie wissen eine Menge über mich, aber ich weiß praktisch nichts von Ihnen. Nur, dass Sie Ahnung von Pferden haben.“

Er starrte in die Glut. „Über mich gibt es nicht viel zu erzählen, was für Sie interessant sein könnte.“

„Dennoch …“ Schweigend wartete sie ab, während sie einen weiteren Schluck trank und die Wärme genoss, die sich durch den Brandy in ihrem Körper ausbreitete.

„Seit dem achtzehnten Lebensjahr habe ich in Übersee gelebt und gearbeitet. Ich bin Kaufmann – meine Welt ist weit entfernt von jener, die Sie bewohnen.“

Eleanor hob neugierig die Brauen. „Wo haben Sie gelebt?“

„In Indien. Ich bin erst seit Kurzem wieder in England.“

„Vermissen Sie es? Werden Sie dorthin zurückkehren?“

Er runzelte die Stirn. „Einige Dinge vermisse ich, und vielleicht reise ich in Zukunft wieder dorthin. Allerdings nicht, um da zu leben. England ist meine Heimat.“

„Warum sind Sie dann überhaupt weggegangen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich musste für meinen Lebensunterhalt sorgen. Mein Großonkel hatte ein Handelsunternehmen in Ostindien, und ich habe für ihn gearbeitet. Nach seinem Tod beschloss ich, nach Hause zurückzukehren.“

„Und wovon wollen Sie hier leben?“

Er lachte leise. „Sie stellen eine Menge Fragen, Mylady. Möchten Sie noch etwas Brandy?“ Er hob die Karaffe an und sah sie fragend an.

„Danke, gern.“ Eleanor hielt ihm das Glas hin, und er schenkte ihr nach. „Die Wirkung ist sehr angenehm. Ich kann verstehen, weshalb Tante Lucy der Meinung war, es würde ihr beim Einschlafen helfen.“

Matthew beobachtete, wie sie mit zusammengekniffenen Augen am Brandy nippte. „Probieren Sie zum ersten Mal ein Gläschen Brandy?“

„Oh ja. Wo waren wir stehen geblieben?“

„Sie fragten, wie ich in England für mein Auskommen sorge. Ich warne Sie: Dies ist die letzte Frage, die ich beantworte. Dann bin ich an der Reihe, und Sie müssen antworten. Ich werde weiterhin Handel treiben. Wir importieren Tee, Teppiche, Seide, Porzellan, ja nahezu alles, für das es einen Markt gibt – aus Indien und teilweise aus China.“

„Wir?“

„Mein Geschäftspartner Benedict Poole und ich. Er segelt gerade mit einer neuen Ladung nach England zurück“, sagte er lächelnd. „Nun habe ich aber genug über mich gesprochen … Sie erzählten, Sie wären seit sieben Jahren nicht mehr in London gewesen. Waren Sie zum letzten Mal zu Ihrem Debüt in der Hauptstadt? Weshalb sind Sie seitdem nicht mehr dort gewesen?“

Der plötzliche Themenwechsel ließ Eleanor antworten, bevor sie die Worte sorgfältig abgewägt hatte. „Ja, es war anlässlich meines Debüts, aber ich habe es gehasst.“

„Gehasst? Ich dachte, jede junge Dame würde ihr Debüt als die schönste Zeit des Lebens betrachten.“

Sie lachte leise. „Ich nicht. Damals war ich schüchtern und rückblickend betrachtet zu unreif.“

„Das erklärt aber noch nicht, weshalb Sie so lange nicht in London waren. Ich würde Sie jetzt wahrhaftig nicht mehr als schüchtern bezeichnen.“

Ihre Wangen röteten sich, als sie sich an den Kuss erinnerte. Auch Matthews Blick verriet, dass er daran dachte. Sie leerte das Glas und hielt es ihm entgegen, damit er ihr nachschenkte. Er goss ihr einen winzigen Schluck ein.

Gerade wollte sie ihn auffordern, ihr etwas mehr einzuschenken, als er sie fragend anblickte: „Weshalb sind Sie so auf der Hut vor einem Skandal?“

„Was meinen Sie damit? Ich bin nicht …“, erwiderte sie aufgeregt.

Matthew schüttelte belustigt den Kopf. „Ich habe all Ihre Fragen beantwortet und bin auch den heikelsten nicht ausgewichen.“

„Ja, aber …“

„Ihre Tante hat mich darauf gebracht. Sie waren zornig, doch als sie vor einem Skandal warnte, lenkten Sie sofort ein.“

Eleanor musste lachen. Ihr war bewusst, dass sie schon ein wenig berauscht war. Sie konzentrierte sich ganz auf die nächsten Worte. „Dann nennen Sie mir doch bitte einen einzigen Menschen, der Gefallen daran findet, Gegenstand eines Skandals zu werden, Mr. Thomas. Weshalb sollte ich mich also nicht davor hüten?“

„Das klingt vollkommen einleuchtend, aber bei Ihnen wirkte es anders – als ob in Ihrer Vergangenheit etwas vorgefallen wäre … Kommen Sie schon! So schlimm kann es nun auch wieder nicht gewesen sein. Ein paar verbotene Küsse?“

Eleanor verspannte sich. Sie konnte ihm kaum verübeln, dass er Derartiges in Erwägung zog.

Seine Mundwinkel zuckten. „Ich verspreche, dass ich es niemals gegen Sie verwenden werde.“

„Es ging nicht um mich. Es war meine Mutter, die einen Skandal verursacht hat. Und ich möchte nicht darüber reden.“ Sie stellte ihr Glas auf dem Kaminsims ab. „Ich gehe zu Bett.“

Matthew ergriff ihre rechte Hand. „Nein, bleiben Sie doch. Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.“ Er lächelte betrübt. „Ich fürchte, mir fehlt die rechte Übung, wie ich eine Dame zu behandeln habe. Ich verspreche Ihnen, meine Neugier zu zügeln.“

Seine Berührung ließ sie am ganzen Körper erbeben, und eilig zog sie die Hand zurück. „Meine Mutter hat meinen Vater und mich verlassen, als ich elf Jahre alt war“, sagte sie. „Sie hat in London ganz offen mit einem anderen Mann zusammengelebt. Das war der Skandal. Nachdem sie gegangen war, habe ich sie nie wiedergesehen, und sie starb ein paar Jahre später im Kindbett. Sie fragten, weshalb ich mein Debüt gehasst habe – es war wegen des Geflüsters und Geredes, überall, wo ich nur hinkam. Alle Augen waren auf mich gerichtet. ‚Wie die Mutter, so die Tochter‘, schienen die Gentlemen zu glauben.“ Als sie an diese schreckliche Zeit zurückdachte, versagte ihr die Stimme. Schweigend schüttelte sie den Kopf und lachte schließlich bitter. „Diesmal wird mein Verhalten über jeden Tadel erhaben sein, und ich werde Zutritt zu Almack’s erhalten. Sie werden schon sehen.“ Sie blickte Matthew streitlustig an.

„Ich habe keine Zweifel, dass Sie Ihr Ziel erreichen“, entgegnete er besänftigend, ergriff sie am rechten Arm und schob sie auf die Tür zu. „Aber jetzt wird es erst einmal Zeit, dass Sie sich schlafen legen. Kommen Sie.“

Eine Hand auf ihrem Rücken, führte er sie zur Tür. Warm. Tröstlich. Sein Duft stieg ihr in die Nase – moschusartig, maskulin, eine Spur zitronig. Sie drehte sich zu ihm um und stützte sich mit einer Hand an seiner Brust ab, um nicht zu schwanken.

„Ups! Der Brandy war stärker, als ich gedacht hatte.“ Und er hat deine Zunge gelöst, Eleanor. Sei vorsichtig! Sie fixierte Matthews Krawattentuch.

Er löste ihre Hand von seiner Brust und griff nach der Türklinke.

„Danke“, sagte sie. „Ich sollte mich besser leise verhalten, nicht wahr? Stellen Sie sich vor, was meine Tante sagen würde, wenn sie uns beide so hier sähe? Sie würde zu Recht nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.“

Er sah sie an, und es war, als ob seine Blicke sie liebkosten und wärmten, wie es der Brandy getan hatte. Zärtlich strich er ihr mit einem Finger über die linke Wange, bevor er die Konturen ihrer Lippen berührte. Sie schloss die Augen und gab sich ganz den erregenden Gefühlen hin.

„Du bist wunderschön, Eleanor“, murmelte er. „Es ist schwer, dir zu widerstehen.“

Seine Worte waren Labsal für ihre Seele. Sie standen so nah beieinander, dass seine Weste ihre Brüste streifte. Ihre Brustspitzen prickelten, und sie bekam ganz weiche Knie.

Matthew küsste sanft ihre Lippen – die Berührung war wie ein Hauch. „Gute Nacht.“

Sie hob die Hände und hielt ihn fest. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Ihr Kuss war kein flüchtiges Streifen seiner Lippen. Leidenschaftlich drückte sie die feuchten Lippen auf seinen Mund. Matthew stöhnte leise auf, bevor er sie mit den Armen umschloss und fest an seinen harten Körper zog. Mit einer Hand stützte er sie am Rücken, während er mit der anderen zärtlich ihren Kopf umfasste und ihren Kuss mit großer Leidenschaft erwiderte. Mit der Zunge liebkoste er ihre leicht geöffneten Lippen und erkundete ihren Mund. Sie gab sich ganz dem Kuss hin – einen so schamlosen Kuss hatte sie sich nie vorstellen können. Sie wollte, dass er niemals endete.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durch das Haar, als er sie noch fester an sich zog und die rechte Hand ihren Rücken hinunterwandern ließ. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Die einzige Wirklichkeit, die in diesem Moment für sie existierte, lag in diesem Kuss – ein verruchtes und herrliches Versprechen noch größerer Freuden. Sie schmiegte sich an ihn und erkundete mit den Händen seine breiten Schultern und den Rücken, bis sie sein festes Gesäß spürte, das sich so von ihren weichen Rundungen unterschied.

Erneut aufstöhnend, löste er sich von ihr, hielt sie jedoch an den Schultern fest, als ihr beinahe die Knie einknickten. Verträumt betrachtete sie sein Gesicht und bemerkte seine Entschlossenheit.

„Ich denke, du solltest jetzt besser gehen“, sagte er mit einer Stimme, die vor Verlangen heiser war. „Das hier ist nicht klug. Es sollte nicht sein.“

Diese Worte riefen sie in die Realität zurück. Du lieber Himmel! Was hatte sie getan? Sie blickte ihm in die tiefblauen Augen, in denen sich ein Strudel von Gefühlen widerspiegelte.

„Ich hätte nicht bleiben sollen“, flüsterte sie. „Du hast recht. Wir sollten nicht allein sein.“

Er lachte unsicher. „Nein, das sollten wir nicht. Der Himmel stehe uns bei, wenn deine Tante uns entdeckt! Geh jetzt besser. Wir vergessen einfach, dass es passiert ist. Wir sehen uns morgen früh.“

Wie im Traum kehrte Eleanor in ihr Schlafzimmer zurück. Tausend Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Was hatte sie getan? Bestürzung über ihr skandalöses Verhalten mischte sich mit purem Verlangen, Bedauern mit Freude, Scham mit der schuldbewussten Sehnsucht nach mehr. Verwirrt und ermattet sank sie in den Schlaf.

12. KAPITEL

A m nächsten Morgen frühstückte Eleanor auf ihrem Zimmer.

„Sie hat Kopfschmerzen“, erläuterte Lady Rothley, als sie sich zu Matthew an den Frühstückstisch setzte. „Bei allem, was vorgefallen ist, scheint mir das nicht verwunderlich.“

Nein, das wundert mich auch nicht, dachte Matthew. „Es tut mir leid, das zu hören. Ich hoffe, sie fühlt sich gut genug, um heute weiterzureisen.“

„Oh, ich bin mir sicher, sie ist rasch wieder auf den Beinen. Meine Nichte ist eine starke Frau. Sie lässt sich nicht durch Kopfschmerzen von ihren Plänen abbringen.“

Das glaube ich gern. „Ich schicke gleich jemanden zu den Stallungen, dass wir unseren Aufbruch um eine Stunde verschieben“, entgegnete Matthew. „Hoffentlich fühlt sie sich bis dahin besser.“

„Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Mr. Thomas“, sagte Lady Rothley. „Ich lasse meiner Nichte gleich Bescheid geben. Sie wird froh sein, etwas später aufzubrechen.“ Sie biss in eine Scheibe Toast. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie uns für den Rest der Reise begleiten. In diesem Wissen konnte ich letzte Nacht viel besser schlafen.“

„Ich freue mich, wenn ich behilflich sein kann, Mylady.“

Wenn Lady Rothley geahnt hätte, dass er in der Morgendämmerung am liebsten das Weite gesucht hätte, um Eleanor und den widersprüchlichen Gefühlen, die sie in ihm auslöste, zu entfliehen! Wenn er an den Kuss der wunderschönen und eigenwilligen Baroness dachte, pochte das Blut in seinen Adern.

„Sie dürfen meiner Nichte nicht böse sein“, murmelte Lady Rothley, ohne vom Teller aufzusehen. „Sie möchte unbedingt beweisen, dass sie keinen Mann zur Unterstützung braucht. Deshalb führt sie sich manchmal ein wenig … herrisch auf. Das ist Ihnen möglicherweise schon aufgefallen.“

Matthew verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. „Nein“, erwiderte er keuchend und kämpfte gegen das Lachen an. „Nein, ich kann nicht behaupten, dass mir das aufgefallen wäre. Vielleicht ist herrisch nicht der richtige Begriff. Sie trifft eben gern die Entscheidungen.“

„Ja“, bestätigte Ihre Ladyschaft mit funkelnden Augen. „Das klingt viel diplomatischer. Eleanor will alles richtig machen und war viel zu einsam, seit ihr Vater gestorben ist. Er wollte, dass sie vor seinem Tod heiratete, aber es ist nichts daraus geworden. Ihre dumme Tante Phyllis, die bei ihr wohnt, hat immer versucht, der armen Ellie einzureden, Frauen hätten nicht genug Verstand, um Geschäftsangelegenheiten zu regeln. Und wie reagiert ein temperamentvolles Mädchen wie Ellie darauf? Sie will allen das Gegenteil beweisen.“

„Ja, das ist nachvollziehbar“, entgegnete Matthew.

„Ach, du meine Güte! Verzeihen Sie, ich plaudere hier so freimütig, als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.“ Ein wenig verlegen lächelte sie ihn an.

„Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen, Mylady“, beteuerte er und stand auf. „Jetzt müssen Sie mich leider entschuldigen, weil ich noch meine Rechnung bei Brooke begleichen muss und mit meinem Diener über die Weiterreise reden möchte.“

Eleanor kämpfte nicht nur gegen einen brummenden Schädel an, sondern auch gegen die erniedrigende Erinnerung an ihr schamloses Verhalten. Gewiss hatte der Brandy ihre Hemmschwelle gesenkt, doch sie hatte entschieden, allein mit ihm im Privatsalon zu bleiben, bevor sie auch nur einen Tropfen davon angerührt hatte. Was um alles in der Welt war in sie gefahren?

Und was dachte Matthew Thomas jetzt von ihr? Künftig musste sie sich ihm gegenüber so vorsichtig wie möglich verhalten – wenn sie ihren guten Ruf wahren und ihr Herz beschützen wollte. Denn zweifelsohne brachte er beides in Gefahr. Wenn sie an seinen Kuss und sein gutes Aussehen dachte, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken. Oh ja, er stellte eine Gefahr für sie dar, der sie nur schwer widerstehen konnte. Keiner der Gentlemen, die sie kannte, hatte je eine solche Wirkung auf sie gehabt … Doch es nützte nichts, weiter darüber nachzugrübeln. Was geschehen war, war geschehen. Sie musste sicherstellen, keinen Augenblick mit Matthew allein zu sein. Es war ohnehin nur für wenige Tage. Anschließend würden sie sich nie wieder über den Weg laufen.

Im Hof vom The George standen zwei Chaisen bereit. Tante Lucy und Eleanor würden in der ersten Kutsche reisen und Lizzie, Matilda und Timothy in der zweiten. Eleanor blickte sich um. Matthew oder sein Phaeton waren nirgends zu sehen. Hatte er doch beschlossen, sie nicht zu begleiten, nach dem, was vorgefallen war?

Der herbe, frische Zitrusduft, der ihr in die Nase stieg, machte sie darauf aufmerksam, dass er nur einen Schritt hinter ihr stand.

„Guten Morgen, Mylady. Geht es Ihnen besser?“

Eleanor neigte den Kopf zur Seite. „Sehr viel besser, Mr. Thomas. Danke der Nachfrage.“

Sie wagte es, ihn anzusehen, als er ihr die Hand entgegenstreckte.

„Erlauben Sie mir, Ihnen in die Kutsche zu helfen.“

Erhobenen Hauptes ergriff sie seine rechte Hand, stieg in die Kutsche und setzte sich neben ihre Tante, die bereits Platz genommen hatte. Sie sah sich um, weil sie Matthew danken wollte, und musste ein Keuchen unterdrücken, als er sich auf die gegenüberliegende Bank setzte.

„Nehmen Sie nicht Ihre eigene Kutsche?“

Sie spürte, dass sie errötete, als Matthew sie, eine Braue hebend, musterte. Sie hatte nicht so brüsk klingen wollen.

„Ich habe den Pferden gestern das Äußerste zugemutet“, antwortete er. „Sie brauchen ein paar Tage Ruhe, und dann wird Henry sie gemächlich nach London traben lassen. Daher fürchte ich, dass Sie meine Gegenwart für den Rest der Reise ertragen müssen.“

„Wir freuen uns sehr über Ihre Gesellschaft, Mr. Thomas.“ Tante Lucy strahlte und stieß Eleanor sanft an. „Nicht wahr, mein Täubchen?“

Wir vergessen einfach, dass es passiert ist. Eleanor musste Matthew Thomas zugestehen, dass er sich wahrhaftig daran hielt. Mit keiner Geste und keinem Wort ließ er durchblicken, was zwischen ihnen vorgefallen war, und er versuchte auch nicht, mit ihr allein zu sein. Obgleich sie darüber hätte erleichtert sein können, war sie zunehmend gereizt. Sie sehnte sich nach einer Gelegenheit, ihn abzuweisen und ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, dass sie es bedauerte, ihn geküsst zu haben. Zutiefst bedauerte …

Am nächsten Morgen bezahlte Eleanor die Rechnung im Gasthof White Hartt in Loughborough und wollte gerade in die Kutsche einsteigen, als Matthew wütend aus dem Haus stürmte.

„Ich bezahle selbst!“

„Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen wunderschönen guten Morgen, Mr. Thomas“, erwiderte Eleanor und hob das Kinn. Sie und Tante Lucy hatten auf den Zimmern gefrühstückt, sodass es sich um die erste Begegnung des Tages handelte. „Sie müssen sich nicht aufregen. Dies ist meine Reise, und ich bezahle.“

Auf diese Weise bewahrte sie immerhin ihre Würde, zumal sie sich nach wie vor heftig zu ihm hingezogen fühlte. Wenn sie an den Kuss dachte, erhitzte sich ihr ganzer Körper. Indem er sich angemaßt hatte, während ihres ersten gemeinsamen Reisetags das Kommando zu übernehmen – den Austausch der Pferde zu überwachen, sich um Erfrischungen und Privatsalons zum Ausruhen zu kümmern und die Sicherheit des Gasthofs, in dem sie über Nacht geblieben waren, zu überprüfen –, hatte er ihr die Last der Verantwortung von den Schultern genommen. Das entlastete und beleidigte sie zugleich. Alles in allem musste sie – wenngleich nur insgeheim – zugeben, dass es angenehm war, zur Abwechslung von einem Mann begleitet zu werden, der alles regelte.

Mittlerweile fühlte sie sich auch nicht länger verlegen oder unwohl in seiner Gegenwart. Möglicherweise lag es daran, dass er sie nicht mehr auf diese spezielle und durchdringende Weise mit seinen blauen Augen ansah, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. Er zog sie auch nicht mehr auf oder flirtete mit ihr. Er verhielt sich wie ein höflicher Bekannter. Dennoch wollte Eleanor ihre Autorität zur Geltung bringen und ihre Selbstachtung retten, indem sie für alle die Rechnung beglich. ‚Wes Brot ich ess, des Lied ich sing‘, dachte sie zufrieden.

Sie hatte geahnt, dass er Widerstand leisten würde, allerdings keine solche Wut vorhergesehen.

„Sie können für Ihre Unterkünfte und die Ihrer Bediensteten aufkommen“, sagte er mit fester Stimme. „Aber ich lasse nicht zu, dass Sie für mein Zimmer und mein Essen bezahlen. Hier.“ Er streckte ihr eine Hand mit Münzen entgegen. „Nehmen Sie es.“

„Nein, Sie leisten mir einen Dienst. Daher bin ich für Ihre Ausgaben verantwortlich.“ Eleanor wandte sich ab und stieg in die Kutsche.

„Bei Gott, mich hat noch nie eine Frau so in Rage versetzt wie Sie!“ Matthew stand vor der geöffneten Kutschentür, und seine blauen Augen schienen zu lodern. „Ich bin auf Ihre Almosen nicht angewiesen, Lady Ashby.“

Eleanor schluckte. „Ich sehe es nicht als Almosen, sondern als meine Verpflichtung an.“

„Ich mag nicht über Ihren Reichtum verfügen, aber ich bin nicht arm. Ich kann selbst bezahlen.“

„Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt.“ Sie blickte ihn direkt an. „Sagen Sie ehrlich, würden wir diese Diskussion auch führen, wenn ich ein Mann wäre?“

Matthew holte tief Luft, stieg in die Kutsche ein und sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein anderer Mann zugeben würde, meinen Schutz zu benötigen. Das bedeutet aber keinesfalls, dass ich zulassen werde, wenn Sie während der restlichen Reise meine Unterkunft oder mein Essen bezahlen.“

„Und was ist, wenn ich dennoch die Rechnungen begleiche?“

„Dann wird es zwischen hier und London eine Reihe sehr glücklicher Gastwirte geben, da sie gleich zweimal für ihre Dienste bezahlt werden.“

„Anscheinend muss ich in diesem Punkt nachgeben“, sagte Eleanor widerstrebend.

„Worin musst du nachgeben?“, fragte Tante Lucy, der Timothy gerade in die Kutsche half.

„Mr. Thomas ist verärgert, weil ich seine Rechnung im Gasthof beglichen habe.“

Autor

Janice Preston
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Carole Mortimer
Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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