Stürmische Herzen im Herbst

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Getarnt als Zofe, verschafft Amy sich Einlass auf Lyndhurst Chase. Sie sucht ihren Bruder - und entdeckt stattdessen einen unbekleideten Fremden im Ankleidezimmer des Gastgebers. Gegen ihren Willen spürt sie ein erregendes Prickeln beim Anblick dieses geheimnisvollen Mannes …


  • Erscheinungstag 14.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504607
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Amy Devereaux blieb vor der Schlafzimmertür des Hausherrn stehen und lauschte. Nichts. Wie zu vermuten gewesen war. Der Major nahm gerade mit seinen Gästen das Dinner ein. Vor weniger als fünf Minuten hatte sie seinen Diener im unteren Stockwerk gesehen. Er hatte es sich mit einem Krug Bier am Küchentisch gemütlich gemacht. Und da der bedauernswerte Anthony Lyndhurst keine Frau hatte, die ihm das Bett anwärmte, gab es niemanden, der Grund hatte, sich in seinem Schlafzimmer aufzuhalten.

Doch noch immer zögerte Amy.

Sie fasste sich an die hässliche große Haube, um sich zu vergewissern, dass sie noch fest saß. Ein kleines Haarbüschel war gerade über ihrem rechten Ohr herausgerutscht. Rasch schob sie es unter die Haube zurück. Niemand durfte ihr Haar zu Gesicht bekommen, dessen leuchtend blonde Farbe unvergesslich war. Ebenso wie ihre violettblauen Augen, die sogar noch hinter den dicken Brillengläsern auffielen. Sowohl die Haare als auch die Augen konnten die Aufmerksamkeit der Herrschaften auf sie lenken, die nach Möglichkeit durch sie hindurchsehen sollten, wie sie es beim Personal normalerweise taten. Auffälligkeit war für ihre Rolle als Amelia Dent, erstklassige Zofe der noblen Countess of Mardon, katastrophal.

Ihr Herz raste. Amy fasste nach dem Türgriff und drückte ihn nach unten. Unter ihren feuchten Händen entglitt ihr der Griff. Sie war furchtbar nervös. Eilig wischte sie sich die Finger am Rock ihres unscheinbaren weiten Kleides ab.

Tief durchatmen. Öffne die Tür. Geh hinein, als ob du jedes Recht hättest, dich dort aufzuhalten. Sollte sich jemand darin befinden, musst du bloß behaupten, du suchtest nach deiner Herrin und hättest dich im Zimmer geirrt. Geh jetzt hinein!

Im Nu war Amy im Inneren und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie atmete auf. Obwohl es draußen noch immer hell war, waren die Vorhänge dicht zugezogen. Da keine Kerzen brannten, spendete nur das Kaminfeuer ein wenig Licht. Amy blieb einen Moment reglos stehen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und das große leere Zimmer in Augenschein nehmen konnte. Alles schien in bester Ordnung. Lediglich der große Paravent fiel ihr auf, der zwischen der Tür und dem Kamin aufgestellt war, vermutlich um den Major von Zugluft abzuschirmen, wenn er ein Bad nahm. Oh je! Was, wenn die Stubenmädchen noch kommen, um den Badezuber auszuleeren?

Mit klopfendem Herzen huschte Amy auf den Kamin zu. Sie konnte es nicht riskieren, den Raum zu durchsuchen, bevor sie nicht einen Blick hinter den Paravent geworfen hatte.

„Guten Abend.“

Amy schrie erschrocken auf und erstarrte zur Salzsäule. Vor ihr im Badezuber nahe dem Kaminfeuer stand ein vollkommen nackter Mann.

„Würden Sie mir bitte das Handtuch reichen?“

Amy vermochte sich nicht zu bewegen. Sie bekam kaum noch Luft, und ihr ganzer Körper stand wie unter Feuer.

„Sind Sie taub? Das Handtuch, bitte.“

Einen langen gefährlichen Moment konnte Amy ihre Blicke nicht von seinem nackten Körper abwenden. Schließlich zwang sie sich, den Kopf zu senken und die Augen zu schließen, um sich vor dem Anblick zu schützen. Aber das Bild war noch da und hatte sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Der erste nackte Mann, den sie in ihrem Leben gesehen hatte. Von glatter Haut gezügelte Muskelkraft, auf der die letzten Tropfen des Bades schimmerten.

Inzwischen war er des Wartens überdrüssig geworden. Fluchend stieg er aus dem Zuber und griff nach dem großen Handtuch, das nah beim Feuer hing.

Allerdings machte er keine Anstalten, damit seinen nackten Körper zu bedecken. Stattdessen drehte er sich wieder zu ihr um, wobei er das Handtuch lässig in einer Hand hielt. Er musterte sie forsch, erst ihr stark gerötetes Gesicht und dann ihren Körper. Sogar in diesem Halbdunkel war es, als ob er sie mit seinen Blicken auszöge. Ganz so als wäre sie ebenso nackt wie er!

Schließlich suchte er mit seinen Blicken ihre Augen. Seine Miene wirkte hart und misstrauisch. „Wer sind Sie?“, fragte er in harschem Tonfall. „Was tun Sie hier?“

Amy schluckte schwer und wagte es nicht, ihn direkt anzusehen. Es war, als ob ihr Verstand aussetzen würde. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und in jedem Fall brachte sie kein Wort heraus.

Er fluchte erneut. Diesmal klang es ärgerlicher. Dann, mit einer einzigen fließenden Bewegung legte er ihr die Hände um die Schultern und zog sie an sich. Sie spürte die flauschige Wärme des Handtuchs auf ihrer Nackenhaut und seine kraftvollen Finger, die sich durch den groben Kleiderstoff in ihr Fleisch gruben.

„Vielleicht bringt Sie das wieder zum Sprechen“, murmelte er sanft.

Und dann senkte er den Kopf, um sie zu küssen.

Amy war zu erschrocken, um ihn von sich zu stoßen. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Ein nebelhafter Traum, in dem es dezent nach Seife und sauberer Haut duftete. Mit einem Mal wurde aus dem Traum Wirklichkeit, und zwar in aller Lebendigkeit. Seine warmen Lippen waren direkt über ihren. Amy fuhr sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe.

„Nein“, sagte er leise ganz nah an ihrem Mund. „Verführerisch … aber besser nicht.“ Er schob sie unsanft von sich und rieb sich weiter mit dem Handtuch ab.

Amy starrte zu Boden. Was um Himmels willen war in sie gefahren? Warum hatte sie ihn nicht aufgehalten?

Der Mann wandte ihr nun den Rücken zu. Vor dem Kaminfeuer trocknete er seine Beine ab. Sie musste irgendein Geräusch von sich gegeben haben, denn er drehte den Kopf zu ihr um. Seine Miene verriet eine Mischung aus Langeweile und Widerwillen. „Für so ein abgebrühtes Dienstmädchen sind Sie erstaunlich mundfaul. Haben Sie es sich zur Angewohnheit gemacht, sich Ihrer Herrschaft anzubieten? Wir lassen uns nicht alle so leicht um den kleinen Finger wickeln, müssen Sie wissen.“ Er richtete sich auf und schlang das Handtuch um die Hüften.

Endlich!

„Ich habe nicht …“ Amy versagte die Stimme. Sie holte tief Luft und schluckte schwer. „Sie irren sich, Sir. Ihre Worte sind beleidigend.“ Sie wagte es, kurz aufzusehen und ihm direkt ins Gesicht zu blicken.

Er zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Sind sie das?“

Wie dumm! Kein Dienstmädchen würde je so etwas zu einem Gentleman sagen. Auch dann nicht, wenn es der Wahrheit entsprach. „Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber … Sie haben mir unrecht getan. Das, was Sie mir unterstellen, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Meine Herrin ist in diesem Haus zu Gast, und ich … ich habe mich lediglich im Zimmer geirrt. Ich muss gehen. Meine Herrin wird sich bereits wundern, wo ich bleibe.“ Sie drehte sich zur Tür.

„Einen Moment.“

Mit Mühe unterdrückte Amy den Drang davonzulaufen. Sie vermied es allerdings, sich wieder zu ihm umzudrehen, denn sie hatte Angst vor seinen bohrenden Blicken.

„Wir wissen beide genau, dass Ihre Herrin Ihre Dienste im Augenblick nicht benötigt. Sie wird längst hinunter in den Speisesalon gegangen sein, um mit den anderen das Dinner einzunehmen. Wer ist denn Ihre Herrin?“

„Die Countess of Mardon. Ich bin ihre Zofe.“ Amy versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu klingen.

„Soso, ihre Zofe. Nun gut, wie heißen Sie denn?“

„Dent, Sir.“ Amy wandte sich zu ihm um. Sie musste sich auf die Rolle konzentrieren, die sie spielte. Eine erstklassige Dienerin dürfte sich nicht wegducken, selbst dann nicht, wenn sie mit einem so bedrohlich wirkenden Mann konfrontiert war. Sie straffte die Schultern, blickte aber weiterhin sittsam zu Boden.

Den Kopf zur Seite gelegt, musterte er sie. Er fuhr sich nachdenklich mit einer Hand über das Kinn. Trotz der dämmrigen Beleuchtung bemerkte Amy, dass er sich mindestens eine Woche lang nicht mehr rasiert hatte, wenn nicht sogar länger. Sein nasses Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Wer um Himmels willen war das? Was tat er in Major Lyndhursts Zimmer und noch dazu badend?

„Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ein weiterer Gast angereist ist“, bemerkte Amy freundlich, aber mit fester Stimme. Sie war froh, nun wieder einigermaßen ruhig zu klingen. „Haben Sie vor, länger zu bleiben, Sir?“

Überrascht lachte er auf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Sie für eine hochwohlgeborene Lady halten, Dent. Die meisten Debütantinnen würden eine solche Konversation nicht besser hinkriegen. Meinen Glückwunsch!“

Amy wurde erneut rot vor Scham. Oder ärgerte sie sich in Wahrheit über ihr loses Mundwerk? Sie musste unbedingt verhindern, dass man ihre Maskerade entdeckte. Es durfte auf gar keinen Fall dazu kommen, denn sie hatte zu viel riskiert.

Sie knickste unterwürfig. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Sir, ich habe noch Botengänge für meine Herrin zu erledigen. Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie gestört habe. Ich kann es mir nicht leisten, bei meiner Herrin in Misskredit zu geraten.“ Sie bemühte sich, eine furchtsame Miene aufzusetzen, wie es zu einer Bediensteten passte, die Angst um ihre Stelle hatte. Immerhin war es möglich, dass sogar dieser Mann eine Spur von Ritterlichkeit besaß – irgendwo hinter der erbarmungslosen Fassade verborgen.

Prüfend blickte er sie an. Es gab kein Anzeichen für Ritterlichkeit, überhaupt keines. „Ich werde über dieses Zusammentreffen nicht mit Ihrer Herrin reden“, versprach er schließlich. „Aber dafür verlange ich eine Gegenleistung.“

Amy erstarrte vor Schreck. Also unterschied er sich nicht von den anderen Lüstlingen in diesem Haus.

„Ich verlange, dass Sie meine Anwesenheit mit keinem Wort erwähnen. Und zwar niemandem gegenüber. Nicht einmal gegenüber Major Lyndhurst. Haben Sie das verstanden?“

„Ich … ja.“

„Dann sind wir uns also einig, Dent?“

Amy holte tief Luft und hob das Kinn. Sie spürte, dass er sie anstarrte. Sie nickte entschieden. „Ja, Sir, wir sind uns einig.“

Kaum hatte sie das gesagt, lächelte er sie an. Mit einem Mal war all die Härte aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte jünger und trotz des unrasierten Kinns ausgesprochen attraktiv. „Dann schlage ich vor, dass Sie jetzt zu Ihren Pflichten zurückkehren, Dent. Außer Sie bevorzugen es, mir beim Ankleiden zu helfen?“

Amy keuchte und floh aus dem Zimmer.

Erst als Amy im Zimmer der Countess in Sicherheit war, fiel ihr auf, dass ihre Haube verrutscht war. Überall trat ihr leuchtend blondes Haar hervor! Sie murmelte einen wenig damenhaften Fluch und begann, ihre Tarnung wiederherzustellen. Dabei tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass niemand sie gesehen hatte.

Außer ihm.

Er durchschaute vielleicht, wer sie war, oder zumindest, was sie vorgab zu sein. Er konnte ihr Geheimnis verraten.

Aber er würde es nicht tun. Immerhin konnte sie ihrerseits sein Geheimnis verraten. Denn aus irgendeinem Grund wollte der Gentleman, der so ungezwungen zu abendlicher Stunde im Schlafzimmer des Hausherrn ein Bad nahm, nicht, dass seine Gegenwart im Haus publik wurde. Aber weshalb?

Amy zerbrach sich die ganze Nacht über vergeblich den Kopf. Es machte überhaupt keinen Sinn. In der Tat war es eine weitere unbeantwortete Frage in einem Haus, in dem es von Rätseln und Ungereimtheiten nur so wimmelte. Ein Haus, das ihren Bruder Ned regelrecht verschluckt zu haben schien, ohne dass auch nur eine Spur von ihm zurückgeblieben war.

Vorsichtig balancierte Amy das Tablett mit dem Frühstück, während sie mit einer Schulter hinter sich die Schlafzimmertür schloss und sich erleichtert gegen die Wandverkleidung lehnte. „Das übersteigt einfach mein Fassungsvermögen“, sprach sie leise vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen.

„Dent?“

Vorsicht! Offenkundig ist noch jemand da! „Ja, Mylady.“ Amy richtete sich wieder gerade auf und schritt mit dem Tablett durch das Zimmer, bis zu dem Baldachinbett. „Ich bringe Ihr Frühstück, Mylady, so früh wie Sie es gewünscht haben.“

Lady Mardon, der die Schamesröte ins Gesicht trat, was ihr gut stand, lag gegen einen Haufen spitzenbesetzter Kissen gelehnt.

Ihr Gatte, der am Kopfende des Bettes stand, sprach ruhig auf sie ein. Er trug lediglich ein dünnes seidenes Nachthemd und tat, als ob dieser intime Aufzug das Normalste von der Welt wäre. „Und Anthony hat für heute eine Jagd geplant. Ich werde also vermutlich erst am späten Nachmittag wieder zurück sein.“

„Oh“, erwiderte seine Frau enttäuscht.

Er lächelte sie warmherzig an. „Wenn du den Wunsch verspüren solltest, uns zu sehen, kannst du einfach in die Kuppel steigen. Von dort kann man meilenweit gucken.“

Die Countess klimperte mit ihren langen Wimpern. „Vielleicht. Wenn ich nichts Besseres zu tun habe …“

Er grinste und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war. „Ich würde es niemals wagen, mich in deine Pläne einzumischen, Liebling. Und jetzt lasse ich dich in Ruhe frühstücken.“ Er küsste seine Frau kurz auf eine Wange. „Genieße den Tag.“ Ohne der Zofe die geringste Beachtung zu schenken, umrundete er das Bett und verschwand durch die Verbindungstür in sein Ankleidezimmer.

Amy schluckte. Dies war ein anderer unvorhergesehener Aspekt ihrer jetzigen Stellung. Aus der Nonchalance des Earls ging deutlich hervor, dass er soeben das Bett seiner Gattin verlassen hatte. Die Beine und Füße unter seinem feinen dünnen Nachthemd waren nackt. An den Rest seines Körpers wollte Amy gar nicht denken. Nackte Männerkörper waren … gefährlich.

Lady Mardon beugte sich aus dem Bett, um sicherzugehen, dass ihr Gatte die Tür fest hinter sich geschlossen hatte. Dann lächelte sie ihre sogenannte Zofe nervös an. „Mein Gott, Amy! Das war ganz schön knapp. Wenn ich geahnt hätte, wie viel Verlogenheit man dafür braucht …“

„Ich weiß, dann hättest du nie deine Zustimmung gegeben.“ Vorsichtig stellte sie das Tablett auf dem Schoß der Countess ab. Seufzend ließ sie sich auf der Bettkante nieder und stahl dreist eine Scheibe Toast. „Glaube mir, Sarah, wenn ich auch nur die geringste Vorstellung davon gehabt hätte, wie schwierig es werden würde, hätte ich dich niemals um Hilfe gebeten.“ Sie biss in die Toastscheibe und kaute nachdenklich darauf herum. „Allerdings täuschst du deinen Gatten nicht wirklich, denn er nimmt überhaupt keine Notiz von den Dienstboten, außer wenn sie ihn verärgern. Bestimmt könnte ich einfach morgen als ich selbst hereinschneien, und er würde mich überhaupt nicht erkennen.“

Die Countess lachte auf. „Ja, das stimmt vermutlich. Aber er ist nicht … nicht gefühllos, musst du wissen.“

Amy merkte, dass die Countess plötzlich wieder errötete. Vielleicht war das nicht weiter überraschend. Als Amy das Zimmer betreten hatte, hatte Sarah ausgesprochen zufrieden ausgesehen. Ohne Frage genossen Sarah und der Earl die Freuden ihres Ehebetts. Welche auch immer das waren.

Die Countess tat, als ob sie sich ganz auf das Frühstückstablett konzentrierte. „Er war halt sein ganzes Leben lang von eifrigen Bediensteten umgeben. Er nimmt das als selbstverständlich wahr und achtet nicht mehr darauf.“

Amy griff nach einer zweiten Toastscheibe. „Genauso wie die meisten Gentlemen in diesem Haus. Allerdings haben sie unterschiedliche Arten, das zu zeigen. Ich glaube, ignoriert zu werden, ist mir immer noch die liebste Variante. Das gilt ebenso für die oberen wie für die unteren Räumlichkeiten.“

„O je! Aber du hast dich nicht hergeben sollen, oder?“

„Nein, glücklicherweise nicht.“ Amy war sich bewusst, dass sie nun ebenfalls rot anlief. Natürlich fühlte sie sich schuldig. Wenn Sarah gewusst hätte, was in Major Lyndhursts Schlafzimmer geschehen war … Dieser Unbekannte war wahrscheinlich der einzige Gentleman in diesem Haus, der ihre Tarnung durchschaute. Sie musste schlucken, wenn sie an seine durchdringenden Blicke dachte. Er war gänzlich nackt gewesen, aber sie war es, die sich verlegen verhalten hatte. Er wirkte stolz, sogar arrogant. Sein Anblick hatte sie schockiert, und dennoch … Sie hatte nie für möglich gehalten, dass der Körper eines Mannes so schön war. Noch immer war ihr, als ob sich seine Berührung in ihre Haut eingebrannt hätte. Es war, als ob die Wärme seiner Finger …

„Amy?“

Amy schreckte aus ihren Gedanken und sagte: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Mühe es bereitet, in diesem Haus den gierigen Händen zu entkommen, Sarah. Erst war da dieser abscheuliche Grant. Ich bin weiß Gott froh, dass er weg ist, aber sein ehemaliger Herr ist aus demselben Holz geschnitzt. Ich hatte eben eine Begegnung der besonderen Art mit William Lyndhurst-Flint, als ich dein Frühstückstablett vorbeitrug. Er stellte sich hinter mich und legte seine Hand auf …“ Sie erschauderte. „Wenn ich gekonnt hätte, wie ich wollte, hätte ich ihm deine heiße Schokolade über den Kopf geschüttet. Er ist widerwärtig.“

„Vielleicht hat er erkannt, wie hübsch du hinter diesen grässlichen Brillengläsern aussiehst.“

„Sarah! Willst du ihn etwa verteidigen? Er hat nicht die geringste Ahnung, wie ich in Wahrheit aussehe. Er hat mir nicht ein einziges Mal ins Gesicht geblickt.“ Amy ignorierte Sarahs verschämtes Gekicher, denn sie hatte sich gerade warm geredet. „Bei den anderen Dienstmädchen verhält er sich genauso. Immer berührt er sie oder stößt rein zufällig mit ihnen zusammen. Gestern habe ich gesehen, wie er gerade eine Hand unter das Mieder eines Hausmädchens schieben wollte. Wenn ich nicht hinzugekommen wäre …“

„Amy! Bitte nimm dich bloß vor ihm in Acht!“

„Mach dir keine Sorgen, Sarah. Ich habe mich genauso verhalten, wie es sich für eine sittsame Zofe geziemt. Ich gab einen entsetzten Schrei von mir und musterte die beiden mit gerümpfter Nase. Du wärest stolz auf mich gewesen. Und das Mädchen wird sich bestimmt Mühe geben, künftig einen großen Bogen um ihn zu machen.“ Sie hielt inne. „Wirst du es deinem Mann erzählen?“

Sarah zögerte. „Nein, besser nicht“, erwiderte sie schließlich. „Ich glaube, das ist kein geeigneter Zeitpunkt. John und William haben ohnehin jede Menge Differenzen. Selbst wenn John das alles glauben würde, er will William sicherlich nicht gerade jetzt zur Rede stellen. Es gab in der letzten Zeit so viel Streit, musst du wissen. Und John weiß, wie traurig es mich macht, Streit unter Brüdern zu erleben, insbesondere, wo es meine Schuld ist.“

Amy hob erstaunt die Augenbrauen.

„John hat lange verkündet, dass er nie wieder heiraten würde und dass folglich William sein Erbe werden würde. Und William hatte sich offenkundig an diesen Gedanken gewöhnt. Als John und ich heirateten und dann unsere beiden Jungen geboren wurden, hat sich William benachteiligt gefühlt. John hat deshalb noch immer ein schlechtes Gewissen.“

„Und das entschuldigt in seinen Augen, dass der Bruder jedem Dienstmädchen nachstellt?“

„Oh, das gewiss nicht.“

Amy schüttelte den Kopf. „Bei William scheint es wie eine zwanghafte Reaktion zu sein. Sobald er weibliche Formen erblickt, muss er sie anfassen.“

„Bei Damen nicht, Amy.“

„Nicht? Vielleicht lassen sich seine Bedürfnisse bei den Dienstmädchen stillen. Bei denen muss er sich nicht zurückhalten … Bei uns muss er sich nicht zusammenreißen.“ Sie verzog das Gesicht, als sie daran dachte, welche Stellung sie jetzt einnahm, wenn es auch nur vorübergehender Natur war.

Die Countess nippte genussvoll an ihrer heißen Schokolade. „Es wäre besser gewesen, du hättest dich als Gouvernante oder Gesellschafterin ausgegeben. Dann hätte dich William mit Sicherheit wie eine Dame behandelt.“

„Möglicherweise. Aber das hätte mir überhaupt nicht weitergeholfen. Wie hätte ich in dieser Rolle etwas über Neds Verschwinden herausfinden sollen? Als deine Zofe kann ich unten im Dienstbotentrakt erscheinen und mich dort umhören, ohne aufzufallen. Und stets habe ich eine geeignete Ausrede, wenn ich da angetroffen werde, wo ich mich nicht aufhalten sollte. Wenn ich ein Schlafzimmer durchsuchen will, gehe ich einfach kühn hinein und tue so, als ob es das Normalste von der Welt wäre. Bisher …“ Sie machte eine Pause, blickte zu Boden und kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken. „Bisher waren alle Räume leer. Aber falls ich jemanden antreffe, kann ich stets behaupten, ich wäre auf einem Botengang für dich unterwegs und hätte mich im Zimmer geirrt. Eine Gouvernante befände sich da gewiss in anderen Erklärungsnöten! Oder gar eine Gesellschafterin! Niemand würde ihr ein solches Märchen abkaufen.“

„Ja, das stimmt natürlich. Du hast mich auch zunächst mit deinem Schauspieltalent völlig überzeugt. Das war allerdings, bevor du die Zofenrolle in der Realität spielen musstest! Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig werden würde. Und so gefährlich. Wenn du auffliegst, ist dein Ruf ruiniert.“

„Das ist mir bewusst. Und das Leben im Dienstbotentrakt ist … ist anders, als ich erwartet hatte. Dort gibt es sogar noch mehr Regeln, als wir sie haben! Nur deinetwegen habe ich meine Maske nicht schon kurz nach unserer Ankunft abgelegen müssen. Glücklicherweise bist du im Haus die ranghöchste Dame, weshalb ich in der Rangordnung vor den anderen weiblichen Bediensteten stehe. Wenn ich nicht begreife, wovon die Rede ist, tue ich einfach, als ob es unter meiner Würde wäre.“ Amy kicherte nervös. „Ich kann dir sagen, meine Liebe, dass ich schon zwei-, dreimal nicht wusste, worüber sie reden. Ich habe dann die Nase hochgehoben und der Haushälterin von oben herab erklärt, dass wir es in Mardon Park anders halten. Es war bloß gut, dass der Diener deines Mannes nicht zugegen war, als ich diese Ammenmärchen auftischte.“

„Amy Devereaux, es wird noch schlimm mit dir enden!“

„Zweifelsohne“, entgegnete Amy mit einem verschwörerischen Lächeln. „Besonders, wenn jemand hört, dass du mich mit diesem Namen anredest. Ich bin Dent, die Zofe, wenn es Ihnen recht ist, Mylady. Amelia Dent.“ Sie langte nach Sarahs Morgenrock. „Und darf ich nun, sofern Ihre Ladyschaft Ihr Frühstück beendet hat, nach dem Dienstmädchen läuten, damit das Tablett abgeräumt wird? Und welches Kleid möchte Ihre Ladyschaft für heute Morgen herausgelegt bekommen?“

Durch das geöffnete Fenster hörte man eine Kutsche an der Auffahrt Halt machen. „Um Himmels willen!“, rief Sarah. „Wer kann das sein? Großtante Harriet wird doch nicht schon eintreffen!“

Autor

Joanna Maitland
Joanna wurde in Schottland mit schottischen und irischen Wurzeln geboren. Sie studierte einschließlich eines Jahres in Frankreich als Sprachassistentin für Englisch und einem Semester auf einer Universität in Deutschland moderne Sprachen und Geschichte auf der Glasgow Universität. Während dieser Phase erhielt sie Einblicke in die Essgewohnheiten Frankreichs und die Gepflogenheiten...
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