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Damals war Mitch ein wilder Musiker – heute ist er ein seriöser Geschäftsmann. Als Esmie ihren Ex-Lover wiedertrifft, fragt sie sich: Hat Mitch immer noch dieses unglaublich gute Gefühl für Rhythmus? In einer heißen Nacht will sie es herausfinden …


  • Erscheinungstag 30.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512732
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Und wenn ich dieses Förderdarlehen bekommen möchte, muss ich mir von Ihnen aus der Hand lesen lassen?“

„Es ist kein Muss. Betrachten Sie es als zusätzlichen Bonus.“ Esmeralda sah Cindy forschend an. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie würde herausfinden, was es war. Man musste als Chefin der „Dream-a-little-Dream-Foundation“ nicht unbedingt über Esmeraldas übersinnliche Fähigkeiten verfügen, aber besser war es allemal. Nicht ohne Grund hatte Olivia, die Gründerin der Stiftung, ihr diesen Job anvertraut. Sie hatte sich ebenfalls von Esmeralda aus der Hand lesen lassen und setzte großes Vertrauen in sie.

Cindy Sanders’ Antrag auf Unterstützung für den Aufbau eines Spiel- und Abenteuerparadieses für Kleinkinder war gut formuliert und begründet. Doch als sie Esmeralda gegenübersaß und von der Förderung der kindlichen Motorik und der Bindung zwischen Eltern und Kind redete, schien sie innerlich nicht wirklich bei der Sache zu sein. Ihr Blick wirkte so leer. Cindy hatte bestimmt einen Traum, aber dieser hier war es wohl kaum.

„Einen Bonus? Wozu soll das gut sein?“

„Nun ja, ich habe den Eindruck, Ihre Aura ist so grau wie eine Regenwolke.“

„Meine Aura? Grau?“ Cindy blinzelte ungläubig.

„Geben Sie mir einfach Ihre Hand.“ Esmeralda lächelte sanft.

Zögernd streckte Cindy die Hand über den Tisch. Am linken Daumen spürte Esmeralda eine raue Stelle. „Eine Maniküre wäre auch nicht schlecht“, stellte sie fest. Dann senkte sie die Stimme und begann im dramatischen Ton einer Wahrsagerin zu sprechen. „Ich sehe in meiner Kristallkugel … Ihre Zukunft … eine Intensivbehandlung Ihrer Hände bei einer professionellen Maniküre.“ Sie lächelte schelmisch. „Ich mache auch Nägel.“

„Wirklich?“ Cindy lachte. Jetzt wirkte sie viel entspannter, ganz wie beabsichtigt.

„Das finde ich toll.“ Cindy deutete auf Esmeraldas Zeigefinger, auf dessen Nagel ein glitzernder Stern prangte.

„Danke. Hm, mal sehen, was uns Ihre Hände verraten.“ Esmeralda nahm Cindys Hand noch einmal in ihre beiden, schloss die Augen, um sich zu sammeln und blickte dann konzentriert auf die kleine, pummelige Hand mit den kurzen, gleichmäßig geformten Fingern.

Die Herzlinie ließ auf große Gefühle schließen, aber der Winkel ihres Daumens wies darauf hin, dass Cindy wenig Ehrgeiz besaß.

Esmeralda überlegte. Allmählich wurde ihr alles klar. „Ah, ja … ich verstehe.“

„Tatsächlich?“, fragte Cindy. „Was denn?“

„Sie möchten mit Kindern arbeiten, Cindy, aber nicht auf diese Weise, sondern als Lehrerin. Hier, diese Linie verweist auf Ihre Emotionalität …“, erklärte Esmeralda. „Und diese hier auf solche Dinge wie Führungsqualitäten und so weiter. Die wiederum zeigt, wie gut sie mit Menschen umgehen können. Sie sind eine geborene Lehrerin.“

Cindy lächelte traurig. „Aber ich habe nur ein Semester am College von Phoenix vorzuweisen.“

„Das ist kein Problem. Wir vergeben auch Stipendien.“ Esmeralda klopfte auf den Aktenordner, der Cindys Antrag enthielt. „Wessen Traum ist das?“

Die junge Frau wurde rot. „Der meines Vaters. Er hat davon gelesen, wie übergewichtig Kinder heutzutage sind und wie sehr Eltern ihre Kinder verzärteln. Er meint, in dem Bereich müsste sich Geld verdienen lassen.“

„Er hat bestimmt recht, aber Sie müssen aufhören, es immer nur anderen recht machen zu wollen. Besinnen Sie sich auf ihren Mut. Hier …“ Sie deutete auf die Stelle, wo sich eine geschwungene Linie deutlich abzeichnete.

„Das ist mein Mut?“, fragte Cindy hoffnungsvoll.

„Und ob. Morgen Abend führe ich hier einen Workshop zum Thema ‚Ich mache meine Träume wahr‘ durch. Ich denke, Sie und Ihr Vater sollten daran teilnehmen.“

„Mein Vater?“

„Natürlich. Damit er lernt, zwischen seinen …“, sie klopfte auf den Aktenordner, „… und Ihren Träumen zu unterscheiden.“

„Okay. Wir werden kommen. Danke.“ Cindy strahlte über das ganze Gesicht und betrachtete ihre Hand. „Sehen Sie sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“

Als Cindy kurze Zeit später den Raum verließ, war sie nicht nur fest entschlossen, sich gegenüber ihrem Vater zu behaupten, sondern sie hatte auch einen Termin für eine richtige Handlese-Sitzung und eine Maniküre.

Esmeralda war sehr zufrieden mit sich, aber auch ziemlich erschöpft. Ihr Terminkalender war randvoll, jede Stunde musste sie sich mit einem anderen Lebenstraum auseinandersetzen. Ganz schön anstrengend. Aber dies war ja auch erst ihre vierte Woche in dem neuen Job. Mit der Zeit würde ihr das sicher leichterfallen.

Irgendwie musste sie die Zeit finden, die vielen Anträge zu bearbeiten, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Außerdem musste sie unbedingt einen Unternehmensberater finden, der ihr half, etwas Ordnung in den chaotischen Geschäftsplan zu bringen, den sie von ihrer Vorgängerin übernommen hatte. Der Umgang mit Zahlen war Esmeraldas Schwachstelle, aber das würde sie nicht vom Erfolg abhalten. Phoenix war ein wahres Mekka für junge Unternehmer und Selbstständige. Einen guten Berater zu finden, würde sicher kein Problem sein.

Zwar wurde ihr ein wenig flau im Magen, wenn sie daran dachte, was alles vor ihr lag, aber sie war fest entschlossen, es zu schaffen. Die „Dream-A-Little-Dream-Foundation“ war eine einmalige Chance, wirklich etwas im Leben anderer Menschen zu bewirken. Esmeralda liebte es, aus der Hand zu lesen, aber manchmal kam es ihr doch ein bisschen belanglos vor. Diese Arbeit hier war etwas ganz anderes, etwas Handfestes, etwas, das wirklich Bedeutung hatte.

Auch ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen. Als Sozialarbeiterin und Therapeutin hatte sie sich immer sehr intensiv um ihre Klienten bemüht und war Esmeraldas großes Vorbild. Mit diesem Job würde sie in ihre Fußstapfen treten, ihr Andenken ehren.

Um keine Müdigkeit aufkommen zu lassen, machte sie eine Stretchübung: Beine gespreizt, Oberkörper vorbeugen, Ellenbogen auf den Boden. Aah.

„Na, ist es gut gelaufen?“ Sie zuckte zusammen. Es war Belinda Warwick, ihre Assistentin.

„Oh, ja, jedenfalls nachdem ich ihr aus der Hand gelesen und gesehen habe, was sie wirklich braucht.“ Dieses Erfolgserlebnis bestätigte Esmeralda, dass sie wirklich hierher gehörte. Jemand anders hätte die Finanzierung für Cindys Projekt vielleicht genehmigt, ohne zu erkennen, dass dieses Projekt den Träumen der Antragstellerin gar nicht entsprach. Das Ziel der Stiftung bestand jedoch nicht einfach darin, Geld zu verteilen, sondern anderen Menschen bei der Verwirklichung ihrer persönlichen Träume zu helfen.

„Ich wünschte, ich hätte nur ein kleines bisschen von Ihrem Talent“, sagte Belinda. „Ich glaube, so gut werde ich nie.“

„Man braucht einfach Zeit, Belinda. Man kann nichts erzwingen.“

Auch Belinda hatte Esmeralda von ihrer Vorgängerin übernommen. Belinda war Olivias Nichte und fest entschlossen, die Kunst des Handlesens zu lernen. Sie betrachtete sich selbst als Esmeraldas Schützling und machte sich Notizen über alles, was Esmeralda tat oder sagte. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie sich verbeugte, bevor sie das Zimmer verließ. Esmeralda machte sich Sorgen, dass diese blinde Verehrung für sie Belinda davon abhalten könnte, auf ihre eigene innere Stimme zu hören, was doch eine unabdingbare Voraussetzung für jede Art von Erfolg war.

„Der Termin um vier ist verlegt worden“, sagte Belinda.

„Umso besser, dann kann ich ein bisschen Arbeit nachholen.“ Esmeralda wies mit dem Kopf auf die Stapel unbearbeiteter Anträge.

„Wir bekommen immer noch Anrufe von Leuten, die den Zeitungsartikel gelesen haben.“

„Sehr gut.“ Ein Artikel über die Stiftung hatte die Zahl von Anfragen auf das Dreifache hochschnellen lassen. Sogar Zeitungen außerhalb von Phoenix hatten sich des Themas angenommen.

„Ich übernehme gern ein paar von den Anträgen“, bot Belinda an.

„Mal sehen“, erwiderte Esmeralda zögernd. Belinda war im Geschäftlichen noch weniger bewandert als sie selbst. Esmeralda wollte sich erst einmal selbst in das Thema einarbeiten.

„Wirklich … ich würde sehr gerne helfen.“ Belinda blätterte in einer der Akten. „Morgen um neun kommt übrigens ein Mann, den Sie kennen.“

„Tatsächlich?“ Esmeralda Herz schlug schneller. War das endlich Jonathan? Würde ihr Exmann endlich kommen, wie vorhergesagt? „Sie müssen einen Neuanfang machen mit einem Mann aus ihrer Vergangenheit.“ Das war Esmeralda in drei unabhängigen Sitzungen geweissagt worden. Ihre Ehe war sehr plötzlich in die Brüche gegangen, und sie gab sich selbst die Schuld daran. Was sie brauchte, war eine zweite Chance.

Belinda hob den Kopf. „Oh, halt, warten Sie. Tut mir leid, es ist nicht der ‚Mann aus Ihrer Vergangenheit‘. Im ersten Moment dachte ich es, weil er sagte, er würde Sie kennen, aber er ist Barmann im „Moons“. Er heißt Jasper, kennen Sie ihn?“

„Oh, natürlich.“ Jasper hatte einen Kredit bei der Stiftung beantragt, aber Esmeralda hatte aus seiner Hand herausgelesen, dass er eine unselige Neigung zum Glücksspiel hatte. Die musste er unbedingt zuerst in den Griff bekommen.

„Tut mir wirklich leid, dass es nicht er ist“, sagte Belinda. Sie war eine der drei Handleserinnen, die Esmeralda einen Neuanfang mit einem „Mann aus der Vergangenheit“ geweissagt hatten. Und sie schien sich auch ein wenig verantwortlich dafür zu fühlen, dass dieser geheimnisvolle Mann tatsächlich auftauchte. Jonathan hatte Esmeralda ihr gegenüber nicht erwähnt. Allerdings wartete sie insgeheim darauf, das vertraute Gesicht, die Grübchen, den blonden Schopf, das sexy Lächeln ihres Exmannes wiederzusehen.

„Er wird schon kommen“, meinte sie, scheinbar völlig gefasst.

„Soll ich frischen Tee machen?“, erkundigte sich Belinda. „Oder Räucherstäbchen anzünden?“

„Ist schon gut, Belinda. Wirklich.“ Belindas Eifer wurde ihr manchmal wirklich zu viel. „Warum machen Sie heute nicht einfach mal früher Feierabend?“

„Sind Sie sicher? Ich möchte mich wirklich so nützlich wie möglich machen.“

„Das tun Sie doch. Der Terminkalender ist voll, und unsere Website ist bald fertig. Das größte Problem ist die Buchhaltung.“

Belinda verzog das Gesicht. „Oh. Stimmt. Ich habe schon jemanden gefunden, der uns helfen könnte. Ein Freund von mir, er heißt Rico. Ich meine, wenn Ihnen das recht ist? Er hat schon für meinen Onkel Louis die Buchhaltung gemacht, er kann mir die Grundlagen beibringen.“

„Hört sich gut an.“ Esmeralda hatte keine Ahnung, wer dieser Rico war, aber wenn er gut genug für Olivias Bruder war, musste er wohl vertrauenswürdig sein. Hatte Belinda nicht auch ein Date mit ihm gehabt? „Also dann, gehen Sie ruhig“, sagte sie. „Studieren Sie die Muster, die ich Ihnen gegeben habe.“ Sie hatte ihr eine Sammlung Fotos von Handflächen mit Interpretationen zum Üben gegeben.

„Also gut, wenn Sie meinen…“ Als Esmeralda nickte, eilte Belinda hinaus. Ihre Armreifen klirrten, ihre blonden Locken hüpften. Sie hatte ihr Haar gebleicht und gelockt, um Esmeralda ähnlicher zu sehen. Sogar ihre Kleidung hatte sie dem Stil Esmeraldas angepasst. Esmeralda fand das peinlich – um nicht zu sagen beunruhigend – aber sie hatte Belindas Hand gelesen und wusste, dass ihr Rollenvorbild half, eine gewisse Selbstsicherheit aufzubauen. Also würde sie ihr Bestes tun, um ein gutes Vorbild abzugeben.

Als sie in ihrem Büro gerade ein wenig meditieren wollte, klingelte ihr Handy. Es war Annika, ihre derzeitige Mitbewohnerin, weil einer der Hunde, die Esmeralda in Pflege genommen hatte, ein Loch ins Sofa gerissen hatte, das sie für eine Freundin aufbewahrte. Außerdem wollte Esmeraldas Nachbar ihren Wagen ausleihen, zwei ihrer Freundinnen brauchten dringend ihren Rat, und es gab drei Anfragen wegen eines Handlese-Termins.

Manchmal schien Esmeralda ihr Leben dermaßen vollgepackt, als müsste es jeden Moment aus allen Nähten platzen. Aber großzügig zu sein, machte einfach Spaß. Außerdem bürdete einem das Schicksal doch nie mehr auf, als man tragen konnte, oder?

Um für die Bearbeitung der Anträge einen klaren Kopf zu bekommen, zündete sie ein Räucherstäbchen mit Erdbeeraroma an und legte eine Yoga-CD auf. Dann wärmte sie ein Nackenkissen mit Erdbeerduft in der Mikrowelle und legte sich auf den Boden. Die Beine streckte sie senkrecht nach oben und lehnte sie an die Wand.

Sie legte sich das Nackenkissen quer über die Augen, sodass sie nichts mehr wahrnahm bis auf den fruchtigen Duft und die sanften Klänge vom CD-Spieler. Ein Lufthauch strich über ihre nackten Beine, weil ihr Rock bis zu den Hüften hochgerutscht war.

Langsam atmete sie durch die Nase ein und durch den Mund aus und ließ ganz gemächlich einen Gedanken nach dem anderen durch ihren Kopf ziehen.

Zum größten Teil waren es Sorgen. Würde sie mit der buchhalterischen Seite dieses Jobs klarkommen? Würde sie bei der Bearbeitung der Anträge die richtigen Entscheidungen treffen? Würde sie den Vorstand zufriedenstellen können? Olivia hatte angedeutet, dass ein paar Vorstandsmitglieder Zweifel an Esmeraldas Qualifikation hatten.

Sie stellte sich ihre Sorgen als flauschige Schäfchenwolken vor, die über einen blauen Himmel segelten. Und Jonathan? Endlich mal keine Sorge, sondern eine Hoffnung.

Fast hätte sie ihn unter seiner Nummer in San Diego angerufen, das war die letzte Adresse, die sie von ihm hatte. Aber es war nicht klug, Schicksal spielen zu wollen. Das Schicksal überließ man besser den Kräften des Kosmos, anstatt zu versuchen, die Erfüllung einer Weissagung zu erzwingen. Denn genau das war ihre Schwäche. Wie die meisten übersinnlich begabten Menschen hatte auch Esmeralda ein Problem mit Objektivität, sobald es um sie selbst oder um Menschen ging, die sie liebte.

Er wird schon kommen, wenn es an der Zeit ist, sagte sie sich und ließ eine weitere Wolke, diesmal eine mit goldenem Schimmer, davonsegeln.

Es war schon fünf, als Mitch Margolin das Büro der Stiftung betrat. Die Wände waren zum größten Teil orange gestrichen, und überall hingen Poster mit aufmunternden Slogans. Auf einem Tisch standen Kristallfiguren, und es waren Sterne – Sternmobiles, Gemälde voller Sterne, sternförmige Briefbeschwerer, sogar ein kleiner Zimmerspringbrunnen mit Sternen.

Seine Hoffnung sank.

Verdammt, er wollte etwas Solides für seinen Bruder, eine echte Chance, nicht irgendwelchen mystisch verbrämten Quatsch. Er hatte sogar seinen Freund Craig bei der Staatsanwaltschaft angerufen und um Informationen über die Stiftung gebeten.

Mitch war gekommen, um so viel wie möglich selbst herauszufinden. Wenn diese Stiftung wirklich etwas taugte, dann stellte er besser umgehend einen Antrag, bevor Dale wieder die Lust verlor. Sein Bruder spielte Bass und war damit zufrieden, ein paar Schülern Unterricht zu geben und ansonsten im Studio ein bisschen Musik zu machen. Als er dann doch einmal so etwas wie Interesse an einem richtigen Job andeutete, war Mitch sofort hellwach geworden.

Die Empfangssekretärin hatte wohl schon Feierabend, ihr Tisch war verwaist. Ein schwacher, fruchtiger Duft schien aus einem der angrenzenden Räume zu kommen. Mitch folgte seiner Nase über einen kleinen Flur, bis er vor einer Tür mit der Aufschrift „Esmeralda McElroy, Geschäftsführung“, stand. Durch die Tür hörte er fernöstliche Musik – Sitar, Cymbeln, Gesang.

Neben der Tür stand ein Bücherregal. „Tarot im Alltag“, „Buchhaltung für Kleinbetriebe“, „Handlesekunst für Anfänger“, las Mitch und wurde immer skeptischer. Nur die Ruhe bewahren. Vielleicht hatte er ja nur zu viel Zeit mit Craig verbracht, der immer eine Geschichte über betrügerische Aktivitäten im Geschäftsleben von Phoenix parat hatte. Oder er selbst hatte einfach zu viele schlechte Erfahrungen gemacht.

Aber er wollte seinem Bruder unbedingt helfen. Irgendwie fühlte er sich schuldig, weil Dale mit dreißig immer noch lebte wie ein Teenager.

Mitch klopfte an. Keine Antwort. Die Musik war wohl zu laut. Also drückte er die Klinke herunter und trat ein.

Der Raum war in derselben Farbe gestrichen wie der Eingangsbereich. Moderne Kunst in allen Farben hing an den Wänden, dicke Polstersessel standen um einen Couchtisch. Hinter dem zierlichen Teakholzschreibtisch ragte etwas empor – ein Paar Beine, die eindeutig zu einer Frau gehörten. Die Füße zeigten zur Decke.

Ooooha!

Mitch trat näher. Die Frau machte wohl gerade eine von diesen ausgeflippten Übungen – Tai Chi oder Yoga oder was auch immer. Mitch machte noch einen Schritt, um sie anzusprechen. Auf den Zehennägeln hatte sie kleine Sternchen.

Ihre Beine waren wohlgeformt und gebräunt. Der Rock war ihr auf die Hüften gerutscht und bedeckte, äh, kaum … hm. Mitch verspürte ein Prickeln am ganzen Körper. Entschlossen riss er den Blick los und lenkte ihn dorthin, wo es sich gehörte. Auf ihr Gesicht. Das war allerdings unter einem Kissen verborgen.

Er räusperte sich. „Entschuldigen Sie.“

Die Frau zuckte zusammen, schob das Kissen zur Seite und lächelte zu ihm hoch. Sie schien nicht im Mindesten verlegen zu sein. „Hallo.“

„Tut mir leid, wenn ich … ungelegen komme.“ Er räusperte sich noch einmal.

Mit einem Schwung stieß sie sich von der Wand ab und schlug anmutig die Beine unter. „Was kann ich für Sie tun?“

Hoppla. Jetzt, da er sie richtig herum sehen konnte, fiel ihm auf, dass er sie kannte. Es waren diese strahlenden blaugrünen Augen, deren Ausdruck man nie vergaß.

Es war Jahre her, dass sie sich begegnet waren, auf einer Veranstaltung, wo er mit seiner Band aufgetreten war. Er hatte gerade das College abgeschlossen, sie die Highschool. Sie lernte aus der Hand zu lesen, also ließ er sie aus seiner Hand lesen – ein guter Trick, um ihr nahezukommen. Sie hatte seine Handfläche studiert wie eine Schatzkarte.

Jetzt streckte sie die Hand aus und ließ sich von ihm aufhelfen. Ihre Hand fühlte sich warm und fest an. Sie sprang auf die Füße wie eine Gazelle.

„Lady E“, sagte er leise.

Ihre Augen weiteten sich, und die hauchdünnen Träger ihres Seidentops rutschten ihr von den Schultern.

„Wir kennen uns?“ Sie hatte ihn offenbar nicht wiedererkannt. Kein Wunder, denn er hatte längst den gebleichten Pferdeschwanz, das Ziegenbärtchen und den dünnen Schnurrbart aufgegeben. Jetzt war er immer rasiert und trug sein braunes Haar kurz. Außerdem hatte er eine Brille.

„Moment … darf ich?“ Sie streckte die Hand aus, und er ließ es zu, dass sie ihm die Brille abnahm. „Unglaublich!“, rief sie aus. „‚Doctor X‘!“

„Doctor X“ von „Xtent of Crime“, seiner Band. Lächerlich, aber damals war es ihm absolut ernst gewesen.

„Deine Augen erkenne ich wieder“, sagte sie.

Er hatte braune Augen, Dutzendware sozusagen. „Ich bin Mitch Margolin“, sagte er lächelnd und setzte die Brille wieder auf.

„Esmeralda McElroy“, erwiderte sie. „Ich kann gar nicht glauben, dass du es bist. Nach siebzehn Jahren, fast auf den Tag.“

„Du erinnerst dich an das Datum?“ Es war eine wunderschöne Frühsommernacht gewesen, mit Sternschnuppen und allem Drum und Dran. In jeder Hinsicht eine heiße Nacht, aber trotzdem …

„Ja, aber nur weil, … nun ja, ist nicht so wichtig.“ Ihr Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, doch sie lächelte gleich wieder. „Jedenfalls bist du jetzt zurück.“

„Zurück? Wie meinst du das?“, fragte er beunruhigt.

„Du hast dich verändert“, sagte sie statt einer Antwort. „Du siehst so anders aus.“

„Und du immer noch wie damals.“ Sie wirkte etwas erwachsener, aber immer noch erfrischend jung und hübsch. Ihre vollen Lippen glänzten, ihr Haar war immer noch lang, blond und gewellt und wirkte ein klein wenig zerzaust, wirklich sexy. Um den Hals trug sie einen kleinen Kristall an einem hauchdünnen Band, und ihr Schlüsselbein wirkte so zart, als müsste es zerbrechen , wenn man sie zu fest umarmte. Und wenn sie Luft holte, bewegten sich diese verflixten Träger an ihren Oberarmen.

Und sie duftete so gut. So frisch, und ein klein wenig süß, fruchtig und blumig zugleich.

Mitch schloss für einen Moment die Augen.

Vielleicht waren das nur die Nachwirkungen seiner enttäuschten Liebe zu seiner Geschäftspartnerin Julie.

„Komm, setzen wir uns doch. Es gibt viel zu erzählen.“ Auf bloßen Füßen schritt Esmeralda durch den Raum zu dem Sofa. Sie trug Reifen und Perlenketten an Hand- und Fußgelenken. Offenbar war sie noch immer das Blumenkind von damals.

Das Sofa war so weich, dass er wohl ohne Hilfe nicht mehr würde aufstehen können. Esmeralda setzte sich dicht neben ihn und schlug ein Bein unter. Ihr Ausschnitt verschob sich ein wenig, sodass Mitch gar nicht mehr wusste, wohin er blicken sollte. Also richtete er den Blick auf ihre nackten Füße, aber selbst das erschien ihm zu intim.

„Wie hast du mich denn gefunden?“, fragte sie interessiert und beugte sich vor.

„Dich gefunden?“, wiederholte er. „Ich habe gar nicht nach dir gesucht. Ich meine, es war dieser Zeitungsartikel. Mein Bruder hat ihn gelesen. Er will sich um eines dieser Förderdarlehen bewerben …“

„Ah, der Artikel.“ Sie wirkte enttäuscht. „Ach so. Deshalb bist du also hier. Nun ja, niemand wird jemals die kosmischen Pläne wirklich durchschauen.“

Wovon zum Teufel redete sie? „Also, was ich sagen wollte, mein Bruder Dale ist Musiker, und …“

„Ich erinnere mich. Er war in deiner Band. „Extent of …“ wie hieß sie gleich?“

„‚Xtent of Crime‘.“

„Wo spielt ihr jetzt?“

„Wir haben die Band schon vor Jahren aufgelöst. Genauer gesagt, schon ein paar Tage nach jener Nacht. Aber Dale spielt immer noch, und …“

„Aber ihr hattet doch einen Plattenvertrag. Und ich weiß noch, dass ich aus deiner Hand gelesen habe, dass du Erfolg haben würdest …“

War ihr denn nicht klar, wie idiotisch das klang?

„Der Deal in L. A. hat nicht geklappt.“ Man hatte sie ausgewählt für ein Musikvideo und einen Drei-Platten-Vertrag. Mitch hatte von Anfang an geahnt, dass das alles viel zu leicht ging, aber nachdem Lady E. ihm aus der Hand gelesen hatte, war er dann doch überzeugt gewesen. Ganz schön eingebildet war er gewesen, wie jeder Junge von Anfang zwanzig, der eine Band hatte.

Sie hatte es nur gut gemeint. Und er war ja noch so jung gewesen und hatte sich nur zu gern von ihr überzeugen lassen. Also hatte er die eigenen Bedenken einfach ignoriert.

„Das ist schade. Ihr wart so gut.“

Er hatte ihr einen seiner Songs vorgespielt. Er erinnerte sich genau, wie sie ihn angehimmelt hatte. Diese wunderschönen Augen waren zwischen seinen Händen und seinem Gesicht hin- und hergewandert. Eine Wohltat für sein Ego.

„Ich bin erwachsen geworden.“ Zum Glück. Sein erster Job nach dem Abschluss hatte es ihm ermöglicht, seine Eltern aus der Schuldenfalle zu befreien, in die sie durch eine misslungene Geschäftsidee geraten waren.

„Und was machst du jetzt?“, erkundigte sich Esmeralda.

„Ich bin Anwalt. Spezialisiert auf Handelsrecht. Ich bin mein eigener Chef und habe eine Teilhaberin. Meine Kunden sind hauptsächlich junge Firmen.“

„Das ist ja eine völlig andere Welt als damals! Aber da war auch ein sehr weiter Abstand zwischen deiner Herz- und deiner Kopflinie, was auf einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hindeutet. Und deine Linien waren stark ausgeprägt, glaube ich, was bedeutet, dass du praktisch veranlagt und bodenständig bist. Aber deine Kopflinie hatte einen kreativen Schwung, und soweit ich mich erinnere, hattest du keine Lücke in deiner Schicksalslinie. Darf ich …?“ Sie griff nach Mitchs Hand. „Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für Hände.“

Du lieber Himmel. Damals war das ganz spannend und unterhaltsam gewesen, aber jetzt war sie nicht mehr achtzehn sondern, wie alt? Fünfunddreißig? Er selbst war neununddreißig. „Machst du immer noch in … Hellseherei?“

„Natürlich.“ Sie sah ihn empört an. „Damals war ich noch blutige Anfängerin. Ich habe Fehler gemacht.“ Sie machte ein trauriges Gesicht. „Vielleicht auch bei dir.“ Wieder versuchte sie, nach seiner Hand zu greifen.

Er zog sie zurück. „Kein Problem“, sagte er. Er wollte sie nicht direkt auslachen. „Ich habe das damals nicht ernst genommen.“

„Ich nehme es ernst“, erwiderte sie. „Sehr ernst. Es ist meine Berufung.“

„Das soll wohl ein Witz sein!“, platzte er heraus, und fuhr dann vorsichtiger fort: „Ich meine, du nennst dich doch Geschäftsführerin. So eine Position bekommt man nicht, indem man in Kristallkugeln schaut.“ Hoffentlich hatte er recht. Kaum auszudenken, was sie anrichten konnte, wenn mal jemand ihre fragwürdigen Interpretationen ernst nahm.

Damals hatte sie das sehr ernst genommen. Und er ja auch. Aber inzwischen hatte er gelernt, dass man sich darauf besann, was man wirklich wollte, und sich dann ein vernünftiges Ziel setzte, auf das man hinarbeiten konnte.

„Die Frau, die diese Stiftung gegründet hat, hat sich von mir aus der Hand lesen lassen und mich dann gebeten, mich um diesen Job zu bewerben, als meine Vorgängerin kündigte.“

„Wirklich? Weil du ihr aus der Hand gelesen hast?“

„Wirklich!“, erwiderte sie empört.

„Aber du musstest doch bestimmt entsprechende Berufserfahrung vorweisen.“

„Was ich vorzuweisen hatte, war ihr genug.“

„Du meinst, jede Menge Intuition und psychologisches Verständnis, nicht wahr?“ War Esmeralda denn komplett verrückt? Oder war diese andere Frau verrückt?

„Vielleicht interessiert es dich, dass es wissenschaftliche Studien zu diesem Thema gibt, die in renommierten, wissenschaftlichen Magazinen veröffentlich werden.“ Jetzt klang sie regelrecht wütend. „Man hat festgestellt, dass es sehr wohl eine Verbindung gibt zwischen Handflächenmuster und Verhalten. Ich kann dir Lesestoff geben und Internetadressen, wenn du …“

„Es tut mir leid. Ich habe es ganz falsch angefangen. Eigentlich bin ich hier wegen eines Darlehens für meinen Bruder. Ich wollte dich nicht beleidigen.“

Esmeralda seufzte. „Du bist anders, als ich dachte.“ Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund. „Ich meine, anders, als ich dich in Erinnerung habe. Aber jedenfalls bist du bist hier, und zwar genau an unserem Jahrestag.“

„Was willst du damit sagen?“

„Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns genau an dem Tag wieder begegnen?“

Vielleicht kam dieser Duft gar nicht von Räucherstäbchen. Vielleicht hatte sie irgendein aromatisiertes Halluzinogen geraucht.

„Die Welt ist klein, würde ich sagen.“

Sie sah ihm in die Augen. Ihr Blick war so unglaublich intensiv. Mitch schaute nach unten, aber dort zeichneten sich ihre Brüste aufreizend unter dem Seidentop ab. Und zwar unübersehbar.

Verflixt.

„Das war eine zauberhafte Nacht damals. Erinnerst du dich?“

Autor

Dawn Atkins
Obwohl es immer Dawn Atkins’ größter Traum war, Autorin zu werden, war sie nicht sicher, ob sie wirklich den Funken Genialität besaß, den es dazu braucht. So wurde sie zunächst Grundschullehrerin und fing dann allmählich an, für Zeitungen und Zeitschriften Artikel zu verfassen. Schließlich gab sie ihre Arbeit an der...
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