Spricht dein Blick die Wahrheit?

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ist eine Frau wie die andere? Immer wieder fragt Luke Walker sich, ob er seiner hübschen jungen Schwägerin Karis wirklich trauen kann. Sein Herz sagt Ja zu ihr, aber sein Verstand warnt ihn, sich noch einmal auf eine der Pratt-Schwestern einzulassen. Denn Lea Pratt, seine verstorbene Frau, hat ihn belogen und betrogen. Doch die Sehnsucht nach Liebe siegt: In zärtlichen Stunden mit Karis erlebt Luke eine Wärme und Leidenschaft, die er bei Lea immer vermisst hat. Er träumt von einer gemeinsamen Zukunft, bis Karis ihm gesteht, was sie bisher verschwiegen hat ...


  • Erscheinungstag 07.03.2016
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773830
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„So, meine Süße, jetzt haben wir’s geschafft. Wir sind da“, sagte Karis Pratt und drehte sich zu dem kleinen Mädchen um, das auf der Rückbank in einem Babysitz saß. Normalerweise schlief die fünfzehn Monate alte Amy um diese Zeit längst, aber im Moment schaute sie gerade aus dem Seitenfenster. Dabei lutschte sie am Daumen und strampelte mit den Beinen – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie müde war.

Alles in allem wirklich kein trauriger Anblick, trotzdem schossen Karis die Tränen in die Augen. Schnell legte sie den Kopf in den Nacken und blinzelte. „Am liebsten würde ich sofort wieder umkehren“, sagte sie zu der Kleinen. „Einfach vergessen, warum ich überhaupt hergekommen bin. Und wenn ich wüsste, was ich sonst tun könnte …“ Karis versagte die Stimme, und sie musste sich räuspern. Dann fuhr sie fort: „Aber es gibt keine andere Möglichkeit, sonst wären wir nicht hier.“

Die letzten zwei Stunden lang waren sie im Schneckentempo durch einen Schneesturm gefahren, bis sie den Ort erreicht hatten, den Karis’ Schwester Lea als „hinterwäldlerisches Provinzkaff“ bezeichnet hatte: die Kleinstadt Northbridge im dünn besiedelten Bundesstaat Montana.

Es war der letzte Freitag im Oktober und schon nach neun Uhr abends. So spät hatte Karis hier eigentlich nicht ankommen wollen. Wenn man vorhatte, unangemeldet bei einem völlig fremden Menschen zu klingeln, suchte man sich normalerweise einen günstigeren Zeitpunkt dafür aus – den späten Nachmittag vielleicht oder den frühen Abend. Aber das ging jetzt nicht mehr, denn die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen. Und Karis konnte auch schlecht mit der kleinen Amy im Auto schlafen – eine andere Möglichkeit gab es nämlich nicht.

Seufzend löste sie den Gurt. „Keine Angst“, murmelte sie und fragte sich dabei, ob sie damit wirklich ihre Nichte oder eher sich selbst beruhigen wollte. „Das wird schon.“ Sie stieg aus dem Kleinwagen und sah zu dem Einfamilienhaus aus rotem Backstein hinüber, das sie durch den dichten Schneefall nur schwer erkennen konnte. Das zweistöckige Gebäude hatte einen überdachten Eingangsbereich. Die Hausnummer an der Tür bestätigte Karis, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Der einzige Brief, den Lea ihr aus Northbridge geschickt hatte, hatte diese Absenderadresse gehabt.

Ein warmes Licht erleuchtete das Fenster zur Straße, die Vorhänge waren zugezogen. Wie gut – der Mann, mit dem ihre Schwester gerade mal zehn Monate lang verheiratet gewesen war, war also höchstwahrscheinlich zu Hause.

Karis klappte den Kragen ihres Mantels hoch und strich sich das kinnlange kastanienbraune Haar hinter die Ohren. Danach holte sie Amy aus dem Auto. Die Kleine sah sie aus ihren großen blauen Augen vertrauensvoll an, und Karis zog sich das Herz zusammen.

Wie soll ich das bloß schaffen …?

In diesem Moment erfasste ein eisiger Wind sie von hinten, und ihr wurde klar, dass sie mit Amy unmöglich die Nacht im Wagen verbringen konnte. Entschlossen zog sie der Kleinen die Kapuze über die kurzen rotbraunen Locken, löste den Gurt und hob den Babysitz von der Rückbank.

So schnell wie möglich lief sie zum Haus, kletterte die vier Stufen zum Eingang hoch und klingelte. Dann wartete sie. Dabei beugte sie sich über Amy, küsste sie auf die Stirn und wiederholte, was sie vorhin schon gesagt hatte: „Keine Angst … es wird alles gut.“

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Karis hob den Kopf, drückte die Schultern durch und betrachtete den Mann, der ihr jetzt gegenüberstand. Er war sehr groß und breitschultrig, eine stattliche Erscheinung – mehr konnte sie nicht erkennen, weil er das Licht im Rücken hatte.

„Guten Abend, ich möchte gern zu Luke Walker“, sagte sie.

„Das bin ich.“ Er sah sie fragend an.

„Sie kennen mich nicht, aber …“ Sie brach ab. Woher sollte er sie auch kennen? Immerhin waren sie sich noch nie begegnet. Am liebsten hätte sie ihm gar nicht gesagt, wer sie war. Die letzten Wochen waren für Karis wie ein Albtraum gewesen, und noch immer war kein Ende abzusehen.

Amys wegen nahm sie schließlich doch ihren Mut zusammen: „Ich heiße Karis Pratt“, sagte sie. „Und ich bin Leas Schwester.“

Zuerst hatte es den Anschein, als wollte der Mann ihr sofort die Tür vor der Nase zuknallen, aber dann hielt er inne und senkte den Blick. Obwohl Karis sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass er jetzt den Kindersitz mit Amy betrachtete, den Karis mit beiden Händen am Henkel festhielt.

Der Mann murmelte leise ein paar Worte, die sich wie ein Fluch anhörten, trat aber ein Stück zurück. „Dann kommen Sie mal raus aus der Kälte.“ Es klang alles andere als freundlich, aber Karis durfte jetzt nicht überempfindlich sein. Schnell trug sie Amy in den warmen Hausflur, damit Luke Walker die Tür schließen konnte.

Als er sich zu ihr umdrehte, sodass sie nun sein Gesicht sehen konnte, war sie etwas erleichtert. Ihre Schwester hatte manchmal eine seltsame Vorliebe für leicht verwahrloste Typen gehabt. Wenn Luke Walker auch einer von dieser Sorte gewesen wäre, hätte Karis ihren Plan nicht in die Tat umsetzen können.

So, wie sie ihn jetzt erlebte, kam Luke ihr jedoch alles andere als verwahrlost vor. Zunächst einmal sah er umwerfend gut aus: Das schwarzbraune Haar trug er ganz kurz, und sein kantiges Gesicht wirkte sehr männlich. Seine Nase war etwas länger, aber vollkommen, seine Lippen waren weder zu schmal noch zu voll. Der Blick aus seinen grünblauen Augen war wach und intelligent, kritisch und entwaffnend zugleich.

Und dann sein Körper … breite Schultern, schmale Hüften und dazu lange, muskulöse Beine.

Luke Walker arbeitete für die Polizei in Northbridge, das wusste Karis. Darum hatte sie gehofft, dass er anders sein würde als die anderen Männer, mit denen sich Lea gewöhnlich abgegeben hatte. Und tatsächlich wirkte er so vertrauenswürdig und zuverlässig auf sie, dass sie gleich etwas ruhiger wurde. Aber auch nur etwas.

Sie stellte den Babysitz auf dem Boden ab und betrachtete Luke Walkers dunkelblaue Uniform. Offenbar war er gerade vom Dienst gekommen. Er funkelte sie an und vermied es dabei, zu Amy herüberzuschauen.

„Was wollen Sie hier?“, fragte er, verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich Karis in den Weg, damit sie ja nicht auf den Gedanken kam, noch weiter ins Haus zu gehen.

Offenbar war Luke Walker überhaupt nicht gut auf ihre Schwester zu sprechen, und das völlig zu Recht.

Daher beschloss Karis, gar nicht erst um den heißen Brei herumzureden. „Lea ist tot“, sagte sie geradeheraus. „Sie ist vor sechs Wochen bei einer Explosion ums Leben gekommen, zusammen mit unserem Vater und dem Mann, mit dem sie von hier verschwunden ist.“

Luke runzelte die Stirn und kniff die Lippen fest aufeinander – das war seine einzige Reaktion.

„Es gibt noch eine lange Geschichte dazu, aber die wollen Sie bestimmt nicht hören“, fuhr Karis fort. „Jedenfalls kann ich unmöglich …“ Sie brach ab, denn sie konnte die Worte nicht aussprechen. Aber ich muss es ihm sagen, ermahnte sie sich. Es geht nicht anders! Sie schluckte. „Amy kann nicht bei mir bleiben. Jedenfalls im Moment nicht, weil …“

„Sie ist nicht mein Kind.“ Luke Walker sprach die Worte mit Bestimmtheit aus. „Als sie geboren wurde, waren Lea und ich zwar noch verheiratet, aber bevor sie mich verlassen hat, hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben, dass …“

„Ich weiß, was sie Ihnen erzählt hat“, unterbrach Karis ihn hastig – aus Angst davor, dass er sie vor die Tür setzen würde, bevor sie ausgesprochen hatte, was sie ihm zu sagen hatte. „Sie hat Ihnen erzählt, dass Abe Amys richtiger Vater ist. Das ist der Mann, mit dem sie Northbridge verlassen hat. Mir hat Lea aber später gesagt, dass sie sich überhaupt nicht sicher war. Sie behauptete, sie hätte Ihnen das bloß erzählt, damit Sie sie gehen ließen, damit sie wieder zu Abe konnte, um sich mit ihm den Drogen hinzugeben. So war sie eben. Ich würde aber nicht ausschließen, dass Amy Ihre Tochter ist.“

„Quatsch.“

„Glauben Sie, dass Lea mich angelogen hat, oder sind Sie der Ansicht, dass ich Sie jetzt anlüge? Ich wäre jedenfalls nicht hier, wenn ich es nicht für möglich halten würde …“

„Dann sind Sie sich also selbst unsicher. Sie sagen zwar, dass es möglich ist, aber Gewissheit haben Sie nicht.“

Karis sah ihm direkt in die Augen. „Das stimmt.“

„Na ja, die Wahrscheinlichkeit ist wohl eher gering.“

Dem wollte Karis nicht einfach zustimmen. „Ich weiß, wie meine Schwester war“, sagte sie. „Sie hat zwar oft gelogen, wenn sie sich davon etwas versprochen hat, aber was hätte sie davon gehabt, mir zu erzählen, dass Sie vielleicht doch Amys Vater sein könnten?“

Auf jeden Fall war Luke Walker Karis’ letzte Hoffnung.

„Lea hätte nichts davon gehabt, Sie aber sehr wohl“, warf er nun ein.

„Mr. Walker“, sagte Karis. „Meine Schwester hat mich vor ihrem Tod in schreckliche Schwierigkeiten gebracht. Ich musste alles aufgeben – und das meine ich wirklich wortwörtlich –, um die Menschen, die sich auf mich verlassen haben, vor dem Ruin zu bewahren. Alles, was ich jetzt noch besitze, steckt in dem Auto da draußen. In meinem Portemonnaie habe ich gerade mal zwölf Dollar und eine Kreditkarte, mit der ich noch zweimal tanken kann, dann wird sie gesperrt. Im Moment bin ich praktisch obdachlos und arbeitslos, und ich habe auch keine Zeugnisse oder Empfehlungsschreiben für zukünftige Arbeitgeber. Da kann Amy unmöglich bei mir bleiben. Und weil Sie auf ihrer Geburtsurkunde als Vater eingetragen sind und Amy womöglich wirklich Ihre Tochter ist … müssen Sie jetzt eben einspringen.“

Darauf sagte Luke Walker erst mal nichts, sondern fixierte Karis nur mit seinen grünen Augen.

Doch sie ließ sich nicht beirren. „Ich finde, Sie sollten einen Vaterschaftstest machen lassen. Das sind Sie Amy schuldig, sich selbst übrigens auch. Natürlich dauert es immer eine Weile, bis die Ergebnisse da sind … Ich dachte mir, vielleicht können Sie sich so lange um die Kleine kümmern, und ich versuche in der Zwischenzeit, mir einen neuen Job zu suchen, wieder etwas Boden unter den Füßen zu bekommen. Danach können wir ja sehen, wie es weitergehen soll.“

Drei Möglichkeiten waren Karis auf ihrer Fahrt nach Northbridge durch den Kopf gegangen: Die erste sah so aus, dass Luke sie sofort wieder vor die Tür setzte und nichts weiter von Amy wissen wollte. An diese Möglichkeit wollte Karis lieber nicht denken. Blieben noch die anderen beiden.

„Wenn bei dem Test herauskommt, dass Sie nicht Amys Vater sind, nehme ich meine Nichte zu mir. Das würde ich übrigens auch dann tun, wenn sie wirklich Ihre Tochter ist, Sie sie aber nicht haben wollen – vielleicht, weil Amy Sie zu sehr an Lea erinnert oder weil Sie kein alleinerziehender Vater sein wollen. Völlig egal, warum. Sobald ich wieder einigermaßen Fuß gefasst habe, nehme ich sie gern bei mir auf, ohne Wenn und Aber. Mir ist es völlig egal, wer ihr richtiger Vater ist, weil ich sie nämlich von ganzem Herzen liebe und gern mit ihr zusammen bin, und ich will auf gar keinen Fall, dass Amy bei jemandem leben muss, der …“

Oje! Schon wieder diese verfluchten Tränen! Karis schluckte. Sie wollte sich auf keinen Fall ausgerechnet vor Luke Walker diese Blöße geben. Hastig bückte sie sich, um den Babysitz am Henkel hochzuheben – wie durch ein Wunder war Amy eingeschlafen und hatte offenbar nichts von dem mitbekommen, was um sie herum geschehen war. Zum Glück.

„Moment mal“, sagte Luke Walker. Er klang ziemlich ärgerlich.

Bevor Karis sich wieder aufrichtete, blinzelte sie sich schnell die Tränen aus den Augen. Herausfordernd sah sie ihn an.

Er betrachtete sie eine Weile, als müsste er sich erst überlegen, wie er weiter vorgehen sollte. Wenn er jetzt darauf wartet, dass ich vor ihm auf die Knie falle und ihn anflehe, dann hat er sich geschnitten, dachte Karis.

Endlich sagte er: „In Ordnung, ich lasse den Test machen, damit die Sache geklärt ist. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass Amy nicht von mir ist.“

„Darf sie denn bis dahin bei Ihnen bleiben?“

Wieder ließ er sich mit seiner Antwort Zeit, schließlich schüttelte er den Kopf. „Nur, wenn Sie ebenfalls hierbleiben.“

Das verstand Karis nicht so ganz, aber sie fragte nicht weiter nach. „Na ja, die nächsten paar Tage bin ich sowieso noch in Northbridge, weil ich hier noch etwas klären muss.“

„Mit den anderen Pratts vielleicht? Da wäre ich lieber vorsichtig“, sagte er. „Jedenfalls reicht es mir nicht, wenn Sie ein paar Tage lang irgendwo in der Stadt sind. Wer sagt mir denn, dass Sie sich nicht einfach aus dem Staub machen, sobald ich Sie aus den Augen lasse? Und dann habe ich ein Kind am Hals, das noch nicht mal von mir ist.“

„Amy hat man nicht am Hals! Sie können von Glück sagen, dass Sie sich um so ein wundervolles Mädchen kümmern dürfen“, widersprach Karis ärgerlich. „Wenn Sie wirklich Ihre Tochter ist, können Sie sehr stolz sein. Amy ist das Beste, was meine Schwester je zustande gebracht hat. Außerdem würde ich nicht einfach abhauen, ich bin ja nicht Lea. Und selbst wenn Amy wirklich Ihre Tochter ist und Sie sich um sie kümmern wollen, würde ich mir auf jeden Fall in der Nähe einen Job und eine Wohnung suchen, damit ich meine Nichte möglichst oft …“

Luke Walker schnitt ihr das Wort ab. „Ich habe im Dachgeschoss ein Gästezimmer mit eigenem Bad. Da können Sie erst mal bleiben. Amy kommt wieder in ihr altes Zimmer – das Kinderbett steht immer noch da.“

„Das geht nicht. Ich muss mir dringend eine Arbeit suchen. Wenn ich auch hier wohne, hat das doch alles keinen Sinn.“

„Und ich lasse Sie nicht aus den Augen, solange das Kind bei mir ist. Wenn sich nämlich herausstellt, dass sie gar nicht meine Tochter ist …“

„Einverstanden“, sagte Karis, bevor er weitersprechen konnte. Ihr war klar, dass er in dieser Sache nicht mit sich reden ließ.

Er musterte sie kritisch. „Na, Sie lassen sich aber schnell umstimmen. Oder haben Sie es etwa die ganze Zeit darauf angelegt?“

„Hinterfragen Sie immer gleich alles und jeden?“, gab sie zurück.

„Alles und jeden, der etwas mit Lea zu tun hat“, erwiderte Luke, ohne zu zögern. „Ich habe da nämlich meine Erfahrungen gemacht.“

Karis bemühte sich, ihren Ärger herunterzuschlucken. Ihr stand keine leichte Zeit bevor – wie immer, wenn sie sich dem Chaos stellte, das Lea angerichtet hatte. „Na ja, ich habe schon einige Bewerbungen verschickt, bei den Firmen könnte ich von hier aus telefonisch nachhaken … vielleicht kann ich auch ein paar Vorstellungsgespräche am Telefon führen, wer weiß? Und dann knöpfe ich mir am besten die Stellenanzeigen aus der näheren Umgebung vor. So hatte ich mir das zwar alles nicht vorgestellt, aber irgendwie kriege ich das schon hin.“

Sie überlegte einen Moment und beschloss dann, Luke zu erklären, warum sie sich eben so schnell hatte umstimmen lassen. „Ich bin natürlich nicht gerade wild darauf, bei einem für mich wildfremden Mann einzuziehen“, fuhr sie fort. „Aber Amy braucht dringend ein Dach über dem Kopf, und wenn Sie ihr das nur unter diesen Bedingungen bieten, muss ich mich eben danach richten. Und ehrlich gesagt übernachte ich doch lieber hier im Haus als draußen im Auto. Das hatte ich nämlich eigentlich vor, weil ich mir kein Hotelzimmer leisten kann.

Außerdem kann ich mich bei Ihnen weiter um Amy kümmern, dann fühlt sie sich nicht so fremd. Und da Sie mich gefragt haben, ob ich es die ganze Zeit darauf angelegt hatte, hier einziehen zu dürfen … die Idee war mir bis eben noch gar nicht gekommen, aber ich muss zugeben, dass es für mich wirklich sehr praktisch ist. Wollen Sie Ihr Angebot wieder zurückziehen?“

Luke schwieg eine Weile. „Nein“, sagte er dann. „Aber ich behalte Sie im Auge. Außerdem nehme ich Ihnen den Autoschlüssel ab, damit Sie nicht einfach bei Nacht und Nebel verschwinden.“

„Und wie kann ich denn sichergehen, dass Sie nicht irgend so ein Verrückter sind, der mich hier gefangen halten will?“

„Überhaupt nicht. Da müssen wir uns wohl gegenseitig vertrauen.“

„Wieso? Sie vertrauen mir doch gar nicht“, erwiderte Karis.

„Stimmt.“

Luke Walker wusste offenbar genau, dass er am längeren Hebel saß. Natürlich hielt Karis ihn nicht ernsthaft für gefährlich, sonst hätte sie ihm Amy nie überlassen wollen. Sie glaubte, dass er wirklich die Wahrheit sagte und wirklich Angst davor hatte, plötzlich ein Kind am Hals zu haben, das nicht mal von ihm war.

Trotzdem war es ganz schön unverschämt von ihm, ihren Autoschlüssel einzufordern. „Ich muss noch ein paar Sachen aus dem Wagen holen, dann können Sie den Schlüssel haben“, sagte sie.

„Geben Sie ihn mir bitte jetzt. Ich komme mit.“

Karis rollte mit den Augen und ließ den Bund in seine ausgestreckte Hand fallen.

Am Auto nahm sie Amys Windeltasche und ihre Handtasche von der Rückbank und hängte sich beides über die Schulter. Anschließend öffnete sie den Kofferraum und holte ihren Koffer und einen Umzugskarton mit Amys Sachen heraus.

Luke Walker wartete auf dem Bürgersteig und beobachtete sie. „Ist das alles?“, fragte er.

„Ja.“

Er klappte den Kofferraum zu und nahm ihr Karton und Koffer ab. Dann gingen sie ins Haus. Dort würdigte er Amy immer noch keines Blickes. Karis nahm die Kleine in ihrem Babysitz hoch.

„Haben Sie eigentlich schon etwas zu Abend gegessen?“, erkundigte er sich.

Dazu war sie nicht gekommen, aber aus irgendeinem Grund wollte sie das nicht zugeben. „Ich habe keinen Hunger“, sagte sie also.

Luke ging nicht darauf ein, sondern stieg ihr voran die Treppe in den ersten Stock hoch … sodass Karis seinen knackigen Po genau vor Augen hatte.

Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Schließlich hatte sie im Moment andere Sorgen, und überhaupt war Luke Walker der Letzte, über den sie solche Gedanken haben durfte.

„Das hier ist das Kinderzimmer“, sagte er, als sie oben angekommen waren. Seine Stimme klang belegt.

Hat er etwa alles so gelassen, seit Lea mit Amy verschwunden ist?, dachte Karis. Das kam ihr höchst seltsam vor, aber sie sagte nichts dazu. Schweigend betrat sie den Raum, der ganz in den Farben Rosa und Weiß eingerichtet war. Darin standen ein weißes Gitterbettchen, eine Kommode, ein Wickeltisch und ein Schaukelstuhl. An den Wänden klebte eine Häschentapete mit Bordüre.

Luke stellte den Karton ab, und Karis setzte die schlafende Amy auf den Wickeltisch, um sie vorsichtig umzuziehen.

„Ich bringe schon mal Ihren Koffer in Ihr Zimmer“, verkündete Luke. Es klang nicht gerade freundlich.

Amy schien sich kaum daran zu stören, dass ihre Tante ihr die Windel wechselte und ihr einen Schlafanzug anzog. Behutsam deckte Karis sie in dem Gitterbettchen zu und setzte ihr liebstes Schmusetier dazu, einen kleinen Stoffelefanten. Dann gab sie ihrer Nichte einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut, meine Süße“, sagte sie leise und ging. Sie ließ die Tür einen Spaltbreit offen.

Auf dem Flur wartete schon Luke. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Schweigend stieg er ihr voran noch ein Stockwerk höher ins Dachgeschoss. In der kleinen Kammer stand ein Doppelbett aus Messing. Eine Stiefmütterchen-Tapete schmückte die Wände. Offenbar hatte hier einmal ein junges Mädchen gewohnt.

„Hier ist frisches Bettzeug“, sagte er und deutete auf die Wäsche am Fußende der Matratze. „Der Kleiderschrank ist leer, da können Sie gern Ihre Sachen reinhängen.“

Karis nickte.

„Dort geht’s ins Bad, im Schrank sind Handtücher.“ Er wies auf eine Tür. „Wenn Sie Hunger haben, nehmen Sie sich einfach etwas aus dem Kühlschrank – die Küche ist im Erdgeschoss ganz hinten.“

Erneut nickte Karis. Sie kam sich vor wie eine Gefangene, die gerade von ihrem Wärter eingewiesen wurde. Es kam ihr unpassend vor, sich bei ihm zu bedanken, daher sagte sie nichts weiter.

„Brauchen Sie noch etwas?“, erkundigte er sich.

„Nein.“

„Na dann bis morgen.“

„Ja, es sei denn, ich habe mich vorher aus dem Staub gemacht“, scherzte sie und hielt seinem abweisenden Blick stand.

Ohne zu lächeln erwiderte er: „Erwarten Sie bloß nicht von mir, dass ich mich um die Kleine kümmere, wenn sie aufwacht.“

„Das brauchen Sie auch gar nicht.“

Luke Walker wirkte zufrieden. Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

Karis’ Blick fiel noch einmal auf seinen Po, und unwillkürlich ertappte sie sich dabei, dass sie Luke bewundernd hinterherschaute. Sofort rief sie sich zur Ordnung. Wenn es einen Mann gab, der für sie vollkommen tabu war, dann ja wohl Luke Walker, den ihre Schwester Lea nach Strich und Faden betrogen hatte.

So umwerfend attraktiv er auch war …

2. KAPITEL

Als Luke Walker früh am Samstagmorgen aufwachte, hatte er eine fast schlaflose Nacht hinter sich. Er konnte immer noch nicht fassen, dass seine Exfrau tot war.

Nachdem er Karis Pratt ihr Dachbodenzimmer gezeigt hatte, hatte er sofort mit der Polizei in Denver telefoniert. Dort hatte man ihm bestätigt, dass eine Frau namens Lea Pratt Walker tatsächlich vor sechs Wochen bei einer Explosion ums Leben gekommen war, der noch zwei weitere Menschen zum Opfer gefallen waren.

Luke war erschüttert. Als Lea ihn damals von heute auf morgen verlassen hatte, hatte er gehofft, dass sie irgendwie dafür büßen würde. Sie hatte sich ihm und den Pratts in Northbridge gegenüber unglaublich mies verhalten, aber den Tod hatte er ihr bestimmt nie gewünscht.

Luke wusste nicht, wie er mit dieser Nachricht umgehen sollte … ob er um Lea trauern oder sich Vorwürfe machen sollte. Vermisste er sie vielleicht sogar? Als sie ihn verlassen hatte, hatte er das gesamte Gefühlsspektrum durchlebt. Er war durch die Hölle gegangen, war überzeugt gewesen, dass er nie mehr aus diesem finsteren Loch herauskommen würde … aber dann hatte er es doch geschafft: langsam, Stück für Stück … bis er sich eingestehen konnte, dass er einfach einen riesengroßen Fehler gemacht hatte, für den er teuer bezahlt hatte.

Es hatte sehr lange gedauert, bis er über Lea hinweggekommen war – bis er alles verarbeiten konnte, was er für sie empfunden hatte: von seiner Liebe zu ihr, mit der alles angefangen hatte, bis hin zu der Wut und Enttäuschung am Ende.

Allmählich war ihm klar geworden, dass Lea zwar eine Zeit ihres Lebens mit ihm in einem Haus gewohnt hatte, er sie aber trotzdem nie richtig kennengelernt hatte. Im Grunde war sie für ihn immer eine Fremde geblieben, die ihm die ganze Zeit etwas vorgespielt hatte.

Und so reagierte Luke auf ihren Tod wie auf den Tod eines Menschen, den er nicht näher gekannt hatte: Er ging ihm nicht besonders nahe. Luke war bloß schockiert, dass Lea so ein grausames Ende gefunden hatte. Mehr nicht.

Wenn ihre Schwester Karis also glaubte, Leas Tod würde ihn so tief berühren, dass sie ihm ohne Weiteres Amy unterschieben konnte, dann hatte sie sich geirrt. Er hielt es für höchst unwahrscheinlich, dass das Kind von ihm stammte.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen, beschloss Luke aufzustehen – er konnte ja doch nicht mehr schlafen.

Aber selbst als er schon im Bad war, musste er immer noch an Lea denken … an Lea und Amy. Und an all die Lügen, die Lea ihm schon aufgetischt hatte.

Früher hatte er fast alles geglaubt, was Lea Pratt ihm erzählt hatte. Er hatte ihr tatsächlich abgenommen, was sie ihm vorspielte: die Rolle der offenen, neugierigen Halbschwester der Pratt-Geschwister hier in Northbridge, die nur deswegen in die Kleinstadt gekommen war, weil sie ihre Verwandten kennenlernen wollte. Hals über Kopf hatte er sich damals in sie verliebt, und als sie acht Monate später Amy zur Welt brachte, hatte er fest daran geglaubt, dass das Mädchen eine Frühgeburt war. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Amy nicht von ihm sein könnte.

Aber dann hatte Lea ihm das Herz gebrochen, indem sie fünf Wochen nach der Geburt einfach verschwunden war – mit dem Kind, das er geliebt hatte, als wäre es sein eigenes gewesen. Danach erst war ihm ein Licht aufgegangen … und seinen Nachbarn, den Pratts, auch.

Luke umklammerte mit beiden Händen das Waschbecken. Wie hatte er bloß so dumm sein können? Dumm und schwach. Nur weil Lea ein wunderhübsches Gesicht und eine tolle Figur gehabt hatte, hatte er sich von ihren Lügengeschichten einwickeln lassen.

Er zwang sich, in die Duschkabine zu gehen und das Wasser anzustellen.

Lauter Lügengeschichten hatte er sich damals angehört …

Und jetzt war Leas Schwester bei ihm im Haus, die ebenfalls eine Geschichte zu erzählen hatte. Eine hochdramatische Geschichte sogar.

Zuerst hatte Luke den Verdacht gehabt, dass Lea gar nicht tot war, sondern dass das Ganze nur eine Finte war, mit der Lea ihm das Kind unterschieben wollte. Darum hatte Luke bei der Polizei in Denver angerufen. Die hatte ihm allerdings bestätigt, dass Lea wirklich bei einer Explosion ums Leben gekommen war … zusammen mit ihrem Vater Ted Pratt. Allerdings hieß das noch lange nicht, dass Karis Pratt ihm ansonsten die Wahrheit erzählt hatte.

Mit rührseligen Geschichten konnte man es bei manchen Leuten ja sehr weit bringen. Auf diese Tour hatte Lea es auch bei ihren Halbgeschwistern in Northbridge versucht, und vielleicht bediente sich Karis Pratt jetzt genau der gleichen Methode. Was hatte sie doch gleich alles behauptet? Dass ihre Schwester Lea sie sozusagen in den Ruin getrieben hatte und dass sie deswegen eigentlich vorgehabt hatte, trotz eines Schneesturms im Auto zu übernachten? Dass sie Amy von ganzem Herzen liebte, aber nicht genug Geld hatte, um das Kind richtig zu versorgen?

Luke rieb sich die Schläfen, während er noch einmal alles durchging, was die junge Frau ihm erzählt hatte. Dann fluchte er leise.

Autor

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Nächte In Northbridge