Sturm der Leidenschaft - die Jarrod-Saga (6-teilige Serie)

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Verbotene Gefühle - prickelnd wie Champagner
Was für ein sinnlicher Mann! Erica hat Herzklopfen, als Christian vor ihr steht. Während sie versucht, ihn nicht zu auffällig zu mustern, eröffnet er ihr, dass sie die Erbin eines Multimillionärs ist! Erica kann es kaum glauben. Und um das Knistern zwischen ihr und Christian auszukosten, reist sie mit ihm zum Herrensitz des verstorbenen Vaters, dem sie nie begegnet ist. Dort merkt Erica schnell, dass kein Champagner so prickelnd ist wie Christians Küsse! Doch als Familien-Anwalt ist er für sie tabu so regelt es sein Vertrag. Hat ihre Liebe also keine Zukunft?

Deine Küsse - heißer als Feuer
"Hier, für dich!" Provokant lächelnd reicht Guy Jarrod ihr ein Glas. Sofort steigt Avery das Blut in die Wangen. Was bildet sich dieser Mann eigentlich ein? Vor Monaten hat er immer mit ihr Champagner getrunken – nach einer wundervollen Nacht. New York war mit ihm wie ein einziger sinnlicher Traum Aber da war sie auch noch blind vor Liebe und wusste nicht, dass Treue für den Edel-Gastronom ein Fremdwort ist! Wieder spürt Avery die kalte Wut. Doch ein Blick in seine braune Augen genügt, um es zu wissen: Guy hat längst erneut Gefühle in ihr entzündet, die heißer sind als Feuer.

Tiefe Sehnsucht - stärker als alle Vernunft
"Auf gar keinen Fall!" Melissa Jarrod lehnt Shanes Heiratsantrag ab sie will keine Ehe, die nur auf Pflichtgefühl beruht. Schließlich hatten sie nur einen unbeschwerten Sommer in Aspen – auch wenn es sehr schön war, in Shanes Armen einzuschlafen, an seiner Seite aufzuwachen. Von einer Beziehung oder gar Ehe war nie die Rede. Und bloß weil ich jetzt schwanger bin, ziehe ich auch nicht auf seine Luxus-Ranch, denkt Melissa. Nein, dafür müsste es die große Liebe sein. Shane kann zwar wunderbar küssen, aber er scheint kein Mann zu sein, der diese tiefe Sehnsucht teilt. Oder?

Liebe - stürmisch wie Herbstwind
Erschüttert beobachtet Samantha den heißen Flirt ihres Chefs mit einer anderen. Das ist wirklich zu viel! Keinen Tag länger will sie für Blake Jarrod arbeiten, diesen selbstherrlichen, wortgewandten … und unwiderstehlichen Mann, der sie Nacht für Nacht in ihren Träumen verführt. Denn in ihr sieht er doch nur die tüchtige Assistentin - nicht die sinnliche Frau. Dass er sie dann auch noch zwingt, einen weiteren Monat zu bleiben, macht sie erst richtig wütend! Samantha ahnt nicht, warum Blake sie nicht gehen lassen will. Ob ihr sexy Chef doch mehr für sie empfindet?

Verlangen - unbezähmbar wie ein Sturm
„Sie wollen mein Land? Dann heiraten Sie meine Enkelin!“ Verblüfft hört Gavin Jarrod, was der alte Caldwell verlangt. Er war sich mit seinem Bruder zwar einig, dass sie viel tun würden, um das Grundstück zu bekommen. Aber heiraten? Gavin liebt seine Freiheit und will sich nicht fest binden. Andererseits: Wenn er Sabrina betrachtet, knistert es verheißungsvoll zwischen ihnen. Sie ist wahnsinnig sexy! Gavin bekäme das Land und heiße Nächte. Kurz entschlossen willigt er ein. Aber ob es ihm gelingt, das Herz der selbstbewussten und impulsiven Sabrina für sich zu gewinnen?

Rote Lippen - jede Sünde wert
Als Marketing-Manager Trevor Jarrod sein Büro betritt, traut er seinen Augen kaum: In seinem Sessel sitzt eine junge, geradezu atemberaubend schöne Blondine, die ein Baby auf dem Schoß hält. Unschuldig sieht sie ihm in die Augen und behauptet, er sei der Vater ihres Neffen! Trevor glaubt Haylie kein Wort, und doch er stimmt einem Vaterschaftstest zu. Spontan bietet er ihr an, in seinem Luxus-Resort zu wohnen, bis das Ergebnis da ist. Denn Haylie übt eine starke Faszination auf ihn aus. Es ist, als ob ihre blutroten Lippen wirklich jede Sünde wert sind.…


  • Erscheinungstag 06.07.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787028
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Maureen Child, Tessa Radley, Kathie Denosky, Maxime Sullivan, Emilie Rose, Heidi Betts

Sturm der Leidenschaft - die Jarrod-Saga (6-teilige Serie)

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IMPRESSUM

BACCARA erscheint 14-täglich im CORA Verlag GmbH & Co. KG

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CORA Verlag GmbH & Co. KG ist ein Unternehmen der Harlequin Enterprises Ltd., Kanada

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

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Cheflektorat:

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Lektorat/Textredaktion:

Daniela Peter

Produktion:

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Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
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Anzeigen:

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Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

 

© 2010 by Harlequin Books S.A.

Originaltitel: „Claiming Her Billion-Dollar Birthright“

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

in der Reihe: DESIRE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: BACCARA

Band 1672 (15/1) 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Übersetzung: Roswitha Enright

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht als eBook in 07/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN: 978-3-86349-195-6

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

BACCARA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:

BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, HISTORICAL MYLADY, MYSTERY,

TIFFANY HOT & SEXY, TIFFANY SEXY

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Maureen Child

Verbotene Gefühle – prickelnd wie Champagner

PROLOG

Christian Hanford weigerte sich, auf dem Sessel des Toten Platz zu nehmen.

Stattdessen ging er zu Don Jarrods Schreibtisch hinüber und lehnte sich gegen die Kante. So ganz wohl war ihm dabei nicht zumute. Das Arbeitszimmer des verstorbenen Patriarchen lag im Wohnbereich der Familie im obersten Stockwerk des großen Herrenhauses. Wie alles Übrige der luxuriösen Ferienanlage Jarrod Ridge Resort war auch das holzvertäfelte Arbeitszimmer sehr edel eingerichtet – mit dicken Teppichen, echten Ölgemälden an den Wänden und einem großen Kamin aus Natursteinen in der Ecke. Natürlich brannte dort kein Feuer. In Colorado war Sommer.

Es herrschte eine angespannte Stimmung unter den Anwesenden, zumindest kam es Christian Hanford so vor. Aber das war auch kein Wunder, schließlich hatten sie erst eine Woche zuvor ihren Vater verloren, und gerade eben war ihnen fast buchstäblich der berühmte Boden unter den Füßen weggezogen worden.

Schon viele Jahre zuvor hatten die Kinder von Don Jarrod den Familienbesitz verlassen, Jarrod Ridge, das luxuriöse Resort, das sich seit Generationen im Besitz der Familie befand. Schuld daran war ihr Vater gewesen, der immer viel zu viel von ihnen verlangt und den Besitz mit eiserner Hand verwaltet hatte, ohne bereit zu sein, Verantwortung abzugeben. In den letzten Jahren hatten sie den Kontakt zu ihm fast vollständig verloren, und jetzt war es zu spät, die Vergangenheit aufzuarbeiten, denn der Vater war tot. Und das war nur schwer zu akzeptieren.

Hinzu kam die Tatsache, dass Don Jarrods Tod die Kinder dazu gezwungen hatte, in ihr Elternhaus zurückzukehren, mehr noch: Durch sein Ableben hatte ihr Vater einen Weg gefunden, seine Kinder ans Jarrod Ridge zu binden, was ihm zu Lebzeiten nicht gelungen war. Denn der riesige Besitz sollte gleichmäßig unter den Geschwistern aufgeteilt werden, und zwar mit der Auflage, dass sie sich persönlich um seine Verwaltung kümmerten. Das war für jedes der Kinder wie ein Schlag ins Gesicht, und sie waren alles andere als glücklich darüber. Denn so hatte der Alte letztendlich doch einen Weg gefunden, sozusagen noch aus dem Grab Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und ihnen seinen Willen aufzuzwingen.

Aufmerksam musterte Christian die Geschwister. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, was sie empfanden. Mit aller Kraft hatte er sich bemüht, Don diesen Plan auszureden, doch vergeblich. Und nun war er gezwungen, den Willen seines Klienten umzusetzen.

Die Zwillinge Blake and Guy waren die ältesten der Jarrod-Kinder. Beide sahen dem Vater ziemlich ähnlich, wobei Blake eher steif und reserviert war, während Guy das Leben von der leichteren Seite nahm. Gavin war zehn Jahre jünger als die Zwillinge und arbeitete schon seit vielen Jahren mit Blake zusammen in Las Vegas. Dann kam Trevor, der unbeschwerteste der Brüder, zumindest versuchte er immer diesen Endruck zu erwecken. Und schließlich war da noch Melissa, die Jüngste und das einzige Mädchen.

Das zumindest hatten sie bisher immer geglaubt.

Verdammt! Christian unterdrückte einen Fluch. Warum hatte der Alte ihn auch in diese Situation bringen müssen. Wahrscheinlich lachte er sich jetzt ins Fäustchen – wo immer er auch war –, dass er seinem Anwalt diese unangenehme Aufgabe aufs Auge gedrückt hatte.

Plötzlich sprang Blake auf, als könne er nicht mehr stillsitzen. Der Tod des Vaters war erst eine Woche her, und bisher hatte keines der Kinder Zeit und Muße gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. Und nun das! Eine Stunde zuvor waren sie vom Friedhof zurückgekehrt. Und nachdem Christian ihnen den größten Teil des Testaments vorgelesen hatte, waren sie anfangs sprachlos vor Empörung gewesen. Dann hatten alle auf einmal auf Christian eingeredet. Wenn die wüssten

„Noch was, Christian?“, fragte Guy jetzt ungeduldig. „Du hast das Testament verlesen und …“

„Ja, es gibt noch etwas.“

„So? Was denn?“ Trevor sah die Geschwister fragend an und richtete den Blick dann wieder auf Christian. „Die Sache scheint doch ziemlich klar zu sein. Dad zwingt uns, zum Jarrod Ridge zurückzukommen, was er immer wollte.“

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr lebt“, stieß Melissa leise hervor.

Gavin legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie kurz an sich. „Ich weiß, Mel. Das braucht Zeit. Alles wird gut.“

„So, meinst du?“, warf Blake scharf ein. „Wir alle haben uns unser Leben fernab vom Jarrod Ridge aufgebaut. Und jetzt sollen wir das alles einfach so aufgeben?“

„Ich kann mir vorstellen, wie euch zumute ist“, sagte Christian ruhig. „Ich habe auch versucht, eurem Vater diesen Plan auszureden, aber …“

„Aber er hat nicht auf dich gehört?“, unterbrach ihn Guy.

„Er hatte seinen eigenen Kopf.“

„Wie immer“, meinte Trevor nur.

„Wie wir es auch drehen und wenden“, ergriff Blake das Wort, „Tatsache ist, dass Dad den Besitz zwischen uns fünf aufgeteilt hat, damit müssen wir uns abfinden.“

Das ist mein Stichwort, dachte Christian und holte tief Luft. Was er jetzt zu sagen hatte, fiel ihm schwer. „Nicht ganz. Tatsache ist vielmehr, dass der Besitz nicht unter fünf, sondern unter sechs Erben aufgeteilt wird.“

„Sechs?“ Überrascht sah Gavin die Geschwister nacheinander an. „Aber wir sind doch nur fünf!“

„Nein, sechs. Das ist die letzte Überraschung eures Vaters. Ihr habt eine Schwester, von der ihr bisher nichts wusstet.“

1. KAPITEL

„Bitte, lass ihn reinkommen, Monica.“ Erica Prentice fuhr sich hastig durchs Haar und strich den schwarzen schmalen Rock glatt. Kurz wandte sie sich zu dem kleinen Fenster hinter dem Schreibtisch um und warf einen Blick auf den Pazifik. Obgleich sie nur einen winzigen Ausschnitt sehen konnte, erfreute sie sich daran. Da sie ihr Büro im untersten Stockwerk von Brighton und Bailey hatte, einer PR-Firma in San Francisco, war der Blick nicht überwältigend. Aber immerhin, sagte sie sich. Sie würde ihrem Arbeitgeber und ihrem Vater schon zeigen, was sie leisten konnte.

Jetzt aber würde sie gleich einem Anwalt gegenübersitzen, der ihr am Telefon nicht hatte sagen wollen, weshalb er sie sprechen musste. Diese Geheimnistuerei hatte sie nervös gemacht. Denn von ihrem Vater hatte sie gelernt, dass das plötzliche Erscheinen eines Anwalts selten etwas Gutes verhieß. Die Prentice Holding, einer der größten Kleidungshersteller des Landes, hatte ständig mit Anwälten zu tun, und das meist aus unerfreulichen Gründen. Sollte sie ihren Vater anrufen und ihn fragen, ob er irgendetwas von einem Anwalt aus Colorado wusste, der sie unbedingt sprechen wollte?

Dazu war keine Zeit mehr, denn schon öffnete sich die Tür, und Erica drehte sich um, um ihren Besucher zu begrüßen. Doch welche Floskel auch immer sie verwenden wollte, beim Anblick des Fremden verschlug es ihr die Sprache. Der gute Schnitt des dunkelblauen Anzugs unterstrich seinen athletischen Körperbau. Seine Schultern waren breit, die Beine lang und gerade, und als er sie mit seinen dunkelbraunen Augen aufmerksam musterte, hielt Erica kurz den Atem an. Was für ein Mann! Das dunkle Haar trug er kurz geschnitten, und sein maskuliner Mund sah nicht so aus, als würde er oft lächeln. Doch wahrscheinlich war es nicht nur das Aussehen, sondern auch das kühle Selbstbewusstsein, das der Fremde ausstrahlte und von dem sich Erica unweigerlich angezogen fühlte.

Erst als sie sicher war, gelassen zu wirken, streckte sie die Hand aus und lächelte freundlich. „Guten Tag, Mr Hanford. Ich bin Erica Prentice. Sie wollten mich sprechen?“

Schnell kam er auf sie zu, ergriff ihre Hand, die er etwas länger als nötig festhielt, und sagte: „Danke, dass Sie Zeit für mich haben.“

Als hätte ich eine Wahl gehabt, dachte sie, während sie auf einen der zwei Stühle wies, die vor dem Schreibtisch standen. Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben abzulehnen. „Ich bin neugierig, das muss ich zugeben. Weshalb nimmt ein Anwalt aus Colorado den langen Weg auf sich, um mich persönlich zu sprechen? Hätten Sie mir nicht auch am Telefon sagen können, um was es geht?“

„Nein, und Sie werden gleich verstehen, warum nicht. Es ist eine lange Geschichte.“ Er sah sich forschend in dem Büro um.

Wahrscheinlich findet er das alles hier ein bisschen schäbig, dachte sie und musterte ihn unauffällig. Das Büro war sehr klein, an den beige gestrichenen Wänden hingen nur zwei Bilder, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Aber sie stand ja auch erst am Anfang ihrer Karriere, damit tröstete sie sich immer wieder. Sicher, ihre Situation wäre eine vollkommen andere, wenn ihr Vater ihr eine Position im Familienunternehmen angeboten hätte …

Doch obwohl die älteren Brüder verschiedene Geschäftszweige leiteten, hatte ihr Vater von Anfang an klargemacht, dass es für Erica keinen Platz in der Firma gab. Zwar hatten er und sie sich nie besonders nahegestanden, aber sie hatte doch gehofft, dass er auch ihr die Gelegenheit geben würde, sich zu beweisen. Aber er hatte dagegen entschieden, und sie wusste, wenn die Entscheidung einmal gefallen war, war sie wie in Stein gemeißelt.

Doch darum ging es jetzt nicht. Und so verführerisch der Gedanke auch war, mit diesem hinreißend aussehenden Mann ein langes Gespräch zu führen und seinen bewundernden Blick auf sich zu spüren, sie hatte heute keine Zeit dafür. Zwischen zwei wichtigen Terminen hatte sie nur ein paar Minuten für ihn erübrigen können. Also legte sie die Arme auf den Tisch, faltete die Hände und sah ihr Gegenüber lächelnd an. „Ich fürchte, für Ihre lange Geschichte habe ich jetzt keine Zeit. In einer Viertelstunde habe ich meinen nächsten Termin. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir kurz sagen könnten, weshalb Sie gekommen sind.“

Er blickte ihr direkt in die Augen. „Ich bin der Anwalt des verstorbenen Donald Jarrod“, sagte er ruhig.

„Jarrod … Jarrod …“ Erica runzelte kurz die Stirn, dann fiel es ihr ein. „Sie kommen aus Colorado. Sprechen Sie von dem Jarrod, dem das Luxusresort in Aspen gehört?“

Er nickte lächelnd, zog einen Umschlag aus seiner Aktentasche und schob ihn Erica zu. „Ja, ich bin der Rechtsvertreter genau dieses Donald Jarrod.“

Verwirrt und neugierig zugleich griff Erica nach dem Umschlag und öffnete ihn. Langsam zog sie ein Dokument heraus. „Aber dies ist ja sein Testament. Was soll ich mit seinem Testament?“

„Sie sind eine der Erben.“

Ungläubig sah sie erst ihn an, dann das Testament, dann wieder ihn und schüttelte langsam den Kopf. „Aber warum denn? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund.“ Sie steckte das Dokument wieder in den Umschlag und schob ihn zurück über den Schreibtisch. „Ich kenne den Mann nicht. Warum also sollte er mich in seinem Testament bedenken?“

Christian lächelte kurz und sah sie verständnisvoll an, während er den Umschlag nahm und wieder einsteckte. „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es eine lange Geschichte ist.“

„Das stimmt.“ Sie sah, wie er die schwarze Ledertasche schloss, und ärgerte sich plötzlich, dass sie sich das Testament nicht genauer angesehen hatte. Jetzt war sie darauf angewiesen, dass dieser aufregende Fremde sie aufklärte, was er offenbar nur zu gern tun wollte. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie mit diesem toten Milliardär zu tun hatte.

„Vielleicht sollten wir uns lieber zusammensetzen, wenn Sie etwas mehr Zeit haben“, schlug er vor.

Am liebsten wollte Erica sofort die Wahrheit erfahren, aber der nächste Termin ließ sich nicht verschieben. „Mehr Zeit … Ja, das ist wahrscheinlich besser. Ich bin nur …“ Verlegen strich sie sich das Haar zurück. „Entschuldigen Sie, das ist alles so verwirrend. Vielleicht können Sie wenigstens andeuten, worum es geht. Warum Mr Jarrod mich in seinem Testament bedacht hat.“

Doch er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das sinnvoll ist. Wenn, dann sollten Sie auch die volle Wahrheit hören. Und dazu fehlt uns jetzt die Zeit.“

Als er aufstand, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Er blickte sie ernst an, und plötzlich wusste sie, dass das, was er ihr zu sagen hatte, ihr Leben komplett umkrempeln würde. Und noch etwas konnte sie in seinen Augen lesen: Offenheit, Mitgefühl, ja, Sympathie. Himmel, wie sollte sie den Tag durchstehen, ohne zu wissen, was da auf sie zukam? Wie sollte sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, wenn sie ständig darüber nachdenken musste, was es mit diesem Testament auf sich hatte?

Das war unmöglich. Spontan stand sie auf. „Wenn ich es mir recht überlege, ist es vielleicht doch besser, wenn wir dieses Gespräch nicht zu lange aufschieben. In einer halben Stunde könnte ich das Wichtigste geklärt haben, und wenn Sie so viel Zeit haben, können wir uns …“ Treffen, aber wo? Auf keinen Fall in ihrem Apartment. Fremde Männer, selbst Anwälte, nahm sie nie mit nach Hause. Aber auch nicht in ihrem Büro. Denn falls es schlimme Nachrichten waren, wollte sie nicht, dass ihre Kollegen Zeuge wurden. Wer weiß, vielleicht würde sie sich nicht beherrschen können und in Tränen ausbrechen.

Als könnte er Gedanken lesen, machte Christian einen sehr akzeptablen Vorschlag. „Wir könnten uns doch zum Lunch treffen. Ich hole Sie in einer Stunde ab, einverstanden?“

„Ja, einverstanden.“

Sowie er gegangen war, atmete Erica ein paar Mal tief durch. In ihrem Kopf drehte sich alles, und ihr Magen spielte verrückt. Was hatte das nur alles zu bedeuten? Kurz dachte sie daran, ihren Vater anzurufen und ihn um Rat zu fragen. Aber wahrscheinlich würde er wie immer nur sagen, das sei ihre eigene Sache und sie müsse selbst damit fertig werden. Walter Prentice hatte seinen Kindern in solchen Fällen nie geholfen, nicht einmal ihr, seiner einzigen Tochter, die dazu noch die Jüngste war.

Nein, sie würde sich mit Christian Hanford treffen, sich alles anhören und dann selbst entscheiden, was zu tun war. Aber vorher musste sie sich um die anstehenden Termine kümmern. Vorläufig war nicht abzusehen, wie lang das Gespräch dauern würde. Und möglicherweise wäre sie danach nicht mehr in der Lage, ins Büro zurückzukehren. Sie drückte auf den Summer, und kurz danach öffnete sich die Tür. Monica steckte ihren hübschen Kopf herein. Sie schmunzelte, und ihre blauen Augen blitzten, als sie fragte: „Was war denn das für ein Traummann?“

Erica antwortete nicht sofort, sondern seufzte nur leise. Monica und sie waren die Jüngsten in der Firma und hatten etwa zur selben Zeit angefangen. Deshalb war Monica auch mehr eine Freundin als eine Assistentin, und beide hatten oft beim Lunch und beim Dinner über berufliche, aber auch über private Probleme gesprochen. Doch heute fühlte Erica sich nicht in der Lage, auf den spaßhaften Unterton ihrer Freundin einzugehen. „Keine Ahnung, ich kenne ihn nicht“, antwortete sie schließlich abweisend.

Verblüfft sah Monica sie an. „Was ist denn? Geht’s dir nicht gut?“

„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Heute kann ich allerdings keine Termine mehr wahrnehmen. Mir ist etwas dazwischengekommen, um das ich mich kümmern muss.“

„Gut. Soll ich gleich neue Termine vereinbaren?“

„Ja, bitte, so bald wie möglich. Zur Not müssen wir abends auch mal länger bleiben.“

„Okay. Das hört sich ja wirklich wichtig an. Gibt’s irgendwelche Probleme?“

Erica zuckte die Schultern. „Das weiß ich ehrlich gesagt auch noch nicht.“ Aber sie hatte das Gefühl, dass allerlei auf sie zukommen würde.

Als Erica durch die Halle ging, wartete Christian bereits auf sie. Bei ihrem Anblick spürte er wieder diese leichte Erregung, die er schon bei ihrer ersten Begegnung empfunden hatte. Kaum hatte er ihr in die goldbraunen Augen gesehen, hatte er gewusst, dass es Probleme geben könnte.

Und mit dieser Art von Problemen hatte er nichts im Sinn, zumindest war es in den letzten Jahren so gewesen. Deshalb hatte er auch erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Eine gute berufliche Position und mehr Geld, als er ausgeben konnte. Und er hatte nicht vor, das alles aufzugeben, nur weil er auf die falsche Frau stand. Und Erica Prentice war ganz sicher die falsche. Denn sie war nicht nur die uneheliche Tochter seines langjährigen Arbeitgebers. Er musste auch an die eiserne Regel des alten Jarrod denken, die private Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und Angestellten strikt untersagte.

Das war bisher nie ein Problem gewesen. Melissa Jarrod war nett, aber er hatte sich nie für sie interessiert. Das sah bei Erica Prentice schon anders aus, zumindest hatte er in diesem Punkt ganz eindeutige Befürchtungen.

Als sie direkt auf ihn zukam, musterte er sie von Kopf bis Fuß – und mit klopfendem Herzen. Ihr schulterlanges hellbraunes Haar sah so weich aus, dass er es am liebsten berührt hätte. Sie hatte eine helle Haut und volle Lippen, und die Augen, die sie auf Christian gerichtet hielt, waren von dunklen Wimpern umrahmt. Erica Prentice war eher klein, hatte aber eine sehr feminine Figur und gehörte zu dem Typ Frau, den jeder Mann am liebsten sofort in die Arme geschlossen hätte.

Nicht dass Christian solche Absichten hatte. Aber je näher sie kam, desto klarer wurde ihm, dass er seinen Besuch in San Francisco so schnell wie möglich hinter sich bringen sollte.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, sagte sie und lächelte leicht, als sie dicht vor ihm stehen blieb.

„Macht nichts.“ Schnell legte er die Hände auf den Rücken, um nicht in Versuchung zu geraten, ihre Hand zu nehmen. Verdammt, das konnte ja heiter werden. „Ein Stückchen weiter die Straße hinunter ist ein kleines Restaurant. Dort können wir Mittag essen und in Ruhe alles besprechen.“

„Gut.“ Sie ging vor ihm durch die Glastür, blieb aber auf dem Bürgersteig stehen und strich sich das Haar aus den Augen. Wie so oft wehte auch heute ein starker Wind vom Meer herüber. Langsam drehte sie sich zu Christian um und sah ihn abwartend an. „Verraten Sie mir nur eins: Wird mich das, was Sie mir mitteilen wollen, glücklich machen? Oder wird es mein ganzes Leben durcheinanderbringen?“

„Um die Wahrheit zu sagen, wahrscheinlich ein bisschen von beidem.“

2. KAPITEL

„Das ist doch totaler Unsinn“, sagte Erica eine Viertelstunde später.

Sie saßen in einem kleinen italienischen Restaurant, das direkt an einer lebhaften Kreuzung im Zentrum von San Francisco lag. Lediglich einige Tische waren besetzt, denn zum Lunchen war es eigentlich noch zu früh. Im Grunde war das Fabrizio Ericas Lieblingsrestaurant, aber wegen der Sache, die sie eben gehört hatte, war es ihr bestimmt für immer verleidet.

Sie starrte den Mann an, der ihr gegenübersaß und sie nicht aus den Augen ließ. „Das ist doch totaler Unsinn“, wiederholte sie. „Einfach verrückt. Ich bin nicht Donald Jarrods uneheliche Tochter!“

In diesem Moment tauchte der Kellner hinter ihr auf, und Erica konnte nur hoffen, dass er ihre letzten Worte nicht gehört hatte. In diesem Restaurant war sie gut bekannt, und natürlich würde man über sie sprechen und alle möglichen Spekulationen anstellen. Aber das geschieht sowieso, dachte sie und seufzte. Wie die Jarrods in Aspen, Colorado, so war auch die Familie Prentice in San Francisco stadtbekannt und tauchte immer wieder in den Klatschblättern auf. Selbst wenn das, was Mr Hanford ihr eben eröffnet hatte, nicht stimmte, und davon war sie nach wie vor überzeugt, würden die Zeitungen Wind von der Sache bekommen. Dann würde Erica sich sehr schnell auf den Titelseiten der Boulevardpresse wiederfinden.

Nicht auszudenken, wie ihr Vater und ihre Stiefmutter Angela darauf reagieren würden. Walter Prentice hasste Skandale. Familienangelegenheiten waren seiner Meinung nach absolut privat und hatten in der Presse nichts zu suchen. Was würde er sagen, wenn nun in aller Öffentlichkeit schmutzige Wäsche gewaschen würde und die Familie auf allen Cocktailpartys das Gesprächsthema Nummer eins wäre? Das musste auf jeden Fall verhindert werden.

„Eistee für die Dame und Kaffee für den Herrn“, sagte der Kellner und verbeugte sich leicht. „Haben Sie schon gewählt?“

„Nein“, sagte Christian, „wir brauchen noch ein paar Minuten.“

„Lassen Sie sich Zeit.“

Erica starrte auf die Speisekarte, ohne etwas zu sehen, und griff nach dem Tee. Momentan hatte sie den Eindruck, als könne sie in ihrem Leben nie wieder etwas essen. Der Appetit war ihr total vergangen. Die kalte Flüssigkeit tat ihrer trockenen Kehle gut. Aufatmend setzte sie das Glas ab, beugte sich vor und sah Christian eindringlich an. „Ich weiß nicht, was das alles soll“, stieß sie leise hervor. „Wer oder was steckt dahinter?“

Kurz blickte er sich nach allen Seiten um. „Ich werde Ihnen alles erklären.“ Dabei sah er aus, als fühle er sich genauso unbehaglich wie sie. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, zur Tür hinaus gestürzt und in der dichten Menschenmenge untergetaucht, die sich auf dem Bürgersteig entlangschob. Aber damit wäre das Problem nicht aus der Welt, das wusste sie genau. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als hierzubleiben und zuzuhören.

Wieder schaute Christian sich um, wie um sich zu vergewissern, dass ihn keiner belauschen konnte, und sah Erica dann eindringlich an. „Ich kann mir vorstellen, dass das Ganze für Sie ein Schock ist“, sagte er leise.

„Ja, wenn es wahr wäre.“

„Es ist wahr, Ms Prentice.“ Jetzt flüsterte er fast. „Wenn sich jemand nur einen Spaß mit Ihnen erlauben wollte, wäre ich dann hier?“

„Aber was ist es dann? Ich kann mir nur vorstellen, dass mich irgendjemand unter Druck setzen will, vielleicht sogar erpressen.“

„Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?“, fragte Christian leicht gereizt. „Ich bin Anwalt und auf Veranlassung meines verstorbenen Klienten hier. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass ich Ihnen persönlich diese Nachricht überbringe.“

„Gut, dann ist es kein schlechter Scherz. Aber es ist ein Irrtum. Sie müssen mir glauben, ich bin die Tochter von Walter Prentice.“

„Nein, das sind Sie eben nicht. Ich kann es Ihnen beweisen.“

„Und wie?“ Ihr Herz klopfte wie verrückt.

Er öffnete seine Aktentasche und holte einen Umschlag heraus. Mit zitternden Händen nahm Erica ihn entgegen und zog drei Blatt Papier heraus. Das erste war ein Brief an Don Jarrod und unterzeichnet von … Ericas Mutter! Sie hatte eine sehr schöne gleichmäßige Handschrift. Da sie bei der Geburt gestorben war, hatte Erica die eigene Mutter nie kennengelernt. Was sie immer bedauert hatte, denn die Brüder hatten viel von der Mutter erzählt. Allerdings hatte Danielle Prentice Tagebuch geführt, und dieses Tagebuch war Erica mit sechzehn übergeben worden. Wie oft hatte sie darin gelesen und auf diese Weise versucht, eine Beziehung zu der Verstorbenen aufzubauen. Daher war ihr auch die großzügige Handschrift vertraut.

Der Brief war kurz, aber mit Herzblut geschrieben, das konnte Erica auch nach so langer Zeit noch spüren.

Mein lieber Don,

ich möchte Dir nur sagen, dass ich die Zeit mit Dir nie vergessen werde. Wir wussten beide, dass unsere Liebe keine Zukunft hatte, aber ich werde Dich immer in meinem Herzen bewahren. Bitte, versprich mir, dass Du Dich nie zu unserem Kind bekennen wirst. Walter hat mir verziehen und versprochen, das Kind wie sein eigenes zu lieben. Deshalb bitte ich Dich, keinen Kontakt mehr mit mir zu suchen, sodass wir beide, Du und ich, unser altes Leben wieder aufnehmen können. Es ist das Beste für uns alle.

In Liebe, Danielle

Erica traten die Tränen in die Augen. Das alles kam für sie vollkommen überraschend. Mit keiner Silbe hatte die Mutter in ihrem Tagebuch angedeutet, dass sie eine Affäre mit Don Jarrod gehabt hatte. Aber dies war ganz eindeutig der Beweis, und vorsichtig strich sie mit dem Finger über die verblasste Tinte, als könne sie auf diese Weise Verbindung zu ihrer Mutter aufnehmen. Das Herz wurde ihr schwer, als ihr bewusst wurde, was dieser Brief bedeutete. Walter Prentice war nicht ihr Vater.

Walter war nie besonders liebevoll mit ihr umgegangen, auch nicht mit seinen Söhnen. Ihr gegenüber aber war er sogar noch zurückhaltender gewesen. Nun kannte sie wenigstens den Grund. Sie war nicht seine Tochter. Und, was noch schlimmer war, sie war der lebende Beweis für die Untreue seiner Frau und eine ständige Erinnerung daran …

Christian sah sie ruhig an. Er schwieg, und dafür war Erica ihm dankbar. Denn wenn er jetzt irgendetwas Tröstliches oder auch nur Freundliches gesagt hätte, hätte sie vollkommen die Fassung verloren. Sie hob den Blick. „Woher soll ich wissen, dass meine Mutter diesen Brief tatsächlich geschrieben hat? Sie könnten ihn doch auch gefälscht haben, weil Sie sich etwas davon versprechen.“

„Und was, bitte, sollte das sein? Welchen Grund sollte ich oder sollten die Jarrods haben, Ihnen eine solche Lüge aufzutischen?“

Ja, warum sollten sie so etwas tun? Erica zermarterte sich das Gehirn, aber ihr fiel kein plausibler Grund ein. Doch die Vorstellung, ihre bisherige Familie durch diese neue Entwicklung zu verlieren, war einfach zu schrecklich. Sie hatte sich dem Vater und den Brüdern zwar nie sehr verbunden gefühlt, aber sie waren alles an Familie, was sie hatte.

„Sehen Sie sich bitte auch die beiden anderen Papiere an“, forderte Christian sie etwas steif auf und trank einen Schluck Kaffee.

Es musste sein. Sie konnte sich wohl kaum einbilden, dies alles sei nie passiert, Christian Hanford sei nie in ihrem Büro aufgetaucht und der Umschlag existiere nicht. Es hatte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken, sie musste sich mit der Wahrheit auseinandersetzen. Leise seufzend griff sie nach dem nächsten Schriftstück … und erstarrte. Auch dies war ein Brief, und zwar von ihrem Vater an Donald Jarrod!

Jarrod, meine Frau ist bei der Geburt Ihrer Tochter gestorben. Mit diesem Brief breche ich jegliche Verbindung zwischen Ihnen und dem Kind ab. Versuchen Sie nie, Kontakt aufzunehmen. Sie würden es schwer bereuen.

Walter Prentice

„Wie schrecklich!“ Erica ließ sich im Stuhl zurücksinken und starrte Christian aus großen Augen an.

„Tut mir leid, aber ich konnte es Ihnen nicht ersparen.“ Seine Stimme war ausdruckslos, aber der Blick voll Mitgefühl.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stieß sie leise hervor und blickte auf die unverkennbare Handschrift des Vaters. Wie oft hatten ihre Brüder und sie sich über seine Krakeleien lustig gemacht.

Himmel, ihre Brüder … Halbbrüder. Ob sie das gewusst hatten? Hatten sie sie all die Jahr belogen? War nichts mehr in ihrem Leben, wie es vorher war? Hatte nichts mehr Bestand? Wenn sie nicht mehr Erica Prentice war, wer war sie dann?

„Ms Prentice … Erica, ich weiß, das ist alles sehr schwer für Sie …“

„So? Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, gab sie scharf zurück.

„Ich verstehe, dass Sie vollkommen durcheinander sind. Aber glauben Sie mir, Ihr leiblicher Vater hat es immer sehr bedauert, Sie nie kennengelernt zu haben.“

„Tatsächlich?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Was war das für ein Mann, dieser Donald Jarrod, der mit der Frau eines anderen ins Bett ging? Der ein Kind zeugte und dann nie einen Versuch machte, sich zu diesem Kind zu bekennen? Hatte er sich so leicht abschrecken lassen? Und bedeutete das, dass die Beziehung zu Danielle und ihr gemeinsames Kind ihm nicht wichtig gewesen waren?

Als könne er ihre Gedanken lesen, nahm Christian das Gespräch wieder auf. „Donalds Frau Margaret war damals gerade an Krebs gestorben und hatte ihn mit den fünf Kindern zurückgelassen. Die Jüngste, Ihre Schwester Melissa, war bei dem Tod der Mutter gerade zwei.“

„Meine Schwester …“

„Ja, Ihre Schwester. Und sie freut sich schon, Sie kennenzulernen. Schließlich ist sie jetzt nicht mehr das einzige Mädchen in der Familie.“

„Ich bin auch das einzige Mädchen in meiner Familie …“ Doch dann blieb ihr das Lachen im Hals stecken. „Das heißt, jetzt ja eigentlich nicht mehr.“

„Nein.“ Er lächelte mitfühlend. „Als Don Ihrer Mutter begegnete, war er in einer sehr schwierigen Lage.“

„Und das entschuldigt alles?“

„Nein, natürlich nicht. Aber so hat Don vor seinem Tod versucht, mir das Ganze zu erklären. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie die Wahrheit erfahren.“

„Erstaunlich, dass er daran überhaupt einen Gedanken verschwendet hat. Mein ganzes Leben lang habe ich kein Sterbenswort von ihm gehört, und nun soll ich auch noch dankbar sein, dass er nach seinem Tod die Bombe platzen lässt?“

„Er hat nur deshalb keinen Kontakt mit Ihnen aufgenommen, weil er Ihr Leben nicht komplizierter machen wollte.“

„Lahme Ausrede.“

„Vielleicht. Aber Sie können sicher sein, dass er oft an Sie gedacht hat.“ Christian schwieg kurz und legte die Hände um seinen Kaffeebecher. „Ich kannte ihn viele Jahre lang und weiß, dass Familie für ihn immer sehr wichtig war. Es war für ihn sehr schwer zu ertragen, dass er von Ihnen wusste und dennoch nicht mit Ihnen in Verbindung treten durfte.“

„Dann hat die Drohung meines Vaters, ich meine Walters, also gewirkt? Um einen Skandal zu vermeiden, hat Donald sich zurückgehalten?“

„Nein.“ Wieder lächelte Christian kurz. „Don war es egal, was die Leute von ihm dachten. Ich glaube, er wollte eher Sie und Walter schützen.“

„Und dennoch …“

„Kurz bevor Don starb, hat er mir das alles erzählt, weil er wusste, dass ich als sein Anwalt Kontakt mit Ihnen aufnehmen würde.“

„Also hat er selbst dann, als er wusste, dass er sterben würde, keine Verbindung zu mir gesucht?“ Was sollte sie davon halten? Hätte sie ihm geglaubt, wenn er behauptet hätte, ihr Vater zu sein? Hätte sie ihn mit offenen Armen empfangen? Das konnte sie nicht sagen. Ihr Verhältnis zu Walter war nie besonders eng gewesen, aber irgendwie liebte sie ihn, wie man einen Vater eben liebte. Sie kannte ja keinen anderen.

„Deswegen habe ich immer wieder auf ihn eingeredet“, gab Christian zu. „Ich war der Meinung, er solle mit Ihnen sprechen, solle Ihnen selbst alles erzählen. Aber er weigerte sich, sein Wort zu brechen. Er hatte Walter das Versprechen gegeben, sich fernzuhalten, und das tat er. Obgleich es ihm sicher schwerfiel.“

„Und das soll ich Ihnen glauben?“

„Ich fürchte, das müssen Sie mir sogar glauben.“ Der Kellner erschien und schenkte Kaffee nach, wurde dann aber von Christian mit einer unwilligen Kopfbewegung wieder weggeschickt. „Erica, bitte tun Sie mir den Gefallen, und lesen Sie den letzten Brief, bevor wir uns auf weitere Diskussionen einlassen.“

Nur widerstrebend griff sie nach dem Brief. Was konnte jetzt noch passieren? Hatte sich in ihrem Leben nicht schon das Unterste zuoberst gekehrt? Doch dann siegte die Neugierde, vor allem als sie die Unterschrift sah: Donald Jarrod.

Meine liebe Erica,

ich kann mir vorstellen, wie elend Du Dich in diesem Augenblick fühlst, und das ist sehr verständlich. Aber bitte glaube mir, dass ich, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, Dich wie eine Tochter geliebt hätte. Und dass mir Deine Mutter sehr viel bedeutet hat.

Menschen, und das gilt auch für Eltern, sind nun mal leider nicht vollkommen. Wir alle machen Fehler. Aber wenn wir die Gelegenheit bekommen, können wir diese Fehler auch wieder ausbügeln. Und dies ist jetzt meine Gelegenheit. Komm nach Colorado, und lerne meine Familie kennen. Und irgendwann wirst Du dann vielleicht auch von mir eine bessere Meinung haben.

Dein Vater Donald Jarrod

Wieder traten Erica die Tränen in die Augen. Sie hatte ihre Mutter nicht gekannt, sondern war bei ihrer Stiefmutter Angela aufgewachsen. Auch bei Angela hatte sie nie so etwas wie herzliche Zuneigung gespürt. Und nun stellte sich heraus, dass sie auch ihren richtigen Vater nie gekannt hatte. „Haben Sie diese Briefe gelesen?“

„Nein.“ Christian schüttelte den Kopf. „Don hat sie mir in dem verschlossenen Umschlag gegeben, und ich habe ihn nie geöffnet.“

Misstrauisch sah Erica ihn an. „Und das soll ich Ihnen glauben?“

„Ich würde Sie nie anlügen. Darauf können Sie sich verlassen.“

Sagte er die Wahrheit? Wo sie gerade festgestellt hatte, dass ihr ganzes Leben auf einer Lüge basierte? Ihr dröhnte der Schädel. Sie kannte diese Spannungskopfschmerzen und wusste, dass sie sich möglichst schnell in ihr dunkles Zimmer zurückziehen sollte. Also musste sie dieses Gespräch umgehend beenden, schon um in Ruhe nachdenken und die nächsten Schritte planen zu können. Gequält blickte sie ihr Gegenüber an. „Okay, sagen wir, ich glaube Ihnen. Ich bin Donald Jarrods Tochter. Und nun?“

Wieder griff er in seine Aktentasche und zog den Umschlag heraus, den er ihr bereits im Büro gezeigt hatte. „Als gleichberechtigte Erbin haben Sie Anspruch auf einen ebenso großen Teil des Besitzes wie auch die anderen Kinder.“

„Was?“

„Ja.“ Er lächelte kurz. „Alle sechs Kinder erben zu gleichen Teilen.“

„Himmel … Das muss ja wie eine Bombe eingeschlagen haben. Bei der Testamentseröffnung, meine ich.“

„Ja, schon. Alle waren überrascht und in gewisser Weise geschockt.“

„Na, das haben wir wenigstens alle gemeinsam.“ Erica lachte kurz und trocken auf.

„Stimmt. Und nicht nur das.“ Er schob ihr den Umschlag zu. „Mit dem Erbe ist auch noch eine Verpflichtung verbunden.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Alle Kinder müssen nach Aspen ziehen und gemeinsam das Familienunternehmen weiterführen. Wer das nicht tut …“

„Der erbt auch nicht?“

„So ungefähr.“

„Nach Aspen ziehen?“ Erica blickte aus dem Fenster und betrachtete wehmütig die alten Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite. Sie liebte diese Stadt am Meer, den häufig grauen Himmel, den Park, die berühmte Brücke. Es war ihre Stadt geworden, hier fühlte sie sich zu Hause. Was sollte sie in Colorado, genauer gesagt, in Aspen?

Aber hatte sie überhaupt eine Wahl? Konnte sie das Erbe ausschlagen, was auch bedeutete, dass sie ihre neue Familie nie kennenlernen würde? Andererseits, wie würde die alte Familie reagieren?

Christian beobachtete Erica genau und konnte an ihren Gesichtszügen ablesen, in welchem Zwiespalt sie sich befand, was nur zu verständlich war. Wie sollte jemand, der in ihrer Situation steckte, anders empfinden? Musste sie nicht fast alles infrage stellen, wovon sie bisher überzeugt gewesen war? Immer noch war er wütend auf Donald, dass der ihm diese schwierige Aufgabe zugewiesen hatte.

„Sie müssen sich nicht jetzt schon entscheiden“, versuchte er Erica zu beruhigen, denn sie sah ihn ziemlich verzweifelt an.

„Das ist gut.“ Sie schluckte. „Denn ich glaube nicht, dass ich jetzt schon dazu in der Lage wäre.“

„Glaube ich gern. Lassen Sie sich ruhig ein paar Tage Zeit, und rufen Sie mich an, wenn Sie einen Entschluss gefasst haben.“ Er schrieb seine Handynummer auf eine Visitenkarte und gab sie ihr. „Das Testament sieht vor, dass Sie sich erst in einigen Wochen in Aspen einfinden müssen. Genug Zeit also, sich darüber klar zu werden, was Sie wirklich wollen.“

Nachdenklich blickte sie auf die Karte und strich gedankenverloren über die geprägten Buchstaben. Christian ertappte sich dabei, wie er den Blick nicht von ihrem Daumen lösen konnte. Unruhig verlagerte er sein Gewicht auf dem Stuhl, denn er reagierte sehr eindeutig auf diese Geste, auch wenn sie unbewusst war.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Leider fühlte er sich umso stärker von dieser attraktiven Frau angezogen, je mehr Zeit sie miteinander verbrachten. Und der Wunsch, sie mit in sein Hotel zu nehmen und ein paar aufregende Stunden mit ihr zu verbringen, wurde immer stärker. Wenn sie nicht Erica Prentice wäre, hätte er auch nicht gezögert, seinem Verlangen nachzugeben. Bei diesem Gedanken presste er die Lippen aufeinander. Sich diesen Fantasien hinzugeben machte es ihm nicht gerade leichter, sich zu beherrschen. Denn eins durfte er nie vergessen: Erica war für ihn tabu. Und falls sie sich dazu entschloss, ihr Erbe anzunehmen und nach Aspen zu kommen, standen ihm schwere Zeiten bevor. Also sollte er sich lieber rechtzeitig daran gewöhnen, dass sein Verlangen unerfüllt bleiben musste.

„Eine Entscheidung …“, sagte sie leise und sah Christian an. „Wir wissen doch beide, wie die aussehen wird.“

„Ja, wahrscheinlich. Ich vermute, Sie werden das Erbe annehmen.“

„Wie könnte ich so etwas ausschlagen?“

Er nickte lächelnd. „Sie haben mehr von Ihrem Vater, als Sie wissen können.“

„Von welchem?“

„Ist das wichtig?“ Christian betrachtete die junge Frau und versuchte wieder, das Begehren zu unterdrücken, das ihn so plötzlich überfallen hatte. Dass er derart schnell und vor allem heftig auf eine Frau reagierte, hatte er noch nie erlebt. Und genau das konnte er in dieser Situation, in der er sich ganz auf seine berufliche Aufgabe konzentrieren sollte, überhaupt nicht gebrauchen.

Was war denn eigentlich so anziehend an Erica Prentice? Was sie gerade dachte und was sie empfand, war unmittelbar an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen. Und genau das gefiel ihm. An ihr war nichts Künstliches. Wie sie sich gab, so war sie auch. Außerdem schien sie sehr stark zu sein. Denn das, womit er sie hatte konfrontieren müssen, hätte die meisten Frauen vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht, während sie bereits überlegte, wie sie damit umgehen sollte. Sie schien zu den Menschen zu gehören, die Herausforderungen nicht aus dem Weg gingen, auch wenn es ihnen nicht leichtfiel. Dass sie kurz davor gewesen war, in Tränen auszubrechen, hatte er durchaus bemerkt, aber sie hatte sich zusammengenommen. Und das bewunderte er. Offenbar konnte sie ihre Gefühle unterdrücken, und das würde ihr in Aspen sehr zugutekommen.

Denn dort würde sie nicht nur in einer ihr völlig fremden Umgebung leben, nein, sie würde auch mit einer neuen Familie zurechtkommen müssen. Aber er war ziemlich sicher, dass sie das schaffen würde. Doch wie war es mit den Jarrods, ihren neuen Geschwistern? Dass sie geschockt gewesen waren, als sie von ihrer neuen Halbschwester erfahren hatten, hatte ihn nicht weiter erstaunt. Aber Guy und Blake hatten ausgesprochen feindselig reagiert, was Christian überrascht hatte. Falls sie nun also ihren Zorn auf den Vater an Erica auslassen wollten, musste er, Christian, eingreifen.

Um sie zu schützen? Seltsam, dass er so empfand, obgleich er sie doch kaum kannte. Andererseits brauchte sie seine Unterstützung, denn ihr ganzes Leben hatte plötzlich eine total andere Wendung genommen. Und er würde nicht zulassen, dass die Zwillinge ihr diesen Neuanfang schwerer machten, als er sowieso schon war.

„Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen sollten?“ Fragend sah Erica ihn an.

Christian schreckte aus seinen Gedanken auf. „Nein, wieso?“

„Weil Sie gerade so zornig aussahen, als wollten Sie gleich das Messer zücken.“

„Oh … nein.“ Offenbar gelang es ihm an diesem Tag nicht, sein sonst schon berühmt-berüchtigtes Pokergesicht aufzusetzen. „Ich habe nur gerade an verschiedene … äh … Aufgaben gedacht, die in Aspen auf mich warten.“

„Richtig, Sie wohnen ja auch dort.“

„Mein Haus steht sogar auf dem Besitz der Jarrods. Don hat damals darauf bestanden. Er wollte seinen Anwalt möglichst in der Nähe haben.“

„Sehr praktisch.“

„Ja, irgendwie schon. Es war mir auch alles sehr vertraut. Ich bin in Aspen aufgewachsen und habe schon als Teenager bei den Jarrods gejobbt.“

„Dann kannten Sie ja meinen …“ Erica stockte. „… Donald Jarrod schon lange.“

Christian nickte. „Ja, bereits als Kind.“

„Und seine Kinder auch?“

„Sicher. Wir haben zwar nicht zusammen gespielt, aber ich kannte sie natürlich. Als ich später für ihren Vater gearbeitet habe, hatte ich verständlicherweise mehr mit ihnen zu tun.“

„Und wie sind sie so?“

Er antwortete nicht gleich, sondern sah sich nach dem Kellner um. „Vielleicht sollten wir mal etwas bestellen.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Nein?“ Das hätte er sich eigentlich denken können. Sie war noch viel zu aufgewühlt. „Wirklich nicht?“

„Nein. Bitte, sagen Sie mir, wie Dons Kinder auf das Testament reagiert haben. Waren sie wütend? Erwartet mich ein Hinrichtungskommando, wenn ich nach Colorado komme?“

Er lächelte vorsichtig. „Nein, nein, keine Sorge. Ich gebe zu, sie waren genauso verblüfft wie Sie. Aber sie sind nett. Sie werden sich damit abfinden.“

Erica seufzte schwer. „Das werden wir wohl alle irgendwie tun müssen.“

Du wirst es schaffen. Sie konnte eine Menge aushalten, das hatte er gleich gemerkt. „Ich bin ehrlich gesagt überrascht, wie gut Sie mit der ganzen Sache umgehen. Ich hatte befürchtet, sehr viel mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen.“

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich habe zwar gerade festgestellt, dass mein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut war“, sagte sie leise und sah Christian mit ihren großen Augen traurig an. „Aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss endlich die Wahrheit erfahren. Ob Sie das verstehen können, weiß ich nicht. Aber es ist beinahe wie ein innerer Zwang. Das hat nichts mit dem Erbe an sich zu tun. Don Jarrods Geld brauche ich nicht. Es geht um mich persönlich. Ich muss herausfinden, wer ich wirklich bin.“

Am liebsten wäre Christian aufgesprungen und hätte sie in die Arme genommen, um sie zu trösten – und um sie zu berühren. Aber er wusste, das würde ihn nicht zufriedenstellen. Er wollte mehr. Also bemühte er sich um einen sachlichen Tonfall. „Das begreife ich sehr gut. Sie müssen Ihre beiden Leben kennenlernen, um sich dann für eins entscheiden zu können.“

„Ja, genauso ist es“, sagte sie, überrascht, dass er sie so gut verstand. Dann wandte sie den Kopf und blickte schweigend aus dem Fenster. Christian ließ ihr Zeit, er konnte sich vorstellen, wie ihr zumute war. „Noch heute Morgen“, fing sie schließlich leise wieder an zu reden, „war ich der Meinung, ein ziemlich langweiliges Leben zu führen. Alles war zur Routine geworden. Und nun ist auf einmal alles anders. Nichts ist mehr, wie es vorher war, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

„Sie sollten sich nicht unter Druck setzen. Noch können Sie gar nichts entscheiden.“ Er fühlte ihren verzweifelten Blick auf sich gerichtet und ärgerte sich, dass ihm das so viel ausmachte. „Warten Sie doch einfach ab. Fliegen Sie erst mal nach Aspen, und lernen Sie Ihre Familie kennen. Lassen Sie sich Zeit. Überstürzen Sie nichts.“

„Sie haben recht.“ Erica nickte nachdenklich. „Aber vorher muss ich noch mit meinem Vater sprechen. Ich muss wissen, was er dazu zu sagen hat.“

„Ja, das ist klar.“ Christian stand auf, und als auch Erica sich erhob, reichte er ihr die Hand. Sie nahm sie, und bei der Berührung durchfuhr es ihn siedend heiß. Sofort ließ er sie wieder los. „Ich fliege morgen nach Aspen zurück. Wenn Sie also noch irgendwelche Fragen haben, können Sie mich bis morgen Mittag hier im Hyatt am Hafen erreichen.“

„Gut. Danke.“ Sie sah ihn nicht an, während sie ihre Tasche und die Briefumschläge an sich nahm.

„Und rufen Sie mich an, wenn Sie bereit sind, nach Colorado zu kommen. Dann kann ich Ihnen sagen, was Sie erwartet.“

„Mach ich.“ Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und klemmte die Umschläge unter den Arm. „Dann werden wir uns vermutlich bald wiedersehen.“

„Ja, sehr bald.“ Er blickte ihr hinterher, wie sie durch den Raum ging und die Tür öffnete. Helles Sonnenlicht umgab sie wie eine Aura. Das Haar glänzte, als sie mit schwingenden Schritten auf die Straße trat.

Christian konnte den Blick nicht von ihr lösen. Was für eine erstaunliche Frau. Sehr weiblich und doch willensstark. Und diese Figur … Das nächste Mal würde er sie in Aspen wiedersehen, dann aber nicht allein. Wenn die Jarrods dabei waren, musste er Abstand von ihr halten, ein Gedanke, der ihm gar nicht behagte. Es sah so aus, als würde es ihm sehr viel schwerer fallen, Dons Auftrag auszuführen, als er gedacht hatte.

3. KAPITEL

Wie immer war Erica nervös, wenn sie in die Hauptverwaltung der Prentice Inc. gehen musste. Genau dieses Gefühl wollte Walter Prentice auch mit dem imposanten Geschäftsgebäude hervorrufen, auch wenn er dabei eher an zukünftige Kunden oder Konkurrenten dachte. Er wollte sie verunsichern, um sich bei anstehenden Verhandlungen einen psychologischen Vorteil zu verschaffen.

Auch auf Erica hatte das moderne Hochhaus aus Glas und Stahl eine einschüchternde Wirkung. Die verspiegelten Fenster schlossen die Sonne aus, erlaubten aber auch keinen Blick von außen nach innen. Die Ausstattung strahlte genau das aus, was auch den Firmenchef auszeichnete. Die Eingangshalle war weiß gefliest, hatte weiße Wände und war mit modernen Möbeln eingerichtet, wirkte also genauso abweisend wie Walter Prentice selbst.

Unwillkürlich musste Erica an den Vater denken, das heißt, an den Mann, den sie bisher immer für ihren Vater gehalten hatte. Und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, spürte sie trotz der Verwirrung und der Unsicherheit wegen ihrer derzeitigen Lage den alten Zorn und die Enttäuschung. Walter hatte sie dazu erzogen, dem Familiennamen alle Ehre zu machen, aber nicht durch das, was sie leistete. Vielmehr sollte sie als schmückendes Beiwerk dienen, respektabel, aber nutzlos. Dieses Gebäude war das Herzstück des Unternehmens. Hier arbeiteten die Brüder eng mit dem Vater zusammen, hier fanden auch die Familientreffen statt, zu denen Erica aber nie eingeladen wurde. Hier wurde von den Männern die Zukunft entschieden, die Frauen hatten zu folgen. Kein Wunder, dass sie Hemmungen hatte, dieses Gebäude zu betreten.

Ihr Vater hatte ihr verboten hierherzukommen. Und obgleich sie versucht hatte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, war er der festen Meinung, sie, Erica, habe in dem Familienunternehmen nichts zu suchen. Bisher hatte sie nie verstanden, warum das so war. Jetzt wusste sie es.

Ob die Brüder die Wahrheit kannten? Hatten sie deshalb nie ein herzliches Verhältnis zu ihr entwickeln können? Als Kind hatte sie sich oft darüber gewundert, warum die Brüder so ganz anders waren als die ihrer Freundinnen. Sicher, sie waren einiges älter als sie, aber sie hatten sich auch nie für sie interessiert. Und dabei hatte sie sich immer nach einem großen Bruder gesehnt. Vielleicht hatten sie die ganze Zeit gewusst, dass sie nur eine Halbschwester war. Und sie war die Einzige gewesen, die keine Ahnung gehabt hatte.

Es wurde Zeit, dass sie sich endlich Klarheit darüber verschaffte.

Während sie über den spiegelnden weißen Boden auf den Sicherheitsdienst zuging, musste sie daran denken, dass jeder normale Besucher gleich die Aufzüge nach oben nehmen konnte. Wer allerdings mit dem Vater oder den Brüdern sprechen wollte, deren Büros ganz oben lagen, musste sich vom Sicherheitsdienst einen Ausweis geben lassen, mit dem man den Sonderfahrstuhl benutzen konnte, der direkt ins Penthouse führte. Als Kind hatte sie sich immer als etwas Besonderes gefühlt, wenn man ihr erlaubt hatte, den Vater zu besuchen, so selten das auch vorkam. Heute empfand sie sich umso mehr als Außenseiterin.

„Guten Tag, Ms Prentice.“

„Hallo, Jerry.“ Jerry arbeitete schon seit zwanzig Jahren für ihren Vater. Als Erica noch klein gewesen war, hatte er immer irgendeine Süßigkeit für sie in der Schublade gehabt. Offenbar freute er sich immer, sie zu sehen, was sie von ihrem Vater nicht behaupten konnte. „Ich möchte zu meinem Vater.“

„So ist es recht. Vater und Tochter sollten zusammenhalten“, meinte Jerry, während er etwas in einem Eingangsbuch notierte und dann Erica einen Ausweis aushändigte. „Seit meine Karen ausgezogen ist und aufs College geht, sehe ich sie viel zu selten.“

Erica nickte ihm lächelnd zu und hoffte, dass sie zuversichtlicher wirkte, als sie sich fühlte. Väter und Töchter. Ob Don Jarrod wohl ein guter Vater gewesen wäre? Hatte seine Tochter Melissa ein herzliches Verhältnis zu ihrem Vater gehabt, etwas, wonach Erica sich immer gesehnt hatte? Oder war Donald aus dem gleichen Holz geschnitzt gewesen wie Walter, beides wohlhabende und mächtige Firmenbosse? Vielleicht war es für solche Männer typisch, sich mehr für ihr Unternehmen als für ihre Kinder zu interessieren. Manchmal konnte die Beziehung zwischen Vater und Tochter bestimmt sehr eng sein. Und manchmal hatte sie gar keine Gelegenheit, sich zu entfalten. So wie in meinem Fall, dachte Erica wehmütig.

„Schönen Tag noch“, sagte Jerry freundlich, als sie den Ausweis in die Tasche steckte und auf den Sonderfahrstuhl zusteuerte. Ein schöner Tag? Wahrscheinlich eher ein verwirrender, vielleicht auch ein sehr beunruhigender Tag, aber schön? Eigentlich nicht. Sie drückte auf den Knopf, die Aufzugtüren öffneten sich, und sie stieg ein. Ihr war mehr als beklommen zumute. Was sollte sie nur sagen? Wie sollte sie das Gespräch beginnen? „Hallo, Vater. Oder soll ich lieber Walter zu dir sagen?“

Bei dieser Vorstellung traten ihr die Tränen in die Augen, aber sie unterdrückte sie. Vor Christian Hanford hatte sie sich zusammennehmen können, also würde sie auch jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Sekundenlang tauchte Christians attraktives Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Wenn er nicht gekommen wäre, um ihr Leben vollkommen durcheinanderzubringen, hätte sie sich ernsthaft in ihn verlieben können. Aber so hatte sie gar keine Zeit gehabt, auf ihr Herz zu hören.

Doch darüber sollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Das Gespräch mit dem Vater – Walter – stand ihr noch bevor. Vielleicht hätte sie sich besser darauf vorbereiten sollen, hätte sich zurechtlegen sollen, was sie sagen wollte, bevor sie hier in die Hauptverwaltung stürzte. Aber sie war so verwirrt gewesen wegen dieser neuen Eröffnungen und gleichzeitig so wütend, weil man ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte, dass sie dieses Gespräch schnell hinter sich bringen musste. Vorher würde sie sowieso keine Ruhe finden. Im Gegenteil, sie würde sich nur noch mehr aufregen.

Außerdem ist es jetzt sowieso zu spät, dachte sie, als sich die Türen wieder öffneten und sie hoch erhobenen Hauptes heraustrat. Sie war jetzt hier, und es wurde Zeit, dass Walter ihr Rede und Antwort stand. Auf dem dicken Teppich waren ihre Schritte nicht zu hören. Genau das war auch Walter Prentice’ Absicht gewesen. Er wollte nicht durch das Klappern irgendwelcher Absätze gestört werden. Und was er anordnete, wurde gemacht. Der Blick durch die bodenhohen Fenster auf die Stadt und die Bucht war atemberaubend. Die Lage der Hauptverwaltung war perfekt gewählt, das musste sie dem Vater lassen.

Mit schnellen Schritten ging Erica den langen Flur entlang, bis sie vor dem Schreibtisch von Jewel Franks stehen blieb. Ms Franks war in den Fünfzigern und der Firma seit Langem verbunden. Wenn jemand wusste, was in dem Unternehmen vor sich ging, dann war sie es. Sie hatte eisgraues Haar, blaue Augen und eine Engelsgeduld. Die allerdings brauchte sie auch, um mit Walter Prentice zurechtzukommen.

„Erica!“ Jewel lächelte erfreut. „Was für eine schöne Überraschung. Werden Sie von Ihrem Vater erwartet? Er hat mir gar nichts gesagt.“

„Nein, Jewel“, beeilte sie sich zu sagen. „Es ist auch für ihn eine Überraschung. Hat er ein paar Minuten Zeit?“

„Sie haben Glück, Kind. Sie erwischen ihn zwischen zwei Telefongesprächen. Gehen Sie einfach rein.“

„Danke.“ Erica wurde ganz elend zumute, als sie sich der schweren Doppeltür näherte. Jetzt galt’s. Sie holte tief Luft, klopfte an die Tür und drehte den schweren Messingknauf.

„Was ist denn, Jewel?“ Walter Prentice war in verschiedene Unterlagen vertieft und blickte nicht hoch.

So hatte Erica ein paar Sekunden Zeit, um ihn zu betrachten. Ihr ganzes Leben lang hatte sie zu diesem Mann aufgeblickt, hatte um seine Anerkennung gebuhlt und sich gewundert, dass er so abweisend zu ihr war. Er hatte kräftiges grauschwarzes Haar, das kurz geschnitten war. Den dunkelblauen Anzug trug er wie eine Uniform, und Erica konnte sich kaum erinnern, ihn jemals leger gekleidet gesehen zu haben. An diesem Tag hatte er sich eine tiefrote Krawatte umgebunden, und als er den Kopf hob, kniff er unwillig die Augen zusammen. „Erica, was willst du denn hier?“

Das war nicht gerade eine freundliche Begrüßung, aber etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet. Ihr Vater hasste es, im Büro gestört zu werden. „Tag, Vater.“

Jetzt runzelte er die Stirn. „Was ist denn los? Arbeitest du heute nicht?“

Sie musterte ihn genau – auf der Suche nach etwas Wärme, ein wenig Freundlichkeit. Doch sein Blick blieb kalt. Also ging sie ruhig auf ihn zu und blieb direkt vor dem Schreibtisch stehen. „Ich hatte heute Besuch. Von einem Anwalt aus Colorado.“

Walter fuhr hoch, als habe man ihm einen Stich versetzt. Dann fing er sich wieder, legte scheinbar seelenruhig seinen silbernen Füllfederhalter hin und lehnte sich zurück. „So? Aus Colorado?“ Sein Gesicht blieb ausdruckslos, und auch der Tonfall war betont gleichmütig.

„Lass das“, sagte sie und sah ihm direkt in die grünen Augen, die auch diesmal nicht verrieten, was in ihm vorging. „Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche.“

Er presste kurz die Lippen aufeinander und zog sich energisch die Weste zurecht. „Diesen Tonfall verbitte ich mir!“

Wenn das Ganze nicht so traurig wäre, hätte sie laut losgelacht. Diesen Spruch hatte er das letzte Mal losgelassen, als sie siebzehn gewesen war und mit ihren Freundinnen in ein Rockkonzert hatte gehen wollen. Natürlich hatte er ihr das nicht erlaubt und sie stattdessen auf ihr Zimmer geschickt. Aber jetzt war sie nicht mehr siebzehn und brauchte seine Erlaubnis nicht mehr einzuholen, um das zu tun, was sie wollte. Sie war erwachsen und konnte erwarten, dass er sie auch wie eine Erwachsene behandelte.

„Vater“, sagte sie bestimmt, „der Anwalt hat mir so einiges erzählt, worüber ich mit dir sprechen möchte.“

„So? Hat er? Aber ich werde das nicht mit dir diskutieren.“ Er biss die Zähne zusammen und versuchte, Erica mit einem eiskalten Blick einzuschüchtern.

Doch das gelang ihm nicht, diesmal nicht. „Aber ich muss die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf, alles zu erfahren. Ich muss von dir hören, ob das, was er gesagt hat, wahr ist.“

„Du hast ein Recht darauf? Und wie ist es mit meinem Recht, über diese unappetitliche Geschichte nicht sprechen zu wollen?“ Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum. „Du bist Erica Prentice, meine Tochter, und das sollte dir weiß Gott genügen.“

Schön wär’s. Aber ein Blick in sein Gesicht genügte, und Erica wusste, dass er nicht ehrlich zu ihr war. Dass er vieles wusste, was sie erfahren musste. Ihr Leben lang hatte sie diesen Mann wie einen Vater geliebt. Immer hatte sie sich gewünscht, dass er stolz auf sie sei, und hatte sich darum bemüht, die Beste zu sein, um endlich seine Anerkennung zu bekommen. „Vater, bitte, sprich mit mir! Versteh doch, ich bin vollkommen verwirrt und muss endlich Klarheit haben.“

Er knirschte hörbar mit den Zähnen, dann schlug er so vehement mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, dass Erica zusammenzuckte. „Jarrod, dieses Schwein! Das ist alles seine Schuld. Noch aus dem Grab will er mich bestehlen.“

„Was?“ Erica wusste nicht, was sie davon halten sollte. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet.

Wütend sprang Walter auf. „Er hat testamentarisch bestimmt, dass man Kontakt mit dir aufnehmen soll, ist es nicht so? Ich wusste, dass er das tun würde. Nur auf diese Weise konnte er unsere Vereinbarung umgehen. Ich hätte mir gleich denken sollen, dass er sein Wort brechen würde.“

Erica sah ihn verblüfft an. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt. „Er hat mir genauso viel wie seinen anderen Kindern hinterlassen“, sagte sie zögernd.

Walter schnaubte wütend. „Natürlich, das sollte mich nicht wundern. Er wusste genau, dass ich nichts dagegen tun könnte. Nur so konnte er mich hereinlegen.“

„Dich?“ Erica traute ihren Ohren nicht. „Es geht hier nicht um dich, Vater. Es geht ausnahmsweise mal um mich.“

„Mach dir doch nichts vor.“ Walter stieß mit dem Zeigefinger nach ihr, als wolle er sie durchbohren. „Es ging immer nur um Don Jarrod und was er mir noch nehmen könnte. Der Mann war nichts weiter als ein dreckiger Dieb!“

Erica wurde das Herz schwer, als sie sah, wie sich sein Gesicht vor Zorn rötete. Obgleich sie wusste, dass es töricht war, hatte sie doch die stille Hoffnung gehegt, dass das alles ein fürchterliches Missverständnis war. Dass Don Jarrod sich geirrt hatte und dass Walter doch ihr Vater war, der sie liebte …

„Dann war Don Jarrod also wirklich mein Vater?“, fragte sie leise.

„Ja!“ Walter spie das Wort geradezu aus. „Dieser Schuft.“ Er warf ihr kurz einen Blick zu, dann ging er zum Fenster und starrte auf die Stadt hinunter. „Deine Mutter und ich hatten gewisse Probleme miteinander. Worum es ging, tut jetzt nichts zur Sache. Wir haben uns für eine gewisse Zeit getrennt. Ich ging für ein paar Monate nach England, um dort die europäische Zweigstelle unserer Firma aufzubauen. Denn ich war der Meinung, dass es für uns gut wäre, unabhängig voneinander zu überlegen, was wir wirklich wollten.“

Erica starrte auf seinen breiten Rücken. Wie schade, dass er sie noch nicht einmal jetzt ansehen konnte. Also hatte er es damals für das Beste gehalten, sich eine Zeitlang von seiner Frau zu trennen. Und ihre Mutter? War das auch in ihrem Sinn gewesen?

„Don Jarrod war damals hier in der Stadt“, fing Walter wieder an. „Ich glaube, er wollte ein oder zwei Hotels kaufen. Deine Mutter und er trafen sich im Theater. Wahrscheinlich hatten sie gemeinsame Freunde, die sie miteinander bekannt machten.“ Er atmete ein paar Mal tief durch und stieß dann hastig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Der Kerl hat die Situation ausgenutzt. Ich war außer Landes, und er sah, dass sie traurig und verwundbar war. Er hat sie umschmeichelt, bis sie nachgab, und sie dann verführt. Tja, und dann war sie schwanger.“

War das wirklich so gewesen? Erica mochte es kaum glauben. Das klang alles so schrecklich und gleichzeitig so trivial. Sie war also nichts weiter als das ungeplante Ergebnis einer kurzen Liebschaft? Kein angenehmes Gefühl.

Walter warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Natürlich fand ich erst, als wir uns wieder versöhnt hatten, heraus, dass deine Mutter schwanger war, und …“

„Dann habt ihr also offiziell getrennt gelebt, als sie …“ Nicht, dass es einen Riesenunterschied machte. Aber immerhin hatte die Mutter ihn nicht betrogen. Denn wahrscheinlich hatte sie doch angenommen, die Ehe ließe sich nicht mehr kitten.

„Das ist doch egal“, unterbrach Walter sie sofort. „Immerhin waren wir noch offiziell verheiratet. Aber das war Don Jarrod vollkommen gleichgültig. Ich liebte meine Frau. Ich wollte sie wiederhaben. Danielle versicherte mir, dass die Affäre längst vorbei sei. Jarrod war wieder nach Colorado zurückgekehrt, und wir wollten alles vergessen. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, hat sie ihn gegen meinen Willen darüber informiert. Sie meinte, er müsse es wissen.“

„Dann hat er es die ganze Zeit gewusst?“

„Leider, ja. Natürlich hat er sofort Kontakt mit ihr aufgenommen. Er wollte an deinem Leben teilhaben. Aber da hatte er sich geschnitten. Das hätte ich nie gestattet. Der Skandal hätte meinem Unternehmen erheblich geschadet. Das konnte ich nicht zulassen.“

„Natürlich nicht“, flüsterte sie. Der Skandal und der Schaden für das Unternehmen, nur das war für Walter von Interesse. Die Vorstellung, seine Geschäftspartner hätten von der Affäre seiner Frau erfahren können, war ihm unerträglich gewesen. Nur deshalb hatte er das Ganze vertuscht und Erica als seine Tochter ausgegeben, nicht aber, weil er seiner Frau wirklich verziehen hatte und Erica wie sein eigenes Kind liebte.

Das erklärte vieles. Als kleines Mädchen hatte sie immer von einem Vater geträumt, der sie abgöttisch liebte. Schließlich war sie mit Abstand das Küken in der Familie. Der jüngste ihrer Brüder war fünfzehn Jahre älter als sie. Das bedeutete, dass sie quasi als Einzelkind aufgewachsen war. Aber Walter war nie der Vater gewesen, den sie sich wünschte. Nun wusste sie immerhin, warum. Ob Don Jarrod anders gewesen wäre? Oder hatte sein Unternehmen für ihn auch immer Priorität gehabt? Hatte er den geschäftlichen Erfordernissen auch alles andere untergeordnet? Vielleicht nicht …

„Er war an mir interessiert“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu Walter.

„Unsinn! Er war nur daran interessiert, mich zu ruinieren. Deshalb hat er auch versucht, deine Mutter zu überreden, mich zu verlassen. Er wollte mit ihr aufs Land ziehen. Aber sie wusste, was sich gehörte und was richtig war. Außerdem hatte ich ihr versprochen, nicht nachtragend zu sein. Und dass ich ihr das fehlerhafte Verhalten nicht zum Vorwurf machen würde.“

„Nein“, warf Erica leise ein, „aber mir.“

„Wie bitte?“ Stirnrunzelnd starrte er sie an.

„Du hast es mich spüren lassen. Sei ehrlich, mein ganzes Leben lang hast du mich mit kaum verborgener Abscheu betrachtet.“

„Das ist nicht wahr.“ Er sah zur Seite.

Selbst in dieser Situation vermied er ihren Blick und war nicht fähig, die Wahrheit zu gestehen. Aber sie würde ihn nicht weiter drängen. Endlich verstand sie, warum er sie immer so anders als die Brüder behandelt hatte, und allein das tat gut. „Doch, es ist wahr. Ich konnte mir nie erklären, was ich dir getan hatte. Aber ich habe gespürt, dass du mich von ganzem Herzen abgelehnt hast.“

„Nein, das stimmt nicht. Ich liebe dich, Erica.“

Wie gern hätte sie ihm geglaubt, doch dafür war es jetzt zu spät. „Das hast du mir aber nie gezeigt.“

Er straffte die Schultern und reckte das Kinn. „Ich kann meine Gefühle schlecht zeigen. Aber du musst doch wissen, was ich für dich empfinde.“

„Bisher war ich im Zweifel, ob du überhaupt Gefühle hast!“, gab sie heftig zurück.

Ihre Reaktion schien ihn zu verblüffen, denn er starrte sie an, als habe er sie noch nie gesehen. Verständlich, dachte sie. Denn Widerspruch war er nicht gewohnt. Nie hatte sie versucht durchzusetzen, was sie selbst wollte. Immer war sie bemüht gewesen, ihm zu gefallen.

„Aber Erica, ich bin dein Vater. Ich habe dir ein Zuhause gegeben, war immer für dich da, habe dich aufgezogen. Hat dir jemals etwas gefehlt?“

„Ja. Deine Liebe.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“ Er schien ehrlich überrascht und auch gekränkt zu sein.

Schnell wischte sie sich über die Wange, denn sie hatte Schwierigkeiten, die Tränen zurückzuhalten. „Tut mir leid, Vater. Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen. Ich wollte dich nicht verärgern und mich auch nicht mit dir streiten.“

Zögernd machte er einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen. „Erica …“, seine Stimme klang unsicher, „deine Mutter hätte nicht gewollt, dass du gehst. Sie hätte sich gewünscht, dass du hier bleibst, bei deiner Familie.“

Tatsächlich? Erica sah ihn fragend an. Hätte ihre Mutter wirklich kein Verständnis dafür gehabt, dass die Tochter herausfinden wollte, woher sie kam? Dass sie ihre Vergangenheit kennenlernen musste, um die Zukunft meistern zu können? „Ich liebe dich, Vater“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Doch ich muss nach Colorado gehen, um meine andere Familie kennenzulernen. Nur so kann ich herausfinden, wohin ich wirklich gehöre.“

„Was soll das denn heißen?“, polterte er los, und Erica zuckte zusammen. Noch nie hatte sie erlebt, dass er die Fassung verlor. „Du gehörst natürlich hierher. Dies ist dein Zuhause. Wir sind deine Familie.“

„Aber die anderen auch.“

„Das tust du auf keinen Fall!“, herrschte er sie an. „Ich verbiete es dir!“

Sie lächelte traurig. Ja, das war wieder so typisch Walter Prentice. Wenn er nicht überzeugen konnte, dann befahl er einfach und ging davon aus, dass sein Gegenüber sich nicht länger wehren würde. Und dennoch liebte sie ihn und wünschte sich nichts so sehr, als dass er sie in die Arme nahm und ihr versicherte, wie wichtig sie ihm war und immer sein würde. Dann würde sie sich an ihn schmiegen und endlich wissen, wohin sie gehörte.

Aber das geschah natürlich nicht. Deshalb schüttelte sie nur wehmütig den Kopf. „Du kannst mich nicht aufhalten, Vater. Also brauchst du es auch nicht zu versuchen.“ Sie wandte sich um und ging zur Tür, blieb aber stehen, als er hinter ihr herrief: „Und wenn du da nicht findest, wonach du suchst, was ist dann?“

Als sie sich umdrehte und ihn ansah, fiel ihr plötzlich auf, wie einsam er wirkte, hier in seinem Riesenbüro, umgeben von den Symbolen seiner Macht. Sie lächelte kurz. „Ich weiß es nicht.“

„Also, wie ist sie?“

Christian sah von seinem Schreibtisch hoch und lächelte Melissa Jarrod an. Sie trug eine dünne gelbe Bluse zu einem sehr kurzen Rock. Die Sandaletten mit den hohen Absätzen machten sie noch größer, als sie sowieso schon war, und die blauen Augen blitzten neugierig. Jetzt warf sie das lange blonde Haar zurück, stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte ab und sah Christian auffordernd an.

Seufzend lehnte er sich zurück. Wenn Melissa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab sie keine Ruhe. Sie wollte etwas über ihre neue Schwester erfahren, und er wusste, bevor er nicht nachgegeben und ihr erzählt hätte, was sie wissen wollte, würde sie sein Büro nicht verlassen.

„Na los, Christian, nun sag schon“, drängte sie.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass sie nett zu sein scheint.“

„Nett, nett … damit kann ich gar nichts anfangen.“ Sie richtete sich auf und spazierte im Raum hin und her. „Ist sie witzig? Ist sie langweilig?“

Langweilig? Nein, das war sie sicher nicht. Wenn, dann wäre die ganze Situation einfacher für ihn. Aber Erica Prentice war intelligent und hatte eine starke Persönlichkeit, und das machte es für ihn nicht leicht. „Sie ist … eben nett.“

Melissa lachte laut los. „Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall. Als Spion bist du eine vollkommene Niete.“

„Wie gut, dass ich Anwalt geworden bin.“ Das klang abschließend, und er wandte sich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch zu.

Doch so schnell gab Melissa nicht auf. „Gut, dann beschreib sie mir vom Standpunkt des Anwalts aus. Wie hat sie reagiert? Was hält sie von der ganzen Sache?“

Wieder seufzte er, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Melissa ließ sich nicht abwimmeln, das wusste er. Sie hatte sich sehr schnell entschieden, ihren Job in Los Angeles aufzugeben und nach Aspen zu kommen, um ihr Erbe anzutreten. Da sie als Geschäftsführerin in einem luxuriösen Spa und als Yogalehrerin gearbeitet hatte, war es für sie kein Problem gewesen, alles in Los Angeles aufzugeben und das Spa des Resorts in Aspen zu übernehmen.

„Was willst du denn hören?“

„Das kann ich doch nicht wissen“, sagte sie lachend. „Ich habe plötzlich eine Schwester. Ist sie lustig oder ernst? Lacht sie viel? Ist sie langweilig und ein reines Arbeitstier? Hoffentlich nicht, denn meine Brüder sind in dem Punkt schon schlimm genug.“

„Nein, sie macht nicht den Eindruck“, sagte er langsam und dachte an den Tag in San Francisco. Und das nicht zum ersten Mal. Zwar hatte er sich auf dem Flug nach Hause fast davon überzeugen können, dass er von ihr doch nicht so beeindruckt war, wie er ursprünglich geglaubt hatte. Doch dann hatte sie ihn noch an selben Abend angerufen und ihm gesagt, dass sie in wenigen Tagen nach Aspen kommen würde.

Kaum hatte er ihre Stimme gehört, war er erregt gewesen und hatte gewusst, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte. Sie war die aufregendste Frau, die ihm … Schluss jetzt, diese Gedanken waren viel zu gefährlich. Außerdem war Melissa eine Frau, die instinktiv spürte, was in ihrem Gegenüber vor sich ging. Auf keinen Fall durfte sie wissen, was er für ihre Halbschwester empfand. „Sie war, na ja, überrascht“, fuhr er fort. „Vielleicht auch schockiert, so wie ihr, als ihr von dem neuen Familienzuwachs erfahren habt.“

„Die Arme. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man plötzlich herausfindet, dass man gar nicht die ist, die man immer zu sein glaubte.“

„Ja, das muss schlimm sein.“ Christian war froh, dass Melissa so empfand. So würde sie die neue Schwester mit offenen Armen aufnehmen. Und Erica brauchte Verbündete. Denn hier war alles neu für sie. Und Blake und Guy schienen nicht gerade begeistert zu sein, eine zweite Schwester zu haben. Gavin und Trevor hatten auf die Nachricht zwar nicht so ablehnend reagiert, aber Genaueres würde er erst herausfinden können, wenn sie Erica begegneten.

„Ich glaube, das hat sie schon schwer erschüttert“, fuhr er fort. „Auch wenn sie wohl eine ganze Menge aushalten kann. So wie du. Allerdings ist sie auch sehr sensibel …“ Wieder sah er sie vor sich, wie sie sich bemühte, die Tränen zurückzuhalten. Unwillkürlich musste er lächeln.

„Soso … Irre ich mich, oder ist hier ein bestimmtes Interesse zu spüren?“

„Was?“ Sofort wurde er ernst. Verdammt, er musste auf der Hut sein. „Nein. Du irrst dich. Außerdem wäre es ja auch sehr unpassend.“

„Christian! Du liebe Zeit!“ Melissa schüttelte traurig lächelnd den Kopf. „Nun tu doch nicht so. Du hörst dich ja an wie der schlimmste Puritaner.“

„Das bin ich nicht, und ich habe auch keine Lust, mich weiter mit dir darüber zu unterhalten. Du hast doch auch noch was anderes zu tun, oder?“

„Ja, ja.“ Frustriert zuckte sie mit den Schultern. „Ihr Männer seid wirklich seltsame Wesen.“

„Kann sein. Bis später.“

„Ich geh ja schon. Aber glaube nicht, dass in dieser Sache das letzte Wort gefallen ist.“

Sowie sie gegangen war, stützte er den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Nimm dich zusammen, Christian. Auf keinen Fall durfte einer der Jarrods merken, welche Wirkung Erica auf ihn hatte. In wenigen Monaten würde die Vorstandssitzung sein, und er konnte es sich nicht leisten, dass vorher irgendwelche Gerüchte aufkamen. Schließlich hoffte er, dass sein Vertrag als Firmenanwalt verlängert wurde.

Beziehungen zwischen Angestellten und Mitgliedern der Familie waren streng verboten und führten zur sofortigen Kündigung. Einen solchen Paragrafen hatten alle Angestellten abzeichnen müssen. Donald Jarrod hatte darauf bestanden und diesen Wunsch in seinem Testament noch einmal bekräftigt. Solange der jetzige Vorstand das Sagen hatte, würde er darauf achten. Aber Christian konnte auch nicht damit rechnen, dass Dons Kinder als die neuen Besitzer an dieser Klausel etwas ändern würden. Auf keinen Fall wollte er den Job verlieren, für den er so hart gearbeitet hatte. Und schon gar nicht wegen einer Frau.

Auch wenn er sie noch so sehr begehrte.

4. KAPITEL

Bereits drei Tage nach ihrem Lunch mit Christian saß Erica in einem Privatflugzeug auf dem Weg nach Aspen. Erstaunlich, wie schnell dann doch alles gegangen war. Sie hatte unbezahlten Urlaub genommen, ihre Eigentumswohnung abgeschlossen und das Auto bei einem Bekannten untergestellt. Als sie Christian angerufen hatte, um ihm ihre Entscheidung mitzuteilen, hatte er darauf bestanden, ihr den familieneigenen Jet zu schicken. Natürlich hatte sie erst abgelehnt, aber wenn sie sich jetzt so umsah, war sie doch froh, dass sie sich hatte überreden lassen.

Der kleine Jet war sehr bequem und gleichzeitig elegant eingerichtet. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich in der gleichen Farbe wie die sehr komfortablen himmelblauen Ledersitze. Natürlich gab es einen Flachbildschirm und eine große Auswahl an DVDs, außerdem eine Musikanlage mit vielen CDs. Eine uniformierte Flugbegleiterin hatte Erica ein delikates Frühstück serviert, bevor sie sich ins Cockpit zum Piloten und Copiloten zurückgezogen hatte.

Das bedeutete, dass Erica die Passagierkabine ganz für sich hatte, und das war ihr sehr recht. Denn immer noch schwirrte ihr der Kopf, und es gab so vieles, worüber sie in aller Ruhe nachdenken musste. Christian hatte zwar gesagt, dass ihre neue Familie sich darauf freue, sie kennenzulernen. Aber sie hatte da ihre Zweifel. Ganz sicher wollte er nur nett sein. Warum sollten die Jarrods gelassener mit der Situation umgehen als Ericas eigene Brüder? Normalerweise sah sie die sehr selten, meist nur an irgendwelchen seltenen Familienzusammenkünften. Aber am Vortag waren alle drei auf einmal bei ihr aufgetaucht und hatten versucht, ihr die Reise nach Aspen auszureden.

Erica lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Immer noch hatte sie die Stimmen der Brüder im Ohr, die sie abwechselnd beschworen, baten und unter Druck setzten, von diesem unsinnigen Plan abzulassen. Das sei sie schließlich dem Vater schuldig, der sie liebe und aufgezogen habe. Offenbar wollten sie den Vater vor einer Wahrheit schützen, die er doch längst kannte. Sehr seltsam. Erica lächelte bitter. Und natürlich hatte keiner daran gedacht, wie sie sich wohl fühlte, wie sie mit der Tatsache zurechtkam, plötzlich zu erfahren, dass Donald Jarrod ihr richtiger Vater war.

Doch die Vorwürfe der Brüder waren noch harmlos im Vergleich zu dem, was sie dann mit ihrer Stiefmutter hatte erleben müssen. Angela, das musste Erica ihr lassen, liebte Walter aufrichtig. Sie wollte nichts weiter, als Walter glücklich zu machen, und hatte anfangs sogar versucht, eine gute Beziehung zu Erica aufzubauen. Aber sie hatte nichts Mütterliches an sich, und Erica war damals schon zu alt gewesen, um sich von einer Frau, die nicht ihre Mutter war, etwas sagen zu lassen. So waren sie sich eigentlich nie richtig nahegekommen. Und das wird sich nach den jüngsten Ereignissen ganz sicher nicht ändern, dachte Erica, als sie sich das letzte Gespräch wieder ins Gedächtnis zurückrief.

„Du tust deinem Vater damit sehr weh“, hatte Angela leise, aber sehr missbilligend gesagt. „Eine solche Behandlung hat er nicht verdient.“

„Aber Angela, ich möchte doch nur herausfinden, wer ich wirklich bin“, hatte Erica geduldig argumentiert.

„Und du glaubst, dein Vater sei dagegen?“

„Willst du damit sagen, dass er einverstanden ist?“

Angela stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte frustriert den Kopf. „Bist du nie auf die Idee gekommen, dass sich unter seinem abweisenden Äußeren ein sensibler Mann verbergen könnte?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: „Das wird dir eines Tages noch leidtun, meine Liebe. Denn dann wirst du feststellen, dass Walter dich liebt. Don Jarrod ist lediglich dein biologische Vater. Walter ist derjenige, bei dem du aufgewachsen bist.“

Hatte sie recht? Oder verteidigte sie bloß ihren Mann, wie sie es immer tat? Doch egal, Erica musste tun, was sie für richtig hielt. „So bin ich jetzt wohl ganz auf mich allein gestellt“, sagte sie leise. „Aber vielleicht wird das auch allerhöchste Zeit.“

Dies war ohne Zweifel das größte Abenteuer, auf das sie sich bisher in ihrem Leben eingelassen hatte. Nach dem Examen war sie nicht wie ihre Freunde mit dem Rucksack durch Europa gezogen, hatte sich nicht ein Jahr freigenommen, um „sich selbst zu finden“. Nein, sie hatte das getan, was von ihr erwartet wurde. Sie hatte sich in einer ordentlichen Firma einen Job gesucht und angefangen, sich ein respektables Leben aufzubauen. Nie hatte sie über die Stränge geschlagen, war immer das brave Mädchen gewesen, das sich angemessen verhielt. Und alles nur, weil sie sich nach der Anerkennung und der Liebe des Vaters gesehnt hatte.

Nun ja, jetzt sah es so aus, als würde sie sich endlich freischwimmen. Schließlich flog sie fast ans andere Ende des Kontinents, um mit Menschen zusammenzuleben, die sie nicht kannte, und in der Leitung einer Hotelanlage mitzuarbeiten, die sie noch nie gesehen hatte. Es war verrückt und ergab eigentlich überhaupt keinen Sinn. Im Grunde müsste sie in Panik sein. Aber sie war es nicht.

Im Gegenteil. Erica blickte aus dem Fenster und betrachtete neugierig die unter ihr vorüberziehenden Landschaften. Ihr Magen kribbelte vor Aufregung. Alles war neu und spannend. Nur wenige Menschen hatten die Chance, ihr Leben total umzukrempeln und noch einmal von ganz vorn anzufangen. Und sie würde diese Chance nutzen. Endlich hatte sie die Gelegenheit herauszufinden, wer sie wirklich war. Und wenn sie das wusste, würde sie wieder auf Walter Prentice zugehen, aber diesmal nicht unterwürfig und zurückhaltend, sondern hoch erhobenen Hauptes.

Sie griff nach ihrer Kaffeetasse und trank einen Schluck. In dem Flugzeug war es erstaunlich ruhig. Dennoch hatte sie keine Lust, einen Film zu sehen oder Musik zu hören. Dazu war sie viel zu nervös. Immer wieder musste sie daran denken, wie die Jarrods sie wohl empfangen würden. Als Freunde oder als Feinde? Oder, schlimmer noch, gleichgültig und kühl?

Glücklicherweise wurde sie von der Stimme des Piloten in ihren trüben Gedanken unterbrochen. „Ms Prentice, bitte, vergewissern Sie sich, dass Sie angeschnallt sind. Wir beginnen jetzt den Anflug auf Aspen. In etwa zwanzig Minuten werden wir landen.“

Plötzlich klopfte ihr das Herz wie verrückt. In zwanzig Minuten würde ihr neues Leben beginnen!

Christian erwartete sie auf dem Rollfeld. Er sah vollkommen anders aus als noch vor wenigen Tagen in San Francisco. Das lag zum einen daran, dass er keinen Anzug trug. Obgleich auch der ihm fantastisch stand. Aber das war nichts im Vergleich zu diesem Aufzug. Die dunkelblaue Jeans, die in halbhohen schwarzen Stiefeln steckte, umschloss eng die schmalen Hüften. Der rote Pullover betonte seine breiten Schultern, und das schwarze kurz geschnittene Haar war vom Wind zerzaust. Dazu lehnte er in lässiger Haltung an einem schwarzen BMW … Ericas Puls beschleunigte sich, als Christian sich jetzt vom Wagen abstieß und ihr entgegenkam, sobald sie die Gangway hinunterstieg.

„Wie war der Flug?“

„Sehr angenehm. Danke, dass Sie mir den Jet geschickt haben.“

„Das war doch das Mindeste.“ Er streckte den Arm aus und nahm sie bei der Hand, wobei er ihr mit dem Daumen leicht über den Handrücken strich. Erica zuckte zusammen, und als er ihr in die Augen sah, hatte sie sekundenlang den Eindruck, sie zwei seien ganz allein auf der Welt. Er lächelte leicht. Und als er hinzufügte: „Es ist der Familienjet. Und Sie gehörten doch jetzt zur Familie“, konnte sie den Blick nicht von seinem Mund lösen.

Schnell legte sie sich die freie Hand auf den Magen, aber das erregte Kribbeln ließ sich nicht besänftigen. Das fängt ja gut an, dachte sie und blickte schnell zur Seite. Schon jetzt war sie kurz davor, die Fassung zu verlieren. Als ob die eigentliche Bewährungsprobe nicht noch vor ihr läge. Deshalb war sie erleichtert, als sie ihn sagen hörte: „Hätten Sie Lust zu einer kurzen Stadtrundfahrt, bevor wir zum Resort aufbrechen?“

„Ja, sehr“, stieß sie hastig hervor und sah sich um. Erst jetzt bemerkte sie die hinreißende Umgebung. Im Verhältnis zu San Francisco hatte Aspen natürlich nur einen kleinen Flughafen, der allerdings wunderbar gelegen war. Er war von Bergen umgeben, und der Himmel war so blau, dass sie kurz geblendet die Augen schließen musste. Die Luft war kühl und klar, und selbst auf dem Flugplatz war es verhältnismäßig ruhig, zumindest für jemanden wie Erica, die aus einer lärmenden Großstadt kam.

„Wie wunderschön“, bemerkte sie leise.

„Ja, das finde ich auch“, stimmte er zu, und als sie sich zu ihm umwandte, sah sie, dass er sie unverwandt anblickte. Dann lächelte er kurz und drückte ihr die Hand. „Kommen Sie, Sie Stadtkind. Ich werde Sie herumführen.“

Erica sah einfach zu gut aus, das war das Problem. Christian hatte zwar gehofft, dass seine Erinnerung ihm einen Streich gespielt hatte, aber Ericas Augen hatten wirklich die Farbe von altem Whiskey. Und sie duftete tatsächlich wie ein frischer Pfirsich. Und ihr Haar war so weich und glänzend, wie er es erinnerte. Dennoch, er musste das Verlangen nach ihr unterdrücken und konnte nur hoffen, dass keiner merkte, was in ihm vorging.

Hätte er sie nur nicht bei der Hand berührt. Sofort hatte er diese heiße Erregung gespürt, die er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Das durfte nicht sein, und doch brachte er es nicht fertig, ihre Hand loszulassen. Erst als er die Beifahrertür öffnete, löste er sich von ihr. Das Verdeck des BMW war an diesem wunderschönen Tag geöffnet – ideal, um Erica mit ihrer neuen Heimat vertraut zu machen. Als sie einstieg, musterte er sie eingehend von Kopf bis Fuß. Zu ihrer dunkelblauen Bluse trug sie eine weiße Leinenhose, dazu schwarze Ballerinas. Eigentlich müsste es verboten sein, so gut auszusehen, ging ihm durch den Kopf. Er steckte in Schwierigkeiten, das ließ sich nicht leugnen.

„Ich werde langsam durch die Stadt fahren, damit Sie sich orientieren können“, sagte er und schlug die Tür zu.

„Und was ist mit meinem Gepäck?“

„Das wird ins Resort gebracht.“

„Gut. Dann können wir losfahren.“

Er setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und verließ den Flughafen.

Neugierig sah sie sich um. „Was für eine herrliche Landschaft! Ich hätte nie gedacht, dass die Berge so nah sind!“, rief sie aus und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

„Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, aber das ist mir noch nie aufgefallen. Wahrscheinlich habe ich nie richtig hingesehen.“ Er folgte kurz ihrem Blick. Sie hatte recht, die Landschaft war wunderschön. Wie alle Bewohner Aspens hatte auch er das alles für selbstverständlich genommen. „Ich wette mit Ihnen, nach zwei Wochen fällt Ihnen die prächtige Natur auch nicht mehr auf.“

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Die Wette nehme ich an!“

Während er durch die Stadt fuhr, nannte er ihr in schneller Folge die Namen der Geschäfte, an denen sie vorbeikamen. Er wies sie auf die alten Backsteinbauten hin, und Erica war begeistert von den Blumenampeln, die die Straßen zierten. Auch das Gebäude der Aspen Times, einer der Lokalzeitungen, zeigte er ihr, ein kleines, altes blaues Haus mit goldener Beschriftung, und sie war entzückt.

Natürlich war ihm all das wohl vertraut, aber durch Ericas Augen konnte er plötzlich den Charme der Stadt aufs Neue entdecken. Zwar hatte Aspen auch eine moderne Innenstadt mit großen Glasfronten und luxuriösen Boutiquen. Aber der alte Teil gefiel Erica besonders. Und sie hatte recht. Die engen Straßen mit den kleinen Läden und den Steinhäusern schufen eine ganz besondere Atmosphäre. Christian konnte sehen, dass Erica ganz begeistert war, während sie versuchte, so viel wie möglich in sich aufzunehmen.

Als er ihr in die leuchtenden Augen sah, fragte er sich wieder, wie er es fertigbringen sollte, eine rein geschäftliche Beziehung mit ihr aufrechtzuerhalten. Ihm war klar, dass er ständig gegen das sexuelle Verlangen würde ankämpfen müssen. So wie jetzt, wo er Mühe hatte, sich auf die Straße zu konzentrieren, als Erica lässig die langen schlanken Beine übereinanderschlug.

„Es ist so groß“, sagte sie staunend.

„Aspen?“ Er blickte sie fragend an. Eine seltsame Bemerkung für jemanden, der aus San Francisco kam. „Eigentlich nicht. Aspen hat nur ungefähr fünftausend Einwohner. In der Saison, wenn die Touristen hier in Scharen einfallen, allerdings viel mehr.“

„Nein, ich meine nicht die Stadt selbst. Der Staat Colorado ist so groß und weit. Der Himmel ist endlos. Zu Hause sehe ich immer nur kleine Ausschnitte zwischen den Hochhäusern.“

„Was gefällt Ihnen denn besser?“ Er hielt vor einer roten Ampel und sah Erica gespannt an.

„Das ist schwer zu sagen. Auch San Francisco ist schön, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Hier wirkt alles noch sehr fremd auf mich.“

Die Ampel schaltete auf Grün, und er gab wieder Gas. „Das wird sich bald ändern. Schließlich sind Sie Don Jarrods Tochter, Colorado liegt Ihnen quasi im Blut. Denn die Jarrods leben schon seit Generationen hier. Dons Ururgroßvater hat das Unternehmen gegründet. Er kam im Jahre 1879 hierher, als Silber gefunden wurde, kaufte sich ein großes Stück Land und baute ein Haus, das größte und schönste in Colorado, wie er meinte.“

Erica musste lächeln. „Bescheidenheit ist wohl keine der herausragenden Eigenschaften der Jarrods?“

Christian lachte. „Nein. Kurz und gut, im Jahre 1893 hatte Aspen bereits eine Bank, ein Theater, ein Krankenhaus und elektrisches Licht. Doch als die Weltmarktpreise für Silber fielen, verließen viele die Stadt. Eli Jarrod blieb, vergrößerte sein Haus und machte daraus ein Hotel. Statt der Bergleute kamen jetzt Touristen in die Stadt, um zu angeln und zu jagen. Und ab 1946, also nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde die Gegend hier bekannt für die guten Wintersportmöglichkeiten. Ab da ging es aufwärts. Man kann sagen, dass die Jarrods auch schwierige Zeiten durchgemacht hatten, aber letzten Endes für ihre Geduld belohnt wurden. Diese Sturheit scheint ein typischer Wesenszug der Familie zu sein.“ Er grinste vielsagend.

Sie hatten jetzt die Stadt verlassen und fuhren durch eine breite Allee, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt wurde. „Und wie hat sich das Hotelunternehmen dann weiterentwickelt?“, fragte Erica neugierig.

„Wie ich schon sagte, das Ganze fing eigentlich mit dem ersten Haus an, das Eli für seine Familie baute. Als er es in ein Hotel verwandelte, wurde das Haus enorm vergrößert. Das war die Geburtsstunde von Jarrod Resort. Das ganze erste Stockwerk ist jedoch für die Familie reserviert. Da werden auch Sie wohnen.“

„Gut. Was gibt’s noch?“

„Auf dem mehrere Quadratkilometer großen Grundstück wurden später Cottages hinzugefügt, manche sind ganz aus Stein, andere wieder wie Blockhütten gebaut. Einige sind klein, gerade passend für eine Familie, aber es gibt auch große, die mit allem Luxus und auch mit Personal ausgestattet sind.“

„Donnerwetter!“

Wieder lachte er. „Ja, ich glaube, Sie werden noch Ihr blaues Wunder erleben, Erica Prentice.“

„So?“ Sie waren in eine schmalere Straße eingebogen, die ebenfalls von Bäumen und dichtem Buschwerk gesäumt wurde, das sich plötzlich lichtete und den Blick auf ein imposantes Herrenhaus freigab. Erica blieb der Mund offen stehen. „Sie haben recht“, stieß sie leise hervor, „so etwas habe ich nicht erwartet. Das ist ja ein richtiges Schloss!“

Das Ganze hätte wie eine Ansichtskarte eines prächtigen Anwesens gewirkt, wenn rundherum nicht so viel Leben geherrscht hätte. Auf der ovalen Einfahrt standen große Wagen, flinke Angestellte in Hoteluniform rissen die Türen auf und geleiteten die Gäste zum Hotel, wo sie von einem Portier in einer goldbetressten Uniform empfangen wurden. Hotelpagen kümmerten sich um das Gepäck.

Langsam fuhr Christian am Eingang vor, stellte den Motor ab und öffnete bereits die Beifahrertür, als Erica sich noch staunend umsah. Sie stieg aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Das prächtige weiße Gebäude hob sich scharf gegen den knallblauen Himmel ab. Dahinter ragten die Berge empor. Es ist wie im Märchen, dachte Erica. Fehlt nur noch der schöne Prinz auf einem schwarzen Hengst. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf Christian, der an dem schwarzen BMW lehnte. Hm, beinahe so etwas wie eine moderne Version dieses Märchentraums, ging ihr durch den Kopf, und sie unterdrückte ein Lächeln. Aber er war kein Prinz, und sie musste auch nicht gerettet werden. Oder?

Schnell wandte sie den Blick ab und richtete ihn auf die schwere Doppeltür, die sich zur Hotellobby öffnete. Vor Aufregung wurde ihr der Mund trocken. Jetzt war es so weit. In wenigen Minuten würde sie ihrer neuen Familie gegenüberstehen. Nervös strich sie sich das Haar zurück.

„Na, haben Sie es sich anders überlegt?“

Sie drehte sich zu Christian um, der sie lächelnd beobachtete. Seltsam, sie hatte ihn erst vor kaum einer Woche kennengelernt, und nun war er ihr einziger Vertrauter in dieser doch sehr fremden Umgebung.

„Nein.“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Ich habe mich entschlossen, die Herausforderung anzunehmen, und nun bleibe ich auch dabei.“

„Sehr gut.“ Er nickte anerkennend, und Erica wurde es ganz warm ums Herz. „Aber jetzt kommen Sie. Sie müssen doch Ihr neues Zuhause kennenlernen.“

Sie folgte ihm in die Hotellobby, und wieder war sie beeindruckt, wie geschmackvoll alles eingerichtet war. Die Wände und der geflieste Boden waren in einem warmen Goldton gehalten, große gerahmte Fotografien zeigten die Bergwelt in der Abfolge der Jahreszeiten, und in den bequemen Sesseln saßen die Gäste und unterhielten sich lebhaft. Trotz der luxuriösen Ausstattung wirkte der große Raum einladend, ja, beinahe gemütlich. Sie hätte sich gern noch länger hier aufgehalten, aber Christian war vorausgegangen und wartete an einem einzelnen Fahrstuhl auf sie.

„Dies ist der private Aufzug zu dem Stockwerk, wo die Familie wohnt.“ Er zog eine Schlüsselkarte aus der Tasche und steckte sie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Sofort öffnete sich die Tür, und sie traten ein. „Ihre Schlüsselkarte liegt oben in Ihrer Suite“, sagte er. „Und wahrscheinlich ist Ihr Gepäck auch schon da. Im Übrigen ist die Suite komplett eingerichtet. Es gibt sogar eine kleine Küche, und der Kühlschrank sollte die wichtigsten Lebensmittel enthalten.“

„Sehr gut.“

Der Fahrstuhl hielt. „In diesem Stockwerk gibt es natürlich auch eine große Küche“, sagte Christian beim Heraustreten. „Nur falls Sie mal Lust haben, selbst zu kochen. Normalerweise wird das Essen von der Hotelküche geliefert. Sie müssen also nicht kochen, wenn Sie nicht wollen.“

„Aber ich koche ausgesprochen gern.“

„Dann werden Sie sich sicher gut mit Ihrem Bruder Guy verstehen. Er hatte sein eigenes Restaurant in New York und hat jetzt hier die Hotelküche übernommen.“

Sie lachte. „Ich fürchte, da kann ich nicht ganz mithalten. Ich habe nur gemeint, ich koche gern. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich auch eine gute Köchin bin.“

„Sie können ja mal abends für mich kochen“, meinte er lächelnd, hätte sich dann aber am liebsten auf die Zunge gebissen. Wollte er nicht Abstand halten?

Erica tat, als habe sie seine letzte Bemerkung nicht gehört, und sah sich in dem breiten Flur um. Der goldbraune Holzboden glänzte im hellen Sonnenlicht, das durch ein Bogenfenster am Ende des Flurs fiel. Auf einem kleinen Beistelltischchen stand eine kobaltblaue Vase mit dunkelroten Rosen – ein wunderschöner Farbkontrast.

Christian wies nach links. „Die nächsten vier Türen führen in vier Suiten, und etwas weiter den Flur hinunter finden Sie den großen Wohnraum, der von allen genutzt werden kann. Und hinter diesem Wohnraum schließt sich die ursprüngliche Wohnung an, das heißt das Elternschlafzimmer und die Kinderzimmer Ihrer Geschwister, die sie bewohnten, als sie noch klein waren.“

Erica war auch nicht gerade in beengten Verhältnissen aufgewachsen, aber diese Räumlichkeiten hier hatten doch noch ganz andere Dimensionen. Es gab so viel Platz, so viele Möglichkeiten für Kinder zu spielen.

„Als die Kinder älter wurden“, fuhr Christian fort, „hat Don für jedes eine eigene Suite angebaut und auch gleich noch einige Gästezimmer hinzugefügt.“

Verwundert blickte Erica ihn an. Das hörte sich durchaus so an, als habe Don Jarrod alles getan, um die Kinder an das Haus zu binden. Und dennoch hatten sie das Elternhaus verlassen. Warum wohl? „Und sie wohnen jetzt alle wieder hier auf dem Stockwerk?“

„Nein, nur Guy und sein Zwillingsbruder Blake. Die anderen sind in verschiedenen Cottages untergebracht.“

Erleichtert atmete Erica auf. Also musste sie nicht allen Geschwistern jeden Tag über den Weg laufen. Falls aber Blake oder Guy gerade hier waren, sollte sie vielleicht gleich die erste Begegnung mit ihnen hinter sich bringen. „Sind die beiden hier?“

„Nein. Blake musste für ein paar Tage weg. Er und seine Assistentin Samantha, die übrigens auch hier wohnt, haben noch einiges in Las Vegas abzuwickeln, bevor sie sich endgültig hier niederlassen können. Blake und sein Bruder Gavin haben auch in Las Vegas Hotels, um die sie sich kümmern müssen.“

„Und sie haben vor, die Hotels in Las Vegas aufzugeben und ganz hierher überzusiedeln?“

„Ja. Ebenso wie Sie sind auch Ihre Brüder und Ihre Schwester bereit, ihr Erbe anzutreten und hier ein ganz neues Leben anzufangen.“

Dennoch ist die Veränderung für sie nicht so komplex wie für mich, dachte Erica. Sie sind hier aufgewachsen, ihnen ist alles vertraut. Für sie, Erica, dagegen war alles Neuland, und manchmal fühlte sie sich wie „Alice im Wunderland“, die ganz plötzlich in eine völlig neue Welt geraten war. „Und wo ist Guy?“

„Um diese Zeit ist er wahrscheinlich unten im Hauptrestaurant.“

„Und Gavin? Ist er mit Blake in Las Vegas?“

„Nein, er ist hier. Aber er wohnt in einer der größeren Lodges. Er hatte keine Lust, ins Haupthaus zu ziehen.“

Allmählich gewann Erica mehr und mehr den Eindruck, dass keins ihrer Halbgeschwister mit Freuden nach Aspen gekommen war. Dennoch, alle hatten ihr früheres Leben aufgegeben und waren nach Colorado zurückgekehrt, um das Familienunternehmen zu übernehmen. Trotz der gemischten Gefühle, die sie dem Vater gegenüber sicher empfanden, war doch ihr familiäres Verantwortungsbewusstsein so stark ausgeprägt, dass sie sich dieser Aufgabe nicht entziehen wollten. Das zu wissen tat Erica gut. Denn wenn ihnen Familie so viel bedeutete, dann bestand zumindest die Hoffnung, dass sie dem neuen Familienmitglied nicht nur ablehnend gegenüberstehen würden.

„Und die anderen?“, fragte sie. „Wo sind die?“

„Wie ich schon sagte“, Christian legte ihr kurz die Hand auf den Rücken, um sie in die andere Richtung zu lenken, „Trevor hat sein eigenes Haus in Aspen, aber er ist tagsüber meist hier. Guy wohnt hier, weil er hier arbeitet. Und Melissa wohnt in der Willow Lodge, die am weitesten vom Haupthaus entfernt liegt. Aber da sie für die Wellness-Abteilung zuständig ist, ist auch sie fast jeden Tag hier.“

„Wie groß ist eigentlich die Fläche, auf der die Privaträume untergebracht sind?“ Erica hatte den Eindruck, als wolle der Flur gar kein Ende nehmen.

„Sie nimmt das ganze erste Stockwerk ein inklusive der beiden Seitenflügel.“

„Wahnsinn …“, staunte sie.

„Stimmt.“ Er grinste. „Auf dieser Seite liegen Ihre Suite und noch zwei weitere Gästezimmer mit Bad. Ein Stückchen weiter runter ist die Küche, dann kommen der Wohnraum und das Zimmer, das früher Dons Büro war. Mein Büro ist unten im Parterre, aber ich arbeite meist zu Hause.“

„Ach so, und wo wohnen Sie?“

Er schob sie an eins der hohen Fenster und wies hinaus. „Da, sehen Sie das rote Dach hinter der hohen Tanne?“

„Ja. Das ist ja nicht weit weg.“ Zu Fuß höchstens fünf Minuten.

„Nein. Also wenn Sie mal was brauchen …“

Er war so nah, und er roch so gut … Unwillkürlich holte sie tief Luft. Und als sie ihm in die dunklen Augen sah, wollte sie nichts anderes, als sich gegen ihn sinken zu lassen und … Himmel, war sie von allen guten Geistern verlassen? Als ob sie momentan nicht schon genug Probleme hätte. „Danke.“ Schnell trat sie einen Schritt zur Seite. „Ich werde es nicht vergessen.“

Er blickte sie kurz forschend an, und sie fragte sich, ob er wohl wusste, was in ihr vorging. Dass sie sich danach sehnte, in seinen Armen zu liegen. Dass sie sich fragte, ob seine Lippen wohl so weich und warm waren, wie sie aussahen. Doch wenn, dann ließ er sich nichts anmerken. Mit einer knappen Geste strich er sich das Haar zurück, dann wies er geradeaus, und sie setzten den Weg fort. Schweigend gingen sie nebeneinander her, und Ericas hohe Absätze knallten wie Pistolenschüsse auf den Marmorfliesen. Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen. Christian öffnete sie und ließ Erica den Vortritt.

Wie angewurzelt blieb sie auf der Schwelle stehen. Zwar hatte sie angenommen, dass ihr Zimmer nicht gerade schäbig eingerichtet war. Aber dass es so schön war, damit hatte sie nicht gerechnet. Immerhin war sie eine Fremde, und sie konnte sich vorstellen, dass ihre Geschwister ihr gegenüber durchaus ihre Vorbehalte hatten. Der Wohnraum war in blauen Farben gehalten, die Wände hell, die Möbel dunkel. Auf dem schimmernden Holzboden lagen Brücken in verschiedenen Blautönen, und der Kamin war von weiß-blauen Kacheln eingefasst. „Wow!“, stieß sie überwältigt hervor.

Christian lachte leise. „Freut mich, dass es Ihnen gefällt.“

„Wie sollte es nicht!“ Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und sah dann Christian an. „So etwas habe ich ehrlich gesagt nicht erwartet.“

„Nein?“ Er hob lächelnd die Augenbrauen. „Was denn dann? Eine Kerkerzelle?“

„Das nun auch wieder nicht.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Aber nicht so etwas Edles.“

„Es war Melissas Idee. Sie meinte, diese Suite müsste Ihnen gefallen. Und ihre Brüder hatten keine Einwände.“

Keine Einwände? Immerhin … „Das war sehr nett von Melissa.“

„Sie mögen sie sicher. Sie freut sich schon sehr darauf, Sie kennenzulernen.“

„Und meine Brüder?“

Er schwieg ein paar Sekunden. Dann antwortete er ausweichend: „Sie werden sich schon an den Gedanken gewöhnen, eine zweite Schwester zu haben.“

Das hörte sich nicht so gut an. Aber konnte sie es den Söhnen des alten Jarrod übel nehmen, dass sie diesen „Neuzugang“ in der Familie nicht gleich mit offenen Armen empfingen? Sie alle hatten eine Menge Vorbehalte zu überwinden.

„Sie müssen immer daran denken, dass Sie genauso viel Recht haben, hier zu sein, wie Ihre Geschwister“, fügte Christian, der Ericas Unsicherheit bemerkte, schnell hinzu.

„Finden Sie?“ Erica schüttelte nachdenklich den Kopf. „Melissa und ihre Brüder sind hier aufgewachsen. Ich bin sozusagen ein Eindringling. Dies hier ist ihr Zuhause.“

„Ein Zuhause, das jeder von ihnen fluchtartig verlassen hat, sowie sich die Gelegenheit dazu bot.“

„Ja, das ist seltsam. Wissen Sie, warum alle ausgezogen sind? War Don Jarrod ein so schlechter Vater?“

„Nein, ganz sicher nicht. Aber er war ein absolutes Arbeitstier. Und er hatte sehr genaue Vorstellungen. Er war nicht mein Vater, und dennoch sagte er mir ständig, was ich mit meinem Leben anfangen sollte und wie.“

„Das hört sich sehr vertraut an.“ Lächelnd trat Erica ans Fenster und sah auf den großen Hotelpool hinunter. „Mein Vater, ich meine, Walter Prentice, scheint genau der gleiche Typ zu sein. Ist das nicht merkwürdig?“

„Ja. Aber vielleicht fällt es Ihnen dadurch leichter, das Verhalten Ihrer Geschwister zu verstehen.“

„Wir werden sehen. Eigentlich traurig, dass keins der Kinder in das alte Zuhause zurückkehren will.“

„Ja, es ist schade. Aber wie gesagt, der alte Jarrod war alles andere als ein einfacher Vater. Deshalb haben die vier keine guten Erinnerungen an ihre Kindheit. Außerdem waren sie nicht sehr glücklich darüber, dass ihr Vater sie durch das Testament sozusagen gezwungen hat, wieder nach Aspen zurückzukehren.“

Erica stieß einen leisen Seufzer aus. „Dann haben wir schon mal etwas gemeinsam. Probleme mit unseren Vätern.“

„So sieht es aus.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und ließ Erica nicht aus den Augen, als sie auf das Sofa zuging. „Apropos Väter, wie ist denn das Gespräch mit Ihrem Vater ausgegangen?“

„Nicht anders, als ich erwartet hatte. Er wollte nicht, dass ich nach Aspen fliege.“

„Und warum haben Sie es trotzdem getan?“

Sie beugte sich vor, griff nach einem Kissen und strich nachdenklich über die weiche Oberfläche. Dann warf sie es wieder auf die Couch und wandte sich zu Christian um. „Irgendwie musste ich es tun. Ich musste hierherkommen und alles mit eigenen Augen sehen. Außerdem hatte ich die Sehnsucht, mich …“

„… selbst zu finden? Herauszufinden, wer Sie wirklich sind?“

„Irgendwie schon. Auch wenn es sich vielleicht etwas übertrieben anhört.“ Sie lachte verlegen.

„Gar nicht. Ich war in der gleichen Situation. Es ist nicht leicht.“

Überrascht sah sie ihn an. Er wirkte so sicher, so selbstbewusst. Man konnte sich kaum vorstellen, dass auch er Schwierigkeiten gehabt hatte, die eigene Persönlichkeit zu finden. Dass er jemals an sich gezweifelt hatte. Aber wahrscheinlich machte jeder mal solche Phasen durch. Sie durften nur nicht überhandnehmen.

Entschlossen richtete sie den Blick auf den kleinen Flur, der offenbar zum Schlafzimmer führte. „Haben Sie nicht gesagt, hier gebe es auch eine kleine Küche? Mit einem gefüllten Kühlschrank?“

„Ja. Von dem Flur abgehend. Auf der anderen Seite des Schlafzimmers.“

Tatsächlich, da war eine kleine Küche, perfekt eingerichtet mit einem Zweiplattenherd, Hängeschränken und einer Arbeitsplatte aus Granit. Neugierig öffnete Erica den Kühlschrank. Wein, Bier, stilles Wasser und Sodawasser, alles war da. Außerdem frisches Gemüse und eine Schale mit Obst.

Christian war dicht hinter Erica getreten. „Haben Sie Hunger?“, fragte er leise.

Sie drehte sich um – und stand direkt vor ihm! „Ja“, flüsterte sie.

Schnell trat er einen Schritt zurück und räusperte sich. „Dann sollten wir unten etwas essen. So kann ich auch Ihre Fragen in Ruhe beantworten, und Sie haben die Gelegenheit, Ihre Brüder zu begrüßen.“

Bei der Vorstellung verging ihr der Appetit. Aber es half nichts. Irgendwann musste die Begegnung stattfinden. „Okay. Bin gleich wieder da. Ich will mich nur kurz frisch machen.“

5. KAPITEL

Guy Jarrod war selbst ein sehr gefragter Koch gewesen. Doch als er sein eigenes Restaurant aufgemacht hatte, war er weniger in der Küche zu finden gewesen, sondern hatte sich vielmehr um die Gäste und die Führung des Restaurants gekümmert. Zu seiner eigenen Überraschung hatte ihm das sogar noch mehr Spaß gemacht. Er hatte Personal einstellen – und auch entlassen – können, wie er es für richtig gehalten hatte, und war von keinem Chef mehr abhängig gewesen.

In diesem Punkt hatte sich nicht viel verändert, als er die Leitung des renommierten Restaurants vom Jarrod Ridge übernommen hatte, hatte übernehmen müssen, um korrekt zu sein. Und sosehr es ihn auch ärgerte, dass der Vater durch sein Testament das durchgesetzt hatte, was ihm zu Lebzeiten nicht gelungen war, nämlich die Kinder an das Anwesen zu binden, so musste Guy doch zugeben, dass ihm die Arbeit Freude machte. Damit hatte er nicht gerechnet, und er fing bereits an, große Pläne zu machen. Über die Jahre hatten das Hotel und auch das Restaurant ihren guten Ruf beibehalten. Aber Guy hatte den Eindruck, dass man sich ein bisschen zu sehr auf den Lorbeeren ausruhte. Es wurde Zeit, mal wieder etwas Neues zu probieren, und das hatte er sich zum Ziel gesetzt, auch wenn er sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt hatte, wieder dort gelandet zu sein, wo er aufgewachsen war.

„Mr Jarrod?“

„Ja?“ Einer der Kellner war in den Vorratsraum neben der Küche gekommen, in dem der Wein aufbewahrt wurde und wo Guy gerade eine Bestandsaufnahme machte. Er blickte hoch. Der junge Mann war ihm bekannt, aber noch hatte er nicht alle Namen parat. „Was gibt’s?“

„Mr Hanford ist im Restaurant mit einem Gast. Er lässt fragen, ob Sie dazukommen können.“

Christian. Wieder zurück in Aspen zu sein bedeutete nicht nur, mit den Geschwistern zurechtkommen zu müssen, sondern auch mit Christian. Früher waren sie eng befreundet gewesen. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren. Und jetzt mussten sie zusammenarbeiten, nur weil der sture alte Mann es so gewollt hatte.

„Sagen Sie ihm, ich komme gleich.“ Guy verließ den gekühlten Raum. Er würde die Bestandsaufnahme eben später beenden, denn er wollte diese Aufgabe niemand anderem überlassen, weil er absolut sicher sein wollte, dass kein Fehler passierte. Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich lächeln. Vielleicht war er dem Alten doch ähnlicher, als er glaubte.

Während er durch die große Küche ging und dann die Tür zu dem Hauptraum des Restaurants aufstieß, waren seine Augen ständig in Bewegung. Ihm entging kein Schmutzfleck, keine Nachlässigkeit der Kellner, kein schlecht gedeckter Tisch. Aber so weit schien alles in Ordnung zu sein, selbst die frischen Blumen auf jedem Tisch harmonierten farblich mit dem übrigen Dekor.

Christian saß an einem Tisch am anderen Ende des Speisesaals. Als Guy näher kam, sah er, dass ihm eine hübsche schlanke Frau mit goldbraunem Haar gegenübersaß. Irgendwie kam sie Guy bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Ob das etwa die neu aufgetauchte Halbschwester ist? ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Auf die sie alle schon sehr gespannt waren? Deshalb kam sie ihm auch bekannt vor. Ganz eindeutig war sie als Don Jarrods Tochter zu erkennen.

Da die beiden ihn noch nicht bemerkt hatten, nahm Guy sich Zeit und musterte die neue Schwester etwas genauer. Sie war wirklich sehr hübsch, aber sie wirkte nervös und angespannt. Aber das war auch kein Wunder. Schließlich waren sie alle gezwungen worden, zum Jarrod Ridge zu kommen, ob sie wollten oder nicht. Und für die Neue war die Situation noch schwieriger. Zumindest hatten er und die Geschwister einander, und ihnen war alles hier vertraut. Ihr aber war alles fremd. Das tat ihm zwar leid, aber dennoch war er in einem Punkt mit seinem Zwillingsbruder einer Meinung: Ihr als plötzlich aufgetauchter Halbschwester stand nicht der volle Anteil des Erbes zu.

Christian hob den Kopf und sah, dass Guy sich näherte und Erica intensiv musterte. Offenbar gefiel ihm, was er sah, denn er lächelte kurz. Dass es gerade Guy war, den Erica als Erstes treffen würde, war Christian sehr recht. Denn er war sachlich und ruhig und brauste nicht so leicht auf wie die anderen. Mit Ausnahme von Trevor. Der war eigentlich durch nichts zu erschüttern.

„Wie schön, dich zu sehen!“ Guy streckte Christian die Hand hin, sah aber nur dessen Gegenüber an. „Und du musst meine neue kleine Schwester sein.“

Erica wurde rot, sah ihm aber direkt in die Augen und gab ihm die Hand. „Ja, das bin ich. Ich heiße Erica.“

„Schöner Name.“ Er schüttelte ihr kurz die Hand. „Hat man dir schon dein Quartier gezeigt?“

„Ja. Aber ich fürchte, es wird noch einige Zeit dauern, bis ich mich hier zurechtfinde.“

Guy grinste. „Am Empfang gibt es sicher einen Lageplan. Wie gefällt dir denn der alte Schuppen?“

„Ausgesprochen gut. Es ist ein wunderschönes Haus. Es muss toll gewesen sein, hier aufzuwachsen.“

„Ja, das sollte man meinen.“ Guy strich das Tischtuch glatt. „Christian hat uns erzählt, dass du in San Francisco in einer PR-Agentur gearbeitet hast.“

„Ja, das stimmt.“

„So jemanden können wir hier gut gebrauchen.“ Ein Kellner trat hinter Guy und flüsterte ihm etwas zu, worauf dieser bedauernd die Schultern hob. „Entschuldigt, ich muss in die Küche. Hab mich gefreut, dich wiedergesehen zu haben, Christian. „Und, Erica …“ Er blickte sie forschend an und lächelte dann. „… wir werden uns sicher noch häufiger über den Weg laufen.“

Als er gegangen war, atmete Erica tief aus, griff nach ihrem Wasserglas und trank einen großen Schluck.

„Das war doch nicht so schlimm, oder?“ Christian beobachtete sie aufmerksam. Guy hätte vielleicht etwas herzlicher sein können, aber alles in allem war es doch ganz gut gelaufen.

„Nein. Ein bisschen nervenaufreibend, aber damit hatte ich gerechnet. Was hat er denn gemeint, als er sagte, dass man jemanden mit PR-Erfahrung gebrauchen könne?“

Eigentlich hatte Christian ein paar Tage warten wollen, damit sie sich erst mal etwas eingewöhnen konnte. Aber da sie so direkt fragte, gab es keinen Grund, ihr nicht gleich reinen Wein einzuschenken. Im Grunde wusste sie ja, dass man mit ihrer Mitarbeit rechnete. Und manchmal war es auch besser, sich gleich auf eine neue Aufgabe zu stürzen.

„In wenigen Wochen findet hier die Eröffnung der Food and Wine Gala statt“, antwortete er. „Das ist eine große Sache in Aspen. Die Gala wird alljährlich wiederholt und ist über die Grenzen Colorados hinaus bekannt. Aus dem ganzen Land und selbst aus Europa kommen Gäste zu diesem Anlass, meist Gourmets und Weinkenner, die hier das Beste vom Besten testen und genießen.“

„Darüber habe ich schon einiges gelesen. Auch im Fernsehen gibt es immer Berichte darüber.“

„Ja. Da die Stadt vom Tourismus lebt, ist dies ein sehr wichtiges Ereignis, das von den Jarrods großzügig unterstützt und in weiten Teilen auch ausgerichtet wird. Und da Sie eine Jarrod sind, haben auch Sie damit zu tun.“

Sie riss die Augen weit auf, nickte dann aber und sagte: „Okay. Inwiefern?“

Wieder war er überrascht, wie relativ ruhig sie auch diese neue Eröffnung aufnahm. Sie war stark und würde nicht so schnell zusammenbrechen, sondern war in der Lage, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Die meisten Frauen, die er kannte, würden noch in San Francisco sitzen und sich den Kopf zerbrechen, was sie nun tun sollten. Erica dagegen war bereits hier und bereit, neue Aufgaben zu übernehmen. In der kleinen Person steckte eine enorme Willenskraft.

Die blieb auch auf ihn nicht ohne Wirkung. Vor allem wenn sie ihn mit ihren hellbraunen Augen ansah und dabei an ihrer vollen rosa Unterlippe knabberte. Etwas, was sie immer tat, wenn sie nachdachte. Verdammt, er durfte sich von ihr nicht von seiner Aufgabe ablenken lassen.

„Ihr Bruder Trevor ist der Marketingfachmann“, sagte er schnell und bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. „Seit Jahren hat er seine eigene Agentur hier in Aspen und wird nun auch das Jarrod Ridge betreuen.“

„Eine große Aufgabe.“

„Ja, und das gilt auch für das, was Sie zu tun haben. Sie sollen als Leiterin der PR-Abteilung vom Jarrod Ridge seine Ansprechpartnerin sein.“

Als sie ihn erschreckt ansah, fuhr er schnell fort: „Sie werden meist mit Trevor direkt zusammenarbeiten. Da Sie aber Ihr Büro hier im Haus haben, sind Sie an der Sache näher dran. Denn hier wird ja die Gala stattfinden. Und vermutlich werden Sie beide in den nächsten Wochen viel miteinander zu tun haben.“

Sie sah ihn nicht an, als sie leise hervorstieß: „Ich kann es kaum abwarten …“

Es war mehr als deutlich, dass die Aussicht sie beunruhigte, eng mit einem Mann zusammenarbeiten zu müssen, der seine neue Schwester möglicherweise ablehnte. „Mit Trevor kann man gut auskommen“, versuchte Christian sie zu beruhigen. „Er ist nicht verbissen und nimmt das Leben eher von der lockeren Seite.“

Sie hob den Kopf und sah ihn ernst an. „Hoffentlich.“

„Glauben Sie mir. Außerdem bin ich der Meinung, dass Sie das alles bisher sehr gut verkraften. Wenn man bedenkt, dass man Sie einfach so ins kalte Wasser geworfen hat. Aber Sie sind eine gute Schwimmerin, was?“

„Ich glaube schon.“

Das klang schon zuversichtlicher. Und als sie jetzt entschlossen nach der Speisekarte griff, schien sie sich wieder ganz gefangen zu haben. Auch Christian nahm die Karte in die Hand, um Erica nicht ansehen zu müssen. Verdammt, warum hatte diese kleine, gut proportionierte Frau nur eine solche Wirkung auf ihn? Je länger er mit ihr zusammen war, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Und leider beschäftigte sie ihn nicht nur gedanklich. Auch sein Körper reagierte ganz unmissverständlich auf ihre Nähe.

Vielleicht weil sie unerreichbar für ihn war?

Das konnte er sich nicht vorstellen. Denn auch früher hatte es schon Mädchen gegeben, die für ihn tabu gewesen waren. Er und seine Mutter, die ihn allein aufgezogen hatte, hatten nie zu den besseren Gesellschaftsschichten gehört. Aber jetzt war er erwachsen und hatte sich selbst den notwendigen gesellschaftlichen Status erarbeitet. Jetzt hatte er die Auswahl. Aber das tröstete ihn leider nicht. Denn die einzige Frau, die er wirklich wollte, konnte er trotzdem nicht haben.

Zwei Stunden später saß Erica allein in ihrer Suite. Die Sonne war bereits untergegangen, es dämmerte, aber Erica bemerkte es nicht. Einerseits hatte sie bereits vor längerer Zeit die Stehlampe neben dem Sofa eingeschaltet, andererseits war sie ganz auf das konzentriert, was sie sich vorgenommen hatte. Christian hatte sich nach dem Essen entschuldigt, er habe noch viel bis zum folgenden Tag aufzuarbeiten. So hatte sie Zeit gehabt, auf eigene Faust ein paar Erkundigungen anzustellen. Im Souvenir-Shop des Hotels hatte sie alles an Büchern, Zeitschriften, Postkarten und Broschüren über die Gegend gekauft, was sie finden konnte, und um sich her auf der Couch ausgebreitet.

In dem Buch über die Geschichte des Hotels waren auch Fotografien des Gründers und seiner Nachkommen enthalten, und lange hatte Erica sich nicht von den Schwarz-Weiß-Fotos der Großeltern und des Vaters lösen können. Tatsächlich konnte sie Ähnlichkeiten zwischen sich und den nie gekannten Verwandten feststellen. Der Schnitt der Augen war der gleiche, ebenso auch die Linie des Mundes. Das war sehr seltsam und auf eine merkwürdige Weise auch tröstlich.

Ihre „neue“ Familie war größer, als sie gedacht hatte. Die ersten Vorfahren waren Abenteurer gewesen, die von einem neuen Leben geträumt hatten, das sie sich hier in der Wildnis mit eigenen Händen aufbauen wollten. Und nach und nach hatten sie sich diese Träume erfüllt. Und jetzt war sie Teil dieser Kette von Generationen. Wenn auch nur ein ganz kleines Glied.

Als jemand an die Tür klopfte, schrak Erica zusammen. Wer konnte das sein? Vielleicht Christian, der ihr das Hotel zeigen wollte. Schnell sprang sie auf, ordnete sich das Haar, strich sich die Bluse glatt und lief zur Tür. Christian … Bei dem Gedanken an ihn musste sie lächeln.

Doch als sie die Tür öffnete, stand nicht Christian davor, sondern eine junge Frau, die zwei Weinflaschen in den Händen hielt und an Erica vorbei ins Zimmer trat. „Rot oder weiß?“, fragte sie im Vorbeigehen.

„Bitte?“ Erica sah sie verwirrt an.

„Was trinkst du lieber, Rotwein oder Weißwein?“

„Äh … ich weiß nicht … das kommt darauf an …“

Die junge Frau lächelte sie strahlend an. „Vollkommen richtig. Ich bin übrigens deine Schwester Melissa. Ich habe zwei Flaschen Wein aus Guys Privatkeller gestohlen, damit wir unser Kennenlernen feiern können.“

Mit einer Frau wie Melissa Jarrod, die ihr so herzlich entgegenkam, konnte Erica sich nicht unbehaglich fühlen. Allerdings blickte sie etwas betreten auf ihren zerknautschten Rock, denn Melissa sah einfach hinreißend aus. Zu der schmalen schwarzen Jeans trug sie ein türkisfarbenes seidenes Oberteil und ein paar Sandaletten aus schmalen Lederriemen mit hohen Absätzen. Das lange blonde Haar trug sie offen, und die blauen Augen funkelten vor Vergnügen.

„Du hast den Wein gestohlen?“, fragte Erica verblüfft und schloss schnell die Tür.

„Warum nicht? Morgen wird Guy uns sicher die Hölle heiß machen, aber heute wollen wir feiern!“

Jetzt musste auch Erica lachen. „Hört sich gut an.“

„Nur damit du es weißt“, fügte Melissa fröhlich hinzu, „wenn wir beide von dem Wein trinken, trifft uns auch beide Guys Fluch. Aber wenn wir Schwestern zusammenhalten, sollten wir das ertragen.“

„Schwestern …“

Melissa krauste kurz die kleine Nase. „Ich weiß, das hört sich noch seltsam an. Aber wir beide werden ein Superteam bilden, das weiß ich ganz genau.“

Irgendwie schien die Last leichter zu werden, die Erica seit Christians Eröffnung auf den Schultern lag. Dass Melissa sie so herzlich willkommen hieß, ließ sie hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schwer werden würde, sich im Jarrod Ridge einzuleben.

„Und ich hoffe es“, erwiderte Erica mit Nachdruck. „Weißt du, ob ich in meiner neuen Küche auch Weingläser finden kann?“

„Oh, ja! Mir nach!“ Melissa warf lachend die blonde Mähne zurück und ging in Richtung Küche. „Da ich die Küche habe einrichten lassen, weiß ich ganz genau, dass Weingläser da sind. Dafür habe ich sogar persönlich gesorgt.“

„Wunderbar.“ Erica folgte ihr in die kleine Küche. „Ich kann uns Popcorn machen, also lass uns mit dem Weißen anfangen. Oder was meinst du?“

Melissa stellte beide Flaschen auf den Tresen. „Einverstanden. Guy hat den besten Sauvignon Blanc in ganz Colorado.“

„Und was wird er dazu sagen, dass wir uns selbst bedient haben?“

Melissa zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das werden wir herausfinden. Gemeinsam?“

„Ja, gemeinsam.“

Erica holte das Popcorn aus dem Schrank und tat es in die Mikrowelle. Melissa öffnete die Flasche Wein. Und sehr schnell waren die beiden Frauen in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Und als sie auch die zweite Flasche fast geleert hatten – es hatte sich noch eine Flasche Weißwein im Kühlschrank befunden –, waren sie beinahe schon so gut wie Freundinnen.

„Dein Popcorn schmeckt super.“ Melissa griff noch einmal in die Schüssel.

„Danke. Ich habe Christian gegenüber immerhin behauptet, dass ich kochen kann.“

„Und? War er beeindruckt?“ Melissa schüttelte lachend den Kopf. „Wahrscheinlich nicht. Das Einzige, was ihn beeindruckt, sind Abrechnungen, Akten und gerichtliche Verfügungen.“

„Kennst du ihn schon lange?“ Erica setzte sich auf die Couch und zog die Knie an.

Melissa ließ sich in die andere Ecke fallen. „Schon ewig. Bereits aus der Kindheit. Später war er dann hier angestellt, und Dad wollte nicht, dass seine Kinder freundschaftliche Kontakte mit Angestellten hatten. Aber wir haben uns natürlich trotzdem gesehen. Und die Brüder und er waren eigentlich immer Freunde. Und seit Christian Teenager war und sein erstes Geld verdiente, hat Dad ihn uns immer vorgehalten. Immer wieder hat er betont, wie gut wir es doch hätten, was uns alles geboten würde, ohne dass wir etwas dafür tun müssten, und dennoch würde uns Christian überrunden.“ Immer noch schien sie verärgert zu sein, denn sie runzelte kurz die Stirn, nahm dann aber einen Schluck Wein. „Wir waren oft ziemlich genervt von diesen Lobhudeleien. Wenn Christian nicht so nett gewesen wäre, hätte das auch anders ausgehen können.“

Sofort stellte sich Erica Christian als sehr jungen Mann vor, der versuchte, in der Welt der Jarrods Fuß zu fassen. Es sah so aus, als hätten er und sie eine ganze Menge gemein. Auch sie musste sich um Anerkennung in dieser Welt der Reichen und Schönen bemühen. Wie Christian wohl gelebt hatte, bevor er mit den Jarrods in Kontakt gekommen war? Und was genau war er für ein Mensch? Irgendwie ging er ihr nicht aus dem Kopf. Dabei hatte sie nun wirklich keine Zeit und auch nicht die Nerven herauszufinden, warum sie immer an ihn denken musste, geschweige denn, ob daraus etwas werden könnte. Allerdings hatte Christian bisher in keiner Form zu verstehen gegeben, dass er an ihr interessiert war.

„Dein Vater hat sich also für Christian eingesetzt. Und dann?“

Unser Vater“, korrigierte Melissa sie lächelnd. „Er hat ihn während des Studiums unterstützt. Und nach seinem Juraexamen hat er ihn angestellt. Und zwar als Firmenanwalt. Und das ist er auch heute noch. Unserem Vater konnte man nur schwer etwas abschlagen.“ Sie schwieg kurz und sah Erica neugierig an. „Ist es merkwürdig für dich, wenn ich immer von unserem Vater spreche?“

„Ja, allerdings.“ Merkwürdig? Das ist die größte Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Erica. Sie hatte noch nicht einmal angefangen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Und schon saß sie hier mit ihrer Schwester in einer vollkommen fremden Welt. Einfach verrückt. Dennoch freute sie sich, dass Melissa ihr so entgegengekommen war. „Obgleich du es mir sehr erleichterst.“

„Freut mich. Glaub mir, ich bin sehr froh, dass endlich noch eine Frau zu unserem Klan gehört.“ Wieder lachte sie schallend.

„Danke.“ Das meinte Erica von Herzen. Alles war so neu und irgendwie einschüchternd für sie, dass es ihr guttat, wenigstens einen Menschen auf ihrer Seite zu wissen. Dass Melissa ihre Partei ergriff, konnte Erica gut verstehen. Was hätte sie nicht alles dafür gegeben, mit einer Schwester aufzuwachsen, die sie in den Auseinandersetzungen mit den älteren Brüdern hätte unterstützen können?!

„Und was soll das hier alles?“ Melissa wies auf die Broschüren, Bücher und Prospekte.

„Ich will mich über das Jarrod Ridge informieren.“

„Da gibt es eine sehr viel einfachere Möglichkeit. Frag mich.“ Melissa hob ihr Glas, prostete Erica zu und trank einen Schluck.

„Das werde ich tun, sobald ich weiß, was ich wissen will.“

„Gut. Übrigens hat Christian mir erzählt, dass du für eine PR-Agentur gearbeitet hast.“

„Ja. Und so was Ähnliches soll ich hier auch machen.“

„Dann wirst du wohl mit Trevor zusammenarbeiten. Mit dem kommst du bestimmt gut aus. Er regt sich nicht so schnell auf wie die übrige Bande.“

„Guy habe ich heute Nachmittag schon kennengelernt.“

„Und, wie war er?“

„Kühl, aber höflich.“

„Ja, das ist typisch. Er ist der vernünftigere der Zwillinge. Blake rastet eher mal aus. Aber er wird sich schon an die veränderte Situation gewöhnen. Du darfst dich von ihm nur nicht einschüchtern lassen.“

Das hörte sich nicht gerade vielversprechend an. Aber immerhin wusste Erica jetzt, dass sie sich innerlich für die Begegnung mit Blake Jarrod wappnen musste, denn vermeiden ließ sie sich leider nicht. Doch als einziges Mädchen mit drei älteren Brüdern war sie daran gewöhnt, sich behaupten zu müssen. „Ich bin jetzt nun mal hier, und da bleibe ich. Wenn es Blake nicht gefällt, dann ist das seine Sache.“

„Das ist die richtige Einstellung.“ Melissa strahlte sie an. Offenbar gefiel ihr, dass ihre neue Schwester Schwierigkeiten nicht aus dem Weg ging.

Wenn sie wüsste … Innerlich war Erica keinesfalls so stark, wie es nach außen den Anschein hatte. Aber sie würde es schon schaffen, sie musste einfach.

„Und dann gibt es noch Gavin.“ Melissa lächelte aufmunternd. „Er ist gefühlsmäßig ziemlich verschlossen, wird dir also keine größeren Probleme machen. Aber du darfst nicht erwarten, ihn lächeln zu sehen.“

„Hört sich ganz so an wie meine älteren Brüder.“

„Ach ja, Christian hat mir erzählt, dass du auch das einzige Mädchen in der Familie bist. Was haben denn deine Brüder zu der Geschichte gesagt?“

„Sie haben versucht, mir die ganze Sache auszureden. Wie übrigens auch mein Va…“, sie stockte und fuhr dann fort, „wie Walter.“

Melissa strich ihr tröstend über die Hand. „Das ist alles sehr verwirrend, was?“

„Ja, irgendwie schon.“

„Dennoch, auch wenn mein Vater dich gezeugt hat, so ist es doch Walter, der dich aufgezogen hat“, sagte Melissa leise.

„Ich weiß, es ist nur …“ Wie sollte sie etwas erklären, das ihr selbst noch unklar war? Wie mit dem Schuldgefühl zu leben, dass sie sich von dem Mann abgewandt hatte, bei dem sie aufgewachsen war? Selbst wenn sie nie den Eindruck gehabt hatte, dass er sie liebte.

„Dann seid ihr euch sehr nah gewesen, Walter und du?“

„Nein.“ Auch wenn sie es sich immer gewünscht hatte. „Und wie ist es mit dir und deinem Dad gewesen?“

„Eigentlich auch nicht.“ Melissa seufzte leise. „Als meine Mutter starb, war ich erst zwei. Und mein Vater wusste nicht recht, was er mit mir anfangen sollte. So tat er eben gar nichts. Ich weiß, das hört sich beinahe kitschig an: das arme kleine reiche Mädchen. Aber eins ist sicher, Erica. Du kannst von Glück reden, dass du nicht hier aufgewachsen bist.“

„Immerhin hast du hier deine Kindheit verbringen können. In dieser wunderschönen Umgebung.“

„Auch ein goldener Käfig ist immer noch ein Käfig.“ Melissa senkte den Blick, als wolle sie Erica nicht zeigen, was in ihr vorging. Und Erica war unsicher, wie sie sie trösten sollte und ob Melissa für Mitgefühl überhaupt empfänglich war. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass das bei alten Wunden oft nicht half, im Gegenteil. Also schwieg sie und wartete, bis Melissa sich wieder gefangen hatte. Glücklicherweise dauerte das nicht allzu lange.

Die Schwester hob den blonden Kopf. „Aber das sind alles alte Geschichten. Es wird Zeit, dass wir nach vorn blicken. Also, wie wäre es, wenn wir uns gemeinsam an die Gestaltung einer neuen Angebotsbroschüre für das Wellness-Center machen?“ Sie nahm einen Prospekt hoch und betrachtete ihn missmutig. „Dieser ist so wahnsinnig öde. Ich stelle mir etwas Witziges und Spritziges vor, was den Gästen Lust macht, das Spa aufzusuchen. Außerdem müssen noch die Yogaklassen in das Angebot aufgenommen werden. Ich bin nämlich Yogalehrerin. Machst du Yoga?“

Melissa plapperte so fröhlich drauflos, dass Erica lachen musste. Es tat gut, nicht mehr über ihre traurigen Familiengeschichten sprechen zu müssen. „Yoga? Nein. Ich bin nicht so gelenkig. Aber ich habe große Lust, eine neue Broschüre mit dir zu entwerfen. Sofern mir die Vorbereitungen für die Food and Wine Gala Zeit dazu lassen.“

„Ach ja, daran habe ich gar nicht gedacht.“ Melissa war enttäuscht. „Aber sowie du das im Griff hast, kümmern wir uns um meine Sache, ja?“

„Sehr gern.“

„Gut, das wäre dann klar.“ Melissa hob ihr Glas und prostete Erica zu. „Auf uns! Nicht nur Schwestern, sondern auch Freundinnen!“

Erica stieß mit ihr an. „Auf uns!“ Wenn die Begegnung mit den Brüdern nur halb so angenehm ablaufen würde, wäre sie, Erica, mehr als erleichtert.

6. KAPITEL

Tief in Gedanken versunken betrat Gavin am nächsten Morgen das Hotel, um das erste Mal mit seiner neuen Schwester Erica Prentice in Christians Büro zusammenzutreffen.

Schwester?

Wieso eigentlich? Sie war eine Fremde, die mehr oder weniger zufällig ein paar Jarrod-Gene abbekommen hatte. Zwar wusste er, dass auch ihr aufgrund des Testaments des Vaters keine andere Wahl geblieben war. Aber deshalb musste er noch lange nicht akzeptieren, dass sie sich hier breitmachte. Auch wenn er selbst alles andere als glücklich war, dass der Alte ihn hierherzitiert hatte. Aber das hatte seine Gründe. Dieses Haus weckte viele Erinnerungen in ihm, gute wie schlechte. Wahrscheinlich amüsierte sich der Vater jetzt, wo auch immer er war, darüber, dass sich seine Kinder mit dem Testament herumschlagen mussten.

„Typisch für ihn“, murmelte Gavin vor sich hin, während er die Lobby durchquerte, in der auch schon um diese Tageszeit fröhliches Stimmengewirr zu hören war. Als er den langen Flur betrat, der zu Christians Büro führte, hatte er Mühe, seinen Zorn darüber zu unterdrücken, dass er wieder hier war. Er hatte sich fern vom Jarrod Ridge sein eigenes Leben aufgebaut, und das hatte der Vater genau gewusst. Offenbar hatte es ihm großes Vergnügen bereitet, die Pläne seiner Kinder zu durchkreuzen. Und das war dem Alten weiß Gott gelungen! Wütend biss Gavin die Zähne zusammen.

Mit Guy und Melissa hatte er bereits über die neue Schwester gesprochen. Und während Guy sich bedeckt gehalten hatte, hatte sich Melissa von der neuen Entwicklung begeistert gezeigt und in den höchsten Tönen von Erica Prentice gesprochen. Nun gut, er, Gavin, würde sich seine eigene Meinung bilden und damit auch nicht hinter dem Berg halten. Schließlich war er nicht so feige wie Blake. Blake war absichtlich nach Las Vegas geflogen, um bei Ericas Ankunft nicht da zu sein. Trevor dagegen sollte sich an diesem Morgen auch in Christians Büro einfinden, aber bei ihm wusste man nie so genau, ob er einen vereinbarten Termin auch einhielt.

Doch zu Gavins Überraschung war Trevor bereits da. Der jüngste der Brüder stieß sich von der Wand ab und hob die Hand zum Gruß.

„Hallo, Trevor. Schön, dass du da bist.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich kommen würde.“

Gavin grinste. „Und du tust immer, was du versprochen hast?“

„Ja. Was dagegen?“

„Oh, nein. Aber wird dir ein solch fremdbestimmtes Leben nicht langweilig?“

„Nein, ich …“ Trevor begriff, dass Gavin ihn nur aufzog, und ärgerte sich, dass er immer wieder darauf hereinfiel. Er bewunderte den ältesten Bruder, als Kind hatte er ihn geradezu angebetet. Aber später dann hatte er gemerkt, dass der Bruder ein recht eingefahrenes Leben führte und eine grundsätzliche Veränderung sehr gut brauchen könnte. Dass Gavin hier ins Jarrod Ridge hatte zurückkehren müssen, war schon mal der erste Schritt. Aber in seinem Leben musste noch mehr passieren. Der Bruder wirkte einfach zu verkrampft, zu angespannt, und das bedauerte Trevor sehr. Er selbst nahm alles, wie es kam, und hatte keine Probleme, sich auf neue Situationen einzustellen.

Dass der Vater die Geschwister wieder ins Jarrod Ridge zurückzitierte, hatte Trevor nicht weiter bekümmert, im Gegenteil. Er wohnte sowieso in Aspen, hatte hier auch seine Firma und seine Freunde und liebte Bergsteigen und Skifahren. Und er freute sich, dass die Schwester und die Brüder nun wieder in der Nähe waren.

Was die neue Schwester betraf, so war er vollkommen unvoreingenommen und bereit, ihr erst einmal freundlich zu begegnen. Schließlich war es ja nicht ihr Fehler, dass Don Jarrod ihr Vater war.

„Bist du bereit, diese … Erica kennenzulernen?“, fragte Gavin in düsterem Tonfall.

Trevor lachte kurz auf. „Das hört sich ja an, als sollten wir gleich aufs Schafott geführt werden.“

„Das nicht. Aber du brauchst deswegen auch nicht gleich ein Freudenfest zu veranstalten!“

„Wieso? Es ist doch ein eher freudiger Anlass, Mann. Endlich lernen wir unsere Schwester kennen, die Dad uns so lange vorenthalten hat. Da könntest du ruhig mal ein Lächeln aufsetzen.“

„Du lächelst sowieso schon genug. Das langt für zwei.“

„Du bist ein hoffnungsloser Fall, Bruder. Kannst du dir nicht vorstellen, dass die Situation für sie noch schwieriger ist als für uns?“

„Na ja, vielleicht“, gab Gavin zu und ging mit Trevor zusammen die letzten Schritte bis zu Christians Büro. Da der Anwalt keine eigene Sekretärin hatte, die ihn vor ungebetenen Besuchern schützen konnte, öffnete Trevor selbst die Tür, nachdem er kurz angeklopft hatte. Die beiden Brüder traten ein.

Christian hob den Kopf von den vor ihm liegenden Schriftstücken und lächelte den beiden zu. „Sie ist noch nicht da.“

„Aha, sie kommt zu spät“, stellte Gavin befriedigt fest.

„Nein“, widersprach Trevor gleich und sah den Bruder tadelnd an. „Wir sind zu früh.“ Er ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen und blickte Christian neugierig an. „Na, wie ist sie, diese neue Jarrod?“

Langsam lehnte Christian sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete die beiden Männer aufmerksam. Gavin hatte sich nicht gesetzt, sondern stand aufrecht vor dem Schreibtisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Trevor dagegen wirkte vollkommen entspannt. Da er hoffte, dass der jüngste Bruder einen besänftigenden Einfluss auf den ältesten ausüben würde, hatte Christian beide zur selben Zeit zu sich bestellt.

„Ja, wie ist sie …“ Bei dem Gedanken an Ericas Augen, den schön geschwungenen Mund, die zierliche sexy Figur und daran, wie sehr er sie begehrte, musste er lächeln. Aber so konnte und wollte er sie nicht beschreiben. „Sie ist intelligent, hat einen guten Sinn für Humor und scheint viel innere Stärke zu besitzen. Aber verständlicherweise ist sie nervös. Na ja, wer wäre das nicht in ihrer Lage. Doch ich habe den Eindruck, sie ist entschlossen, die Sache durchzuziehen.“

„Warum ist das so wichtig für sie?“ Gavin nahm die Arme herunter und stützte sich auf dem Schreibtisch ab.

„Da kann ich nur raten. Ihr Verhältnis zu dem Mann, der ihr seinen Namen gab, war so ähnlich wie eures zu eurem Vater. Er hat sie aus dem Familienunternehmen ausgeschlossen, und nun hat sie sich vorgenommen, sich hier einzusetzen. Jetzt, da sie hier eine neue Familie gefunden hat.“

„So, das hat sie sich also vorgenommen …“

„Ja, Gavin. Ihr ist klar, dass ihr sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen werdet. Aber das ist nichts Neues für sie. Das war sie von den Prentice-Brüdern nicht anders gewohnt.“

„Also wird sie sich nicht abschrecken lassen, auch wenn wir uns ekelhaft benehmen? Dann könnten wir ja auch nett zu ihr sein, was, Gavin?“ Trevor lächelte den Bruder zuckersüß an.

„Genau.“ Christian hoffte, dass die Jarrods Erica die Chance gaben, die sie verdiente. „Sie trifft keine Schuld an der ganzen Sache. Wenn ihr sauer seid, dass euer Vater eine Affäre mit ihrer Mutter hatte, dann seid auf euren Vater sauer und nicht auf sie.“

Gavin richtete sich wieder auf. „Ich habe ja nicht gesagt, dass ich ihr deshalb Vorwürfe mache“, erwiderte er zögernd. „Es ist nur eine schwierige Situation. Für jeden von uns.“

„Ja, das stimmt“, warf Erica leise ein. Sie stand in der Tür und beobachtete die drei.

Christian sprang auf. „Erica!“ Sie warf ihm ein kurzes Lächeln zu, viel zu kurz für seinen Geschmack. Warum hatte sie nur eine solch unglaubliche Wirkung auf ihn? Immer wieder musste er voller Sehnsucht an sie denken, auch wenn er sich noch so oft sagte, dass er beim Jarrod Ridge angestellt und sie für ihn tabu war, weil sie zur Familie gehörte.

Jetzt stand auch Trevor betont lässig auf und wandte sich mit Gavin der neuen Schwester zu.

„Entschuldigung.“ Energischen Schrittes betrat sie den Raum. „Ich wollte das Gespräch nicht unterbrechen. Aber da es sowieso um mich ging, dachte ich, ich könnte die Gelegenheit gleich nutzen und mich vorstellen.“

Beide Jarrods sahen sie überrascht an, Gavin eher verlegen, als überlege er, ob er eventuell etwas Unpassendes gesagt hatte. Trevor nickte anerkennend.

Christian kam um den Schreibtisch herum und stellte sich neben Erica, als wolle er sie schützen. „Dies hier sind Ihre Brüder Gavin und Trevor.“

Sie lächelte Trevor freundlich an und wandte sich dann Gavin zu. Eine Zeit lang maßen sie sich mit Blicken, und Christian konnte die Spannung spüren, die zwischen ihnen herrschte. Am liebsten hätte er einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als Gavin schließlich die Hand ausstreckte und sagte: „Willkommen, Erica.“

Sekundenlang zögerte sie, dann gab sie ihm die Hand und sah ihn ernst an. „Ich habe dich sagen hören, dass das Ganze schwierig sei, und du hast recht. Aber glaub mir, für mich ist die Situation genauso kompliziert wie für euch.“

„Ich weiß.“ Trevor trat auf die beiden zu. „Wir sind alle ziemlich angespannt und vielleicht manch einer auch wütend, weil wir wieder ins Jarrod Ridge zurückkehren mussten. Da urteilt man auch in anderen Dingen nicht immer korrekt.“

„Das verstehe ich.“

Wieder bewunderte Christian sie für die Art und Weise, in der sie den Brüdern begegnete, obwohl sie wusste, dass die nicht übermäßig froh über diesen Familienzuwachs waren. Aber ob sie nun freudig aufgenommen wurde oder nicht, ihr gebührte ein Platz in der Familie der Jarrods. Sie war jetzt eine von ihnen. Und der alte Don hatte alle seine Kinder hier versammeln wollen.

„Sowie du dich ein bisschen eingelebt hast, komm bitte in mein Büro“, sagte Trevor. „Vielleicht hast du schon gehört, dass die Food and Wine Gala sozusagen vor der Tür steht. Wir haben zwar schon das meiste vorbereitet, was Marketing und PR betrifft, aber zum Ende hin ist doch immer noch eine ganze Menge zu tun.“

„Gern.“ Erica nickte ihm freundlich zu. „Die Gala hier in Aspen war auch in San Francisco Gesprächsthema, aber ich selbst bin nie hier gewesen. Umso mehr freue ich mich, dass ich diesmal bei den Vorbereitungen helfen kann. Melissa hat mir gestern so einiges über das berichtet, was du machst, und ich war sehr beeindruckt.“

Trevor lächelte geschmeichelt.

„Allerdings habe ich auch noch ein paar Vorschläge“, fuhr sie fort, und er hob überrascht die Augenbrauen.

„So? Umso besser. Für neue Ideen bin ich immer zu haben. Wie wäre es mit morgen?“

„Morgen passt gut.“

„Ich weiß, es ist für dich nicht einfach“, mischte Gavin sich jetzt ein. „Plötzlich bist du mit etwas konfrontiert, von dessen Existenz du vor einer Woche noch nichts wusstest.“

„Ja, es ist nicht einfach.“

„Ich hatte mir fest vorgenommen, dich nicht zu mögen“, gab er zu und lächelte versöhnlich, als er sah, wie Erica zusammenzuckte. „Aber ich habe sehr viel Respekt vor jemandem, der sich nicht unterkriegen lässt und für sich selbst einsteht.“

„Und ich habe großen Respekt vor jemandem, der seine Familie schützen will.“ Sie seufzte leise. „Mein ganzes Leben lang habe ich für mich selbst einstehen müssen. Da bin ich bei den Prentices durch eine harte Schule gegangen.“

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Gavin freundlich. „Und ich bin sicher, du wirst dir hier deinen Platz erobern … Schwesterchen.“

Überrascht sah Erica ihn an und lächelte zaghaft. Noch traute sie sich nicht, jegliche Vorsicht außer Acht zu lassen. Die beiden Brüder nickten ihr noch einmal kurz zu und verließen dann den Raum.

Als sie die Tür ins Schloss zogen, fuhr Christian leicht zusammen. Er war ganz in den Anblick dieser mutigen jungen Frau versunken, die jetzt den Blick aus ihren großen Augen auf ihn richtete. Offenbar war sie zufrieden, wie sie die Situation gehandhabt hatte, und das konnte sie auch wirklich sein!

Absichtlich hatte er das Treffen so gelegt, dass er anwesend war, wenn sie den Brüdern das erste Mal begegnete. Nicht dass er den Brüdern zutraute, wirklich unhöflich zu sein. Dazu waren sie zu gut erzogen. Aber er wollte da sein, damit sie seine Unterstützung spürte. Warum das so war, wollte er lieber gar nicht wissen.

Sie war immer noch nervös, aber die anderen hatten ganz sicher nichts bemerkt. Seltsam, er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, ihr vom Gesicht ablesen zu können, was in ihr vorging. Bei ihrem ersten Treffen war sie sehr offen gewesen. Doch auch jetzt brauchte er ihr nur in die Augen zu sehen, um zu wissen, was sie empfand. Obgleich sie den Kopf in den Nacken warf und sehr aufrecht dastand, sah er ihr an, dass sie immer noch gegen ihre Ängste ankämpfte. Offenbar mit Erfolg, sonst hätte sie den Brüdern gegenüber nicht so ihren „Mann“ stehen können. Er bewunderte sie maßlos dafür. Beinah so sehr, wie er sie begehrte.

Ständig musste er an sie denken. Nachts träumte er von ihr. Noch nie hatte er sich derart zu einer Frau hingezogen gefühlt, noch nie hatte eine ihn dermaßen erregt. Und je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto drängender wurde sein Verlangen.

„Das ist ja ganz gut gegangen“, sagte sie leise und seufzte erleichtert auf.

„Allerdings. Ich glaube, Sie haben die beiden sehr beeindruckt.“

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. „Das war aber nicht meine Absicht.“

„Deshalb ist es Ihnen wohl auch so gut gelungen. Sie waren ganz Sie selbst. Und innere Stärke hat die beiden schon immer beeindruckt.“

Sie lachte leise. „Gut, dass sie nicht sehen konnten, wie mir die Knie gezittert haben.“ Langsam ging sie zu dem Fenster hinter Christians Schreibtisch und blickte auf die weite Rasenfläche, die sich bis zu den Bergen zu erstrecken schien. „Sie haben dieses Treffen absichtlich so gelegt, dass ich den beiden nicht plötzlich und unvorbereitet gegenüberstehe, oder?“

„Ja. Ich dachte, es wäre einfacher für Sie, wenn ich dabei bin.“

Sie wandte sich um und sah ihm direkt in die Augen. „Das war es auch. Danke.“

Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, um sie nicht in die Arme zu ziehen und so lange zu küssen, bis sie beide außer Atem waren. „Das habe ich gern getan. Jetzt haben Sie nur Blake noch nicht kennengelernt. Er soll in ein paar Tagen zurückkommen.“

„Nach dem, was so über ihn gesagt wird, bin ich nicht wild darauf, ihm zu begegnen.“

„Blake ist ganz in Ordnung“, versuchte Christian sie zu beruhigen und trat näher an sie heran. „Die ganze Situation passt ihm nicht. Aber er weiß, dass das nicht Ihre Schuld ist.“

„Immerhin …“ Sie senkte den Kopf, hob ihn dann aber wieder langsam und sah Christian fragend an. „Was meinen Sie? Sie sind ja so etwas wie ein objektiver Beobachter bei der ganzen Sache. Glauben Sie, dass etwas daraus werden kann?“

„Dass Sie alle gut miteinander auskommen, meinen Sie? Ja, davon bin ich überzeugt. Sie haben sich doch schon sehr gut eingeführt. Melissa mag Sie. Und Ihre Brüder sind auf dem besten Weg dahin.“

Zweifelnd schüttelte Erica den Kopf, sodass ihr das weiche glänzende Haar in weichen Wellen über die Schultern fiel. Schnell schob Christian die Hände in die Taschen, um nicht in Versuchung zu geraten, ihr die Finger in das weiche Haar zu schieben, ihren Hinterkopf zu umfassen und sie auf die verführerischen Lippen zu küssen.

„Warum sind Sie eigentlich auf meiner Seite?“, unterbrach Erica ihn wieder in seinen gefährlichen Fantasien. „Melissa hat erzählt, dass Sie die Familie schon ewig kennen. Außerdem waren Sie Don Jarrods Anwalt. Man würde denken, dass Sie eher die Partei der Familie ergreifen als meine.“

Er lehnte sich gegen die Schreibtischplatte. „Es war nicht leicht, Don Jarrod zu durchschauen. Er hat mir geholfen, als ich als Teenager Geld brauchte. Er hat mir diese Stellung angeboten, als ich mein Juraexamen in der Tasche hatte. Aber deshalb habe ich ihm nicht meine Seele verkauft. Für wen ich Partei ergreife, ist immer noch meine Sache.“

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, sah sie ihn lächelnd an. „Und Sie haben sich dazu entschlossen, mein Verbündeter zu sein?“

„Ja.“

„Warum?“

„Müssen Sie das unbedingt wissen?“

„Warum nicht?“

Kurz hob er die Schultern und ließ sie wieder fallen. Was sollte er darauf antworten? Er wollte, dass sie ihm vertraute. Aber er traute sich selbst nicht über den Weg, wenn er in ihrer Nähe war. Er wollte mehr für sie sein als nur ihr Freund oder ihr Verbündeter. Aber wenn er diesem Verlangen nachgab, setzte er alles aufs Spiel, was er sich bisher erarbeitet hatte. „Ich kann nicht mehr sagen, als dass ich mir selbst treu sein muss. Ich bin auf Ihrer Seite, weil ich derjenige bin, der Ihr ganzes Leben durcheinandergebracht hat. Auch wenn es zu meinem Job gehörte.“

„Dann fühlen Sie sich für mich verantwortlich? Aber das brauchen Sie nicht. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Das habe ich gemerkt“, sagte er und lächelte gezwungen. „Aber jetzt will ich hier raus. Hätten Sie Lust, die ganze Anlage kennenzulernen?“

„Ja, sehr.“ Lächelnd hakte sie sich bei ihm unter und verließ mit ihm das Büro.

Sie waren stundenlang unterwegs, so kam es Erica wenigstens vor. Von dem, was Christian ihr zeigte, war sie vollkommen überwältigt. Nie hatte sie so etwas Schönes wie diese Anlage gesehen. Und dass ihr ein Teil dieses alten Besitzes gehörte, machte sie stolz und demütig zugleich.

Das Jarrod Ridge war wie eine kleine Stadt. Schmale Straßen und reine Fußwege wanden sich durch farbenfrohe Blumenbeete. Bungalows in allen Größen, von kleinen Blockhütten bis zu luxuriösen Cottages, waren in großzügigen Abständen in die Landschaft eingefügt. In Christians Haus hatten die beiden kurz Station gemacht, und Erica war begeistert. Alles passte zusammen, die hellen Holzwände und der große Kamin aus Natursteinen, der schimmernde Eichenboden und die schweren Ledermöbel. Von dem großen Küchenfenster aus hatte man einen atemberaubend schönen Blick auf Wald und Berge. Erica konnte sich sehr gut vorstellen, in einem der bequemen Schaukelstühle auf der hinteren Terrasse ganze Abende zu verbringen.

Nachdem sie sein Haus gesehen hatte, konnte sie sich ein besseres Bild von dem Mann Christian Hanford machen, und was sie entdeckt hatte, gefiel ihr sehr gut. Überall herrschte eine gewisse Ordnung, ohne dass er übertrieben penibel zu sein schien. Die Küche war gut eingerichtet – ein Hinweis darauf, dass er wenigstens hin und wieder kochte. Auf den Familienfotos an der Wand war er häufig mit seiner Mutter zu sehen. Offenbar bedeutete ihm Familie viel. Nach dem Besuch in seinem Haus klopfte ihr Herz noch schneller, wenn sie an ihn dachte. Und sie konnte nichts dagegen tun.

Nur zu gern hakte sie sich wieder bei ihm unter, als er ihr den Arm reichte, um sie weiter herumzuführen. Er zeigte ihr die Häuser von Gavin und Melissa, die Souvenir-Shops, die Boutiquen, die Bäckerei und das Eiscafé. Natürlich hatte das Jarrod Ridge auch Pools, sogar drei. Einen für Kinder, einen großen Außenpool und ein Schwimmbad im Haupthaus. Die Tennisplätze waren gut besucht, Kinder spielten überall auf den gepflegten Rasenflächen, und die älteren Gäste saßen auf den Bänken und sahen den Kindern beim Spielen zu. Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel, ja, es war beinahe zu vollkommen.

Das galt auch für den Mann an ihrer Seite. Erica warf Christian einen kurzen Blick zu. Zu der schwarzen Jeans mit den schwarzen Stiefeln trug er ein weißes Hemd, dessen Ärmel er lässig aufgerollt hatte. Dieser Aufzug gefiel ihr fast noch besser als die Anzüge, die er sonst trug. Denn er bewies, dass Christian es nicht nötig hatte, sich elegant zu kleiden. Auch so spürte man seine starke Persönlichkeit. Er war sehr, sehr sexy …

Auch wie er mit den Menschen umging, die ihnen begegneten, beeindruckte sie. Er lächelte, winkte ihnen zu und war immer zu einem freundlichen Gespräch bereit. Wenn er Erica den Angestellten vorstellte, war er höflich und zuvorkommend, gleichgültig ob es sich um ein Zimmermädchen oder einen hochrangigen Manager handelte. Von ihrem Vater war sie anderes gewohnt. Er ließ andere seine Überlegenheit immer sehr deutlich spüren und behandelte seine Untergebenen entsprechend. Nie wäre er auf die Idee gekommen, einen Freund und eine Hausangestellte miteinander bekannt zu machen. Christian war in diesem Punkt vollkommen anders. Aber vielleicht fühlte sie sich auch nur deshalb so zu ihm hingezogen, weil er für sie hier in dieser immer noch fremden Umgebung das vertrauteste Gesicht war? Doch sie brauchte nur an ihr schnell klopfendes Herz zu denken und wusste, dass es dafür viele andere Gründe gab.

„Na, was sagen Sie?“

Sie blickte zu ihm hoch. Der Wind blies Christian das kurze Haar in die Stirn, was ihm etwas Verwegenes gab. Ihr wurde der Mund trocken, und sie musste sich kurz räuspern. „Äh … Es ist, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es ist einfach überwältigend schön.“

Er warf ihr ein Lächeln zu, bei dem ihr der Atem stockte, und wies in die Ferne. „Dahinten liegen noch die Ställe, daneben eine Koppel, und in den angrenzenden Wäldern gibt es viele Reitwege. Die Tennisplätze haben wir bereits gesehen, und natürlich gibt es auch einen Golfplatz. Der liegt allerdings ganz am hinteren Ende.“

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Das Ganze ist tatsächlich wie eine kleine Stadt in der Stadt angelegt.“

„Ja, das war auch Dons Absicht. Es gibt sogar eine Arztpraxis. Dr. Joel Remy und eine Krankenschwester sind jederzeit für die Gäste da. Ernste Fälle werden natürlich in das Krankenhaus von Aspen eingeliefert.“

„Dann haben wir sogar unsere eigene Krankenstation, Donnerwetter.“

„Ist Ihnen aufgefallen, dass Sie das erste Mal das Wort ‚unsere‘ benutzt haben?“, fragte er leise. „Bedeutet das, dass Sie sich schon ein bisschen mehr als Teil des Ganzen fühlen?“

Verblüfft sah sie ihn an. „Habe ich das? Dann muss es wohl so sein. Das alles ist sehr aufregend für mich, aber auch sehr schön.“

„Das kann ich mir vorstellen. Und ich bin sicher, dass Sie sich hier gut einleben werden.“

„Ja.“ Ihre Augen glänzten. „Davon bin ich allmählich auch überzeugt. Auf alle Fälle bin ich fest entschlossen.“

„Wissen Sie, so seltsam es sich anhört, aber ich hatte mir schon sehr früh vorgenommen, dass ich hier eines Tages dazugehören wollte.“ Er blickte wie abwesend in die Ferne.

„Aber warum?“, fragte sie leise.

Er wandte sich ihr wieder zu und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin hier aufgewachsen. Das heißt, in Aspen. Aber schon als Teenager habe ich als Aushilfe im Restaurant gearbeitet.“ Ohne dass es ihm recht bewusst war, warf er einen Blick auf das prächtige Haupthaus. „Ich habe dieses Haus immer geliebt.“ Wieder schwieg er und starrte vor sich hin, als wolle er seine Gedanken sammeln. „Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war. Meine Mom hat ihr Leben lang gearbeitet. Es war nicht leicht für sie.“

Erica nickte. „Das glaube ich gern.“

„Wie auch immer …“ Er holte tief Luft. „Ich wusste genau, was ich wollte. Ich wollte hierhergehören, wollte für dieses Hotel arbeiten, wollte ein Teil sein. Deshalb habe ich mich in der Schule sehr angestrengt, bekam später ein Stipendium, sodass ich zum College gehen und später mit Dons Hilfe Jura studieren konnte.“

„Warum hat er Ihnen geholfen?“ Hier ging es um ihren Vater, und das interessierte sie besonders.

„Ehrlich gesagt weiß ich das gar nicht so genau. Man wurde aus Don nie schlau, wusste nie, warum er etwas tat oder unterließ. Ich vermute, er war der Meinung, ich könnte ihm hier nützlich sein.“

„Das hört sich logisch an.“

„Ja, aber man wusste bei Don nie, woran man war. Doch eins ist klar: Ich habe es zu einem großen Teil ihm zu verdanken, dass ich ein ziemlich guter Anwalt geworden bin.“ Er lächelte verlegen. „Ich meine, jemand, der ihm wirklich dabei helfen konnte, das Resort zu dem zu machen, was es heute darstellt.“

„Dann haben Sie genau das erreicht, was Sie wollten. Sie sind ein wichtiger Teil des Ganzen. Sie haben sich hier Ihren Platz erobert.“

„Ja, das stimmt. Und ich schulde Don viel …“ Er lachte kurz und trocken auf. „… woran er mich selbst nach seinem Tod immer wieder erinnert.“

„Wieso? Inwiefern?“ Fragend sah sie ihn an. Offenbar gab es etwas, das ihn schwer bedrückte.

„Das hat mit meinem Arbeitsvertrag zu tun, in dem einige Passagen stehen, die er selbst in seinem Testament noch einmal wiederholt hat. Damit ich sie auch ja nicht vergesse!“

„Worum geht es denn da?“ Irgendwie hatte sie so eine Vorahnung, ihr würde nicht gefallen, was er ihr gleich sagen musste.

Christian sah ihr direkt in die Augen. „Ich darf meine Anteile am Jarrod Ridge nicht verkaufen. Damit wollte er sich meine absolute Loyalität sichern.“

„Das ist doch irgendwie verständlich, oder?“

„Außerdem darf ich keine engere Beziehung mit seinen Töchtern eingehen.“

Autor

Kathie De Nosky
<p>Kathie DeNosky stellt ihren Wecker oft auf 2 Uhr morgens, um wenigstens einige Stunden in Ruhe arbeiten zu können, bevor der Rest der Familie erwacht. Während dann in ihrem Büro leise Countrymusik erklingt, schreibt sie an ihren Romances, denen eine ganz besondere Mischung aus Sinnlichkeit und Humor zeigen ist. Sie...
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